SWR2 MANUSKRIPT

SWR2 Musikstunde

Eine Orgelreise durch Baden

„Spiegel der Orgelmacher vnd Organisten“ (1)

Mit Michael Gerhard Kaufmann

Sendung: 27. August 2018 Redaktion: Dr. Bettina Winkler Produktion: SWR 2017

Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

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SWR2 Musikstunde mit Michael Gerhard Kaufmann 27. August – 31. August 2018 Eine Orgelreise durch Baden „Spiegel der Orgelmacher vnd Organisten“ Heidelberg (1)

Mein Name ist Michael Gerhard Kaufmann und ich lade Sie in dieser Woche zu einer musikalischen und kulturgeschichtlichen Orgelreise durch Baden ein.

Unsere Reise führt uns zu Orgeln in Kirchen, Sälen und Museen. Wir hören Instrumente von bekannten und wenig bekannten Orgelbauern, an denen Werke bekannter und wenig bekannter Komponisten erklingen, gespielt von bekannten und wenig bekannten Interpreten. Die Route von der Kurpfalz bis an den Bodensee verläuft vor allem entlang der städtischen Zentren, beinhaltet aber auch Abstecher in davon entfernte Regionen. Lassen Sie sich also überraschen von der Vielfalt der Klänge einer ganz besonderen Orgellandschaft in Europa, in der wir als unseren Ausgangspunkt Heidelberg nehmen.

Musik 1 Arnolt Schlick Ascendo ad patrem meum a decem vocibus Markus Uhl Verlag 08418, Tonträger Produktion, 2012, Take 5, 1‘35‘‘

Eine zehnstimmige Bearbeitung der Gregorianischen Antiphon Ascendo ad Patrem meum von Arnolt Schlick, gespielt von Markus Uhl. Er saß an der 2009 von der schweizerischen Firma Orgelbau Kuhn aus Männedorf erbauten Hauptorgel der katholischen Pfarrkirche Heilig Geist Heidelberg, der ehemaligen Jesuitenkirche. Und hier beginnen wir unseren Orgelmarathon.

Schlick wurde vor 1460 in Heidelberg geboren und starb dort nach 1521. Dieser blinde Organist am kurpfälzischen Hof ist eine der bedeutendsten Persönlichkeiten in

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der Geschichte der Orgel überhaupt. Er hatte, so berichten die Quellen „vil iar vor keysern vnnd königen churfürsten fürsten geistlichen vnd weltlichen auch andern herren“ die Orgel gespielt, unter anderem 1486 anläßlich der Krönung Kaiser Maximilians I. im Dom zu , 1495 auf dem Reichstag zu Worms und möglicherweise 1520 bei der Krönung Kaiser Karls V. im Dom zu Aachen. Zudem besaß er umfangreiche Kenntnisse im Orgelbau, die er sich auf ausgedehnten Reisen bis in die Niederlande erworben hatte. Als Orgelsachverständiger konnte er so bspw. die 1491 von Friedrich Krebs im Straßburger Münster errichtete große Schwalbennest-Orgel prüfen. Weitere Orgelwerke in den Städten Hagenau, , Neustadt an der Hardt sowie im kursächsischen Torgau schätzte er ebenfalls ein. Schlick setzte für den Orgelbau als auch für die Orgelmusik Maßstäbe. So veröffentlichte er als Buchdruck zunächst das erste deutschsprachige Traktat über Orgelbau und Orgelspiel, den Spiegel der Orgelmacher vnd Organisten (Mainz 1511), und wenig später als Notendruck die erste deutsche Komposition für Orgel, Tabulaturen etlicher lobgesang und lidlein vff die orgeln vnd lauten (Mainz 1512),. Beide Publikationen waren in ihrer Grundsätzlichkeit sowohl auf die Theorie als auch auf die Praxis im Umgang mit dem Instrument ausgerichtet, da im ersten die Fertigkeiten im Orgelbau, im zweiten die Fähigkeiten im Orgelspiel angesprochen wurden. Das zeitgenössische Orgelwesen erfuhr auf diese Weise wichtige Anregungen, da es erstmals in all seinen baulichen und klanglichen Komponenten reflektiert, strukturiert und organisiert worden war. Kein geringerer als Kaiser Maximilian würdigte dies, indem er schrieb: „vnnser vnd des Reichs lieber getrewer Maister Arnoldt Schlickh organist von Haidelberg“ Kenntnisse wolle er „Embieten allen Churfürsten Fürsten / geistlichen vnnd weltlichen prelaten […] Gemainden / unnd sonnst allen anderen […] unterthanen“.

So gut wir auch über Schlicks idealen Typus einer Orgel, die zwei Manuale und Pedal sowie einen brillanten Klang besitzen sollte, informiert sind, erhalten hat sich von diesen Instrumenten leider keines. Und auch von der sicherlich schon vorher am Oberrhein existierenden Orgelkultur sind nicht einmal Reste übrig geblieben. Dabei wäre es durchaus möglich, daß schon zu römischer Zeit in den Kastellen entlang des Stroms Orgeln erklungen sind, standen doch den Legionen des Imperium Romanum solche Hydraulis genannten Apparate zur Verfügung. Als ägyptisch-hellenistisches Erbe sind diese sogenannten „Wasserorgeln“ auf Abbildungen und als Fragmente

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vielerorts nachweisbar. Doch mit der Völkerwanderung schwand auch das Wissen und es dauerte bis zur Karolingischen Renaissance, daß fränkische Mönche in die Lage versetzt wurden, solche Werke zu bauen.

Dazu ein kurzer historischer Exkurs: Als Geschenk des byzantinischen Kaisers Konstantin Kopronymos erhielt der fränkische König Pippin im Jahre 757 ein Orgelwerk. Dies war ein Vorgang von weltgeschichtlicher Bedeutung, denn dieses Orgelwerk war ein dem Kaiser vorbehaltenes Herrschaftszeichen. Damit akzeptierte er, der sich als alleiniger legitimer Nachfolger auf dem Thron des antiken römischen Kaisertums sah, die aufstrebenden Könige der Franken aus dem Geschlecht der Karolinger als ihm gleichgestellt. Kaiser Karl der Große oder Kaiser Ludwig der Fromme ließen dann die erste Orgel im königlichen Palast zu Aachen zur Mitwirkung bei den Akklamationen aufstellen. Dieses Zeremoniell übernahmen Bischöfe und Äbte als Stellvertreter des Herrschers und sorgten dafür, daß Orgeln in Dom- und Klosterkirchen errichtet und in der Liturgie verwendet wurden. Das aber stellte einen offensichtlichen Bruch mit den Traditionen der Urkirche dar. Sie hatte sich von den heidnischen Religionen dadurch unterschieden, daß keine Instrumentalmusik bei den Gottesdiensten mitwirkte, sondern nur die menschliche Stimme das Gotteslob verkündete. Ein Dilemma, dem man entgehen wollte, indem es zur vornehmsten Aufgabe der Orgel erklärt wurde, zunächst gemeinsam mit den Sängern und später auch alleine gleichsam stellvertretend für diese zu musizieren: Abwechselnd oder mit der Schola übernahm die Orgel Teile in der Messe und im Stundengebet. Oder sie erklang gemeinsam mit dem zweiten seit der Karolingischen Renaissance für die kirchlichen Feiern erlaubten Musikinstrument, der Glocke.

Musik 2 Thiemo Janssen Improvisation: Redeuntes Thiemo Janssen Verlag 18240, nomine, 2015, Take 1, 2‘14‘‘

Nach diesem akustischen Exkurs nach Rysum an die Nordsee, bei dem wir Thiemo Janssen mit einer Improvisation über das Redeuntes an der gotischen Orgel aus den Jahren 1457 bzw. 1513 in der evangelisch-reformierten Kirche hörten, geht es nun

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weiter mit der Orgelgeschichte in Heidelberg. Diese verlief ähnlich wie auch in den anderen Teilen Badens: Politische und soziale Verwerfungen vom 16. bis ins beginnende 19. Jahrhundert, die Reformation, der Dreißigjährige Krieg, der Pfälzische Erbfolgekrieg und die Napoleonischen Kriege, hatten durchweg negative Auswirkungen auf die Orgelkultur. Nur punktuell sind Instrumente aus der Zeit des Barock erhalten, und auch diese in zum Teil mehrfach überformter Gestalt mit Elementen der Romantik, der Orgelreform bzw. Orgelbewegung. Teilweise sind sie leider unzulänglich renoviert bzw. schlichtweg falsch restauriert.

Es existiert jedoch ein bemerkenswertes Dokument, das den barocken Orgelstil von Heidelberger Meistern bezeugt: ein handschriftlich überliefertes und später als Werkstattbuch der kurpfälzischen Orgelmacher Wiegleb betiteltes Verzeichnis, in das von Johann Friedrich Wiegleb und seinen Nachfahren im 18. und 19. Jahrhundert wichtige orgelbauliche Details wie Mensuren, Dispositionen, Aufrisse von Bauteilen und Stimmanweisungen eingetragen worden sind. Anhand dieser Aufzeichnungen war es möglich, 2014 eine Chororgel im Wiegleb-Stil in der Jesuitenkirche Heidelberg ebenfalls durch die Firma Kuhn errichten zu lassen. An diesem exzellenten historisch informierten Neubau hören wir ein weiteres Mal Markus Uhl, nun mit der Choralfantasie Wo Gott der Herr nicht bei uns hält BWV 1128 von .

Musik 3 Johann Sebastian Bach Wo Gott der Herr nicht bei uns hält BWV 1128 Markus Uhl Verlag 08418, Tonträger Produktion, 2014, Take 5, 3‘50

Um den spätbarocken Orgelbau der Kurpfalz im Original zu erleben, müssen wir uns etwa einhundert Kilometer leicht südwestlich von Heidelberg begeben. In Bobenthal in der Südwestpfalz hat sich in nahezu authentischer Form ein kleines Werk von Wendelin Ubhaus(er) erhalten, geboren 1793 in Heidelberg und bis zu seinem Tod 1852 Mitarbeiter bei Franz Seuffert in Kirrweiler. Erbaut wurde es 1817 und blieb – mangels Geld für einen Um- oder gar Neubau – bis auf die Balganlage unverändert. 2017 wurde es durch die Firma Orgelbau Rohlf, Neubulach, fachgerecht restauriert.

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An diesem feinen Instrument spielt Christian Brembeck das Adagio con sei variazioni F-Dur von Leopold Mozart.

Musik 4 Leopold Mozart Adagio con sei variazioni F-Dur Christian Brembeck Verlag 00147, Cantate, 2017, C58053, Take 26-32, 4‘10‘‘

Wir verlassen nun erst einmal die barocke Orgeltradition, werden uns dieser aber in den folgenden Sendungen immer wieder unter anderen Aspekten zuwenden.

Die Integration der Kurpfalz in den aufgrund von Säkularisation und Mediatisierung seit 1803 entstandenen und auf dem Wiener Kongreß 1815 bestätigten Flächenstaat „Großherzogtum Baden“ führte alsbald zu einer Konsolidierung der wirtschaftlichen Situation. Die in der Erzdiözese Freiburg bzw. Evangelische Kirche in Baden organisierten Konfessionen standen unter der Aufsicht des Innenministeriums. Dies hatte unmittelbare Folgen für den Orgelbau, wenngleich erst einmal die Hungersnot und Teuerung infolge einer Naturkatastrophe zahlreiche Manufakturen in den Ruin trieb – die Asche des lavaspeienden Vulkans Tambora in Indonesien trieb bis nach Europa und sorgte dort für eine anhaltende Schlechtwetter-Periode. Doch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts konnte auch das Orgelwesen am allgemeinen Aufschwung partizipieren. Dabei verloren sich mehr und mehr die regional bedingten stilistischen Merkmale. Dies hing nicht zuletzt damit zusammen, daß für das Großherzogtum ein Verwaltungssystem verbindlich gemacht wurde, das bereits in der Markgrafschaft seit 1787 angewendet wurde: Zur Beratung der Gemeinden und zur Kontrolle der Qualität im Orgelbau war kraft eines ministeriellen Erlasses ein staatlicher ‚Orgelbaucommissär‘ ernannt worden, Hofkapellmeister Joseph Aloys Schmittbaur in Karlsruhe. Seither waren alle Orgelbauprojekte im Land ohne Unterschied der Konfession genehmigungspflichtig und unterlagen der Aufsicht des Orgelsachverständigen. Dieser mußte für ein reibungsloses Procedere in der Durchführung sorgen, angefangen von der Festlegung der Disposition, also der Zusammenstellung der Klangfarben, bis hin zur Abnahme des fertigen Instrumentes. Auch war es seine Aufgabe, die Orgelbauer auf ihr theoretisches und praktisches

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Können hin zu prüfen. Nach 1800 waren mehrere Orgelsachverständige teils für das ganze Land, teils für einzelne Kreise im Auftrag des Staates für alle Kirchen, also gleichermaßen für die evangelischen wie auch für die katholischen zuständig. Als 1863 die Entlassung der Kirchen in die konfessionelle Eigenständigkeit durch den Staat erfolgte, blieben die bisherigen Experten im Amt und zusätzlich wurden neue bestellt, wobei dann eine konfessionelle Zuordnung stattfand.

Diese Orgelsachverständigen öffneten sich den Klangvorstellungen der Romantik. Einer der wichtigsten Vertreter des neuen Zeitalters war der herausragende Orgelbauer Eberhard Friedrich Walcker aus Ludwigsburg, der von 1794 bis 1872 lebte und ab den 1820er Jahren Orgeln baute. Walcker wiederum war von den Theorien des in Mannheim tätigen und europaweit hochgeschätzten Musiktheoretikers Abbé Georg Joseph Vogler beeinflußt, der ein orchestrales Ideal vertrat: Musikalisch hatten sich in der Zwischenzeit mehrere Epochen-Wandel ergeben, verschiedene Stile folgten aufeinander: Die barocke Musik trug als eines ihrer zentralen formbildenden Prinzipien das der Rhetorik in sich. Dabei bildeten aufeinander bezogene Tonfiguren ein Beziehungsgeflecht, das den Affekt eines Stückes repräsentierte. Der Komplexität eines solchen Tonsatzes hatte die klassische Musik durch bewußte harmonische Reduktion und die Betonung volkstümlicher Elemente eine Leichtigkeit gegenüber gestellt. Mit ihrer periodischen Gliederung der Struktur bei klar kadenzierender Harmonik war sie faßlich. Die romantische Musik, die als eines ihrer zentralen formbildenden Prinzipien das des Malens ansah, erweiterte das Spektrum wieder. Komplizierte harmonische Verbindungen suggerierten vielerlei Farben in einer Flächigkeit, die den Charakter eines Stückes repräsentieren sollten.

Eines der weltweit bedeutendsten Orgeldenkmale überhaupt aus dieser Zeit des Übergangs in die musikalische Romantik findet man östlich von Heidelberg im Rhein- Neckar-Kreis, in Hoffenheim. Das Instrument aus dem Jahr 1845 stammt von Eberhard Friedrich Walcker. Und hier setzte er ein neuartiges Prinzip der Konstruktion von Windladen um, die sogenannte Kegelwindlade. Damit war es im Gegensatz zu der bisher üblichen Schleifenwindlade möglich, mehr grundtönige Register – das sind tiefe und tragende Stimmen, wie im Orchester die Bratschen und Violoncelli – mit einem hohen Windverbrauch in einem Teilwerk der Orgel von einer

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Klaviatur aus gleichzeitig anzuspielen. Dadurch wurde der Klang in sich voluminöser und mischfähiger und ließ sich zudem durch Einfärben eines speziellen Registers chanchieren. Die sogenannte Physharmonika, eine durchschlagende Zungenstimme, war über einen Windschweller bezüglich der dynamischen Intensität steuerbar.

Angesichts der vielen später umgebauten oder abgetragenen Orgeln dieses Typs erscheint es fast wie ein Wunder, daß dieses herrliche Instrument in Hoffenheim nahezu vollständig in seiner ursprünglichen Form erhalten geblieben ist. Nach mehreren Renovierungen erfolgte 2012 eine fachgerechte Restaurierung durch die Orgelbau-Firma Lenter aus Sachsenheim.

Und so klingt dieses einmalige Werk: Andreas Rothkopf spielt Musik aus der Entstehungszeit der Orgel – das Andantino aus den 1845 erschienen Studien für Pedalflügel op. 56 von Robert Schumann.

Musik 5 Robert Schumann Andantino aus Studien für den Pedalflügel op. 56,3 Andreas Rothkopf Verlag 68411, Audite, 1987, A368.411, Take 7, 2‘12‘‘

Das in Hoffenheim bereits angelegte orchestrale Klangpotential findet seine volle Entfaltung in der Walcker-Orgel der Christuskirche Heidelberg. Diese ist 1903 als pneumatisch angesteuerte Kegelwindlade erbaut und nach einem die historische Substanz verachtenden und zerstörerischen Umbau in den 1950-er Jahren 2011 aufwendig ebenfalls durch die Firma Lenter restauriert worden. In einer Transkription von Engelbert Humperdincks Vorspiel zur Märchenoper Hänsel und Gretel kann sie die Flexibilität eines spätromantischen Symphonieorchesters entfalten.

Der expressive Orgelklang ermöglicht Gerhard Luchterhandt ein subtiles Ineinander- fließen-lassen von Farben ebenso wie ein Gegenüber-stellen extremer dynamischer Prozesse, ein weich und hart gleichermaßen.

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Musik 6 Engelbert Humperdinck Vorspiel zur Märchenoper Hänsel und Gretel Gerhard Luchterhandt Verlag 00612, Christophorus, 2012, CHR 77372, Take 1, 7‘46‘‘

Die von Walcker entwickelte und im Verlaufe des 19. Jahrhunderts von ihm und anderen deutschen Orgelbauern individuell perfektionierte Orgelbauweise machte eine bis dahin nicht gehörte Verschmelzung des Klanges möglich. Das Instrument war dem grundtönigen Gestus des von Richard Wagner entwickelten symphonischen Orchesterapparats ähnlich geworden. Sein dynamisches Spektrum konnte vom zartesten Pianissimo bis zum kraftvollsten Fortissimo von nun an bruchlos ausgelotet werden. Das war genau das, was man von Orgeln in Konzertsälen erwartete.

Und es ist wiederum einem glücklichen Umstand zu verdanken, daß wir in der Stadthalle Heidelberg einem solch speziellen Orgelwerk begegnen können. Denn in dem denkmalgeschützten Konzertsaal steht seit 1903 ein Instrument aus der Orgelfabrik Heinrich Voit & Söhne aus Durlach. 1995 hat die Orgelmanufactur Vleugels aus Hardheim dieses Werk restauriert und teilweise rekonstruiert, nachdem es in den Jahrzehnten zuvor verlottert und nur zufällig dem Abbruch entgangen war. Im ausgehenden 18. Jahrhundert hatte man in Deutschland damit begonnen, Orgeln in Konzertsäle einzubauen. Dieses Phänomen ist Teil des emanzipatorischen Prozesses des Bürgertums, im Zuge dessen Kunst nahezu ersatzhaft religiöse Funktionen übernommen hatte. Markantes Zeichen für diese einerseits säkularen und andererseits sakralen Tendenzen ist die Orgel.

Die Orgelbaudynastie Voit, mit der wir uns noch ausführlicher beschäftigen werden, galt um die Jahrhundertwende sowohl in technischer als auch in klanglicher Hinsicht als besonders experimentierfreudig. Man hatte in den 1890-er Jahren ein eigenes pneumatisches Windladensystem entwickelt, das zuverlässig funktionierte und aufgrund der schnellen Reaktionen der Ventile ein virtuoses Spiel erlaubte. Außerdem experimentierte man mit elektrischen Schaltungen für die Ton- und Registertrakturen, um eine von Hebel- und Strömungsgesetzen unabhängigere Aufstellung der Pfeifen zu erreichen. In Heidelberg fand Voit ideale Voraussetzungen

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für die erstmalige Realisierung eines solch innovativen Konzepts. Hier war nämlich Philipp Wolfrum an der Universität tätig, ein engagierter und vielseitig gebildeter Musiker, der neben seinen wissenschaftlichen, pädagogischen, kompositorischen und interpretatorischen Aktivitäten eine besondere Affinität zur Orgel hatte. Daher übernahm Wolfrum für Voit die Rolle eines Beraters in musikalischen Fragen und entwarf Dispositionen für Kirchen- und Konzertsaalorgeln. Hier konnte er die Ideen des Expressiven, des in sich verschmelzungsfähigen und dynamisch regelbaren Klangs der Register, so umsetzen, daß diese sowohl solistisch als auch in Kombination mit einem Orchester einsetzbar waren. Als Richard Strauss 1904 seine überarbeitete und wesentlich erweiterte Ausgabe der bereits 1844 erschienenen Instrumentationslehre von Hector Berlioz publizierte, hatte er Wolfrum als Sachverständigen dafür engagiert, den von ihm nicht beherrschten Themenkomplex zur Orgel zu verfassen. Und Wolfrum nahm darin direkten Bezug auf die Erfahrungen, die er in Heidelberg gemacht hatte, als er schrieb: „Dazu kommt nun aber, daß im Orgelbau und seinen mechanischen Teilen in neuester Zeit derartige Fortschritte zu verzeichnen sind, daß jener Absolutismus der Orgel einem künstlerisch konstitutionellen Einvernehmen mit dem Orchester Platz machen konnte; ja durch die Orgel sind dem Orchester unzählige neue Farben und Farbmischungen zugeführt worden. […] Im Übrigen wird die Funktion des Registrierens bei pneumatischen, elektro-pneumatischen (und den vor der Türe stehenden rein elektrischen) Orgeln außerordentlich erleichtert durch die große Zahl jener ‚Register‘, die als mechanische Hilfszüge den klingenden Registern zur Seite treten. Sie […] ermöglichen die rascheste Folge der zahllosen Kombinationen von Registern.“

Musik 7 Philipp Wolfrum Choraltempo – doch nicht schleppend – Fuge aus Sonate b-Moll op. 1,3 Martin Sander Verlag 06768, DG, 2005, MDG 6061319-2, Take 3, 4‘08‘‘

Martin Sander an der Voit-Orgel der Stadthalle Heidelberg mit dem dritten Satz aus der Sonate Nr. 1 b-Moll op.1 von Philipp Wolfrum.

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Diese einst modernste Orgel Europas stand über der Bühne, wie damals in Konzertsälen üblich. Damit war sie geradezu prädestiniert für die Kombination mit Orchester. Auch hierzu hatte sich Wolfrum geäußert – und bewußt Seitenhiebe gegen die eigene Zunft verteilt: „Auf dieses ‚Instrumentieren‘ der Tonstücke durch die Orgel verwendet man leider viel zu wenig Sorgfalt. So kommt es einerseits, daß durch die Orgel das Orchester oft in seiner Wirkung geschädigt wird, und andererseits, daß die unendlich mannigfaltigen Klangwirkungen, die neuere Komponisten durch Kombination von Orchester und Orgel beabsichtigen, sie aber leider bei der Verschiedenheit der Orgeln nicht genau vorschreiben können, vielmehr häufig der Intelligenz der Organisten überlassen müssen, nicht erreicht werden. Der gewissenhafte Orchesterdirigent wird sich in diesem Punkte mit dem von ihm meist etwas schüchtern behandelten Instrument und seinem unnahbaren Beherrscher, der gerne die Würde einer Majestät mit der Grobheit eines Bälgetreters verbindet, in Zukunft etwas genauer auseinanderzusetzen haben.“

Diese Auseinandersetzung ist in unserem abschließenden Musikbeispiel durchaus als gelungen zu bezeichnen. Hören wir den Schlußsatz aus Joseph Gabriel Rheinbergers Konzert für Orgel und Orchester Nr. 2 g-Moll mit dem Philharmonischen Orchester der Stadt Heidelberg unter Leitung von Thomas Kalb. An der Voit-Orgel der Stadthalle Heidelberg spielt Martin Haselböck.

Musik 8 Josef Gabriel Rheinberger Con moto aus Konzert für Orgel und Orchester Nr. 2 g-Moll op.177 Martin Haselböck Philharmonisches Orchester der Stadt Heidelberg Leitung: Thomas Kalb Verlag 5057, NCA, 1996, MA 9612826, Take 3, 6‘29‘‘

Das Con moto aus Joseph Gabriel Rheinbergers Konzert für Orgel und Orchester Nr. 2 g-Moll mit dem Philharmonischen Orchester der Stadt Heidelberg unter Leitung von Thomas Kalb und Martin Haselböck an der Voit-Orgel. Von der Orgelreise durch Baden verabschiedet sich für heute am Mikrophon Michael Gerhard Kaufmann.

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