Sendung vom 1.2.2016, 20.15 Uhr

Klaus Doldinger Jazzmusiker und Komponist im Gespräch mit Birgit Muth

Muth: Guten Tag und herzlich willkommen zum alpha-Forum. Bei uns ist heute Klaus Doldinger zu Gast, Jazzlegende und Komponist. Doldinger: (spielt auf dem Saxofon) Muth: Wunderbar: Klaus Doldinger, live improvisierend! Das Live-Spielen ist für Sie nach wie vor das Wichtigste? Oder gibt es da andere Dinge, die Sie noch mehr begeistern? Doldinger: Nun, das Spielen an sich ist für einen Musiker immer so eine Art Prüfung: vor dem Publikum das zu liefern, was man drauf hat, was man sich im Laufe der Jahre erarbeitet hat. Aber bei mir hat auch die Familie immer eine große Rolle gespielt. Ich habe schon in sehr frühen Jahren geheiratet und später kamen dann drei Kinder. Mittlerweile habe ich schon fünf Enkel. Diese Familie nimmt einen natürlich auch sehr in Anspruch. Sie spielt in meinem Leben wirklich eine ganz entscheidende Rolle – neben der Musik natürlich. Wobei man aber sagen muss, dass die Musik gewissermaßen das Zugpferd ist, denn man versucht natürlich, im Laufe der Jahre genau das mit der Musik zu erreichen, was man sich früher noch nicht einmal hatte vorstellen können. Als ich angefangen habe zu spielen, habe ich selbstverständlich noch keine Platten gemacht. Aber zehn Jahre später kamen dann die ersten Klaus-Doldinger-Platten heraus, auch schon mit eigenen Werken. Das hat sich dann, auch über die Filmmusik usw., natürlich noch gesteigert. Aber gekommen ist das alles wirklich nur stufenweise über einen Zeitraum von 20, 30 Jahren – bis zum heutigen Tag. Muth: Dann nennen wir doch mal ein paar Zahlen. Wenn man Sie so sieht, ist das ja schier unglaublich: Sie sind im 80. Lebensjahr und die Musik beschäftigt Sie seit 70 Jahren. Stimmt das? Doldinger: Ja, das stimmt. Muth: Geboren sind Sie in im Jahr 1936 und über Wien sind Sie dann irgendwie nach Schrobenhausen gekommen, wo Sie Ihre erste Begegnung mit Amerikanern hatten, mit dem amerikanisch geprägten Jazz. Das war wohl so eine Art Initialzündung für Sie. Können Sie uns ein wenig erzählen, wie das damals gewesen ist? Doldinger: Mein Vater war Diplomingenieur und Oberpostdirektor und viel unterwegs. Ende der 30er Jahre sind wir daher auch nach Wien gezogen, weil er dorthin versetzt wurde. Also habe ich meine frühen Jahre in Wien verlebt und bin dort auch bis zum neunten Lebensjahr zur Schule gegangen, bis wir auf der Flucht von Wien – mit Flüchtlingsausweis! – in Schrobenhausen in Bayern landeten. Dort marschierten dann eines Tages die Amerikaner ein und es war für mich ein wirklich elementares Erlebnis, meinen ersten Jazz zu hören. Denn bis dahin ist einem so eine Musik ja völlig vorenthalten worden. Man kannte natürlich jede Menge Volkslieder und Operettenmelodien und dieses und jenes … Muth: Der Jazz war damals ja nicht gerne gesehen und gehört. Doldinger: Klar. Und plötzlich schlug das wie ein Blitz ein. Im Dorfgasthof nebenan probte nämlich eine US-Combo: Das war eine Musik, die ich bis dahin noch nie gehört hatte. Ich war vom ersten Moment an fasziniert. Muth: Der kleine Klaus hat dann also gesagt: "Ja, das ist es!" Doldinger: Das war noch nicht so klar, denn das musste ich mir im Laufe der Jahre erst noch erarbeiten. Denn bei allem, was man im Laufe seines Lebens so kennenlernt, ist es doch meistens so: Man traut sich das zunächst einmal gar nicht zu und muss sich da erst hineinleben und damit Umgang haben. Ich konnte zu diesem Zeitpunkt ja auch noch gar kein Instrument spielen. Ich habe zwar bei meinen Großeltern immer wieder mal ein bisschen auf dem Klavier herumgeklimpert, aber das war nur so zum Spaß. Erst als uns mein Vater nach Düsseldorf holte, habe ich diesbezüglich einen richtigen Werdegang beginnen können. Ich kam dort 1947 neben dem Gymnasium aufs Konservatorium. An diesem Robert- Schumann-Konservatorium habe ich neben dem Gymnasium zunächst einmal als Liebhaberschüler begonnen. Dort habe ich richtig seriös angefangen, Klavier zu studieren, mit Bach, Schumann usw. Das waren wichtige Jahre für mich. In dieser Zeit lernte ich dann aber auch schon Leute kennen, die sich ebenfalls für Jazz interessierten. Man muss dazu wissen, dass in der Nachkriegszeit der Jazz bei der älteren Generation keineswegs willkommen gewesen ist. Man musste sich da erst einmal durchsetzen – so wie das späteren Generationen ja auch erging, als meinetwegen die Punkmusiker ihr Ding auch erst mal gegen Widerstände durchsetzen mussten. Bei uns war das mit dem Jazz eben auch so. Muth: Wie war das bei Ihren Eltern? Ihr Vater war Beamter und ich kann mir vorstellen, dass er sich vermutlich gewünscht hat, sein Sohn Klaus wird was Anständiges und nicht Musiker, denn der Beruf des Musikers hatte ja mindestens in dieser Zeit doch den Geruch des etwas Halbseidenen. Doldinger: Mein Vater war ein großer Wagner-Verehrer und wünschte sich daher immer, dass ich mit ihm vierhändig irgendwelche Klavierauszüge aus Wagner-Opern spiele. Aber er hat dann schon auch wahrgenommen, dass meine Entwicklung in eine etwas andere Richtung zielt – obwohl auch das Konservatorium versucht hatte, das zu verhindern. Denn damals gab es am Konservatorium noch keine Jazz-Kurse usw. Stattdessen ist man dort auf eine ganz bestimmte Musikrichtung festgelegt worden. Das habe ich aber nicht als nachteilig empfunden. Ich fand es immer schon wichtig, dass man auch ein bisschen Disziplin erlernt und dass man auf diesem Wege mit all den Übungen, Etüden usw. gelernt hat, sein Instrument so gut wie möglich zu beherrschen, war ja auch nicht ganz schlecht. Das Konservatorium war schon ein wesentlicher Punkt in meinem Leben. Muth: Die Musikalität war Ihnen also quasi in die Wiege gelegt worden, denn Ihr Vater hat Klavier gespielt, d. h. ein Klavier war immer schon im Haus bei Ihnen. Doldinger: Ja, aber erst später. Denn für die Nachkriegszeit muss man sich das schon etwas Abenteuerlicher vorstellen. Wir kamen also nach unserem Aufenthalt in Schrobenhausen irgendwann nach Düsseldorf und wohnten dort in einem riesengroßen Postamt, das halb ausgebombt worden war. Wir wohnten dort mit zwei weiteren Familien gleichzeitig in einer Wohnung. Nach heutigen Maßstäben waren das nicht vorstellbare Verhältnisse. Erst im Laufe der nächsten vier, fünf Jahre hat sich das weiterentwickelt und wir bekamen eine eigene Wohnung in diesem Postamt. Ich habe wirklich bis zu meiner Verehelichung 1960 … Muth: Mit Inge. Doldinger: Ja, mit meiner heiß geliebten Inge! Bis dahin habe ich wirklich in diesem Postamt bei meinen Eltern gewohnt. Nach heutigen Vorstellungen war diese Zeit schon recht abenteuerlich. Aber sie hat mir auch etwas gegeben, denn da war immer was los. Das Ganze spielte sich ja mitten in einer zerbombten Großstadt ab. Ich ging zur Schule und wir hatten als Jugendliche selbstverständlich auch eine Bande, eine Gang, es gab Straßenschlachten mit Steinen usw. Wir haben auch immer wieder irgendwo ein Feuerchen gemacht, um uns Kartoffeln zu braten usw. usf. Das war schon irgendwie auch ein sehr freies Leben. Muth: Und da passte der so ein bisschen rebellische Jazz auch gut hinein. Doldinger: Ja, absolut. 1952 lernte ich dann auch einige spätere Kollegen kennen. Wir waren alle 16, 17 Jahre alt und damals gab es für uns ja so gut wie keine Schallplatten mit Jazzmusik. Aber es gab damals in Düsseldorf einen sogenannten "Hot Club": Dort traf man sich alle zwei Wochen, um gemeinsam Platten zu hören. Dort versammelten sich also 40, 50 Leute … Muth: … lauter 16-, 17-jährige Schüler. Sie kamen zusammen, um gemeinsam Musik zu hören. Doldinger: Ja, und es wurden von den Älteren, die sich schon ein wenig auskannten in der Jazzgeschichte, auch Vorträge gehalten: über den New Orleans Jazz, über Bix Beiderbecke, über Louis Armstrong usw. Das war natürlich etwas ganz Aufregendes und auf diesem Wege lernte ich eben auch gleichgesinnte junge Menschen kennen. Wir haben uns dann eines Tages gefragt: "Warum machen wir nicht selbst Musik?" Also haben wir eine Band gegründet. So ergab sich dann die Gründung der Düsseldorfer Band "The Feetwarmers". Muth: Die berühmten "Feetwarmers"! Doldinger: Ja, das war im Jahr 1953. Muth: Wie viele Instrumente haben Sie denn zur damaligen Zeit gespielt? Denn so eine Band kann man ja nicht einfach so aus dem Boden stampfen: Da muss man doch schon etwas können. Doldinger: Genau. Ich habe zunächst einmal Klavier gespielt, hatte aber damals schon eine große Liebe für Sidney Bechet, diesem berühmten Sopransaxofonisten. Mein Traum war daher, ebenfalls Sopransaxofon zu spielen. Also habe ich dafür gearbeitet, denn so etwas hat man damals natürlich nicht geschenkt bekommen. Ich habe also in den Schulferien in einem Wählersaal – so etwas gab es damals noch – im Fernmeldebauamt das nötige Geld dafür erarbeitet. Ich habe dort Kabel gelötet usw., um mir mein erstes Sopransaxofon leisten zu können. Das Instrument habe ich dann einem ehemaligen Musik-Clown abgekauft, der in einem Zirkus gearbeitet hat. Er konnte damit nichts mehr anfangen und hat es mir daher verkauft. Danach habe ich mich dann sehr wohl im Konservatorium beraten lassen und man sagte mir dort, ich solle doch auch Klarinette studieren, weil das zusammenhängt. Muth: Aber wir sind ja noch in der Schulzeit: Das haben Sie alles neben der Schule gestemmt? Doldinger: Ja, klar. Muth: Das heißt, Sie haben in der Nacht Musik gemacht … Doldinger: Nachts spielen, das kam erst später, das kam erst ab 1953/54, als ich dann schon mal ab und zu von zu Hause ausgebüxt bin. Denn es gab damals in Düsseldorf eine sehr lebendige Musikszene: Es gab eine ganze Reihe von Nachtlokalen, in denen jeden Tag bzw. jede Nacht live Jazz, also Dixieland, gespielt wurde. Es gab das "New Orleans", es gab ein ungarisches Speiserestaurant mit dem Namen "Zum Csikos" usw.: Es spielten dort eben auch sehr viele Düsseldorfer Künstler. Ich werde nie vergessen, dass dort auch mal jemand wie Günter Grass auf dem Waschbrett gespielt hat. Es kamen in diesem kleinen, ungarischen Altstadtrestaurant immer viele interessante Leute zusammen, und dann wurde bis zwei Uhr morgens gespielt. Man bekam 17,50 Mark, wenn man engagiert wurde und spielte, dazu kamen ein Freibier und eine Portion serbisches Reisfleisch (lacht). Muth: Eine tolle Zeit, oder? Doldinger: Ja, absolut. Muth: Können Sie sich noch an die Namen der Bandmitglieder der "Feetwarmers" erinnern? Was waren das für Typen? Doldinger: Einer meiner wichtigsten Bekannten in jener Zeit war der Pianist Ingfried Hoffmann, der gerade aus Berlin zugereist war. Dessen Bruder war übrigens ein großer Konzertpianist und auch Ingfried war ein wunderbarer Pianist. Mit ihm zusammen habe ich dann später mein Quartett gegründet. Zu den "Feetwarmers" zählte zunächst einmal der Trompeter Jürgen Buchholtz, der später Jurist wurde. Später kam dann noch Manfred Lahnstein dazu, der in die Politik ging und in den 80er Jahren sogar Bundesminister wurde. Es war auch ein gewisser Alfons Zschokelt mit dabei, der bei uns Banjo spielte. Später war auch er bei der Bundesregierung beschäftigt, nämlich als Jurist. Muth: Das heißt, es wurde nicht jeder Profimusiker, so wie Sie. Doldinger: Ja, die wenigsten eigentlich. Wir haben jedenfalls schon sehr bald erkannt, dass wir eine Platte aufnehmen müssen. Und das haben wir dann auch gemacht im Jahr 1955. Muth: Gab es dafür einen Förderer oder haben Sie das einfach so von sich aus gemacht? Doldinger: Damals gab es ein ganz kleines Label, das uns unbedingt auf Platte haben wollte. Das haben wir im Jahr 1955 dann auch umgesetzt. So entstand meine erste Schallplatte. Gegen Ende der 50er Jahre haben wir schon auch noch das eine oder andere Stück aufgenommen, solche Sachen wie "Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus" usw. Aber die eigentliche Plattenkarriere, wenn man das so nennen will, begann erst in den 60er Jahren, nachdem mich ein gewisser Siegfried Loch entdeckt hatte. Er kannte aber meinen Werdegang bereits seit den 50er Jahren. Und 1962 hat er mich dann in Düsseldorf auf einem Amateur- Jazzfestival, wo ich immer noch auftrat, gehört und angesprochen: "Wollen wir nicht mal was zusammen machen?" Ich hatte natürlich meinerseits schon von ihm läuten hören, denn es gab ja zu keinem Zeitpunkt so richtig viele Jazzproduzenten. Er war in der damaligen westdeutschen Musikszene wirklich eine Ausnahmeerscheinung. Muth: Sie haben dann wirklich eine ganz solide Karriere gemacht, denn nach Ihrem Abitur haben Sie Musik studiert und eine Tonmeisterausbildung absolviert. Das war ja alles ganz, ganz solide. Doldinger: Meine Eltern waren natürlich beunruhigt, als sie merkten, dass ihr Sohn in eine Richtung geht, die ihnen so vermutlich nicht vorgeschwebt hatte. Muth: Sie werden gedacht haben, dass das brotlose Kunst sei, wie man das damals nannte. Doldinger: Ich hatte mir ausbedungen, dass ich nach dem Abitur mal ein Jahr lang agieren kann, wie ich möchte. Das habe ich dann auch gemacht und in verschiedenen Profi-Bands gespielt. Das war 1957/58. Zum Ende dieser Zeit habe ich mir dann einen Plan gemacht, wie es weitergehen soll. In diesem Jahr hatte ich wirklich kreuz und quer in allen möglichen Nightclubs gespielt. Es war damals ja noch üblich, dass Bands im Monatsengagement waren: Da spielte man jeden Abend von 20.00 Uhr bis manchmal um 4.00 Uhr morgens. Muth: Was für ein ungesundes Leben! Doldinger: Nun ja, vielleicht ungesund, aber auf jeden Fall sehr musikerkonform. Ich habe das gemocht, denn ich hatte dabei ja auch wirklich mit tollen Musikern zu tun, die ein riesengroßes Repertoire drauf hatten. Roland Kovac war z. B. jemand, mit dem ich wahnsinnig gerne gespielt habe: Er war damals auch gelegentlich der Pianist von Hans Koller und weiteren richtigen Jazzgrößen. Für mich war es durchaus eine große Herausforderung, mit Profimusikern zu spielen und dabei viel zu lernen. Danach habe ich dann aber an der Universität Köln Musikwissenschaften richtig studiert. Das war sehr wichtig für meine Entwicklung. Und in Düsseldorf habe ich ein Tonmeisterstudium absolviert, und zwar am Trautwein-Institut. Das ging so bis 1961/62. Ich habe dann aber nur einen musikalischen Abschluss gemacht, weil ich ja bereits viel als Musiker unterwegs war. Das passte oft nicht so ganz zusammen mit den Vorlesungen und Seminaren: abends ein Konzert bis spät in die Nacht und morgens gleich wieder an die Uni. Das war manchmal schon eine große Herausforderung. Muth: Und in dieser Zeit kamen eben auch noch die Frauen ins Spiel, genauer gesagt eine Frau, nämlich Inge. Da hatten Sie einiges zu meistern, denn die Herzen der Frauenwelt flogen Ihnen nur so zu, wie ich annehme. Doldinger: Nun, das war wirklich eine wildbewegte Zeit, das muss man schon sagen. Muth: Das waren eben die wilden 60er. Doldinger: In den 50er Jahren war es auch schon so gewesen. Kennengelernt habe ich die Inge bereits 1956/57, ab da waren wir gemeinsam unterwegs. Es war einfach sehr schön, dass wir so viele gemeinsame Interessen hatten. Das war in erster Linie natürlich die Musik und … Muth: Sie sind bis heute mit Inge verheiratet, glücklich verheiratet. Doldinger: Ja, absolut, und das lief sehr viel über die Kunst. Sie hat sich in späteren Jahren auch noch sehr intensiv der Malerei gewidmet: Als die Kinder aus dem Haus waren, war auch mehr Zeit für derlei Dinge vorhanden. Für mich war es wunderbar, einen Menschen an meiner Seite zu wissen, der meinen Werdegang und meine Neigung zur Musik versteht. Muth: Trotzdem war es damals doch bestimmt auch schon so wie heute: Es gab sicherlich Groupies. Gab es denn auch junge Mädchen, die Ihnen gefolgt sind, die Fans von Ihnen waren? Doldinger: Ja, sicher. Man hatte natürlich viele verschiedene Berührungspunkte. Das war damals eine Szene, die ähnlich derjenigen war, wie sie 30, 40, 50 Jahre später dann sowieso gang und gäbe war. Trotzdem war die ganze Situation aber doch dadurch belastet, dass die ältere Generation das natürlich nicht so gerne gesehen hat und versucht hat, das eine oder andere zu verhindern. Aber wie auch immer, die Musik hat einem einfach gewisse Freiheiten beschert. Insofern muss ich sagen, gab es keine Probleme. Muth: Gab es damals ein musikalisches Vorbild, von dem Sie gesagt haben: "So würde ich gerne sein!"? Doldinger: Ach Gott, das weiß ich gar nicht. Klar, es gibt natürlich schon Vorbilder, die einen durch ihr wunderbares musikalisches Können beeindrucken und bei denen man sich sagt: "Mein Gott, das muss ich auch irgendwann mal erreichen." Aber das erreicht man natürlich nur durch Üben und das Zusammenspiel mit anderen. Heute wird das alles ja mit einem riesengroßen Hype publiziert und ein großer Wind darum gemacht. Das war damals nicht üblich. Man ging einfach in ein Konzert und hat es genossen. Mein erstes Jazzkonzert hörte ich 1952: Das war die "Lionel Hampton Bigband", also dieser berühmte Vibraphonist mit seiner Band. In dieser Band spielte Quincy Jones Trompete! Man lernte damals wirklich unglaublich interessante Musiker kennen. Ich habe z. B. die Billie Holiday bei ihrem letzten Konzertauftritt in Deutschland gehört. Oder nehmen Sie Miles Davis: Das muss so um 1960 herum gewesen sein, als er seine letzte Tour zusammen mit John Coltrane gemacht hat. Das waren in einem fort umwerfende jazzhistorische Ereignisse. Bei vielen Musikern, die man damals gehört hat, war natürlich noch nicht klar, dass sie mal weltberühmt werden sollten. Muth: Da wir gerade in den 60er Jahren sind: Sind Sie da nicht auch Ehrenbürger von New Orleans geworden? Doldinger: Wir hatten das große Glück, dass wir 1960 mit der Band "Feetwarmers" zum ersten Mal einen Preis gewonnen haben. Gesponsert wurde dieser Preis von einer großen Getränkefirma, die uns dann auch in die USA gebracht hat und es uns ermöglichte, dort eine Konzerttournee zu machen. Wir waren u. a. in New York, Chicago, Atlanta, wo diese Firma beheimatet ist, und auch in New Orleans. Unsere Gastgeber haben uns damals in einer kleinen, netten Geste zu Ehrenbürgern gemacht. Aber das war mehr eine freundschaftliche, gut gemeinte Geste. Muth: Kam der Name "Feetwarmers" dort in den USA gut an? Wie sind Sie überhaupt auf diesen Namen gekommen? Doldinger: Es hatte davor schon mal eine Band mit dem Namen "New Orleans Feetwarmers" gegeben, nämlich eine Band von Sidney Bechet; es gab von ihm, glaube ich, sogar mal ein Album mit diesem Namen. Wie wir darauf gekommen sind? Ach Gott, irgendeinen Namen braucht man halt. Ich habe ja viel, viel später für meine jetzige Band den Namen "Passport" gewählt … Muth: Davor gab es aber "Motherhood". Doldinger: Ja, "Motherhood" war davor. Diesen Namen mochte ich nicht ganz so sehr. Dieser Name "Motherhood" hatte jedenfalls etwas mit Frank Zappa zu tun. Muth: Inwiefern? Doldinger: Seine Band hieß "The Mothers of Invention" und ich dachte mir: "Ach, wie schön, das kann man doch mal in einen eigenen Bandnamen einbringen." Mit dieser Band habe ich damals nur zwei Alben aufgenommen. Danach hat mich dann aber ein anderes Label engagiert, bei dem ich auch heute noch bin. Als ich für dieses neue Label mein erstes Album gemacht habe, habe ich verschiedene Vorschläge für einen Namen gemacht und mir gedacht: "Eigentlich wäre es doch gar nicht unvernünftig, mal das Wort 'Passport' als Bandname zu wählen." Auf diese Weise hat das Label auch gleich das Geld für ein aufwendiges Plattencover gespart: Wir haben einfach unsere Reisepässe als Cover- Art für das erste Album genommen. Und überhaupt, der Name "Passport" ist einfach wunderbar und auch absolut zeitlos. Aus diesem Grund haben wir den dann beibehalten. Muth: Das sind schon zwei Seelen in Ihrer Brust: Da gibt es auf der einen Seite den Kreativen, den Künstler, und auf der anderen Seite den Pragmatiker, den Organisierer. Doldinger: Das hat schlicht mit der Frage der Vermarktung zu tun, denn man muss ja auch irgendwie davon leben können. Das hängt alles sehr eng zusammen, klar. Muth: Ist das eines Ihrer Erfolgsgeheimnisse, dass Sie so organisiert und auch so bodenständig sind? Sind seit Jahrzehnten verheiratet und führen ein glückliches Familienleben: Ist auch das ein Teil Ihres Erfolgsgeheimnisses? Doldinger: Hm, weiß ich nicht, das mag sein. Mein Erfolg ist ja letztlich kein ganz großes Geheimnis, denn ich hatte einfach immer das Glück, zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Leute kennenzulernen. Das hängt bei mir schon alles sehr eng mit der Musik zusammen, aber über die Musik wurden eben auch wieder andere Leute auf mich aufmerksam. So kam es zu meinen ersten Filmmusikaufträgen: Das waren Leute, die hatten mich irgendwo live gehört. Muth: Darauf kommen wir gleich noch zu sprechen, denn das ist ja auch ein großes Kapitel. Davor würde ich aber gerne noch ein wenig bei Ihrer Biografie bleiben wollen und ein bisschen in die 70er Jahre hineinschauen. Denn aus dieser Zeit haben wir etwas mitgebracht. Da gibt es etwas Wunderbares, das wir jetzt mal einspielen werden. Sie können uns auch gleich etwas dazu sagen. Aber davor schauen wir uns das mal an. Filmzuspieler: (Ausschnitt aus einem Filmbeitrag über Klaus Doldinger aus den 70er Jahren) Doldinger: Das muss eine sehr frühe Aufnahme sein, denn da spiele ich noch ein anderes Mundstück, als ich es heute spiele, nämlich ein Berg Larsen Mundstück. Ah, und jetzt der Schlagzeuger. Ich dachte zuerst, das sei der Udo, nein, das ist Keith Forsey, der bei mir mal getrommelt hat: ein sehr guter britischer Schlagzeuger, der dann in den USA eine riesengroße Karriere gemacht hat. Wahnsinn! Ja, und der Lothar Meid! Mein Gott, wie schön! Der Lothar ist ja leider nicht mehr unter uns. Er war damals der führende Bassist weit und breit und hat auch mit Amon Düül gespielt. Wahnsinnig. Muth: Das waren schon tolle Leute, die Sie da beieinanderhatten. Doldinger: Ja, unglaublich. Ich hatte einfach das Glück, immer die richtigen Leute zu treffen. Muth: Das Glück des Tüchtigen nennt man das. Doldinger: Ich hatte das Quartett, mit dem ich in den 60er Jahren so an die zehn Platten gemacht habe und mit dem ich auch wirklich weltweit unterwegs gewesen bin. Wir haben bereits 1965 eine riesengroße USA-Tour gemacht. Wir sind vor allem auch in Südamerika getourt und ein Album hieß dann logischerweise "Doldinger in Südamerika". Wir waren aber auch im Fernen Osten, in Indien usw. Auf diesen Touren hatte ich auch immer wieder die Möglichkeit, mit einheimischen Musikern zu musizieren, die eher aus der folkloristischen Ecke kamen. Das hat bei mir natürlich Spuren hinterlassen. Muth: Sie saugen das ja auch auf, bringen diese Inspirationen ein in Ihre Musik. Doldinger: Ich habe in der Tat, inspiriert von dem einen oder anderen Musiker, den ich da getroffen habe, neue Stücke komponiert. Das heißt, ich habe das dann musikalisch so umgesetzt, dass es auch glaubhaft klingt. Das hat sich bis heute so gehalten: Wir waren in diesem Jahr wieder mal in Marokko und haben dort auch wieder mit einheimischen Musikern gespielt. Da hat es in meinem Leben wirklich etliches an Einflüssen gegeben, die mich als Musiker und Komponist weitergebracht haben. Muth: Lassen Sie uns doch gleich auf Klaus Doldinger, den Komponisten zu sprechen kommen. Jeder, der den "Tatort" sieht, weiß, dass die Erkennungsmelodie von Klaus Doldinger stammt. Aber das war nicht die einzige Filmmusik, die Sie gemacht haben. Sie haben z. B. auch beim Bayerischen Rundfunk Musik für "B5 aktuell" gemacht. Ihre ganz großen Erfolge waren aber die Filmmusiken zu "" und "Die unendliche Geschichte". Was fällt Ihnen da noch alles ein? Doldinger: Es waren Unmengen von Filmmusiken. Wenn ich mir das heute anschaue, dann kann ich es selbst kaum glauben. Muth: Sie sind so bescheiden. Doldinger: Nein, nein, das hat sich einfach auch über einen langen Zeitraum so ergeben. Und diese Musik entstand auch immer aus der Arbeit heraus. Muth: Wolfgang Petersen, "Das Boot". Doldinger: Mit Wolfgang Petersen hatte ich ja schon Jahre davor immer wieder zusammengearbeitet, lange bevor "Das Boot" entstand. Ich habe sogar schon die Musik zu seinem ersten Kinofilm gemacht. Der Kontakt zu ihm ist über eine Nachbarin von mir zustande gekommen, die mal zu mir gesagt hat: "Klausi, da gibt es einen Mann aus Norddeutschland, der dich gerne kennenlernen möchte. Der macht nämlich Filme." Und so lernte ich den Wolfgang Petersen kennen. Der erste Film, bei dem wir zusammengearbeitet haben, hieß "Einer von uns beiden". Jürgen Prochnow hat schon damals mitgespielt in seinem Film. Die Musik, die ich damals mit meiner Band aufgenommen habe, war nicht schlecht. Dieses Stück habe ich dann sogar später noch einmal neu aufgenommen, wiederum mit "Passport": Ich habe es dann "Samba Cinema" genannt. Aber gut, es gab viele, viele Berührungen mit dem Kino. Meine erste Filmmusik fürs Kino habe ich schon Mitte der 60er Jahre komponiert, und zwar für Klaus Lemke. Ihn habe ich damals über seinen Produzenten Peter Berling kennengelernt, der wiederum Teil der Fassbinder-Family war. Für Fassbinder habe ich übrigens auch mal was komponiert, nämlich für seinen Film "Baal". Dieser Film hatte merkwürdigerweise erst vor Kurzem erneut Premiere, weil die Erben von Bertolt Brecht diesen Film nicht freigegeben hatten. Ich habe für diesen Film ein Stück komponiert, zu dem der Fassbinder dann einige Zeilen von Brecht quasi rezitiert hat. Das klingt wie ein ganz früher Rap. Muth: Das ist ein beeindruckender Film, ich habe ihn nämlich gesehen, denn inzwischen kann und darf man ihn sehen. Doldinger: Ja, das ist ein sehr schöner und gelungener Film. Wenn man das mit so einem großen Zeitabstand noch einmal sieht und hört, kann man kaum glauben, was man da gemacht hat – dass ich das komponiert habe. Muth: Dieser Verbindung zwischen Livemusiker und Komponist ist ja nicht so selbstverständlich. Schlagen da zwei Herzen in Ihrer Brust? Gehört das für Sie unmittelbar zusammen oder sind das zwei verschiedene Dinge? Doldinger: Eigentlich gehört das zusammen. Bei mir kommt alles, was ich komponiere, aus dem Spielerischen heraus und entwickelt sich als eine lebendige Musik. Deswegen habe ich auch viele Melodien komponiert – weil ich mir die eben am besten merken kann und dann auch am besten umsetzen kann, spielerisch umsetzen kann. Abstrakte Musik ist natürlich schon auch ein wesentlicher Teil meiner Musik, aber diese führe ich ja auf der Bühne nicht auf. Diejenigen Stücke, die ich als wirklich merkfähig erachte, haben sich im Laufe der Jahre auch wirklich durchsetzen können, haben sich bewährt. Denn das merkt man natürlich auf der Bühne, wie das Publikum mitgeht, wenn man gewisse Stücke spielt, weil sie diese Melodie wiedererkennen. Muth: Weltberühmt wurden Sie durch das "Boot"? Doldinger: Mag sein. Ich habe das ja selbst nie so wahrgenommen. Muth: Herr Doldinger, Sie sind der erfolgreichste deutsche Jazzmusiker aller Zeiten. Doldinger: Das mag sein, aber das weiß ich nicht genau und das ist auch ein Thema, das mich nicht so sehr interessiert, denn das sind so … Muth: Sie haben, darüber dürfen wir jetzt auch mal reden, zahlreiche Preise bekommen, und zwar nicht nur den "Echo" und den "Bayerischen Filmpreis", sondern auch den "Bayerischen Fernsehpreis" und viele, viele Musikpreise. Lässt Sie das wirklich so kalt? Doldinger: Nein, natürlich nicht. Man freut sich natürlich über jeden Erfolg, das ist ja logisch. Es wäre ja auch überheblich, wenn man das einfach so beiseiteschieben würde. Aber ich sehe es z. B. als viel wichtiger an, auch zukünftig zu musizieren und neue Ziele zu haben mit meiner Band. Ich glaube, es würde nicht ausreichen, wenn man nur mal alle drei Jahre ein Album macht oder sich auf den älteren Sachen ausruht. Künftige Projekte mit Verve anzugehen, ist ein ganz wichtiger Gesichtspunkt für mich. Das war jedenfalls bei mir immer so. Muth: Hätten Sie es sich damals gedacht, dass so etwas wie die "Tatort"- Titelmelodie so ein riesengroßer Erfolg wird? Haben Sie je davon geträumt, dass so etwas zustande kommt, dass diese Musik über viele, viele Jahre hinweg – natürlich mit einigen Variationen – so erfolgreich ist? Doldinger: Ich bin mir fast sicher, dass sich keiner der damals Beteiligten vorstellen konnte, was für ein riesengroßer Erfolg diese Serie werden wird. Das entstand ja 1970 zunächst einmal als eine vom WDR ins Leben gerufene zehnteilige Krimiserie und es wurden zuerst einmal auch nur zwei, drei Filme gedreht. Ich habe damals den Auftrag erhalten, die Titelmelodie zu schreiben. Das hat sich so ergeben und diese Musik habe ich auch in relativ kurzer Zeit entworfen. Es gab damals ja noch keine Digitaltechnologie, sondern man schaute sich so einen Film oder so einen Trailer am Schneidetisch an: Neben einem saß der Cutter oder die Cutterin und man hat sich seine Notizen gemacht. Danach ging man nach Hause und hat dann etwas komponiert und arrangiert. Wenige Tage später habe ich 30 Musiker ins Studio gebeten – damals konnte man sich das noch … Muth: Aber was für ein Gefühl! Sie haben den Nerv der Zeit damals und auch von heute getroffen! Das ist doch selten, dass so eine Musik so eine Stabilität hat. Doldinger: Mag sein, aber die Bilder haben das ja auch hergegeben, denn dieser Trailer war eben von Anfang an von der Bildgestaltung her nicht schlecht. Dieser Einstieg war schon sehr eigenständig, wie ich fand. Das hat mich inspiriert, natürlich. Man schreibt dann eine Musik, die etwas abstrakter ist und dann aber schon so ein bisschen in einen Groove übergeht, der einen auch mitreißen kann. Irgendwie lag das einfach in der Natur der Sache, dass das so geworden ist, wie es dann geworden ist. Aber ich muss wirklich sagen, dass wir damals alle völlig unschuldig an diese Sache herangegangen sind. Denn man ist damals ja noch nicht mit so einem System wie heute vorgegangen: Heute werden, wenn so etwas entwickelt wird, oft drei, vier und manchmal sogar bis zu zehn Komponisten aufgefordert, mal einen entsprechenden Vorschlag zu machen. Am Ende muss dann eine Jury entscheiden, was genommen wird – oder es entscheidet nur ein einzelner Redakteur, aber das weiß ich nicht. Damals war ich jedoch der einzige Komponist und ich habe auch nur diesen einen Vorschlag gemacht. Und der war's dann auch. Aber man muss halt einfach auch Glück haben. Muth: Und man muss sehr, sehr gut sein, Herr Doldinger. Denn ansonsten hätten ja auch die Amerikaner nicht gesagt: "Aha, da kommt dieser Klaus Doldinger, der eine Musik machen kann wie die zum 'Boot'!" Doldinger: Das hat damals Günter Rohrbach entschieden, zu dem ich dann im Laufe der Jahre eine Freundschaft aufbauen durfte und konnte. Ich bin wirklich sehr dankbar für diese Sachen. Ich bin ihm auch dankbar für seine großen Initiativen, die er auch sonst unternommen hat. Man darf ja nicht vergessen, dass er über viele, viele Jahre hinweg einer der wichtigsten Produzenten im deutschen Film gewesen ist. Er hat solche riesigen Projekte wie "Berlin Alexanderplatz" von Rainer Werner Fassbinder gemacht usw. Und bei der "Unendlichen Geschichte" war er neben Bernd Eichinger die treibende Kraft, um dieses Buch überhaupt als Film umzusetzen. Beim "Boot" will ich natürlich auch den Autor Lothar-Günther Buchheim nicht unerwähnt lassen. Ich kannte ihn zunächst einmal nur so zwischen Tür und Angel, und zwar als einen Nörgler, der eigentlich nicht einverstanden war mit der Umsetzung seines Stoffes in diesem Film. Aber später, als er dann auch mal die Langversion des Films "Das Boot" kennenlernte, war auch er begeistert. Wir haben uns damals wirklich angefreundet und ich habe es immer als große Ehre empfunden, in seinem späteren Museum in Bernried hie und da zu spielen. Es war immer wunderbar, dort Konzerte zu spielen oder bei irgendwelchen Ausstellungseröffnungen mitwirken zu dürfen. Das war immer ein großes Erlebnis für mich. Er hat mich als große Persönlichkeit doch sehr beeindruckt, wie ich wirklich sagen muss. Und der Stoff, den er da zu Papier gebracht hatte, war wirklich fantastisch. Auch das Nachfolgebuch zum "Boot", das Buch "Die Festung", ist ein unglaublich gutes Buch über die damalige Zeit, die ich ja als Kind auch durchlebt habe – aber eben aus kindlicher Perspektive. Mich hat das immer sehr angesprochen, auch die Art und Weise, wie er schreiben konnte. Es ist ja doch ziemlich schwierig, so ein Thema dann auch gut zu Papier zu bringen. Muth: Als Musiker ist es doch auch so: Man muss am Puls der Zeit sein, um die Herzen der Menschen erfassen zu können. Doldinger: Nun ja, dieses "müssen" klingt doch ein bisschen nach Zwang. Klar, das stimmt schon irgendwie, aber das "muss" man nicht machen, sondern das muss man in sich spüren. Ich glaube, das ist einfach etwas Emotionales, das in einem drin sein muss. Und erzwingen kann man so etwas ja nicht, selbst wenn man noch so viel übt. Muth: Aber das Feeling für die richtige Zeit, für das, was die Menschen hören wollen, das muss man doch haben. Doldinger: Ich weiß nicht, es ist jedenfalls ein großes Glück, wenn das, was man selbst empfindet, was man selbst umsetzen will, dem entspricht, was die Menschen draußen auch hören wollen. Aber es ist eher ein Geschick, ein Geschenk des Himmels, wenn einem das so widerfährt. Zu erzwingen ist das jedenfalls nicht. Muth: Woher holen Sie sich denn Ihre Inspiration? Sie sagen, das ist ein Geschenk des Himmels: Das ist ja alles ganz wunderbar, aber was inspiriert Sie? Doldinger: Inspirierend war für mich z. B. immer das Erlebnis eines Konzerts eines großen Künstlers: im Publikum zu sitzen oder neben der Bühne zu stehen und oben jemand spielen zu hören, der einen wirklich bewegt. Diesbezüglich habe ich wirklich unglaublich viele fantastische Erlebnisse gehabt – z. B. bei den vorhin schon erwähnten frühen Konzerten. Später war ich auch relativ oft in Paris, dort hörte ich dann z. B. jemand wie Bud Powell, den großen Pianisten, oder , mit dem ich später auch befreundet war und der auch auf zwei meiner Platten mitgewirkt hat. Ich habe wirklich ganz viele hervorragende Musiker live erlebt: Das hat mir unglaublich viel gegeben und hat auch bei mir etwas freigesetzt. Wenn man so einen tollen Musiker hört, dann ist man ja nicht sofort davon überzeugt, dass man das selbst auch kann. Das muss man also zuerst einmal selbst "erspüren", das muss man natürlich auch versuchen, spielerisch umzusetzen. Wenn sich das dann ergibt, dann ist das ein großes Glück. Muth: Der Erfolg war und ist für Sie ja auch Motivation. Doldinger: Ja, natürlich. Gut, dazu gehört eben auch, dass man mit Erfolg umgehen kann, dass man nicht größenwahnsinnig wird usw. Muth: Diesen Eindruck machen Sie nicht, Herr Doldinger, ganz im Gegenteil. Doldinger: Das liegt daran, dass ich ja weiß, wie schwer es ist, etwas Eigenständiges zu erzeugen und es auch umzusetzen. Natürlich, die Gefahr besteht immer – und dafür gibt es ja unter den Künstlern viele Beispiele –, dass man den Erfolg so umsetzt, dass es einem letztlich selbst schadet. Das ist natürlich schade. Ich glaube aber, wenn man seinem Herzen folgt und die eigenen Grenzen kennt und anerkennt und dann versucht, das Beste daraus zu machen, dann ist das der richtige Weg – statt irgendwie zu versuchen, in ganz andere Gefilde rüber zu rutschen. Aber das ist ein heikles Thema, denn bei mir stand diese Frage auch immer schon im Raum. Womit das bei mir zusammenhängt, weiß ich gar nicht. Vielleicht hat es was damit zu tun, dass ich als Stier von meinem Sternzeichen her so ein lebensfroher Mensch bin … Muth: Ich kenne mich da nicht so aus, aber die Stiere gelten als bodenständig. Und bodenständig sind Sie ja wirklich. Doldinger: Das hängt sicherlich auch ein bisschen damit zusammen. Deswegen hat es ja auch nicht nur Leute gegeben, die gesagt haben: "Ach, was will denn dieser spinnerte Jazzer?" Nein, es hat auch Leute gegeben, die gesagt haben: "Ach, der kann doch auch mal für uns ein Musical arrangieren." Das habe ich dann auch tatsächlich gemacht: Ich habe Mitte der 60er Jahre z. B. am Düsseldorfer Schauspielhaus die deutsche Erstaufführung des weltberühmten Musicals "Hello, Dolly!" arrangiert und dirigiert. Wir haben 1966 sogar ein Album aufgenommen, das dann sogar in den USA verkauft wurde, obwohl das "Hello, Dolly!" auf Deutsch war. Muth: Wie viele Titel haben Sie eigentlich geschrieben? Doldinger: Dieses Musical habe ich leider nicht geschrieben. Ich hätte schon auch gerne mal ein Musical geschrieben, wirklich gerne. Ich habe auch einige Libretti bekommen, aber es war nie so, dass ich gesagt hätte: "Das ist es jetzt!" Muth: Wenn ich Ihnen die Frage stelle, was Sie beruflich noch erreichen wollen, dann lautet also Ihre Antwort: "Ein Musical schreiben." Doldinger: Ja, vielleicht, das wäre mal was. Denn der Umgang mit Schauspielern ist auch etwas ganz Besonderes und kann eine große Freude sein. Aber wie viele Stücke ich selbst wirklich komponiert habe, weiß ich gar nicht. Muth: 200? Doldinger: Es sind auf jeden Fall über 2000. Für einen Film schreibt man ja z. B. oft nicht nur ein Stück, sondern gleich mehrere. Nun gut, über den Daumen gepeilt, sind es über 2000 Stück, die ich selbst komponiert habe. Muth: Da kommt nun auch noch etwas anderes mit ins Spiel: Wir haben vorhin von Ihnen als Live-Musiker gesprochen. Vielen Live-Musikern geht es heute ja finanziell nicht sehr gut. Dann haben wir über Sie als Komponisten gesprochen. Als Live-Musiker und als Komponist waren und sind Sie sehr, sehr erfolgreich. Aber Sie waren z. B. auch lange Jahre im GEMA-Aufsichtsrat. Das heißt, Sie wissen, wie viel Geld dort fließt. Was ist denn wichtiger für den Musiker? Dass er Komponist ist oder dass er Live-Musiker ist? Wo kann man mehr Kasse machen? Doldinger: Ich habe mich um dieses Thema ja nie gekümmert und ich muss auch gestehen … Muth: Aber Sie wissen doch, was aus Ihrem Konto ist. Doldinger: Ja, natürlich, aber das war nicht das entscheidende Thema. Ich wurde 1960 oder '61 GEMA-Mitglied, habe aber 30 Jahre lang die GEMA so gut wie gar nicht beachtet, bis mich dann 1990 der Kollege Harald Banter, der wunderbare Dirigent und Arrangeur, angerufen hat: "Hör mal, du könntest doch mal was für deine Kollegen tun." "Ja, was denn? Was meinst du denn damit?" "Bei uns ist gerade der liebe Herr Rosenberger gestorben und deswegen brauchen wir jemand Neuen im Aufsichtsrat der GEMA, der selbst praktizierender Musiker ist." Ich habe dann gesagt: "Gut, ich versuch das mal." Muth: Wir müssen vielleicht kurz erklären, was die GEMA ist: Da geht es um die Verwertung der Musikrechte. Viele Künstler brauchen diese Einnahmen über die GEMA, um überleben zu können. Doldinger: Die GEMA ist eine Genossenschaft, die das Inkasso vornimmt für die Nutzung des geistigen Eigentums des Komponisten. Die mit dem geistigen Eigentum zusammenhängenden Rechte und Verwertungsmöglichkeiten sind natürlich auch für andere Berufsbereiche und künstlerische Sparten von entscheidender Wichtigkeit, z. B. für Schriftsteller, für Journalisten usw. Die GEMA ist jedenfalls unsere Gesellschaft im Musikbereich, die die Verwertung der komponierten Werke vornimmt – ohne einen eigenen Gewinn zu machen. Das wird nämlich oft ganz falsch dargestellt, denn viele versuchen ja, die GEMA als Moloch darzustellen, der immer nur Geld eintreibt und dann mit diesem Geld verschwindet. Nein, in Wirklichkeit ist es so, dass bis auf die Verwaltungskosten, also die Gehälter der hauptamtlichen Mitarbeiter der GEMA, sämtliche Gelder, die reinkommen, an die Künstler fließen. Von den GEMA-Einnahmen gehen auch über 50 Prozent ins Ausland. Das ist übrigens ein merkwürdiges Phänomen bei uns. Ich bin ja viel in Frankreich und auch in Italien: Dort hört man ja kaum mal internationale Titel. In Deutschland hört man hingegen fast ausschließlich internationale Titel. Das ist schon ein merkwürdiges Phänomen hier in Deutschland. In Frankreich gibt es sogar die gesetzliche Vorgabe, dass z. B. im Radio französische Musik laufen muss – während bei uns fast nur englischsprachige Musik läuft. Aber das ist nicht eigentlich mein Thema, denn letztlich finde ich wichtig, dass es die GEMA gibt und dass sie dafür sorgt, dass wir als Komponisten etwas davon haben, wenn irgendwo unsere Werke aufgeführt werden. Das wurde mir also nach 30 Jahren tatsächlich zum Anliegen und so war ich dann über 24 Jahre lang Mitglied im Aufsichtsrat der GEMA. Ich habe mich dort wirklich gerne eingesetzt und ich habe mich dabei vor allem auch mit den sachlichen Voraussetzungen des Urheberrechts auseinandergesetzt, denn das ist ja ein Thema, das einem ansonsten nicht so leicht zufliegt. Es gibt ein GEMA-Jahrbuch, das jedes Jahr u. a. auch mit neuen Vorgaben neu erscheint. Darin werden aber auch jedes Mal das Urheberrecht und all diese Dinge bestens dargestellt, sodass man sich darüber gut informieren kann. Muth: Ich habe diese Frage deswegen gestellt, weil es mich interessiert, wie schwierig es heutzutage ist, als Musiker zu überleben. Sie selbst sind diesbezüglich ja die große, große Ausnahme. Doldinger: Das ist heute eine ganz große Schwierigkeit geworden. Es gibt heute sehr viele Möglichkeiten, sich als Musiker, sich als Jazzer ausbilden zu lassen. Im Gegensatz zu der Zeit, in der ich studiert habe, werden heute auch Jazzkurse, Filmmusikkurse usw. an den Musikhochschulen angeboten. Das wird heutzutage alles unterstützt und jedes Bundesland hat alle möglichen Institutionen, an denen etliche Kollegen von mir Professoren sind. Ich habe an der Bayerischen Akademie für Fernsehen, die damals von Leo Kirch ins Leben gerufen worden ist, selbst auch mal Vorträge gehalten in dieser Richtung. Ich habe dort sehr gerne einmal im Jahr einen Vortrag gehalten über Urheberrecht oder darüber, wie überhaupt eine Filmmusik entsteht usw. Das habe ich gerne gemacht. Wenn man professioneller Musiker werden und sich in all diesen Dingen wirklich umfassend ausbilden lassen möchte, dann gibt es dafür heutzutage jede Menge Studiengänge. Das Problem ist aber, dass die Jungs und Mädels, die so ein Studium absolviert haben, damit noch keine Garantie haben, ihren auf diese Weise erlernten Beruf auch tatsächlich ausüben zu können. Es gibt viele Beispiele von jungen Filmemachern, die ihr Studium abgeschlossen haben, vielleicht einen Film machen, der womöglich sogar preisgekrönt wird und die danach so gut wie gar nichts mehr drehen. Das ist ein großes Problem: Diese Leute werden "rausgeschoben" ins freie Berufsleben und haben keine Garantie, dann einen Werdegang einschlagen zu können, wie das in anderen Berufssparten üblich und möglich ist. Das ist ein großes Problem. Muth: Aber es gibt Bühnen, die ganz, ganz wichtig sind für Jazzer. Spricht man dieses Wort eigentlich deutsch oder englisch aus, mit einem deutschen "a" oder mit einem englischen "ä"? Doldinger: Das ist egal. Muth: Also, es gibt Bühnen, die für Jazzer wirklich wichtig sind wie z. B. Burghausen. Von dort haben Sie uns auch etwas mitgebracht. Das ist eine Aufnahme vom Jazzfest in Burghausen aus dem Jahr 2013. Lassen Sie uns mal ein wenig reinhören in diese Aufnahme. Ich glaube, wer dort spielen kann und darf, der hat es weit gebracht im Jazz. Filmzuspieler: (Klaus Doldinger spielt auf dem Jazzfest in Burghausen im Jahr 2013) Doldinger: Das war vor ein paar Jahren, als wir auf der "Internationalen Jazzwoche Burghausen" gespielt haben. Br-alpha hat das produziert und aufgenommen und dann lief diese Aufnahme auch verschiedene Male im Fernsehen. Ich spiele hier, wie zu sehen ist, auf meinem Sopransaxofon: Ich hatte ja vorhin erwähnt, dass Sidney Bechet immer schon mein großer Hero gewesen ist. Ich selbst klinge auf diesem Instrument aber völlig anders. Es ist schön, das jetzt noch einmal so zu hören. Denn ansonsten wäre mir dieser Auftritt gar nicht mehr so gegenwärtig. Wir sehen hier Biboul Darouiche und Ernst Ströer und all die anderen: Das ist eigentlich meine jetzige Band, mit der ich ständig auftrete. Muth: Welche Bedeutung hat Burghausen für einen Jazzer? Doldinger: Das ist schon ein sehr wichtiges Jazzfestival, eines der wichtigsten in Deutschland, wie man sagen muss. Der Schlagzeuger, den wir hier gerade sehen, ist Christian Lettner. Das war ein sehr schönes Konzert. Burghausen ist ein Festival, das sehr gut dafür sorgt, dass auch die zeitgenössische Musik, wie ich sie nenne, aufgeführt wird. Muth: Hat der Jazz noch Konjunktur? Doldinger: Ach, "Konjunktur", das klingt so hochtrabend. Ich würde sagen, der Jazz ist, wie ich leider gestehen muss, unterprivilegiert. Wenn man sich mal die Feuilletons in den wichtigen Zeitungen und Zeitschriften genauer anschaut, dann muss man sagen, dass der Jazz leider total unterprivilegiert ist: Gemessen an dem, was über Ballett, Operninszenierungen, Konzertabende usw. geschrieben wird, kommt der Jazz so gut wie gar nicht vor. Man muss sich ja z. B. nur mal die Programme in München anschauen: Das ist so stark vom Mainstream geprägt, dass da kaum einmal ein Jazzkünstler zu Wort kommt. Gut, ich selbst habe ja keinen Anlass zu klagen, weil ich doch immer noch sehr gut berücksichtigt werde. Aber insgesamt finde ich doch, dass der Jazz in unserer Kulturszene etwas zu wenig beachtet wird, gemessen daran, welchen Stellenwert er eigentlich hat für die Menschen. Denn es gibt unglaublich viele junge Leute, die heute Jazz machen, die lebendig musizieren und ein Publikum erreichen – und die gerne noch ein bisschen mehr Publikum erreichen wollen: Dem muss einfach mehr Rechnung getragen werden in der Öffentlichkeit und auf den Seiten des Feuilletons. Das ist tolle lebendige Musik, die heute entsteht. Muth: Umso schöner, dass Sie, Klaus Doldinger, heute bei uns waren. Sie sind als Jazzlegende sozusagen der Repräsentant auch für die jungen Leute. Das macht Mut, das macht Spaß. Ganz herzlichen Dank, dass Sie bei uns im Studio waren. Ich wünsche Ihnen noch viele Auftritte und uns noch ganz, ganz viele wunderbare Kompositionen von Ihnen. Doldinger: Vielen Dank. Muth: Wenn ich Ihr Saxofon so liegen sehe, dann könnten Sie doch zum Schluss … Doldinger: Ja, ich kann ja noch mal ein bisschen spielen, z. B. das Stück, das wir gerade in der Aufnahme von Burghausen gehört haben. Muth: Das war das alpha-Forum, meine Damen und Herren, mit Klaus Doldinger, der Jazzlegende. Schön, dass Sie zugeschaut haben. Doldinger: (spielt noch einmal auf seinem Saxofon)

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