Archive und Migration

Vorträge des 73. Südwestdeutschen Archivtags am 21. und 22. Juni 2013 in

Herausgegeben von Roland Deigendesch und Peter Müller

Verlag W. Kohlhammer Stuttgart 2014

F-01.indd 1 10.04.2014 13:55:04 Titelbild: Italienische Gastarbeiter im Zug am Freiburger Hauptbahnhof im Dezember 1966, darüber die Informationen für und über Ausländer vom März 1987 und ein Plakat für ein internationales Fußballturnier in Stuttgart-Hausen im Jahr 1980 (Fotomontage). Vorlagen: Landesarchiv Baden-Württemberg Staatsarchiv Freiburg Fotosammlung Willy Pragher W 134 Nr. 072192d sowie Stadtarchiv Stuttgart Bestand 1062 A.R.C.E.S. e. V. Stuttgart Nr. 6 und Nr. 7.

P Gedruckt auf alterungsbeständigem, säurefreiem Papier

Alle Rechte vorbehalten © 2014 by Landesarchiv Baden-Württemberg, Stuttgart Gestaltung: satzwerkstatt Manfred Luz, Neubulach Druck: Asterion Germany GmbH, Viernheim Kommissionsverlag: W. Kohlhammer Stuttgart GmbH, Stuttgart Printed in Germany ISBN 978-3-17-025766-5

F-01.indd 2 14.04.2014 12:11:55 Inhalt

4 Vorwort Gerhard Melinz 51 Archive und Migration. Roland Deigendesch Ein Bericht aus Österreich 6 Einführung Nasrin Saef 58 Bettina Severin-Barboutie Das Dokumentationsprofi l Migration. 10 Historische Mi gra tionsforschung auf dem Pluralität der Kommune auch im Prüfstand Archivbestand

Sandra Kostner Jürgen Lotterer 69 Vereinsüberlieferung als Zugang zur lokalen 18 Partizipation durch Diversitätsorientierung. Migra tionsgeschichte Öff nung kultureller Einrichtungen für bislang unterrepräsentierte Gruppen Anja Dauschek 78 Meine Stadt – mein Museum. Michael Stephan Städtische Mi gra tionsgeschichte sammeln in 25 Archive und Migration. Ein Sachstandsbericht einem Museum.

Daniel Peter 94 Die Autorinnen und Autoren 38 Archive und Mi gra tionsgeschichte aus französischer Sicht

3

F-01.indd 3 10.04.2014 13:55:45 Robert Kretzschmar Vorwort

Vorwort

Der 73. Südwestdeutsche Archivtag, dessen Ergeb- ergeben: angefangen bei der Personalentwick- nisse im vorliegenden Band veröff entlicht werden, lung in den Archiven, vor allem aber im Hinblick fand vom 21. bis 22. Juni 2013 im neuen Gebäude auf die archivischen Leistungen und Produkte. des Stadtarchivs Stuttgart im Stadtteil Bad Cann- Und dabei wurden besonders die Arbeitsfelder statt statt, das alleine als solches schon zahlreiche der Überlieferungsbildung und der historischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer angelockt hatte. Bildungsarbeit in den Blick genommen, die im Bei schönem Sommerwetter konnte das gemein- Vordergrund der meisten Beiträge und Wortmel- same Mittagessen im Hof des Archivs gesellig dungen standen. Für die archivische Bewertung eingenommen werden, was sicher dazu beitragen konnte die Tagung aus dieser Perspektive heraus wird, dass die Tagung in guter Erinnerung bleibt. geradezu beispielhaft den methodischen Ansatz Vor allem aber wird dies der Aktualität ihres Ge- bestätigen, dass es von Nutzen ist, einzelne Phäno- genstands geschuldet sein. mene und Bereiche der Lebenswirklichkeit in den Archive und Migration: Für den Südwestdeut- Blick zu nehmen, um darauf bezogene Ziele und schen Archivtag in Stuttgart hatte das Gremium Kriterien der Überlieferungsbildung zu refl ektie- der Triarier, das die Tagung veranstaltet, ein ren und zu defi nieren. Inhaltlich schloss der Th ema gewählt, das in der Landeshauptstadt 73. Südwestdeutsche Archivtag damit an eine Stuttgart, für die statistisch 2011 der zweithöchste Sektion auf dem 77. Deutschen Archivtag 2007 in Anteil an Menschen mit Mi gra tionshintergrund Mannheim an, die den Titel hatte Überlieferungs- in Deutschland ausgewiesen wurde, eine hohe bildung und -sicherung für Migranten.1 gesellschaft liche Relevanz hat. Dies wurde auch in Archive und Migration: Als besonders frucht- der öff entlichen Auft aktveranstaltung am Abend bar zeigte sich gerade auch für dieses Th ema die des 21. Juni deutlich, in der drei Einwanderer der sparten- und länderübergreifende Ausrichtung des ersten Generation aus Italien, Jugoslawien und Südwestdeutschen Archivtags, hat es doch für die der Türkei über ihre persönlichen Erfahrungen Museen wie auch die Nachbarländer Frankreich, berichteten. Österreich und die Schweiz dieselbe Relevanz. Archive und Migration: Im Fachprogramm am Und als ebenso Gewinn bringend erwies sich 22. Juni stand die Frage im Vordergrund, welche die Einbeziehung der Forschung und damit der Anforderungen sich an die Archive aus den mit Nutzerperspektive. Der Austausch erfolgte – wie der Einwanderung verbundenen Veränderungen auf dem Südwestdeutschen Archivtag üblich –

4

F-01.indd 4 10.04.2014 13:55:46 Vorwort Robert Kretzschmar

über eigene Beiträge im Tagungsprogramm und in Anmerkungen der Diskussion, vor allem aber auch am Rande im 1 Lebendige Erinnerungskultur für die Zukunft . 77. Deutscher persönlichen Gespräch. Archivtag 2007 in Mannheim. (Tagungsdokumentationen zum Ganz herzlich gedankt sei allen, die an der Deutschen Archivtag 12). Fulda 2008. S. 115–169. Vorbereitung und Durchführung des Archivtags und dann an der Publikation des Tagungsbands beteiligt waren: zunächst Herrn Dr. Peter Müller vom Staatsarchiv Ludwigsburg als amtierenden Präsidenten des Südwestdeutschen Archivtags, Herrn Dr. Roland Deigendesch, der die Funktion des Tagungspräsidenten wahrnahm, Herrn Dr. Roland Müller, dem Leiter des Stadtarchivs Stutt- gart, für das Zusammenwirken bei der Vorberei- tung und der Organisation vor Ort, sodann allen Referentinnen und Referenten für ihre Beiträge in Wort und Schrift , nicht zuletzt Frau Dr. Regina Keyler vom Landesarchiv Baden-Württemberg für die mit der Drucklegung verbundene Arbeit. Dem Tagungsband wünsche ich eine breite Resonanz, denn dem Th ema ist weiterhin große Bedeutung beizumessen.

Stuttgart, im Januar 2014

Prof. Dr. Robert Kretzschmar Präsident des Landesarchivs Baden-Württemberg

5

F-01.indd 5 10.04.2014 13:55:46 Roland Deigendesch Einführung

Roland Deigendesch Einführung

Der 73. Südwestdeutsche Archivtag in Stutt- nehmen sie in erster Linie als Bedrohung wahr: gart am 21. und 22. Juni 2013 wandte sich dem Die im frühen 8. Jahrhundert entstandene Lex Ala- Th ema Archive und Migration zu. Fachkollegen mannorum bestimmt in § 25, dass derjenige sein aus Deutschland, Frankreich, Österreich und Leben verwirkt hat oder zumindest ausgewiesen der Schweiz diskutierten in den Räumen des wird, der ein fremdes, sich gewalttätig auff ühren- Stadtarchivs Stuttgart über das historische wie des Volk infra provinciam einlädt.2 gegenwärtige Phänomen Migration und über Mit Blick auf die Prägung der heutigen Gesell- interkulturelle Öff nung als Herausforderung für schaft durch Migration standen auf der Tagung die Archive. Migration in diesem Sinne ist nach zwei Fragen zur Diskussion: einer gängigen Defi nition die auf einen längerfris- − Wie positionieren sich die Archive bei der Über- tigen Aufenthalt angelegte räumliche Verlagerung lieferungsbildung? des Lebensmittelpunktes von Individuen, Familien, − Welche Überlieferung liegt in den behördlichen Gruppen oder auch ganzen Bevölkerungen.1 Unterlagen vor, sind die Archive gefordert, mehr Der Archivtag hat damit nicht nur ein aktuelles im Sammlungsbereich zu tun? gesellschaft liches Th ema aufgegriff en, sondern Sodann ging es um den Umgang mit dem einen alt bekannten Gegenstand archivischer inzwischen akzeptierten Charakter Deutschlands Überlieferung. Zuwanderungen in mittelalterliche als Einwanderungsland3: Was bedeutet dies für und frühneuzeitliche Städte, die Einwanderung in die Archive etwa hinsichtlich ihrer künft igen den kriegszerstörten Südwesten im 17. Jahrhun- Archivnutzer und welche Handlungsstrategien dert oder die großen Auswanderungsbewegungen ergeben sich im Sinn einer Öff nung der Archive des 18. und 19. Jahrhunderts, schließlich Flucht als Kulturinstitutionen? und Vertreibungen im 20. Jahrhundert – Wande- Schon im Vorgriff auf die Fachvorträge am rungsströme schlagen sich seit jeher in Urkunden, Samstag wurde für einen interessierten Kreis ein Bänden und Akten der Archive unterschiedlicher praxisbezogener Workshop angeboten, der sich Sparten nieder. Bei Lichte betrachtet beschäft igen dem Th ema Oral History und interkulturelle Kom- sich gar die ältesten Schrift quellen im deutschen petenz zuwandte. Die Leiterin der Orient- Südwesten mit der Mobilität von Menschen – und Abteilung des Stuttgarter Linden-Museums,

6

F-01.indd 6 10.04.2014 13:55:46 Einführung Roland Deigendesch

Dr. Annette Krämer, thematisierte, ausgehend von in ihrem Statement eine eindrucksvolle Abfolge den praktischen Erfahrungen der teilnehmenden von Begegnungen zwischen Südwestdeutsch- Kolleginnen und Kollegen, neuere sozialwissen- land und der Eidgenossenschaft vom ausgehen- schaft liche Ansätze und stellte als praktisches den Mittelalter bis zur Gegenwart darzulegen. Beispiel die 2011 in ihrem Haus gezeigte Ausstel- Dipl.-Archivarin Katharina Tiemann, Archivamt lung Merhaba Stuttgart4 aus der Perspektive der für Westfalen, schließlich nahm ihr Grußwort im Kuratorinnen dar. Namen des VdA zum Anlass, einmal mehr auf die Eine weitere Annäherung leistete das als öf- prekäre Lage des Kölner Stadt archivs hinzuwei- fentliche Auft aktveranstaltung am Freitagabend sen, dessen fachlich angemessener Wiederaufb au veranstaltete Podium unter der Leitung Anna zuletzt wieder grundlegend infrage gestellt zu sein Koktsidous, Redakteurin bei der Abteilung SWR scheint. International. Drei Einwanderer der ersten Gene- Im ersten Fachvortrag gab Dr. Sandra Kostner, ration aus Italien, dem ehemaligen Jugoslawien Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd, und der Türkei kamen zu Wort und berichteten anhand der Ergebnisse repräsentativer Umfragen über ihre Motive und Probleme bei der Einreise, über Erwartungshaltungen und Nutzung von ihre Sprachschwierigkeiten, ihren Weg zu Bildung Kultureinrichtungen durch Migranten aufschluss- und Arbeit, ihr ehrenamtliches Engagement und reiche Hinweise für die erwünschte Öff nung von ihre Entscheidung, in Deutschland zu bleiben. Archiven, aber auch über verbreitete diesbezügli- Deutlich wurde, dass einerseits in den 1960er che Irrtümer und Holzwege. Daran anschließend Jahren durch den hohen Bedarf an Arbeitskräf- konzentrierte sich Dr. Michael Stephan, Stadt- ten die Zuwanderung nach Deutschland relativ archiv München, in seinem Sachstandsbericht auf unbürokratisch geregelt war und dass andererseits die einschlägigen Bemühungen von Archiven, die Integration in hohem Maße von persönlichem Museen und anderer Kultureinrichtungen um Engagement abhängig war. Darstellung, Dokumentation und Überlieferungs- In ihren die Fachvorträge einleitenden Gruß- sicherung von Migration, um am Ende auf aktuelle worten betonten Dr. Claudia Rose, Leiterin der Dokumentations- und Forschungsvorhaben in der Abteilung Kunst beim Ministerium für Wissen- bayerischen Landeshauptstadt einzugehen. Bereits schaft , Forschung und Kunst des Landes Baden- hier wurde – etwa durch den Hinweis auf die Württemberg, ebenso wie Dr. Roland Müller, der Kölner Initiative DOMiD5 – deutlich, dass sich die für die gastgebende Stadt Stuttgart sprach, nicht vorwiegend kommunalen Archive auf dem Feld nur die Relevanz des Th emas und der archivischen der Überlieferungssicherung jüngerer migran- Arbeit generell, sondern ebenso deren kaum zu tischer Bewegungen zusammen mit weiteren leugnende materielle Begrenzungen, die auch im Gedächtnis institutionen bewegen. Während in der weiteren Tagungsverlauf zur Sprache kommen Folge Dr. Jürgen Lotterer, Stadtarchiv Stuttgart, sollten. Für die ausländischen Teilnehmer sprach anhand des italienischen Sport- und Kulturver- Dr. Anna Pia Maissen, Leiterin des Stadtarchivs eins A.R.C.E.S. Stuttgart e. V. 1966 mustergültig Zürich und Präsidentin des Vereins schweizeri- einen klassischen Sammlungsbestand und dessen scher Archivarinnen und Archivare. Sie vermochte Auswertungsmöglichkeiten vorstellen konnte,

7

F-01.indd 7 10.04.2014 13:55:46 Roland Deigendesch Einführung

wurde in dem Referat von Dr. Anja Dauschek, Das der aktuellen Mi gra tionsforschung ge- Stadtmuseum Stuttgart, deutlich, wie intensiv sich widmete, von dem Journalisten Rainer Nübel dieses im Aufb au begriff ene Haus mit der Über- moderierte Podium hatte mit zwei kurzfristigen lieferungssicherung zu diesem Th ema beschäft igt. Absagen zu kämpfen, für die dankenswerterweise Die Museen zeichnen sich überdies durch einen Michael Stephan als archivischer Gesprächspart- Arbeitskreis Migration aus, der beim Deutschen ner und Gerhard Melinz aus Wien einsprangen. Museumsbund angesiedelt ist und der inzwischen Gerhard Melinz konnte in seinem engagiert eine einschlägige Handreichung Museen, Migra- vorgebrachten Beitrag auf die Ergebnisse einer tion und kulturelle Vielfalt6 erarbeitet hat. Zudem Kurzumfrage zur Überlieferungssituation bei wurden von einer Reihe interessierter Häuser Kollegen in österreichischen Archiven verweisen. internetbasierte Ressourcen bereitgestellt. Ein Sein Fazit aufgrund einschlägiger Kenntnisse Fallbeispiel für eine Kooperation von Archiv und der Forschungsszene und eben dieser Umfrage Museum stellt das im Rahmen der Heimattage lautete Schuster bleib bei deinen Leisten und Baden-Württemberg 2009 in Reutlingen durchge- mündete in ein Plädoyer für eine Konzentration führte Projekt Auspacken. Dinge und Geschichten von Archivressourcen auf die Kernkompetenz der von Zuwanderern dar. Leider ging zu dem Vortrag Überlieferungsbildung. Dr. Bettina Severin-Bar- keine Schrift fassung ein, sodass auf die seinerzei- bouti, Gießen, brachte den Tagungsteilnehmern in tige Publikation zu verweisen ist.7 einem prägnanten Statement aktuelle Tendenzen Eine gute Tradition des Südwestdeutschen der Forschung nahe. Sie warnte dabei vor einem Archivtages aufgreifend, richtete der folgende zum Teil kritiklos aus dem politischen Diskurs Vortrag und auch das abschließende Podium den übernommenen Vokabular bei der Beschreibung Blick über nationale Begrenzungen hinaus. Dr. von Wanderungsvorgängen, da auf diesem Weg Daniel Peter, Stadtarchiv Nancy, machte zunächst historische Mi gra tionsforschung letztlich das Risiko die historische Vielfalt der (innerfranzösischen) ein(gehe), sich als kritische Geschichtsschreibung zu 8 Binnen- und der Außenmigration deutlich. Ein delegitimieren. Kennzeichen der Quellensituation in Frankreich Es bleibt zu hoff en, dass den Archivkollegen ge- ist einerseits das Vorhandensein einer ganzen eignete Anregungen gegeben werden konnten, um Reihe von Vereinen, die sich einzelnen Migranten- in der täglichen Arbeit dieses Th ema von säkularer gruppen widmen und deren Überlieferung zum Bedeutung sowohl bei der Beständebildung Teil in die öff entlichen Archive gelangt ist sowie als auch auf dem Feld der Öff entlichkeitsarbeit andererseits eine weithin einheitliche und gut gebührend zu berücksichtigen. Der vorliegende greifb are Überlieferung auf Ebene der Departe- Tagungsband versteht sich als ein Beitrag dazu. mentalarchive. Bei den Stadtarchiven stellt sich die Überlieferungslage schon sehr viel disparater dar, wobei auch hier, und dies schließt sich an den Beitrag Jürgen Lotterers zu Stuttgart an, auf ein- zelne, sehr bemerkenswerte Sammlungsbestände verwiesen werden konnte.

8

F-01.indd 8 10.04.2014 13:55:46 Einführung Roland Deigendesch

Anmerkungen

1 Jürgen Oltmer: Bedingungen, Formen und Folgen historischer Mi gra tionsprozesse. In: Archiv pfl ege in Westfalen-Lippe 73 (2010), S. 21. 2 Si homo aliquis gentem extraneam infra provinciam invitaverit, ut ibi praedam vastet hostiliter vel domos incendat, et de hoc convictus fuerit, aut vitam perdat aut in exilium eat, et res eius infi scentur in public. In: Leges Alamannorum. Hg. von Karl August Eckhardt (MGH LL V.1), Hannover 21966, S. 84 – 85. 3 Mit der Diskussion um das 2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz (Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern) kann diese Bezeichnung als offi ziell anerkannt gelten. 4 Vgl. http://www.lindenmuseum.de/deutsch/ausstellungen/son- derausstellungen/sonderausstellung/artikel/merhaba-stuttgart/ (zuletzt abgerufen am 8.8.2013) sowie den Beitrag von Anja Dauschek in diesem Band. 5 Vgl. den von Nasrin Saef, Köln, verfassten Text in diesem Band. 6 Im Internet zum Download unter http://www.museumsbund.de/ de/fachgruppen_arbeitskreise/migration_ak/leitfaden/ (zuletzt abgerufen am 11.10.2013). 7 Auspacken. Dinge und Geschichten von Zuwanderern. Eine Dokumentation zur Reutlinger Mi gra tionsgeschichte. Hg. vom Stadtarchiv Reutlingen. Reutlingen 2010. 8 Vgl. den Beitrag von Bettina Severin-Barbouti in diesem Band.

9

F-01.indd 9 10.04.2014 13:55:46 Bettina Severin-Barboutie Historische Migrationsforschung auf dem Prüfstand

Bettina Severin-Barboutie Historische Migra tionsforschung auf dem Prüfstand

Seit den 1980er-Jahren erlebt die wissenschaft - Rückgang nationalstaatlicher Kompetenzen und liche Erforschung von Wanderungsprozessen Gestaltungsmöglichkeiten. In einer Welt, in der international einen rasanten Aufschwung, und sich territorialstaatliche Grenzen zunehmend ein Ende der Konjunktur ist derzeit nicht in Sicht. verfl üchtigen, geraten zwangsläufi g auch die Vor- Die Gründe für diesen Forschungsboom sind in aussetzungen und Rahmenbedingungen für und erster Linie in aktuellen Konfl ikt- und Problem- die Verlaufsformen von räumliche(r) Mobilität in lagen zu suchen. Segregationserscheinungen in Bewegung. Kernbereichen der Gesellschaft , allen voran im Die wissenschaft liche Erforschung von Migra- Wohn- und Bildungswesen, Auseinandersetzun- tionen befi ndet sich dabei an der Schnittstelle gen um religiöse Symbole, vor allem aber die unterschiedlicher akademischer Disziplinen. Mit Popularität rechtsextremistischer Parteien und Wanderungsfragen befassen sich einmal die an der Organisationen, rassistische Ausschreitungen und Gegenwart orientierten Politik-, Sozial-, Kultur- Fremdenfeindlichkeit sowie nicht zuletzt die seit und Wirtschaft swissenschaft en. Die Untersuchung dem Anschlag auf das World Trade Center in New von Bevölkerungsbewegungen ist sodann ein York im September 2001 verstärkt wahrgenom- mene Bedrohung durch global agierende Terror- wichtiger Forschungsschwerpunkt von Geografen, organisationen und vermeintlich kausale Bezie- Konfl iktforschern und Rechts- sowie Sprachwis- hungen zwischen Terrorismus und Einwanderung senschaft lern. Schließlich stehen Wanderungen haben die öff entliche Diskussion über das Für und auch im Blickpunkt der Geschichtswissenschaft , Wider von räumlicher Mobilität angefacht und und mit der historischen Mi gra tionsforschung gibt das wissenschaft liche Interesse an der Kenntnis es in der internationalen Geschichtswissenschaft von Wanderungsprozessen – deren Ursachen, nun schon seit Längerem einen Forschungszweig, Verlauf und Folgen – beträchtlich gesteigert. der sich explizit der Analyse vergangener Bevöl- Neue Fragen und Herausforderungen ergeben kerungsbewegungen verschrieben hat und in der sich für die Mi gra tionsforschung außerdem durch historischen Zunft als eigenständige Subdisziplin die im Zeichen zunehmender Globalisierung anerkannt ist.1 eingetretenen Veränderungen in den Kommuni- Wo es sich um Bevölkerungsbewegungen kations- und Informationsstrukturen sowie den handelt, deren Folgen und Begleiterscheinun-

10

F-01.indd 10 10.04.2014 13:55:46 Historische Migrationsforschung auf dem Prüfstand Bettina Severin-Barboutie

gen bis in die Gegenwart hineinreichen oder Konkurrenz, aber auch Impulse erhält die spürbar sind – was vor allem für die zeithistori- zeithistorische Mi gra tionsforschung im Übri- schen Migra tionen nach dem Zweiten Weltkrieg gen noch aus dem außerakademischen Feld: aus gilt –, kommt es zu Interessenüberschneidungen der populären Geschichtsschreibung sowie der zwischen gegenwartsbezogener und historischer Literatur – man denke etwa an Ursula Krechels Mi gra tionsforschung. Für die zeithistorische Mi- preisgekrönten Roman Das Landgericht,5 der die gra tionsforschung ergibt sich daraus eine durchaus Geschichte eines jüdischen Remigranten in der ambivalente Situation. Einerseits gerät sie in frühen Bundesrepublik behandelt, oder an Rolf Konkurrenz zur gegenwartsbezogenen Mi gra- Dobellis Erzählung Massimo Marini,6 in welchem tionsforschung und steht dadurch – wie die akade- es um den Sohn italienischer Einwanderer in die mische Zeitgeschichte insgesamt – unter besonde- Schweiz nach 1945 geht –, noch mehr aber wohl rem Legitimationszwang: Sie muss den Mehrwert aus dem Museums- und Ausstellungsbereich, wo bzw. die Relevanz ihrer Forschungen gegenüber man sich zunehmend der Inszenierung zeit- den sozialwissenschaft lichen Nachbardisziplinen historischer Wanderungen widmet. So zeichnet deutlich machen und sich zwangsläufi g von diesen sich in der Bundesrepublik Deutschland schon abgrenzen. In einer zunehmend interdisziplinär seit mehreren Jahrzehnten, verstärkt aber seit der ausgerichteten Forschungslandschaft kommt sie Jahrtausendwende der Trend ab, zeithistorische andererseits nicht an der Zusammenarbeit mit Wanderungen jenseits der Debatten um ein ge- diesen vorbei. Zudem tritt sie in vielfältiger Weise samtstaatliches Mi gra tionsmuseum durch Sonder- deren Hinterlassenschaft en an: in der Histori- oder Dauerausstellungen zu musealisieren. Einige sierung von bereits bestellten oder unbearbeitet der in diesem Rahmen organisierten Veranstaltun- gebliebenen Forschungsfeldern2, aber auch in der gen waren der nationalen Migra tionsgeschichte Rezeption nachbarwissenschaft licher Studien, auf gewidmet. Andere beschäft igten sich mit welche die zeithistorische Mi gra tionsforschung regionalen Wanderungsprozessen. Auff ällig viele nicht zuletzt aufgrund von Sperrfristen für histo- Ausstellungsprojekte drehten sich dagegen um risches Quellenmaterial angewiesen ist. Mit der Migration in Städten. Seit 1975 wurden mehr als zunehmenden Öff nung der Archive des späten zwei Dutzend Projekte umgesetzt, wobei in Städ- 20. Jahrhunderts stehen zwar in wachsendem ten wie Berlin, Hamburg und München wiederholt Maße historische Quellen zur Verfügung, die das Veranstaltungen zum städtischen Wanderungs- erlauben, was letztlich ein Spezifi kum historischer geschehen stattfanden. Die Ausstellung Movements Forschung ist, sprich die Arbeit mit historischen of Migration. Neue Perspektiven auf Migration, die Quellen.3 Gleichwohl werden Zeitdiagnosen der vom 3. bis zum 30. März 2013 in Göttingen zu Sozialwissenschaft en auch in Zukunft insbeson- sehen war, bildet den vorläufi gen Schlusspunkt dere für die gegenwartsnahe Mi gra tionsgeschichte dieser langen Reihe von Mi gra tionsausstellungen wichtig bleiben. Umso erforderlicher ist deshalb in deutschen Städten.7 der refl ektierte Umgang der historischen Mi gra- Gerade solche Veranstaltungen sind für die tionsforschung mit dem Material der Nachbar- akademische Mi gra tionsgeschichte bemerkens- disziplinen.4 oder besser: beachtenswert. Erstens dienten sie

11

F-01.indd 11 10.04.2014 13:55:46 Bettina Severin-Barboutie Historische Migrationsforschung auf dem Prüfstand

allenthalben dazu, materielle und immaterielle licher Forschungstraditionen und Denkfi guren Erinnerungen von Wandernden (Fotografi en, fort. Deutlich wird dies nicht zuletzt daran, dass Interviews etc.) zu sammeln bzw. zu mobilisie- diese den Nationalstaat häufi g voraussetzen, statt ren, also einen aktiven Beitrag zur materiellen nach seiner tatsächlichen Bedeutung zu fragen, Tradierung zeithistorischer Wanderungsgeschichte und damit nicht nur zeitgenössische Wahrneh- vor Ort zu leisten.8 Zweitens wohnte den musealen mungsmuster reproduzieren, sondern ebenfalls Inszenierungen allesamt ein politisch-gesellschaft - wissenschaft liche Erkenntnisse präjudizieren.13 licher Impetus inne, denn in den Ausstellungen Nur vereinzelt gibt es bislang Ansätze, den natio- ging es meist nicht allein darum, unterschiedliche nalen Methodologismus, der viele stadthistorische Erinnerungsbestände der Stadtgesellschaft additiv Mi gra tionsstudien bis heute kennzeichnet, zu zusammenzuführen beziehungsweise abzubilden. überwinden.14 Vielmehr diente die museale Visualisierung von Dabei lassen jüngere Studien keinen Zweifel an Migration und ihrer Geschichte ebenfalls dazu, der zentralen Bedeutung der lokalen Ebene für das Wanderungsgeschehen ins kollektive Bewusst- das Wanderungsgeschehen.15 Einerseits waren es sein der Stadtgesellschaft zu rücken. Ohne dass im die Kommunen, in denen Wandernde arbeiteten, Begleitmaterial, das zu verschiedenen Ausstellun- wohnten und lebten, soziale Kontakte knüpft en, gen erschienen ist, Begriff e aus dem Arsenal der wenn sie diese nicht sogar schon bei Ankunft Erinnerungsgeschichte auft auchen, drängt sich besaßen, Netzwerke aufb auten und interagier- deshalb der Eindruck auf, als hätten wir es hier ten, kurz: in denen sie ihren Alltag verbrachten, mit der Genese eines neuen lieu de mémoire auf Erfahrungen machten und Erwartungen an die lokaler Ebene zu tun, eines Ortes also, welcher Zukunft stellten. Aus dieser zentralen Rolle der Migrationen zu einem Emblem und Kristallisa- lokalen Ebene im Wanderungsprozess ergab sich tions punkt der städtischen Geschichte verdichtet eine Vielzahl von Herausforderungen und Folge- und im Mindscape9 der Stadt verankert. wirkungen für Kommunen, etwa in der Unter- Indem die Ausstellungen zeithistorische Mi gra- bringung und Versorgung, aber auch in Bezug auf tionsgeschichte vornehmlich als Stadtgeschichte Betreuung und Bildung. Als Ankunft s-, Transit- erzählten, eilten sie, drittens, der Fachwissenschaft und/oder Niederlassungsorte waren Kommunen weit voraus, denn ungeachtet der Konjunktur von andererseits Scharnierstellen zwischen Staat und Mi gra tionsgeschichte steckt die Historisierung Wandernden. Denn in ihnen traten Letztere mit lokaler Wanderungen noch immer in den Kin- dem aufnehmenden Staat in der Regel überhaupt derschuhen. Zwar ist seit den 1980er Jahren eine erst, wenn auch nur mittelbar in Kontakt, sei es, Reihe von Studien erschienen, die sich mit städti- dass ihre Identität und Anwesenheit von Verwal- schen Aufnahmeräumen beschäft igen. Doch viele tungsmitgliedern kontrolliert, registriert und au- dieser Arbeiten konzentrieren sich auf einzelne, torisiert oder Exklusions- und Inklusionsabsichten meist symbolträchtige Metropolen wie New York durch Handlungen in Realität übersetzt und damit City10 oder Paris11 oder untersuchen punktuelle im Alltag wirkmächtig und spürbar wurden: etwa Problemlagen im urbanen Raum.12 Ebenso wirkt in Betreuungsorganisationen und Gemeinschaft s- in ihnen oft mals die Prägekraft nationalstaat- bildungen, in politischen Teilhaberechten oder im

12

F-01.indd 12 10.04.2014 13:55:46 Historische Migrationsforschung auf dem Prüfstand Bettina Severin-Barboutie

Zugang zu Ressourcen. Neben ihrer Bedeutung als lungszusammenhänge, mit anderen Worten: die Lebenswelt waren Kommunen also zugleich Orte, Untersuchung der gesellschaft liche(n) Konstruktion an denen Staatlichkeit bzw. das Imperium konkret von Wirklichkeit20. Und viertens die Entdeckung erfahrbar und erfahren wurde. bzw. Variation neuer, nicht unbedingt durch natio- Während es noch immer vergleichsweise wenige nalstaatliche Kategorien präfi gurierter Räume und Untersuchungen zur lokalen Mi gra tionsgeschichte Rahmen für die historische Analyse. gibt, liegt inzwischen eine Vielzahl grundlegender Weiterführend sind diese Forschungsansätze in Werke und Überblicksdarstellungen vor.16 Parallel mehr als einer Hinsicht. Sie ermöglichen es nicht dazu sind in den vergangenen Jahren etliche Spe- nur, solche binären oder teleologischen Erklä- zialstudien entstanden, die neue Fragen aufwerfen, rungsmuster zu entkräft en, in denen Wanderun- unbestellte Th emenfelder erschließen und aus der gen als lineare Prozesse von einem Punkt a zu vorhandenen Methodenvielfalt schöpfen, um bei einem Punkt b verstanden werden.21 Sie stellen der Analyse neue Wege zu erproben.17 Diese Ar- zudem kausale Verknüpfungen wie die paradig- beiten haben nicht nur das Wissen über, sondern matische Typologisierung von Mi gra tionsformen auch den Blick auf vergangene Wanderungspro- infrage, legen normative Vorannahmen und Be- zesse sowie die Verfahren ihrer Untersuchung gründungskonstruktionen der Historisierung von kontinuierlich erweitert, gleichzeitig aber der Wanderungen off en und entlarven den norma- Diversifi zierung, wenn nicht Zersplitterung der tiven Gehalt wissenschaft lichen Sprachgebarens, Forschung Vorschub geleistet.18 Tatsächlich ist das etwa in der Verwendung historischer Begriff e oder Forschungsfeld heute unübersichtlicher denn je, im Gebrauch von Metaphern (z. B. aus der Welt sodass es selbst für Experten schwierig ist, auf dem des Wassers: Strom, Fluss, Flut etc.).22 Darüber neuesten Stand zu bleiben. hinaus fördern diese Herangehensweisen das Ver- Versucht man dennoch, die Fülle an histori- ständnis für das Funktionieren von Gesellschaft en schen Arbeiten auf einen gemeinsamen Nenner insgesamt und bestätigen, dass historische Mi- zu bringen, so lassen sich vier Trends benennen, gra tionsforschung durchaus Erklärungsmodelle die epistemologisch besonders weiterführend sind: für Reaktionen auf sich wandelnde Lebenswelten Erstens die personenzentrierte Untersuchung zeit- bereitstellen kann, wie Ulrich Herbert vor einiger historischer Wanderungsprozesse, die sich unter Zeit formulierte.23 anderem dadurch auszeichnet, dass Wandernde Forschungstechnisch sind die beschriebenen nicht nur als Akteure ernst genommen und als Ansätze jedoch an eine nicht zu unterschätzende solche untersucht, sondern mehr und mehr als Schwierigkeit geknüpft . Wandernde haben in Protagonisten in den Vordergrund gerückt wer- den seltensten Fällen eigene Zeugnisse hinter- den. Zweitens die Subjektivierung von Mobilität lassen. Anders als ihre Kollegen/-innen in den durch die Berücksichtigung von Wahrnehmungen, gegenwartsorientierten Nachbardisziplinen sind Repräsentationen, Erfahrungen und (nachträg- Mi gra tionshistoriker/-innen aber selbst nicht Teil lichen) Deutungen. Drittens die Rückbindung der der Handlungskontexte, die sie erforschen und Bedeutungen, die Menschen ihrem eigenen Leben darstellen.24 Die historische Mi gra tionsforschung wie dem der anderen gaben19, an konkrete Hand- bleibt daher in vielen Fällen auf die Hinterlassen-

13

F-01.indd 13 10.04.2014 13:55:46 Bettina Severin-Barboutie Historische Migrationsforschung auf dem Prüfstand

schaft en von Institutionen der Herkunft s- und historische Darstellung und führen zu Unklar- Aufnahmegesellschaft angewiesen. Und diese wei- heiten, wenn nicht gar zu Missverständnissen sen zwangsläufi g einen Bias auf. Gewiss: Migra- oder zu Anachronismen. Ein Beispiel für eine tionshistoriker/-innen der Zeitgeschichte besitzen solche kontraproduktive Entwicklung ist der in hierbei einen Vorteil gegenüber Kollegen/-innen, der deutschen Mi grationsgeschichte seit einigen die sich mit weiter zurückliegenden Epochen Jahren zu beobachtende Gebrauch der adverbialen beschäft igen, weil sie mit den Methoden der Oral Bestimmung mit Mi gra tionshintergrund. Bei dem History Zeitzeugen befragen und damit zumindest Ausdruck handelt es sich um eine Kategorie, die im Nachhinein empirisches Material produzieren das Statistische Bundesamt 2005 erfand, um den können. Doch kommen auch sie nicht vollständig Blick bei Migration und Integration nicht nur auf am Schrift gut von Institutionen vorbei und müs- die Zuwanderer selbst – das heißt die eigentlichen sen entsprechend sorgfältig Begriff e, Kategorien Migranten – zu richten, sondern auch bestimmte und Repräsentationen dieser Quellen dekonstru- ihrer in Deutschland geborenen Nachkommen ieren. einzuschließen26, und die seit ihrer Institutio- Während die aufgezeigten Ansätze in der nalisierung eine Konjunktur erlebt, die ihres historischen Mi gra tionsforschung dazu beitragen, Gleichen sucht. Nicht nur ist sie in die Alltags- die Prämissen des eigenen Vorgehens kritisch zu sprache diff undiert; sie hat ebenfalls, wie gesagt, prüfen, führen sie nicht zu einer vollständigen Eingang in die Wissenschaft ssprache gefunden Dekonstruktion normativer Implikationen und und wird inzwischen sogar als wissenschaft licher Erklärungsmodelle. Tatsächlich wirken in den Äquivalenzbegriff in deutschsprachigen Überset- Studien der historischen Migra tionsforschung zungen fremdsprachlicher Texte benutzt.27 Dabei bis heute tradierte Deutungsmuster fort. Ganz hat sich der Begriff von seiner ursprünglichen besonders gilt dies für den Nationalstaat, dessen Defi nition28 weitgehend gelöst. Wer als Person Prägekraft nach wie vor spürbar ist25, obwohl mit Mi gra tionshintergrund gilt und wer nicht, ist jüngere Arbeiten, insbesondere die zunehmend selbst in wissenschaft lichen Arbeiten nicht immer personenorientierte Lesart von Migration, das nachvollziehbar und kann daher je unterschiedlich nationalstaatlich geprägte Narrativ erheblich interpretiert werden. geschwächt haben. Ein weiteres kontraproduktives Beispiel ist der Zudem wird die Dekonstruktion normativer Begriff des Migranten, der sich in der interna- Implikationen und Repräsentationen durch die tionalen Mi gra tionsgeschichte durchgesetzt und Setzung neuer Normen konterkariert. Solche Begriff e wie die des Ein- und Auswanderers gegenläufi gen Tendenzen sind beispielsweise abgelöst hat.29 Wie die adverbiale Bestimmung dort zu beobachten, wo die historische Mi gra- mit Mi gra tionshintergrund wird auch er nicht tionsforschung aus dem Wortschatz der Gegen- zwangsläufi g defi niert, obwohl seine Semantik wart schöpft , um historische Wanderungen zu keineswegs eindeutig und er zudem im Alltag beschreiben. Da sie dabei selten das Übernom- oft mals negativ konnotiert ist. Problematisch ist mene vorab genau defi niert, fi nden zwangsläu- ferner, dass der Begriff klein- und großräumige fi g Deutungen der Gegenwart Eingang in die Wanderungen gleichermaßen bezeichnet, oft mals

14

F-01.indd 14 10.04.2014 13:55:46 Historische Migrationsforschung auf dem Prüfstand Bettina Severin-Barboutie

aber doch nur Wandernde meint, die Staatsgren- Zeitloses und (letztlich Ähnliches) und präjudi- zen überschreiten.30 Unklar bleibt auch, wann ein zieren dadurch möglicherweise Forschungsergeb- Wandernder den Status des Migranten abstreift , nisse und blinde Flecken. Drittens implizieren sie wann also Mobilität in Sesshaft igkeit übergeht. einseitige bzw. dichotome Sichtweisen auf die Ver- Die Frage nach der Sesshaft igkeit wird von der gangenheit, etwa die Deutung von Sesshaft igkeit historischen Mi gra tionsforschung ohnehin selten als das Nichtnormale oder die Binarität von Her- aufgeworfen und noch weniger problematisiert, kunft s- und Aufnahmegesellschaft . Dadurch geht obwohl sie doch als Pendant zur Mobilität bei der die historische Mi gra tionsforschung letztlich das Erforschung von Wanderungen stets präsent und Risiko ein, sich als kritische Geschichtsschreibung historisch belegt ist und deshalb eigentlich immer zu delegitimieren statt durch die konsequente mitgedacht werden müsste.31 Dekonstruktion normativer Setzungen bei der Noch stärker zum Ausdruck als in der Spra- Analyse von Wanderungen das delegitimierende che kommt die erneute Normativierung der Potential von Mi gra tionsgeschichte epistemolo- historischen Mi gra tionsforschung durch jüngere gisch für sich auszuschöpfen.36 Deutungsangebote, allen voran durch die Inter- pretation von Migration als Bereicherung oder als Normalfall.32 Im ersten Fall präsentiert sich Mi gra tionsgeschichte als eine Art Leistungs- oder Beitragsgeschichte, wie man sie auch aus ande- ren Zusammenhängen kennt.33 Im zweiten Fall erscheint sie als Geschichte von Kontinuität, deren Signatur nicht das Verweilen, sondern die Mobi- lität im Raum ist. Auch wenn nicht von der Hand zu weisen ist, dass es Wanderungen quer durch alle Epochen und Zeiten gab, und auch wenn es notwendig ist, Aussagen über größere Einheiten und Prozesse der Geschichte34 zu machen, werfen beide Lesarten von Wanderungen eine Reihe von Problemen auf, von denen hier nur drei erwähnt werden sollen. Erstens bringen sie die historische Mi gra tionsforschung in den Verdacht, aktuellen Globalisierungsdebatten über räumliche Mobilität das Wort zu reden, also Legitimationswissenschaft zu betreiben, obwohl doch davon auszugehen ist, dass selbst heute […] Milliarden in engen, lokalen Verhältnissen leben und nur privilegierte Minder- heiten global denken und agieren.35 Zweitens sug- gerieren sie Wanderungen als etwas Gegebenes,

15

F-01.indd 15 10.04.2014 13:55:46 Bettina Severin-Barboutie Historische Migrationsforschung auf dem Prüfstand

Anmerkungen

1 Entstehung und Ausbau der historischen Mi gra tions forschung exponat/ausstellungen/, zuletzt abgerufen am 10.9.2013). Für sind dabei nicht zuletzt einzelnen Historiker/-innen wie Klaus diesen Hinweis danke ich Anja Dauschek (Stuttgart). Vgl. auch Bade und Ulrich Herbert in Deutschland, Gérard Noiriel und den Beitrag von Michael Stephan in diesem Band. Nancy Green in Frankreich, Leo und Jan Lucassen in den 8 Dazu demnächst Bettina Severin-Barboutie: Staging Niederlanden, Dirk Hoerder in den USA zu verdanken, die nicht History as Urban History: A New ‚lieu de mémoire’? In: nur treibende Kräft e waren, sondern selbst auch Grundlagenfor- Migration in the German Lands 1500–2000. Hg. von Jason Coy, schung betrieben haben. Zu historischen Migra tionsforschung Jared Poley und Alexander Schunka. siehe folgende Forschungsberichte: Barbara Lüthi: Migration and 9 Der Begriff entstammt folgender Studie: Wolfgang Knapp und Migration History, Version 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, Rolf Lindner: Zur Ausstellung. In: Durch Europa. In Berlin. 6.5.2010, docupedia.de/zg/Migration_and_Migration_History Porträts und Erkundungen. Hg. vom Institut für Europäische (zuletzt abgerufen am 19.9.2013). – Sigrid Wadauer: Historische Ethnologie. Berlin 2001, S. 19 – 20, hier S. 20. Mi gra tionsforschung. Überlegungen zu Möglichkeiten und 10 Roger Waldinger: Still the Promised City? New Immigrants and Hindernissen. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichts- African Americans in Post-Industrial New York. Cambridge wissenschaft en 19/1 (2008), S. 6 –14. – Michael G. Esch: 1996. – Kathie Friedman-Kasaba: Memories of Migration. Historisch-sozialwissenschaft liche Migra tionsforschung als Gender, Ethnicity, and Work in the Lives of Jewish and Italian Delegitimationswissenschaft . In: Österreichische Zeitschrift für Women in New York 1870 –1924. Albany 1996. – Elizabeth Ewen: Geschichtswissenschaft en 19/1 (2008), S. 60 –78. – Klaus J. Bade: Immigrant Women in the Land of Dollars, Life and Culture Historische Mi gra tionsforschung. In: Ders. (Hg.): Migration on the Lower East Side, 1890 –1925. New York 1985. – Ronald in der europäischen Geschichte seit dem späten Mittelalter. H. Bayor: Neighbors in Confl ict. Th e Irish, Germans, , and Osnabrück 2002, S. 21– 44; ferner speziell zur zeithistorischen Italians of New York City 1929 –1941. Baltimore 1978. – Th omas Mi gra tionsforschung: Michael G. Esch und Patrice G. Poutrus: Kessner: Th e Golden Door. Italian and Jewish Immigrant Zeitgeschichte und Mi grationsforschung: Eine Einführung. In: Mobility in New York City 1880 –1915. New York 1977. Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 11 Marie-Claude Blanc-Chaléard: Les Italiens dans l’est Parisien. Online-Ausgabe, 2 (2005), H. 3. Une histoire d’intégration (1880 –1960). Rom 2000. – Le 2 Hartmut Kaelble: Vers une histoire sociale et culturelle de Paris des étrangers. Hg. von André Kaspi und Antoine Marès. l’Europe pendant les années de l’ après-prospérité. In: Vingtième Paris 1989. Siècle. Revue d’histoire 84 (2004), S. 169 –179, hier S. 170. 12 Vgl. etwa Eva Kimminich: Citoyen oder Fremder? Ausgrenzung 3 Michelle Zancarini-Fournel: Généalogie des rébellions urbaines und kulturelle Autonomie in der französischen banlieue. In: en temps de crise (1971–1981). In: Vingtième Siècle. Revue Archiv für Sozialgeschichte 46 (2006), S. 505 – 538. – Michelle d’histoire 84 (2004), S. 119 –127, hier S. 120. Zancarini-Fournel: Les Rébellions urbaines en France 4 Vgl. Rüdiger Graf und Kim Christian Priemel: Zeit geschichte in (1871– 2005). Quels paradigmes explicatifs. In: Archiv für der Welt der Sozialwissenschaft en. Legitimität und Originalität Sozial geschichte 46 (2006), S. 541– 556. einer Disziplin. In: Vierteljahrsheft e für Zeitgeschichte 2011, 13 Vgl. Bettina Severin-Barboutie: Tagungsbericht: Grenzziehungen. Heft 4, S. 479–508. – Bernhard Dietz und Christopher Neumaier: Projektionen nationaler Identität auf Migranten in europäischen Vom Nutzen der Sozialwissenschaft en für die Zeitgeschichte. Städten seit 1945, Sektion der Gesellschaft für Stadt geschichte Werte und Wertewandel als Gegenstand historischer Forschung. und Urbanisierungsforschung (GSU) auf dem 48. Deutschen In: Vierteljahrsheft e für Zeitgeschichte 2012, Heft 2, S. 293–304. Historikertag Berlin, 29.9.2010. In: Informationen zur Stadtge- 5 Ursula Krechel: Das Landgericht. Salzburg 2012. schichte 2010, Heft 2, S. 128 –131, hier S. 129. 6 Rolf Dobelli: Massimo Marino. Zürich 2010. 14 Beispielsweise die Beiträge in folgendem Sammelband: Das 7 http://www.kunstvereingoettingen.de/ausstellungen/mo- Gastarbeiter-System. Hg. von Jochen Oltmer. München 2012; vements-of-migration/ (zuletzt abgerufen am 10.9.2013). Eine ferner: Lokale Integrationspolitik in der Einwanderungsge- Liste der Ausstellungen befi ndet sich auf dem Internetportal des sellschaft . Migration und Integration als Herausforderung Westfälischen Landesmuseums für Industriekultur (http://www. von Kommunen. Hg. von Frank Gesemann und Roland Roth. lwl.org/LWL/Kultur/wim/portal/S/hannover/ort/migration/ Wiesbaden 2009.

16

F-01.indd 16 10.04.2014 13:55:46 Historische Migrationsforschung auf dem Prüfstand Bettina Severin-Barboutie

15 Siehe etwa Adam R. Seipp: Strangers in the Wild Place. Refugees, 26 So das Statistische Bundesamt auf seinem Internetportal Americans and a German Town 1945 –1952. Bloomington 2013; (https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Gesellschaft Staat/ sowie: Locating Migration. Rescaling Cities and Migrants. Hg. Bevoelkerung/MigrationIntegration/Migra tionshintergrund/ von Nina Glick Schiller und Ayse Çağlar. Ithaca/London 2011. Aktuell.html, zuletzt abgerufen am 10.9.2013). 16 Eine der jüngsten Überblicksdarstellungen: Dirk Hoerder: 27 Beispielsweise in folgendem sozialwissenschaft lichen Beitrag: Migrationen und Zugehörigkeiten. In: Geschichte der Welt. Laurent Mucchielli: Urbane Aufstände im heutigen Frankreich. 1870 –1945. Weltmärkte und Weltkriege. Hg. von Akira Iriye und In: Sozial. Geschichte Online 2 (2010), S. 64 –115, hier S. 66. Jürgen Osterhammel. München 2012, S. 433–588. 28 Defi nition des Statistischen Bundesamtes: Zur Bevölkerung 17 Aus der umfangreichen Forschungsliteratur seien hier beispielhaft mit Mi gra tionshintergrund zählen alle, die nach 1949 auf das folgende deutschsprachige Werke aus der Zeitgeschichte heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugezogen genannt: Das Andere denken. Repräsentationen von Migration sind, alle in Deutschland geborenen Ausländer/-innen und alle in West europa und den USA im 20. Jahrhundert. Hg. von in Deutschland mit deutscher Staatsangehörigkeit Geborene Gabriele Metzler. Frankfurt am Main 2013. – Jenny Pleinen: Die mit zumindest einem zugezogenen oder als Ausländer in Mi gra tionsregime Belgiens und der Bundesrepublik seit dem Deutschland geborenen Elternteil. (https://www.destatis.de/DE/ Zweiten Weltkrieg. Göttingen 2012. – Sarah Vanessa Losego: Fern ZahlenFakten/Gesellschaft Staat/Bevoelkerung/MigrationInte- von Afrika. Die Geschichte der nordafrikanischen Gastarbeiter gration/Migra tionshintergrund/Aktuell.html, zuletzt abgerufen im französischen Industrierevier von Longwy (1945 –1990). am 10.9.2013). Köln 2009. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. 29 Siehe auch Lüthi, Migration, wie Anm. 1. 18 Wadauer, Mi gra tionsforschung, wie Anm. 1. – Esch, Migra- 30 Roberto Sala und Patrick Wöhrle: Fremdheitszuschreibungen in tionsforschung, wie Anm. 1. – Esch/Poutrous, Zeitgeschichte, wie der Einwanderungsgesellschaft zwischen Stereotypie und Beweg- Anm. 1. – Bade, Mi grationsforschung, wie Anm. 1. lichkeit: In: Dolce Vita? Das Bild der italienischen Migranten in 19 In Anlehnung an Jörg Baberowski: Brauchen Historiker Th eorien? Deutschland. Hg. von Oliver Janz und Roberto Sala. Frankfurt Erfahrungen beim Verfassen von Texten. In: Arbeit an der am Main 2011, S. 18 – 36, hier S. 27– 31. Geschichte. Wie viel Th eorie braucht die Geschichtswissenschaft . 31 Zu den Ausnahmen gehört Jürgen Osterhammel: Die Verwand- Hg. von dems. Frankfurt am Main 2009, S. 117–127, hier S. 122. lung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 20 Peter L. Berger und Th omas Luckmann: Die gesellschaft liche 2009. Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Th eorie der Wissenssoziolo- 32 Esch, Mi gra tionsforschung, wie Anm. 1, S. 61, 66 f. – Klaus Bade gie. Frankfurt am Main 242012. und Jochen Oltmer: Normalfall Migration. Bonn 2004. 21 Siehe etwa Hedwig Richter und Ralf Richter: Die Gast arbeiter- 33 Etwa für die jüdische Geschichte siehe Simone Lässig: Repräsen- Welt. Leben zwischen Palermo und Wolfsburg. Paderborn u.a. tationen des „Gegenwärtigen“ im deutschen Schulbuch. In: Aus 2012. Politik und Zeitgeschichte 62, 2012, S. 46 – 54, S. 49 f. – Katrin 22 Nancy Green: Repenser les migrations. Paris 2002, S. 1. Vgl. Pieper: Zeitgeschichte von und in Jüdischen Museen. Kontexte auch Matthias Jung,Th omas Niehr und Karin Böke: Ausländer – Funktionen – Möglichkeiten. In: Zeithistorische Forschungen/ und Migranten im Spiegel der Presse. Ein diskurshistorisches Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 4 (2007), Wörterbuch zur Einwanderung seit 1945. Wiesbaden 2000, H. 1 u. 2. S. 131–154. 34 Osterhammel, Verwandlung, wie Anm. 31, S. 14. 23 Ulrich Herbert: Liberalisierung als Lernprozess. Die 35 Dazu Esch, Mi gra tionsforschung, wie Anm. 1, S. 66 f. Das Zitat Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze. In: stammt von Osterhammel, Verwandlung, wie Anm. 31, S. 13. Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, 36 Dazu ausführlich Wadauer, Mi gra tionsforschung, wie Anm. 1, Liberalisierung 1945 –1980. Hg. von dems. Göttingen 2002, S. 8 f. – Esch, Mi gra tionsforschung, wie Anm. 1, S. 61ff ., Zitat S. 7– 49, hier S. 36 f. S. 60. 24 Baberowski, Th eorien, wie Anm. 19, S. 122. 25 Siehe beispielsweise die jüngst erschienene Studie von Jenny Pleinen, Mi gra tionsregime, wie Anm. 17.

17

F-01.indd 17 10.04.2014 13:55:46 Sandra Kostner Partizipation durch Diversitätsorientierung

Sandra Kostner Partizipation durch Diversitätsorientierung Öff nung kultureller Einrichtungen für bislang unterrepräsentierte gesellschaft liche Gruppen

Der sich in Deutschland vollziehende demo- grationspolitische Forderung an die Kultureinrich- graphische Wandel und der Umgang mit tungen gestellt: Die Kultureinrichtungen sollten den Migration und kultureller Vielfalt sind eng interkulturellen Dialog als eine Schwerpunktaufgabe miteinander verwoben. Die im vergangenen begreifen. Überwiegend gefördert durch öff ent- Jahrzehnt vollzogene Hinwendung der Bundes- liche Mittel, werden sie damit auch ihrer sozia- regierung zur Integrationspolitik geschah vor len Mitverantwortung gerecht. Die Einbeziehung dem Hintergrund des sich abzeichnenden Fach- von „Migrantenkulturen“ in die Programme der kräft emangels sowie der zahlreichen Studien, klassischen, etablierten Kultureinrichtungen spielt die auf die Teilhabelücken der migrantischen dabei eine wichtige Rolle. So können Austausch und Bevölkerung in den für das Wirtschaft s- und Integration befördert, Barrieren aufgehoben werden. Sozialsystem zentralen Feldern Bildung, Aus- Die Anerkennung der „Migrantenkulturen“ wird bildung und Beruf aufmerksam machten. gestärkt, umgekehrt erhalten Kultureinrichtungen Im Zuge der Formulierung einer umfassen- neue, kreative Impulse.2 den Partizipationsförderungspolitik ist auch die Wie können Archive dieser Forderung nach- interkulturelle Öff nung von Kultureinrichtungen kommen und ihren Beitrag zur Teilhabegerech- als wichtiges Handlungsfeld defi niert worden. tigkeit der migrantischen Bevölkerung leisten? An Zum einen, da sich auch bei der Nutzung der dieser Stelle möchte ich mit meinen Überlegungen Angebote von Kultureinrichtungen deutliche Teil- ansetzen. Da die migrationsstämmige Bevölke- habeunterschiede zwischen der migrantischen und rung nicht nur eine große kulturelle Heterogenität nicht-migrantischen Bevölkerung zeigen. Zum aufweist (in Deutschland leben Menschen aus anderen aufgrund dessen, dass vor allem junge über 190 Nationen, welche wiederum eine Vielzahl Menschen mit Migra tionshintergrund, die in kultureller Gruppen umfassen), sondern auch vielen Städten mehr als 50 Prozent ihrer Altersko- durch unterschiedliche sozioökonomische Lebens- horte umfassen, als Publikum von morgen den lagen geprägt ist, ist es aus meiner Sicht sinnvoll, Erhalt der Kultureinrichtungen sichern sollen.1 Im über das Konzept des interkulturellen Dialogs hi- Nationalen Integrationsplan wird die folgende inte- nauszugehen und eine umfassendere Diversitäts-

18

F-01.indd 18 10.04.2014 13:55:46 Partizipation durch Diversitätsorientierung Sandra Kostner

orientierung des jeweiligen Archivs anzuvisieren, an Wissen über deren Kunst- und Kulturinte- und dabei zunächst die Dimensionen kulturelle ressen. Der Hauptgrund hierfür ist, dass die Prägungen, migrationsbedingte Erfahrungen und Mitarbeiter/innen dieser Einrichtungen zum bildungsgeprägte Lebenssituationen zu betrach- überwiegenden Teil aus der deutschstämmigen ten.3 Für ein solches Vorgehen spricht, dass un- Mittelschicht bzw. der bildungsbürgerlichen abhängig vom Mi grationshintergrund der Faktor Schicht stammen und häufi g selbst keine Mi gra- Bildung in erster Linie darüber entscheidet, ob tionserfahrung haben. Zudem sind die gesell- jemand Interesse am Angebot einer Kultureinrich- schaft lichen Funktionen der Einrichtungen häu- tung hat. Bei Personen mit Mi gra tionshintergrund fi g vom Bildungsbürgertum ausgeformt worden. wird das Kulturinteresse zudem noch in unter- Beides hat zur Folge, dass das Angebot einer schiedlich starkem Ausmaß von der Herkunft skul- Einrichtung bewusst oder unbewusst auf die tur beeinfl usst. Der Einfl uss der Herkunft skultur Interessen und Bedürfnisse des deutschstäm- auf die kulturellen Nutzungsinteressen schwankt migen Bildungsbürgertums zugeschnitten ist. zwischen Individuen, wobei einige allgemeine 2. Es bestehen soziale bzw. sozio-kulturelle Trends erkennbar sind. Herkunft slandbezogene Schwellenängste. Diese treten vor allem bei Kulturinteressen sind vor allem bei der ersten Personen aus niedrigeren bis mittleren Bil- Migrantengeneration vorhanden, bei Migranten dungsschichten auf, aus deren Sicht die Ein- aus ländlichen Herkunft sregionen, die einen eher richtung etwas für gebildete Menschen ist. Die geringen Bildungsstand aufweisen, sowie bei Angst, dass man nicht weiß, wie man sich in Migranten aus außereuropäischen Kulturräumen.4 der Einrichtung richtig verhält, dass man einen Eine Kultureinrichtung, die diversitätsorientiert sozialen Fauxpas begeht und sich damit als arbeitet, greift die oben skizzierte kulturelle und ungebildet zeigt, bewirkt, dass diese Personen soziale Vielfalt der Bevölkerung auf und bildet selbst bei einem generellen Interesse am An- diese Vielfalt in ihrem Angebot ab, um ebendieses gebot, die Einrichtung eher nicht besuchen. Angebot für möglichst viele Menschen attrak- 3. Es fehlt an Wissen über die Angebote. Hier- tiv zu machen. Ein solches Vorgehen erfordert, zu gehört auch, dass die Materialien der dass Einrichtungen untersuchen, warum bislang Öff entlichkeitsarbeit nicht wahrgenommen unterrepräsentierte Gruppen ihr Angebot wenig werden, entweder weil die Zielgruppe sich gar nachfragen. Die größten Zugangsbarrieren sind nicht als Adressatin sieht oder die Materiali- die folgenden: en nicht ansprechend gestaltet sind (Design, 1. Die Erwartungen an das Angebot einer Ein- Bebilderung, sprachliche Darstellung). richtung, die Nutzer und Anbieter haben, fallen 4. Sprachliche Barrieren spielen insgesamt eine auseinander. Will man Nutzungsbarrieren ab- untergeordnete Rolle, da die meisten Personen bauen, die auf solchen Erwartungsdiff erenzen mit Mi gra tionshintergrund über ausreichende fußen, muss man zunächst einen Einblick in Deutschkenntnisse verfügen, um die Angebote die Interessen der Zielgruppen gewinnen. Vor wahrzunehmen. Sprachliche Barrieren beste- allem im Hinblick auf die migrantische Bevöl- hen jedoch seitens spezifi scher migrantischer kerung fehlt es in den meisten Einrichtungen Zielgruppen. Konkret sind dies Neueinwan-

19

F-01.indd 19 10.04.2014 13:55:46 Sandra Kostner Partizipation durch Diversitätsorientierung

derer/innen und Personen mit eher niedrigem Sammlungsstrategien, Archivpädagogik und Öf- Bildungsniveau, deren Deutschkenntnisse aus fentlichkeitsarbeit möchte ich im Folgenden einige einer Reihe von berufl ichen/ familiären/ per- Anregungen dazu einbringen, wie eine diversitäts- sönlichen Gründen gering geblieben sind. orientierte Archivarbeit konkret aussehen kann. Um festzustellen, welche der oben angeführten Zugangsbarrieren im Fall der jeweiligen Einrich- Sammlungsstrategien tung von zentraler Bedeutung sind, empfi ehlt Im Hinblick auf die Sammlungsstrategien gilt es sich die Durchführung einer Bedarfsanalyse. zu überlegen, ob und inwieweit diese so erweitert Idealerweise bildet eine solche Bedarfsanalyse werden können, dass die Lebenswelten möglichst einen möglichst breiten, kulturell und sozial vieler Personen abgebildet werden. So kann bei- unterschiedlichen Teil der im Einzugsgebiet der spielsweise mithilfe von Oral History-Projekten die Einrichtung lebenden Bevölkerung ab. Da dies Erfahrungswelt von Migrantinnen und Migranten aber ein aufwändiges Unterfangen ist, können aufgezeichnet werden, um so die offi ziellen Do- Einrichtungen ersatzweise auf die zwar bislang kumente zur Einwanderung durch die Perspek- noch recht dünnen, aber doch in zunehmendem tive des Erlebten zu ergänzen. Die Erlebniswelt Maß vorhandenen Daten zur Kulturnutzung von der Migrantinnen und Migranten ist aber nicht Menschen mit Mi grationshintergrund zurück- nur bezüglich des Th emas Einwanderung ein greifen und entsprechende Rückschlüsse für ihre wesentlicher Teil des gesellschaft lichen Gedächt- Einrichtung ziehen.5 Diese Daten habe ich auch in nisses, sondern auch hinsichtlich der allgemeinen meine nachfolgenden Vorschläge zur Diversitätso- Entwicklung einer Kommune, Institution, Firma rientierung von Archiven einfl ießen lassen. etc. Komplimentierend zur Sammlung lebens- weltlicher Interviews bietet es sich an, Objekte zu Vorschläge zur Diversitätsorientierung von Archiven sammeln, die im Zusammenhang mit diesen Er- fahrungswelten stehen. Solche lebensweltbezoge- Um erfolgsversprechend zu sein, müssen die kon- nen Sammlungsstrategien wirken sich auch häufi g kreten Maßnahmen der Diversitätsorientierung positiv auf das Interesse von Personen an den An- immer auf die gesellschaft lichen Aufgaben einer geboten der Einrichtung aus, da einerseits Schwel- Einrichtung bezogen werden. Archive bilden die lenängste abgebaut werden und die Existenz der offi zielle Grundlage des Gedächtnisses einer Ge- Einrichtung ins Bewusstsein von Personen(grup- 6 sellschaft . Dadurch haben sie einen Einfl uss da- pen) rückt. Andererseits erfahren die Befragten rauf, über welche Ereignisse und Personen(grup- eine Wertschätzung seitens des Archivs und damit pen) die Nachwelt Kenntnis haben wird. Somit steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass sie an haben Archive als Institution bzw. Archivare und archivpädagogischen Veranstaltungen teilnehmen. Archivarinnen als darin wirkende Personen bis zu einem bestimmten Grad auch eine Deutungs- Archivpädagogik macht darüber, was tradierungs- bzw. im Bereich kulturelle Bildung vermittlungswürdig ist, und da- Die Archivpädagogik kann durch ihre Entschei- mit auch darüber, wer sich mit dem Angebot der dungen, welche Bestände sie erschließt und in Einrichtung identifi zieren kann. Zu den Bereichen Ausstellungen, Projekttagen, Vortragsreihen

20

F-01.indd 20 10.04.2014 13:55:46 Partizipation durch Diversitätsorientierung Sandra Kostner

etc. der Öff entlichkeit präsentiert, der migra- und Präsentationsformen identifi zieren können tionsstämmigen Bevölkerung lebensweltnahe und wollen. Besuchen ehemalige Gastarbeiter Identifi kationsangebote machen. Dadurch, dass und ihre Nachkommen z. B. eine Ausstellung zur z. B. Stadtgeschichte als Migra tionsgeschichte Gastarbeiterzuwanderung in ihrer Kommune dargestellt wird, ergeben sich Identifi kations- und verlassen diese mit dem Gefühl, dass dort möglichkeiten für Menschen mit Mi gra tions- die Sicht der nicht-migrantischen Bevölkerung hinter grund. Bei einem zeitgeschichtlichen Fokus auf dieses historische Phänomen im Mittelpunkt des Angebots kann die Archivpädagogik zudem stand, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich in enger Verzahnung mit dem Handlungsfeld diese Publikumsgruppe nicht für weitere Angebote Sammlungsstrategien agieren. Obwohl auf vor- dieser Einrichtung gewinnen lässt. Um solchen genannte Weise erfolgreich neue migrantische Enttäuschungen vorzubeugen, empfi ehlt es sich, so Zielgruppen für archivpädagogische Angebote weit als möglich, Migranten in die Erstellung des gewonnen werden können, handelt es sich um archivpädagogischen Angebots miteinzubeziehen, eine punktuelle, thematisch gebundene und und zwar von der Konzeption bis zum Endpro- nicht um eine gewachsene Beziehung zwischen dukt etwa in Gestalt eines Ausstellungskatalogs. Angebots- und Nachfrageseite. Dass dem so Ein solches partizipatives Vorgehen trägt darüber ist, zeigt sich daran, dass neue migrantische hinaus, wenn richtig angegangen, zu einem grö- Nutzergruppen, die aufgrund eines migrations- ßeren Facettenreichtum der inhaltlichen Präsen- spezifi schen Angebots eine Einrichtung aufsu- tation bei und ermöglicht einen tiefergehenden chen, häufi g nur zu diesem Angebot kommen. Beziehungsaufb au zwischen Nutzern und Archiv, Ein paar wichtige Hinweise zum Th ema Wert- was wiederum zu einem allgemeinen Interessens- schätzung und Kultursensibilität möchte ich an anstieg an den Archivangeboten beitragen kann. dieser Stelle einbringen. Damit Menschen mit Wenngleich migrationsspezifi sche Angebote Mi gra tionshintergrund ein archivpädagogisches geeignet sind, neue migrantische Nutzergruppen Programm mit dem Schwerpunkt Migration in für die eigene Einrichtung zu interessieren, sollte der Tat als Wertschätzung ihrer Person / Gruppe man es auf jeden Fall vermeiden, in die konzep- erleben, ist es von essentieller Bedeutung, dass die tionelle Falle Migranten interessieren sich nur für Archivpädagogik bei der Programmkonzeption migrantische Th emen zu tappen. Dies mag banal und -umsetzung kultursensibel vorgeht. Kul- klingen, aber die programmatische Reduktion tursensibel heißt in diesem Zusammenhang vor von Migranten auf migrationsbezogene Th emen allem, dass das Programm hinsichtlich des Inhalts ist im Alltagshandeln von Kultureinrichtungen die Perspektiven der migrantischen Bevölkerung eine recht verbreitete Praxis – eine Praxis, bei berücksichtigt und bezüglich der Darstellung auf der gegenseitige Enttäuschungen vorprogram- die sprachlichen Ausdrucksformen geachtet wird. miert sind. Seitens der Einrichtung wird oft als Von der verwendeten Sprache hängt ab, welche enttäuschend empfunden, dass Migranten nur gesellschaft lichen Bilder über Migranten erzeugt zu migrationsorientierten Angeboten kommen; werden, und diese Bilder wiederum beeinfl ussen, seitens der Migranten, dass sie häufi g nur für ob Migranten sich mit den Ausstellungsinhalten diese Angebote gezielt von der Einrichtung als

21

F-01.indd 21 10.04.2014 13:55:46 Sandra Kostner Partizipation durch Diversitätsorientierung

Zielgruppe angesprochen werden. Aus diesem nicht verwendete Formate zur Zielgruppenerrei- Grund ist es wichtig, die migrationsstämmige Be- chung beitragen können. So zeigte die Sinus-Stu- völkerung auch für andere Th emen als Zielgruppe die zu den Kunst- und Kulturinteressen sowie in den Blick zu nehmen. Insbesondere bieten sich zur Kulturnutzung von Personen mit Migra- für migrationsstämmige Besucher, die bis dato tionshintergrund, dass Medien- und Videokunst keine bzw. wenige Berührungspunkte mit archiv- ein Format ist, das diese Bevölkerungsgruppe pädagogischen Angeboten gehabt haben, Th emen besonders stark anspricht. Ein Grund hierfür ist an, die Anknüpfungspunkte an die Lebenswelt wohl, dass es sich bei Medien- und Videokunst um der Zielgruppe bieten. Die skizzierte Zielgruppe eine junge Kunstform handelt, die nicht national- zeichnet sich in der Regel weniger durch kultu- kulturell aufgeladen ist, sondern eng mit Globali- relle als durch soziale Distanz zu Archiven aus. sierungsprozessen in Verbindung steht.7 Auf diese Deshalb sollte der zu wählende lebensweltliche Weise werden Zugangsbarrieren abgebaut, die auf Anknüpfungspunkt mehr darauf abzielen, diese der Wahrnehmung beruhen, dass Kulturangebote soziale Distanz zu überbrücken. Gelingt dies, per se mit Nationalkultur gleichzusetzen sind. dann kann durch eine solche Zielgruppenge- Hinzu kommt, dass visuelle Medien auch dazu winnungsstrategie nicht nur die bislang unter- geeignet sind, sprachliche Zugangsbarrieren zu repräsentierte migrationsstämmige Bevölkerung minimieren. Kinder und Jugendliche – unabhän- erfolgreich angesprochen werden, sondern auch gig vom Mi gra tionshintergrund – können mit die- der nicht unerheblich große Teil der Bevölkerung sem Format ebenfalls sehr gut erreicht werden, vor ohne Migra tionshintergrund, der bis jetzt wenig allem wenn man sie am kreativen Prozess beteiligt. Interesse an archivpädagogischen Veranstaltungen Neben der Präsentationsform ist auch die Frage zeigt. Mögliche alltagsnahe Th emen könnten etwa des Veranstaltungsortes eine Überlegung wert. Vor die Geschichte von Straßenzügen (hier können allem Personen, bei denen Schwellenängste dazu z. B. die Bewohner in die Konzeption und Um- führen, dass sie Einrichtungen nicht besuchen setzung miteinbezogen werden), die Geschichte bzw. Personen, denen Informationen über die An- von Alltagsgegenständen, vor allem solchen, die gebote fehlen, können für Veranstaltungen gewon- emotional besetzt sind, oder die Geschichte des nen werden, wenn diese Veranstaltungen an ver- Essens und Trinkens, inklusive Lebensmittelhan- trauten Orten stattfi nden. Die Wahl der vertrauten del und Gaststättengewerbe, sein. Dies sind nur Orte ist dabei natürlich gewissen Einschränkun- ein paar lebensweltnahe Beispiele. Wie erfolgreich gen unterworfen, einerseits durch die gezeigten die Umsetzung ist, hängt auch hier stark von der Archivalien, andererseits dadurch, dass nicht alle gewählten Darstellungsform (z. B. neutralisiert Personen, bereit sein werden, ihren vertrauten Ort eine textlastige Präsentation die positiven Eff ekte (z. B. ein Bankfoyer, ein Lebensmittelgeschäft , eine des Lebensweltbezugs) sowie der Einbeziehung Arztpraxis etc.) zur Verfügung zu stellen. Am er- der Besucher in die Erarbeitung des Programms folgreichsten ist die Methode des Vor-Ort-Gehens, ab. wenn der konkrete Ort in Verbindung mit den Im Hinblick auf die Präsentationsform ist auch Präsentationsinhalten steht und die Gestaltung in zu überlegen, inwieweit bis dato kaum oder gar Kooperation mit der anvisierten Besuchergruppe

22

F-01.indd 22 10.04.2014 13:55:46 Partizipation durch Diversitätsorientierung Sandra Kostner

erfolgt. Am Beispiel eines Lebensmittelgeschäft s Um die Wirkung der Materialien der Öff entlich- würde es sich anbieten, die Gewerbegeschichte des keitsarbeit zu überprüfen, empfi ehlt es sich mit Viertels oder die Geschichte der Bewohner einer Fokusgruppen zu arbeiten und diese zu fragen, Straße etc. in Zusammenarbeit mit diesen Bewoh- ob sie sich angesprochen fühlen und aus wel- nern zu bearbeiten. chem Grund. Ist es in der Praxis schwierig, solche Als letzten archivpädagogischen Punkt möchte Fokusgruppen einzurichten, sollte man versuchen, ich noch auf die Bedeutung von interkulturellen die Materialien mit den Augen möglichst unter- bzw. transkulturellen Programmen verweisen, schiedlicher Bevölkerungsgruppen zu betrach- also Programmen, die kulturelle Elemente aus ten und sich die Fragen zu stellen: Welches Bild verschiedenen Kulturen miteinander verbinden, meiner Einrichtung vermitteln die Materialien? so dass im Idealfall etwas neues, kulturell Hybrides Bestätigen Sie eher das Image, dass es sich bei Ar- entsteht. Laut Sinus-Studie präferieren 13 Prozent chiven um bildungslastige oder mehrheitskulturell der migrantischen Bevölkerung Kulturangebote, ausgerichtete Einrichtungen handelt oder sind sie die auf kulturelle Hybridität abzielen, also weder so gestaltet, dass soziale und kulturelle Zugangs- der einen noch der anderen Kultur zuordenbar barrieren auf Seiten der Zielgruppe abgebaut sind. Vor allem Angehörige der zweiten und drit- werden? Zur Beurteilung können diese Fragen ten Migrantengeneration mit einem höheren Bil- weiterhelfen: Wie hoch ist der Textanteil? Welche dungsniveau bevorzugen solche Kulturangebote.8 Sprachebene wird verwendet? Ein akademischer Mit kulturell hybriden Angeboten lassen sich aber Schreibstil oder ein mehr an der Alltagssprache auch die jüngeren, deutschstämmigen Bildungs- orientierter Stil? Setzt die inhaltliche Darstellung schichten sehr gut erreichen, wobei dies nicht Vorkenntnisse voraus, um als interessant wahrge- heißt, dass keine Off enheit für solche Programme nommen zu werden? Welche Bilder wurden zur bei der ersten Migrantengeneration und anderen visuellen Untermalung ausgewählt? Wem sagen deutschstämmigen Bevölkerungsschichten besteht. diese Bilder etwas? Gibt es vielleicht andere Bilder, In der Konzeption und Umsetzung handelt es sich die mehr Menschen vertraut sind? wahrscheinlich um den schwierigsten Bereich, da Die Diversifi zierung der Methoden der Öff ent- schwer planbar ist, was von den Besuchern als neu, lichkeitsarbeit, vor allem die individuelle und di- spannend und hybrid betrachtet wird. Deshalb gilt rekte Ansprache der Zielgruppe in ihrem sozialen auch hier die Empfehlung, von Anfang an mit der Umfeld (Arztpraxen, Läden, Betriebe, Schulen anvisierten Hauptzielgruppe zusammenzuarbei- etc.) kann ebenfalls dazu beitragen, dass breitere ten. Nutzerschichten erreicht werden. Diese Ansprache im sozialen Umfeld ist vor allem bei der ersten Öff entlichkeitsarbeit und zweiten Migrantengeneration wichtig, da Bei der Öff entlichkeitsarbeit bestehen zwei An- diese stärker als deutschstämmige Personen dazu satzpunkte. Zum einen geht es darum, die Ma- neigen, Kulturangebote nur wahrzunehmen, wenn terialien so zu gestalten, dass sie möglichst viele auch jemand aus dem persönlichen Umfeld mit- Personen ansprechen. Zum anderen gilt es, neue kommt. Diese zielgruppenorientierte Ansprache Wege der Zielgruppenansprache zu beschreiten. kann auch über Migrantenselbstorganisationen

23

F-01.indd 23 10.04.2014 13:55:46 Sandra Kostner Partizipation durch Diversitätsorientierung

erfolgen oder über muttersprachliche Medien. Alle (z. B. Gast arbeiter/innen, Flüchtlinge) oder eine vorgenannten Formen erhöhen den Bekanntheits- Gruppe, die sich eine Lebenswelt teilt, z. B. ei- grad der Einrichtung und senden das Signal an die nen Straßenzug oder ein Stadtviertel. Schaff en Zielgruppe, dass sie direkt angesprochen wird. es Archive auf diese Art eine zunehmende Zahl migrantischer Gruppen für ihre Angebote zu inte- Schlussgedanken ressieren, können sie im Lauf der Zeit den im Na- tionalen Integrationsplan formulierten Anspruch Die im Nationalen Integrationsplan formulierte der Partizipationsgerechtigkeit verwirklichen. Forderung, dass Kultureinrichtungen ihren Beitrag zur Herstellung von mehr Partizipationsgerechtig- keit von migrantischer und nicht-migrantischer Bevölkerung leisten sollen, ist von komplexer Natur, wie obenstehende Ausführungen verdeut- licht haben. Es gibt nicht die eine Lösung oder das eine Handbuch. Dazu ist die migrantische Bevölkerung in ihren kulturellen Prägungen, ihren sozialen Lebenslagen und ihren ganz spezifi schen Mi gra tions- und Lebenserfahrungen zu vielfältig. Aber auch auf Seiten der Archive gibt es aufgrund ihrer gesellschaft lichen Funktionen Grenzen im Hinblick auf die Gewinnung neuer migrantischer Nutzergruppen. Diversitätsorientierung muss bei- de Seiten berücksichtigen, um erfolgsversprechend durchgeführt werden zu können. Wollen Archive Anmerkungen migrantenstämmige Nutzer in verstärktem Maße 1 Nationaler Integrationsplan. Neue Wege – Neue Chancen. Berlin für ihre Angebote gewinnen, müssen sie zunächst 2007, S. 132. 2 Nationaler Integrationsplan, wie Anm. 1, S. 133. in Erfahrung bringen, welche Zugangsbarrieren 3 Mi gra tionsbericht 2011. Hg. vom Bundesamt für Migration. bei einzelnen migrantischen Gruppen vorherr- Nürnberg, 2012, S. 159ff . schen. Darauf aufb auend lassen sich Programme 4 Susanne Keuchel: Das 1. InterKulturBarometer. Migration als Einfl ussfaktor auf Kunst und Kultur. Köln 2012 sowie: Kerner- entwickeln, die auf den Abbau der identifi zierten gebnisse Repräsentativuntersuchung „Lebenswelten und Milieus Zugangsbarrieren zugeschnitten sind. Auf diesem der Menschen mit Mi gra tionshintergrund in Deutschland und Weg lassen sich bestimmte migrantische Grup- Nordrhein-Westfalen“ inklusive Special Kunst und Kultur. Hg. von Interkultur Pro. Düsseldorf 2009, online verfügbar: pen für die Angebote von Archiven gewinnen. Es http://interkulturpro.de/ik_pdf/Migranten_M_V14_HP.pdf empfi ehlt sich, mit einer Zielgruppe anzufangen. (zuletzt abgerufen am 12.6.2013). 5 Keuchel, wie Anm. 3, sowie Kernergebnisse, wie Anm. 3. Dies kann eine Gruppe sein, die herkunft skul- 6 Sabine Ruhnau: Aufgaben- und Funktionsbereiche eines Archivs, turell gleiche oder zumindest ähnliche Wur- http://www.landeshauptarchiv-brandenburg.de/FilePool/ zeln hat (z. B. russischstämmige Migrantinnen Funktionsbereiche%20Archiv.pdf, S. 13 (zuletzt abgerufen am 28.10.2013). und Migranten), eine Gruppe, die ähnliche 7 Kernergebnisse, wie Anm. 3. migra tionsbezogene Erfahrungen gemacht hat 8 Kernergebnisse, wie Anm. 3.

24

F-01.indd 24 10.04.2014 13:55:46 Archive und Migration Michael Stephan

Michael Stephan Archive und Migration

Ein Sachstandsbericht es schon Ende der 1980-Jahre eine dem Wiener Projekt vergleichbare Initiative; 1990 wurde dann Aktion in Wien: als Selbstorganisation von Einwanderern aus der 50 Jahre Arbeitsmigration. Archiv jetzt! 1962 Türkei das Dokumentationszentrum und Museum Am 5. Oktober 2012 waren an mehreren Orten in über die Migration aus der Türkei e. V. (DOMiT) Wien Plakate zu sehen mit der Aufschrift 50 Jahre gegründet. Der Verein schloss sich 2007 mit dem Arbeitsmigration. – Archiv jetzt! – 1962. Sie waren Teil der Kampagne Für ein Archiv der Migration, jetzt! Die Initiatoren Arif Akkilic und Ljubomir Bratić wollten darauf aufmerksam machen, dass 50 Jahre, nachdem die ersten Gastarbeiter nach Österreich gekommen waren, die Geschichte der Migranten in der offi ziellen Geschichtsschrei- bung nicht vorkommt. Mit der Plakataktion und auch auf einer abendlichen Podiumsdiskussion forderten sie deshalb die Errichtung eines Archivs der Migration. Dieser neue Gedächtnisort hätte die Aufgabe, die zerstreuten und in Privatsammlun- gen befi ndlichen Dokumente und Objekte zusam- menzuführen und systematisch aufzuarbeiten.

Erste Ansätze in Deutschland Seit etwa 15 Jahren, verstärkt in den letzten fünf Jahren, fi nden auch in Deutschland vermehrt Debatten und Projekte von Kultur institutionen über das lange vernachlässigte Th ema Migration 1 | Plakataktion „Mi gra tionsarchiv jetzt“ in Wien 2012. statt. Im Bundesland Nordrhein-Westfalen gab Aufnahme: Iris Ranzinger

25

F-01.indd 25 10.04.2014 13:55:46 Michael Stephan Archive und Migration

2003 gegründeten Migra tionsmuseum in Deutsch- in Deutschland aufgebaut, die mittlerweile über land e. V. zusammen zum Dokumentationszentrum 70.000 Objekte umfasst. DOMiD hat zahlreiche und Museum über die Migration in Deutschland Ausstellungen, Kooperationen und Tagungen e. V. (DOMiD) mit Sitz in Köln. Diese Umbenen- veranstaltet. Den roten Faden aller Ausstellungen nung drückte das erweiterte Sammlungs- und bildete der multiperspektivische Ansatz, also nicht Wissensspektrum sowie die veränderte Mitglieder- nur die Perspektive der Einwanderer darzulegen, struktur aus. Vier hauptamtliche Mitarbeiterinnen sondern auch die Sicht des Aufnahmelandes. und Mitarbeiter, darunter ein wissenschaft licher Dahinter steckt die Idee der geteilten Erinnerung. Archivar und ein wissenschaft licher Dokumen- In Entsprechung dazu bemüht sich DOMiD, ein tar, betreuen die Sammlungen. Die Finanzierung Mi gra tionsarchiv aufzubauen und kein Migranten- erfolgt weitgehend durch die Stadt Köln und das archiv. Dies wurde zuletzt auch in dem personellen Land Nordrhein-Westfalen. Wechsel in der Geschäft sführung des Vereins zum Zwischenzeitlich hat der Verein DOMiD eine 1. Juli 2012 deutlich: Auf Aytaç Eryılmaz aus der bedeutende Sammlung zur Migra tionsgeschichte Gründergeneration des Vereins folgte der junge Historiker Arnd Kolb. Insgesamt hat der Verein DOMiD mit seiner Arbeit mit dazu beigetragen, dass der Geschichte der Einwanderer in der histo- rischen Wissenschaft , in Museen und Archiven in den letzten Jahren eine verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt worden ist.

Museen und Migration Mehr Bewegung als in der Archivlandschaft war allerdings zunächst bei den etablierten Museen zu konstatieren. Schon 2005 trug das Deutsche Historische Museum in Berlin der veränderten gesellschaft lichen Situation, wonach Deutschland nun auch offi ziell als Zuwanderungsland aner- kannt wurde, mit einer gleichnamigen Ausstellung Rechnung.1 Das 2005 in Bremerhaven eröff nete Deutsche Auswandererhaus bekam 2012 einen Erweite- rungsbau, in dem das Museum nun auch die Einwanderung thematisiert, ohne dass das Haus umbenannt worden wäre. Der Deutsche Museumsbund machte im Mai 2 | Broschüre des Dokumentationszentrums für Migra- 2012 auf seiner Jahrestagung in Stuttgart die tion (DOMiD) in Köln 2009. Rolle der Museen in der Mi grationsgesellschaft

26

F-01.indd 26 10.04.2014 13:55:49 Archive und Migration Michael Stephan

zum zentralen Th ema. Alle Welt im Museum? den Fokus ihrer Aktivitäten. Der Bayerische Lan- lautete die Leitfrage der Jahrestagung, Museen desverein für Heimatpfl ege lud vom 10. bis in der pluralen Gesellschaft der Untertitel. Ein 12. Juni 2010 zu einer Arbeitstagung der bayeri- eigener, 2010 gegründeter Arbeitskreis Migration schen Heimatpfl eger in die BMW-Stadt Dingol- beim Deutschen Museumsbund, der sich unter fi ng ein – unter dem Titel In der Fremde heimisch verschiedensten Blickwinkeln mit der Frage werden. Migration als Herausforderung der beschäft igt, wie Museen der Realität der Einwan- Heimatpfl ege.4 Ein Jahr später, am 4. April 2011, derungsgesellschaft Rechnung tragen können, hat veranstaltete der Landesverein für Heimatpfl ege einen Leitfaden zu Museen, Migration und kultu- zusammen mit der Landesstelle für die nichtstaat- reller Vielfalt erarbeitet, der seit Anfang Mai 2013 lichen Museen in Bayern eine Fachtagung im Mu- in überarbeiteter Fassung vorliegt.2 Momentan seum Industrie kultur in Nürnberg: Ist Migration und noch bis voraussichtlich Juni 2015 führt der museumsreif? Überlegungen zum Umgang mit der Deutsche Museumsbund im Rahmen der Initiative Sachkultur von Zuwanderern. für vielfältige Perspektiven: Museum und Migration Sonstige staatliche Aktivitäten zwei Projekte durch, die dazu beitragen sollen, die Auseinandersetzung der deutschen Museen Beim Beauft ragten des Senats von Berlin für Inte- mit der kulturell vielfältigen Gesellschaft und dem gration und Migration gab es 2010 eine Initiative, Th ema Migration in der Breite zu befördern und Museen, Wissenschaft ler/innen und Kultur- weiter zu vertiefen: Alle Welt: Im Museum und schaff ende (aber wohl keine Archivare) in einen Kulturelle Vielfalt im Museum: Sammeln, Ausstellen Austausch darüber zu bringen, wie Stadtgeschichte und Vermitteln. als Migra tionsgeschichte aufb ereitet und erlebbar Viele Museen haben sich in der Zwischenzeit und für die städtische Außendarstellung nutzbar – nicht zuletzt angeregt durch die Jubiläen der gemacht werden kann. Im Hinblick auf das Anwerbeabkommen – dem Th ema Migration 50. Jubiläum des Anwerbeabkommens mit der gewidmet. So zeigte zum Beispiel das Uhren- Türkei wurde im Juni 2011 eine Broschüre heraus- industriemuseum Villingen-Schwenningen in der gebracht, in der das Th ema Migration topografi sch Ausstellung Hauptsach se schaff et! (5. Juli 2008 bis im heutigen Stadtbild Berlins verortet wird.5 Das 30. August 2009) die Geschichte der Migration Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales seit über hundert Jahren und die Region Schwarz- des Landes Nordrhein-Westfalen betreibt ein wald-Baar als Einwanderungsland oder das Stadt- Internetportal, über das verschiedene Webseiten museum Wolfsburg in der Ausstellung I primi mit Projekten zur Geschichte der Migration im 6 Italiani – Italienische Premieren (bis 13. Januar Rheinland angeboten werden. 2013) die Geschichte der VW-Italiener.3 Migration auf der Agenda der Wissenschaft Heimatpfl ege und Migration In der Forschung ist das Th ema Migration längst Nicht nur für die Museen, auch für die Heimat- bei Historikern, Soziologen und Volkskundlern pfl eger rückte das Th ema Migration verstärkt in angekommen. Die Zahl der Publikationen ist fast

27

F-01.indd 27 10.04.2014 13:55:49 Michael Stephan Archive und Migration

unüberschaubar geworden. Allein drei wissen- bildung in rheinischen Archiven, das am 7./8. Mai schaft liche Tagungen in diesem Jahr belegen, dass 2008 in Köln stattfand. In fünf Arbeitssitzungen das Th ema Konjunktur hat: kamen Kommunalarchive, staatliche Archive, – 21./22. März 2013: Stadt und Migration. Kritische Wirtschaft sarchive, Archive von Religionsge- meinschaft en und natürlich auch DOMiD zu Perspektiven auf ein Forschungsfeld in Bewegung Wort; eine Arbeitssitzung widmete sich dem (Kulturwissenschaft liches Zentrum der Universität Th ema Migration in der Öff entlichkeitsarbeit der Göttingen); Archive.8 Besonders erwähnenswert ist der bisher – 15. Juni 2013: Regionalgeschichte als Mi gra- unveröff entlichte VortragÜberlieferungsbildung tionsgeschichte: Räumliche Bevölkerungsbewegun- zum Th ema Migration in Kommunalarchiven gen aus, in und nach Niedersachsen vom späten von Irmgard Christa Becker (damals Leiterin 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart (Arbeitskreis des Stadtarchivs Saarbrücken). In ihrer Funktion für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts als damaliges Mitglied der Bundeskonferenz der der Historischen Kommission für Niedersachsen Kommunalarchivare beim Deutschen Städtetag und Bremen); (BKK) und Vorsitzende des Unterausschusses – 24./25. Oktober 2013: Migration, Integration und Überlieferungsbildung hat sie ein Dokumentations- Demokratie (Hamburger Institut für Sozialfor- profi l für Kommunalarchive entwickelt, das die schung in Kooperation mit dem Institut für So- BKK auf ihrer Sitzung in Erfurt am 15./16. Sep- tember 2008 beschlossen hat.9 In ihrem Vortrag ziologie der Universität Hamburg und der Sektion präzisierte Irmgard Becker ihren Vorschlag eines Migration und ethnische Minderheiten in der Dokumentationsprofi ls mit konkreten Dokumen- Deutschen Gesellschaft en für Soziologie). tationszielen für das Th ema Migration, für die sie einen Quellenfundus mit verschiedenen Doku- Bisherige Aktivitäten von Archiven mentationsgraden erarbeitet hat. Die Dokumenta- Mit der verstärkten Migra tionsforschung kommen tionsziele lauten wie folgt: auch ganz neue Anforderungen auf die Archive zu. 1. Alle zu- und ausgewanderten Personen sollen Wie haben sich die Archive bzw. Archivorganisa- dokumentiert sein. tionen bisher dieser neuen thematischen Heraus- 2. Alle politischen, administrativen, wirtschaft li- forderung gestellt? chen, sozialen, kulturellen und Bildungsthemen, Zum ersten Mal hat sich im Jahr 2007 auf dem die Migranten und Mi gra tionsphänomene betref- 77. Deutschen Archivtag in Mannheim zumindest fen, sollen dokumentiert sein. eine Sektionssitzung mit fünf Vorträgen zu unter- Daran wird deutlich, dass Migration sich auf schiedlichen Aspekten (darunter mit Vorstellung viele Aspekte der lokalen Lebenswelt bezieht, für von DOMiD) dem Th ema Migration gewidmet.7 die nicht nur Unterlagen der amtlichen Verwal- Eine der ersten Tagungen speziell zum Th ema tung einschlägig sind, sondern auch solche aus mit größerer Beteiligung von Archiven bzw. mit vielen anderen gesellschaft lichen Bereichen. Ein spezifi sch archivischen Fragestellungen war das Dokumentationsprofi l bietet deshalb den Vorteil, vom Landschaft sverband Rheinland organisierte auch Entwicklungen zur Migration zu berücksich- Symposion Archiv und Migration. Überlieferungs- tigen, die außerhalb der Verwaltung stattfi nden

28

F-01.indd 28 10.04.2014 13:55:49 Archive und Migration Michael Stephan

und in öff entlichen Archiven gemeinhin nur −Dr. Hannes Lambacher (Stadtarchiv Münster): wenig Niederschlag fi nden. Beispiele amtlicher Überlieferung zu Ein- und Auf der Basis der Arbeitshilfe der BKK erarbei- Auswanderung in Stadt und Kreis Münster im tet DOMiD zurzeit ein Dokumentationsprofi l zum 19. und 20. Jahrhundert. Th ema Migration. Das Projekt wird gemeinsam −Dr. Ernst Otto Bräunche (Institut für Stadt- mit den Archiven des Rhein-Erft -Kreises – reprä- geschichte – Stadtarchiv Karlsruhe): Das Projekt sentiert durch das Kreisarchiv des Rhein-Erft - Zuwanderung nach Karlsruhe und sein Ertrag Kreises und das Stadtarchiv Hürth – sowie mit für die Bestände des Stadtarchivs Karlsruhe. dem Stadt- und Kreisarchiv Düren durchgeführt −Gerd Pomykaj (Stadtarchiv Gummersbach): und vom Landschaft sverband Rheinland unter- Ankommen. Wanderausstellung zum Th ema stützt. Migration nach 1945 – ein Projektbericht. Am 22./23. Juni 2009 fand im Industriemuseum − Dr. Ingrid Wölk (Stadtarchiv Bochum/Bochu- Oberhausen eine weitere vom Landschaft sverband mer Zentrum für Stadtgeschichte): Kooperation Rheinland organisierte Tagung statt, diesmal in von Kommunalarchiven des Ruhrgebiets im Kooperation mit DOMiD: Inventur Migration. Rahmen der RUHR.2010. Das Ausstellungspro- jekt Fremd(e) im Revier.11 Ein Blick in die Tagungsdokumentation zeigt, dass für die Archive einschlägige Th emen referiert Neben diesen wichtigen Tagungen ist nun von wurden:10 den Aktivitäten einzelner Archive zu berichten, −Die Akte Migration: Was zeigt, was verschweigt die sich dem Th ema Migration mit unterschiedli- die schrift liche Überlieferung in öff entlichen Ar- cher Fragestellung und Vorgehensweise widmeten. chiven? (Dr. Christoph Rass, RWTH Aachen); Beim Stadtarchiv Nürnberg wurde Mitte 2006 das −Quellen zur Migration im Unternehmensarchiv Oral-History-Projekt Zuwanderung nach Nürnberg (Prof. Dr. Horst A. Wessel, Heinrich-Heine-Uni- nach 1945 bis heute eingerichtet, bei dem der versität Düsseldorf); Schwerpunkt auf der Befragung von rund 500 −Arbeit mit Quellen zur Migration in europäi- Zeitzeugen lag. Für das auf sechs Jahre befristete schen Archiven und Museen (Dr. Frank Caeste- Projekt mit zwei Mitarbeitern mit Werkvertrag cker, Universität Gent, Belgien); standen jährlich 50.000 Euro zur Verfügung. Die Anforderungen an ein Inventarverzeichnis zur Ergebnisse fl ossen zum Teil in die zeitlich viel Migration (Dr. Ulrich Soénius, Rheinisch-Westfä- weiter angelegte Ausstellung Dageblieben! ein, die lisches Wirtschaft sarchiv, Köln).Auf dem 62. West- vom 21. Oktober 2011 bis zum 15. Januar 2012 fälischen Archivtag, der am 16./17. März 2010 im Stadtarchiv Nürnberg gezeigt wurde (und in Kamen stattfand, diskutierten die Archivare danach noch an weiteren Stationen, zum Beispiel am zweiten Tag am Beispiel des hochaktuellen im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Th emas Migration neue Konzepte und Strategien Nürnberg).12 zur Übernahme amtlicher und privater Quellen Das Stadtarchiv Mannheim – Institut für Stadt- zur Migration und präsentierten beispielhaft , wie geschichte hat zum Stadtjubiläum 2007 (400 Jahre Forschungsergebnisse im Rahmen von Ausstel- Mannheim) das Informationssystem Stadtpunkte lungsprojekten öff entlichkeitswirksam vermittelt entwickelt, bei dem mit über 100 Tafeln und Stelen werden können: der Mannheimer Innenstadt ihre historische

29

F-01.indd 29 10.04.2014 13:55:49 Michael Stephan Archive und Migration

3 | Katalog der Ausstellung „Dageblieben!“ in Nürnberg 2011.

Dimension zurückgegeben wurde. Bei diesem Karlsruhe (12. September bis 15. November 2009) Projekt, das mehr im Kontext der Historischen und eine Publikation unter maßgeblicher Beteili- Bildungsarbeit im Archiv steht, wurden fünf Th e- gung des Stadtarchivs Karlsruhe.14 menrundgänge erarbeitet, einer lautet: Migration Das Stadtarchiv – Bochumer Zentrum für Stadt- – Toleranz – Verfolgung.13 geschichte schloss sich 2010 mit den Archiven In Karlsruhe gab es das Projekt Zuwanderung aus Bottrop, Dinslaken, Essen, Gelsenkirchen, nach Karlsruhe als Initiative des Büros für Integra- Marl, Mülheim, Recklinghausen und Wesel sowie tion der Stadt Karlsruhe mit zahlreichen Koopera- weiteren Kooperationspartnern für das gemein- tionspartnern. Das Ergebnis war die Ausstellung same Ausstellungsprojekt Fremd(e) im Revier!? Gastarbeiter in Deutschland – Zuwanderung nach zusammen, das die Anerkennung der RUHR.2010

30

F-01.indd 30 10.04.2014 13:55:49 Archive und Migration Michael Stephan

GmbH als Kulturhauptstadtprojekt gefunden Die beiden Münchner Gedächtniseinrichtungen, hatte. Der Ausstellungskatalog dokumentiert die das Stadtarchiv München und das Münchner Th emen Fremdsein und Migration im Ruhrgebiet Stadtmuseum, waren konzeptionell nicht betei- vom Mittelalter bis in die Gegenwart – und eröff - ligt. nete damit neue Blickweisen für die Zukunft .15 Die Ausstellung Crossing Munich, ein Koopera- Im Stadtarchiv Saarbrücken fand am 26. Sep- tionsprojekt von Kulturreferat und Ludwig-Ma- tember 2011 im Rahmen der Interkulturellen ximilians-Universität, wurde zum Ansatzpunkt Wochen ein vom dortigen Zuwanderungs- und für weiter führende politische Aktivitäten. So Integrationsbüro veranstalteter Workshop zum forderte der Ausländerbeirat der Landeshaupt- Th ema Einwanderungsgeschichte statt. In der stadt München am 16. November 2009 nach Pressemitteilung des Stadtarchivs hieß es, dass einem Konzept zur systematischen Sammlung Migration im kollektiven Geschichtsbewusstsein und Archivierung von Materialien zur Münchner noch nicht angekommen sei, wäre auch eine Folge Mi gra tionsgeschichte, und die Stadtratsfraktion einer insgesamt schwachen Quellenbasis in den Bündnis 90/Die Grünen – Rosa Liste erbat am Archiven. Und weiter: Das Stadtarchiv Saarbrü- 15. Dezember 2009 vom Stadtarchiv München und cken will die Geschichte der Saarbrücker Migration dem Münchner Stadtmuseum ein Konzept zum besser dokumentieren. Deshalb bildet die Ein- Aufb au eines Archivs der Mi gra tionsgeschichte. werbung von privaten Unterlagen von Migranten Diese politischen Initiativen waren – im Rückblick und ihren Vereinen sowie von Unternehmen und gesehen – sicher hilfreich, doch die Idee eines ei- Gewerbetreibenden mit Migra tionshintergrund eine wichtige Aufgabe für das Stadtarchiv. Nur durch die genen Mi gra tionsarchivs und die Vorstellung, diese Einbindung von Migranten als Multiplikatoren, die neue Aufgabe könne zum Nulltarif nebenbei erle- Kontakte herstellen und für Vertrauen werben, wird digt werden, erweckten bei den beiden Münchner dies möglich sein.16 Institutionen zunächst größere Skepsis. Zum Schluss sei noch auf das Landesarchiv Deshalb hielt das Stadtarchiv München am Baden-Württemberg verwiesen, das in der Zeit- 20. Juli 2010 ein Kolloquium ab, bei dem schon schrift Archivnachrichten Nr. 44 (2012) unter laufende Projekte vorgestellt wurden (z. B. der Überschrift Die Anderen und wir – Fremde DOMiD, Stadtarchiv Nürnberg) sowie ein- in Baden-Württemberg seit 1945 den Anteil der schlägige Bestands berichte aus dem Stadtarchiv Zuwanderer an der Entwicklung des Bundeslandes München und – das war besonders wichtig – eben anhand vieler Beispiele aus verschiedenen Archi- auch aus anderen Münchner Archiven (Archiv des ven näher beleuchtet hat.17 Erzbistums München und Freising, Bayerisches Wirtschaft s archiv, BMW-Firmenarchiv und – zu- mindest in der Diskussion beteiligt– die staatli- Das Münchner Projekt Migration bewegt die Stadt chen Archive).20 Auch in München gab es seit dem Jahr 2000 ei- Nach diesem Kolloquium vom 20. Juli 2010 hat nige innovative Ausstellungs- und Buchprojekte.18 das Stadtarchiv München folgende Aktivitäten an Alle diese Projekte waren jedoch Initiativen des den Tag gelegt bzw. ist folgende Kooperationen Kulturreferats der Landeshauptstadt München.19 eingegangen:

31

F-01.indd 31 10.04.2014 13:55:50 Michael Stephan Archive und Migration

4 | Dokumentation zum Kolloquium „Migranten in München“ im dortigen Stadtarchiv (2010).

32

F-01.indd 32 10.04.2014 13:55:50 Archive und Migration Michael Stephan

– Projekt Lebendige Erinnerung: München organisierte eine eigene Veranstaltungs- Eine Arbeitsgruppe bei der Israelitischen Kul- reihe Tipik München. tusgemeinde München und Oberbayern zur – Forschungsprojekt Migration bewegt die Stadt: Geschichte der jüdischen Kontingentfl üchtlinge aus den ehemaligen GUS-Staaten hat am 27. Juni Im Münchner Stadtmuseum hat das Stadtarchiv 2011 ihre Projektunterlagen (darunter 15 CDs mit mit der seit März 2010 amtierenden neuen Leite- Interviews) dem Stadtarchiv übergeben. Sie fan- rin Dr. Isabella Fehle eine an der Th ematik äußerst den Verwendung für die Ausstellung Juden 45/90 interessierte und kooperative Ansprechpartnerin 23 über jüdische Emigranten aus der Sowjetunion gefunden. Für ein gemeinsames Forschungspro- im Jüdischen Museum München (11. Juli 2012 bis jekt sind das Münchner Stadtmuseum und das 27. Januar 2013).21 Stadtarchiv eine Kooperation mit dem Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie der – Bayerisches Institut für Migration e. V. (BIM): Angeregt durch das Kolloquium im Stadtarchiv München gründete eine Gruppe von Migranten, die hier in München längst heimisch geworden ist, den Verein Bayerisches Institut für Migration. Sie sammeln mündliche und schrift liche Le- benszeugnisse sowie Objekte von Migranten mit dem Ziel, ein eigenes Mi grationsmuseum oder -archiv zu etablieren. Auch wenn diese Zielset- zung nicht ganz auf der programmatischen Linie des Stadtarchivs liegt, wurde am 16. Januar 2012 mit BIM einen Depositalvertrag geschlossen, um diese gesammelten Unterlagen auf jeden Fall zu sichern. BIM veranstaltet jährlich am 27. Oktober den Tag der Migration. Am 27. Oktober 2012 fand der BIM-Talk mit Andreas Bönte vom Bayerischen Rundfunk als Moderator im Stadtarchiv statt. Ein professionell gedrehter Film hat die Veranstaltung in voller Länge dokumentiert.22

– Projekt München sagt danke! 50 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen: Bei diesem Gemeinschaft sprojekt von Stadtver- waltung und migrantischen Gruppen beteiligte sich das Stadtarchiv im Vorbereitungskomitee und mit historischen Vorträgen, das Stadtmuseum 5 | Broschüre „München sagt danke“ (2011).

33

F-01.indd 33 10.04.2014 13:55:50 Michael Stephan Archive und Migration

Georg-August Universität Göttingen (Prof. Dr. wagenstift ung zum 1. März 2012 (Förderinitiative Sabine Hess) und dem Institut für Volkskunde/ Forschung in Museen, speziell ein Kooperations- Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximi lians- projekt zwischen Museum und Universität), auch Universität (Prof. Dr. Johannes Moser) eingegan- um mit Drittmitteln eine weitere Finanzierung des gen. Für ein von den beiden Münchner Institu- Projekts zu sichern. Die Projektskizze Perspektive tionen selbst fi nanziertes Vorprojekt konnten die Migration. Neue Inhalte, Methoden und Vermitt- zwei Doktorandinnen Natalie Bayer und Nana lungswege für die kommunale Gedächtnis- und Koschnick gewonnen werden. Das Vorprojekt I Erinnerungsarbeit fand leider keine Zustimmung; startete im April 2012 und lief bis Januar 2013. der Antrag wurde mit Schreiben vom 25. Juni 2012 Neben Kontaktpfl ege zu Akteuren der Migration abgelehnt. (mit ausführlichen Interviews) wurden auch zwei Daraufh in wurde am 17. Juli 2012 im Stadt- Workshops veranstaltet. archiv München ein Runder Tisch mit interessier- Ein Schwerpunkt in dieser Projektphase lag in ten Stadträt(inn)en zusammen gerufen, auf dem der Vorbereitung eines Antrags bei der Volks- das Projekt vorgestellt wurde (mit Hinweis auf die

6 | Flyer zur Workshopreihe „Migration“ von Stadtarchiv München und Münchner Stadtmuseum (2012).

34

F-01.indd 34 10.04.2014 13:55:51 Archive und Migration Michael Stephan

fehlende Finanzierung). Als Ergebnis beantragte Die Vollversammlung des Münchner Stadtrats die Stadtratsfraktion Bündnis 90/Die Grünen – hat der gemeinsamen Beschlussvorlage am 5. Juni Rosa Liste am 8. August 2012, Mi gra tionsgeschichte 2013 bei nur einer Gegenstimme zugestimmt. dauerhaft erforschen, sammeln und sichtbar ma- Durch die Anbindung des Projekts an die beiden chen, wobei die frühere Forderung von 2009 nach Universitäten wird es auch zukünft ig forschungs- dem Aufb au eines Münchner Mi gra tionsarchivs orientiert aufgestellt sein. Dazu gehört auch, dass wieder aufgegeben wurde. Die beiden Mitarbei- das Stadtarchiv München die 53. Jahrestagung terinnen arbeiteten im Rahmen des Vorprojekts des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadt- I mit dem Stadtarchiv und dem Stadtmuseum an geschichtsforschung organisiert, die vom 14. bis der Beantwortung des Antrags. Ende Januar 2013 16. November 2014 in München zum Th ema legten sie einen ausführlichen Projektbericht vor: Migration und Stadt stattfi nden wird. Migration bewegt die Stadt. Migration als Aufgabe der kommunalen Erinnerungspraxis.24 Fazit Da sich die Erarbeitung der Beschlussvorlage Wichtigstes Ergebnis aller bisherigen Bemühun- für den Stadtrat noch hinauszögerte, starteten gen nicht nur des Stadtarchivs München, sondern wir (nochmals mit eigenen Budgetmitteln) mit aller Archive, die sich dem Th ema Migration den beiden Doktorandinnen im Februar 2013 das gewidmet haben, ist ein Bekenntnis zu einer integ- Vorprojekt II, das bis November 2013 terminiert rierten Stadtgeschichte. Ziel ist also kein Nischen- ist. Am 16. Mai 2013 hat dann endlich der Kultur- programm, kein weiteres Sonderarchiv – wie es ausschuss gemeinsam mit dem Verwaltungs- und Personalausschuss folgenden Beschluss gefasst: zuletzt wieder in Wien gefordert worden ist. Nur Stadtmuseum und Stadtarchiv erhalten zunächst wenn es uns gelingt, die Geschichte der Migran- für vier Jahre 2,5 Stellen und 110.000 € Sachmit- ten als einen unverzichtbaren Baustein in unsere tel. Stadtgeschichte einzugliedern, wenn wir die individuellen und kollektiven Besonderheiten, wie Aufgabe der zukünft igen Projektmitarbeiter wird sie sich in den Biografi en der hier lebenden Aus- sein: länder bzw. Menschen mit Mi gra tionshintergrund −Analytisches Sichten und Querlesen bisheri- spiegeln, in unser gemeinsames Gedächtnis ger Sammlungsbestände im Museum und der aufnehmen, kann Integration als fruchtbares und Akten- und Sammlungsbestände im Archiv vor allem nachhaltiges Prinzip etabliert werden. (Aufb au eines datenbankgestützten sachthema- Geschichte kann nicht exklusiv die Geschichte der tischen Inventars); Mehrheitsgesellschaft sein, wenn wir erreichen −Entwicklung von Konzepten zur Ergänzung wollen, dass aus dem gleichgültigen Nebeneinan- der städtischen Überlieferung und zum Aufb au der ein gleichberechtigtes Miteinander wird. Und neuer archivischer und musealer Sammlungs- die Archive können dazu einen nicht unwesent- bestände aus multiperspektivischer Sicht; lichen Teil beitragen! − Vermittlung der Ergebnisse an eine breite Öff entlichkeit (also z. B. Ausstellung oder ein Th emengeschichtspfad Migration in München).

35

F-01.indd 35 10.04.2014 13:55:51 Michael Stephan Archive und Migration

Anmerkungen

1 Zuwanderungsland Deutschland. Migrationen 1500 – 2005. 14 Migration und Integration in Karlsruhe. Hg. von Manfred Hg. von Rosmarie Beier-de Haan. Berlin 2005. Koch und Sabine Liebig. (Veröff entlichungen des Karlsruher 2 http://www.museumsbund.de/fi leadmin/ak_migration/ Stadtarchivs, Band 31). Karlsruhe 2010. Dokumente/2013_04 – 29_Leitfaden-Migration_DMB_V201.pdf 15 Fremd(e) im Revier!? Zuwanderung und Fremdsein im (zuletzt aufgerufen am 22.7.2013). Ruhrgebiet. Hg. von Klaus Wisotzky und Ingrid Wölk. Essen 3 Zu den Stuttgarter Ausstellungen Liebe auf den zweiten Blick 2010. – Vgl. auch Bericht von Ingrid Wölk auf dem 62. Westfäli- (2010), Merhaba Stuttgart (2011) und die Planungen für das schen Archivtag in Kamen 2010 (siehe Anm. 11). neue Stadtmuseum (Eröff nung 2016) sowie das Sammlungs-, 16 Vgl. http://www.saarbruecken.de/de/kultur/stadtarchiv/ Dokumentations- und Ausstellungsprojekt Auspacken der Stadt ausstellungen_und_aktionen/migration_-_da_ist_poesie_drin Reutlingen siehe den Beitrag von Anja Dauschek in diesem (zuletzt aufgerufen am 22.7.2013). Band. 17 Vgl. z.B. Karl J. Mayer: Fremde in Baden-Württemberg seit 1945. 4 Zu dieser Tagung erschien eine Ausgabe der vierteljährlich Zur Quellenlage in Kommunal archiven. In: Archivnachrichten erscheinenden Zeitschrift Schönere Heimat 99 (2010) mit 44 (2012), S. 18 –19. – Über die aktuellen Aktivitäten des zahlreichen Aufsätzen zum Th ema Migration und Integration Stadtarchivs Stuttgart vgl. den Beitrag von Jürgen Lotterer in (z.B. vom Dingolfi nger Stadtarchiv- und Museumleiter Georg diesem Tagungsband. Rettenbeck: Auf dem Weg zu einer neuen Ethnogenese. Mi gra- 18 Franziska Dunkel und Gabriella Stramaglia-Faggion: „Für tionswellen am Beispiel der Stadt Dingolfi ng, ebd., S. 75 – 82). 50 Mark einen Italiener“. Zur Geschichte der Gastarbeiter in 5 Die Berliner Route der Migration – Grundlagen, Kommentare, München. München 2000. – Xenopolis. Von der Faszination und Skizzen. Berlin 2011. Ausgrenzung des Fremden in München. Hg. von Angela Koch. 6 http://www.angekommen.com. München 2005. – Crossing Munich. Beiträge zur Migration aus 7 Lebendige Erinnerungskultur für die Zukunft . 77. Deutscher Kunst, Wissenschaft und Aktivismus. Hg. von Natalie Bayer, Archivtag 2007 in Mannheim (Tagungsdokumentationen zum Andrea Engl, Sabine Hess und Johannes Moser. München 2009. Deutschen Archivtag 12). Fulda 2008. S. 115 –169. 19 Zur heutigen offi ziellen Linie des Kulturreferats vgl. die Rede 8 Zu der Tagung gibt es leider keine Dokumentation, nur einen von Kulturreferent Hans-Georg Küppers bei der Buchvorstellung Bericht von Christoph Schmidt: Symposion „Archiv und München und der Orient am 7. Februar 2013 in der Bayerischen Migration. Überlieferungsbildung in rheinischen Archiven.“ Staatsbibliothek: Ich bin im übrigen nicht glücklich mit dem In: Archivar 61 (2008). S. 391–393. Begriff „Integration“, denn er impliziert eine Subjekt-Objekt- 9 Vgl. dazu Irmgard Christa Becker: Arbeitshilfe zur Erstellung Beziehung. Jemand integriert jemanden, das impliziert eher eines Dokumentationsprofi ls für Kommunalarchive. Einführung Herrschaft als Partnerschaft und kann als Steilvorlage für das in das Konzept der BKK zur Überlieferungsbildung und Konzept der Leitkultur in neuem Gewande genutzt werden. Es Textabdruck. In: Archivar 62 (2009). S. 122 –132. 10 Inventur Migration. Tagungsdokumentation. Köln 2009. geht bei der Gestaltung der kulturellen Vielfalt aber nicht um das 11 Druck der Vorträge in: Archivpfl ege in Westfalen-Lippe 73 Eigene gegen das Fremde, sondern um uns als gesell schaft liches (2010). S. 2 – 43. Kollektiv. Die Rede ist im Wortlaut veröff entlicht auf 12 Vgl. den Begleitband Dageblieben! Zuwanderung nach http://www.freunde-islamischer-kunst.de/wp-content/uploads/ Nürnberg gestern und heute. Hg. von Michael Diefenbacher und 2013/02/rede-k%C3 %BCppers.pdf. Steven M. Zahlaus. Nürnberg 2011. – Vgl. auch Gesa Büchert: 20 Vgl. Migranten in München. Archivische Überlieferung und „Heimat in der Fremde“ – Ein archivpädagogisches Programm Dokumentation. Dokumentation zum Kolloquium vom 20. Juli in der Ausstellung „Dageblieben!“. In: Norica. Berichte und 2010 im Stadtarchiv München. München 2010. Die Druck- Th emen aus dem Stadtarchiv Nürnberg 8 (2012). S. 34 – 37. fassung ist vergriff en, als PDF-Datei ist die Dokumentation aber 13 Susanne Schlösser: Stadtpunkte – Mannheimer Geschichte vor auf der Homepage des Stadtarchivs verfügbar: http://www. Ort. Ein stadthistorisches Projekt (nicht nur) zum Jubiläumsjahr muenchen.de/rathaus/dms/Home/Stadtverwaltung/ 2007. In: Badische Heimat 1 (2007). S. 62 – 64. – Dies.: Die Direktorium/Stadtarchiv/pdf/Migr.pdf (zuletzt abgerufen am Situation vor Ort nutzen. Historische Bildungsarbeit im 23.7.2013). Archiv – Formen, Möglichkeiten, Erfahrungen. In: Profi lierung 21 Jutta Fleckenstein und Piritta Kleiner (Hg.): Juden 45/90. Von der Kommunalarchive durch Historische Bildungsarbeit. ganz weit weg – Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Beiträge des 18. Fortbildungsseminars der Bundeskonferenz der Ausstellung im Jüdischen Museum München. Berlin 2012. Kommunalarchivare (BKK) in Wolfsburg vom 9.–11. November 22 Der Film ist auch auf der Homepage des Stadtarchivs München 2009. Hg. von Marcus Stumpf und Katharina Tiemann (Texte zu sehen: http://www.bim-institut.org/2013/03/01/2-bim-tv- und Untersuchungen zur Archivpfl ege). Münster 2010. S. 19 – 33. talk-2012-stadtplanung-mit-blick-auf-migration.

36

F-01.indd 36 10.04.2014 13:55:51 Archive und Migration Michael Stephan

23 Isabella Fehle: Stadtkultur und Migration – auf dem Weg zur Musealisierung. In: Leute wie die Zeit vergeht. Vom Umgang mit der Zeit- und Alltags geschichte. 16. Bayerischer Museumstag, Würzburg 20.– 22. Juli 2011. München 2011, S. 48 – 51. 24 http://www.muenchen.de/rathaus/dms/Home/Stadtverwaltung/ Direktorium/Stadtarchiv/Forschung/ Migration-bewegt-die- Stadt_projektphase1_bericht.pdf (zuletzt abgerufen am 23.7.2013).

37

F-01.indd 37 10.04.2014 13:55:51 Daniel Peter Archive und Migrationsgeschichte aus französischer Sicht

Daniel Peter Archive und Migra tionsgeschichte aus französischer Sicht

I. Überblick über die Geschichte der Migrationen in Entwicklungen im Einzelnen einzugehen, würde Frankreich aber das Th ema sprengen, deshalb erwähne ich sie 1 Was versteht man unter Migrationen? Zunächst nur am Rande. denkt man bei diesem Begriff vor allem an Aus- Allgemein datiert man den Anfang der Einwan- und Einwanderung, aber man muss auch die Bin- derung in Frankreich auf die Mitte des 19. Jahr- nenmigrationen einbeziehen, die des fahrenden hunderts. Im Grunde erfuhr das Land aber auch Volkes, der Arbeitsuchenden, der Landfl ucht und schon zuvor immer wieder Bevölkerungszuwachs andere. Letztere beginnt in Frankreich Mitte des von auswärts. Unter König Franz I. (1494 –1547) 19. Jahrhunderts in den südlichen Départements wurde 1515 bezüglich der Staatsangehörigkeit (Ardèche, Aveyron, Lozère u. a.), wo die landwirt- das Geburtsortsprinzip (jus soli oder Bodenrecht) schaft lichen Konditionen eher schlecht waren. dem Abstammungsprinzip ( oder Sie nimmt nach dem Ersten Weltkrieg weiter zu, Blutrecht) gleichgestellt. Die Revolution von 1789 nachdem es vier Jahre lang in den Schützengräben brachte für jeden Fremden, der in Frankreich an der Somme oder bei Verdun zur Annäherung lebte, automatisch die französische Staatsange- von Stadt- und Landbevölkerung gekommen war hörigkeit.2 Die wirtschaft liche Entwicklung und (Creuse, Massif central u. a.), und setzt sich nach das Ende des demographischen Aufschwungs 1945 mit Migrationen aus den Départements West- Mitte des 19. Jahrhunderts führten zu einer neuen frankreichs fort. Die Probleme, die viele Einwan- und umfangreichen Periode der Einwanderung. derer kannten, begegneten auch diesen Binnen- Weitere Mi gra tionswellen folgten: Belgier, Nie- migranten. Die Bretonen aus der Westbretagne, derländer, Deutsche, Engländer, Italiener, Spanier, die bretonisch sprachen und Anfang des 20. Jahr- Maghrebiner, Portugiesen, Afrikaner und Asiaten hunderts nach Nantes zogen, um dort Arbeit zu zog es nach Frankreich. Ohne die Einwanderung fi nden, wurden oft mit herablassendem Blick wäre der demographische Rückgang seit dem empfangen. Das Gleiche widerfuhr den Scharen Ende des 19. Jahrhunderts zur wahren Katastrophe von Bauern aus der Auvergne oder der Bretagne, geworden und das Land würde nicht den heutigen die es zur selben Zeit nach Paris lockte. Auf diese Bevölkerungsstand kennen.

38

F-01.indd 38 10.04.2014 13:55:51 Archive und Migrationsgeschichte aus französischer Sicht Daniel Peter

1 | Polizeibericht zum Naturalisierungsantrag von Hersch Tennenbaum aus Polen, 1930. Vorlage: Archives municipales Nancy 9 E 19

39

F-01.indd 39 10.04.2014 13:55:52 Daniel Peter Archive und Migrationsgeschichte aus französischer Sicht

Die französische Auswanderung 19. Jahrhunderts sollen einem jiddischen Spruch Verglichen mit Italien, Großbritannien oder gefolgt sein: Lebn vi Got in Frankraykh!3 Deutschland, blieb die Auswanderung aus Frank- Trotzdem gibt es zahlreiche Zielgebiete der reich eher schwach. Verantwortlich dafür war Auswanderer aus Frankreich in den verschiedenen der Bevölkerungsrückgang Frankreichs schon Epochen: seit Ende des 18. Jahrhunderts, aber auch die − die Auswanderung nach Quebec im 17. Jahr- Migration in die französischen Kolonien, die nicht hundert; als Auswanderung bezeichnet wurde. Manche − die baskische Auswanderung nach Argentinien meinen auch, dass die französische Lebensart die und Uruguay; schwächere Auswanderung erklärt! Warum nicht! − die Auswanderung aus der Bretagne nach Neu- Viele russische jüdische Einwanderer Ende des fundland;

2 | „Gastarbeiter“ in einer Werkstatt der Compagnie des Forges et Ateliers de la Marine, Saint-Chamond (Frankreich), ca. 1930. Vorlage: Archives municipales Saint-Chamond, 3 Num 33

40

F-01.indd 40 10.04.2014 13:55:54 Archive und Migrationsgeschichte aus französischer Sicht Daniel Peter

− die Auswanderung aus dem Loiretal (Maine, von 1851 war die erste, die die Einwanderung Anjou) nach Kanada; berücksichtigte. Man kennt zwar die genauen − die Auswanderung der Weinbauern nach Kali- Zahlen nicht, aber es sollen damals etwa ein Pro- fornien; zent der Bevölkerung Einwanderer gewesen sein − die Auswanderung nach Mexiko (die Barce- – insgesamt 381 000 Personen, darunter 128 000 lonnettes, ehemalige Stoffh ändler) Ende des Belgier, 63 000 Italiener und 30 000 Spanier. 1881 19. Jahrhunderts; zählte man eine Million Ausländer und kurz vor − die Auswanderung der Elsässer nach dem Banat, dem Ersten Weltkrieg 1,2 Millio nen. Sie kamen Algerien und in die Vereinigten Staaten. vor allem aus den Nachbarländern Belgien, den Dazu kommt, wie erwähnt, die französische Niederlanden, Deutschland und der Schweiz. Migration in die Kolonien in Indochina, in West- Die Belgier gingen vor allem nach Nordfrank- afrika, auf den Antillen, in Neukaledonien und in reich. Sie bildeten bis 1900 die größte Ausländer- 4 Algerien. gruppe. Nach 1900 wurden sie von den Italienern Heute zählt man etwa 2 Millionen Franzosen verdrängt, die 1914 mehr als 60 Prozent der im Ausland, vor allem in Großbritannien (300 000 Ausländer darstellten, gefolgt von den Deutschen, Personen allein in London), in Deutschland, in den Spaniern und den Schweizern. Die schreckli- den Vereinigten Staaten, in Kanada, in Afrika und chen Pogrome in Russland 1881/82 und 1903 bis Asien. Es sind vor allem junge und qualifi zierte 1906 zwangen die russischen Juden zu Flucht und Auswanderer, die sich nicht unbedingt dauerhaft Auswanderung. Die Mehrheit ging nach Amerika, im Ausland niederlassen wollen. aber viele zogen auch nach Frankreich, hauptsäch- lich nach Paris. Ein Teil davon waren Intellektuelle Einwanderung, eine zeitgenössische Geschichte oder Studenten, die anderen spezialisierte Leder- Es gab immer wieder Ausländer, die sich in oder Textilhandwerker. Sie befruchteten das Frankreich angesiedelt haben, seien es Italiener französische Handwerk: Paris wurde damals zur während der Renaissance, Schweizer, Deutsche Hauptstadt der Mützenherstellung. Aber in der und Iren als Söldner im Dienste des Königs, Hol- Stadt gab es zunehmenden Antisemitismus, nicht länder, die im 18. Jahrhundert die Sümpfe der zuletzt wegen der Konkurrenz dieser Handwer- Atlantikküste trockenzulegen halfen, oder ker. Von einer Million Ausländern zählte man englische Mechaniker und Ingenieure in den nur 30 000 bis 50 000 Juden; es waren nicht viele, ersten Jahren der industriellen Revolution. aber sie waren erkennbar! Die Dritte Republik Obwohl ihre Bedeutung im Einzelnen groß war, hatte ihre Elite unter den Protestanten, den Juden beschränkte sich die Einwanderung jeweils auf und den Freimaurern. Das gefi el den bisherigen kleine Gruppen. Insgesamt schätzt man, dass Führungsschichten und den Aristokraten nicht. 60 000 bis 80 000 Personen eingewandert sind, Da viele jüdische Einwanderer aus Deutschland also viel weniger als die französischen Auswan- kamen, wurden sie zudem auch bald als deutsche derer, die im 18. Jahrhundert ihr übervölkertes Spione bezeichnet. Die Dreyfusaff äre verschlim- Land verlassen haben. Die Bevölkerungszählung merte die Situation weiter.5

41

F-01.indd 41 10.04.2014 13:55:55 Daniel Peter Archive und Migrationsgeschichte aus französischer Sicht

1914 –1931: Frankreich als Nabel der Einwanderung hatten, zurück. Die meisten halfen beim Wieder- aufb au. 1930 zählte man 115 000 Nordafrikaner Der Erste Weltkrieg war ein Krieg der Nationen. aus den Kolonien in Frankreich, darunter 100 000 Jeder, der in einem feindlichen Land geboren war, Algerier. Die meisten Nordafrikaner blieben zwar wurde zum Gegner, den es zu neutralisieren galt. nicht länger als 18 Monate, aber es gab zahlreiche Damals wurden zum ersten Mal Staatsangehörige und gewaltige Probleme. Der Rassismus stieg an, feindlicher Länder in Lager eingesperrt – im Jahr insbesondere nach der Ermordung einer jungen 1915 waren dies 21 000 Personen. Ab Sommer Frau durch einen Algerier im Jahr 1923. Nach 1914 kam es fast zu Menschenjagden, vor allem diesem Vorfall eröff nete die Stadt Paris eine Poli- gegen Deutsche, aber auch Italiener – obwohl zeidienststelle zur Überwachung und zum Schutze deren Heimatland neutral war – oder andere, die der Nordafrikaner. Mehrere Großstädte folgten man fürchtete. Dennoch meldeten sich viele ehe- diesem Beispiel. malige Einwanderer freiwillig zur Armee, erstens Nach dem Ersten Weltkrieg fanden sich neue in der Hoff nung auf eine spätere Naturalisierung, Nationalitäten unter den Einwanderern: Portugie- zweitens aber auch aus Abenteuerlust aufseiten der sen, aber auch Osteuropäer und Afrikaner. Der Freiheit wie etwa die sehr patriotischen russischen Staat lockte sie für den Wiederaufb au ins Land. Juden oder die Italiener. Von Peppino Garibaldi, Eine große Zahl Polen kam, um die Kohlenberg- Enkel des Befreiers Italiens, angeführt, zogen 3000 werke wieder in Stand zu setzen und die nördli- italienische Männer an die Front in der Champa- chen Départements aufzubauen. Weder der Krieg gne. Die schweren Kämpfe dezimierten innerhalb noch die Krise der 1920er Jahre hielt die Flut der weniger Monate die sogenannten Garibaldianer Migranten auf, im Gegenteil, letztere verstärkte aus der Argonne. Die Überlebenden wurden im und vergrößerte sich. Dazu stießen neue Ein- Februar 1915 demobilisiert und nach Italien, das wanderergruppen, insbesondere Flüchtlinge, die inzwischen auch in den Krieg eingetreten war, ihre Heimat verlassen mussten wegen Krieg oder zurückgeschickt. 43 000 Ausländer hatten sich frei- Unterdrückung. So kamen etwa 750 000 Armenier willig gemeldet, aber nur die Italiener konnten ein in zwei großen Wellen von 1915 bis 1923 und eigenes Regiment bilden. nach 1930 nach Frankreich. Die große Masse, die Zur selben Zeit kamen ca. 225 000 Einwanderer nach dem Völkermord aus der Türkei gefl üchtet aus den verschiedenen Kolonien nach Frank- war, ließ sich vor allem in Südfrankreich nieder. reich, meistens aus Nordafrika. Die sogenannten Russen, die vor den Bolschewiki fl ohen, gelang- Indigènes kamen meist freiwillig, aber manche ten von 1920 bis 1935 ins Land. Etwa 160 000 wurden auch dazu gezwungen. Sie arbeiteten unter Menschen siedelten sich in ganz Frankreich an, Militäraufsicht, damit es zu keinerlei Kontakt mit überwiegend in den Industriegebieten, etwa um der Bevölkerung kommen konnte: Man befürch- Mulhouse, Sochaux, Le Creusot, Knutange und tete eine Vermischung! Nach dem Kriege sollten sie Albertville, aber auch in Paris, wo der 15. Bezirk nach Hause geschickt werden, was auch geschah. zu einem wahren Kleinrussland wurde! Seit 1920 Aber schon seit 1920 kamen viele Nordafrikaner, vermehrte sich auch die italienische Einwan- die sich an das Leben in Frankreich gewöhnt derung mit der Ankunft der fuoruscitti, die vor

42

F-01.indd 42 10.04.2014 13:55:55 Archive und Migrationsgeschichte aus französischer Sicht Daniel Peter

dem Faschismus fl üchteten. Nach 1923 kamen Trotzdem ließ der Zustrom an Einwandern Griechen, die von den Türken nach dem Vertrag nicht nach, wenigstens bis 1936. Unter ihnen von Lausanne vertrieben wurden. 1930 bildeten befanden sich viele Juden aus Russland, Polen und Italiener und Polen die größten Ausländergrup- Deutschland. 1939 zählte man etwa 200 000 Juden pen. Während die französischen Juden sich in Frankreich, darunter war die Mehrzahl Aus- meistens nicht mit Politik beschäft igten, kämpft en länder: 75 Prozent stammten aus Osteuropa, vor viele jüdische Ausländer für den Zionismus oder allem aus Polen, 5 Prozent aus Zentraleuropa, die Arbeiterbewegung. Dies nutzte vor allem 15 Prozent aus dem Mittleren Osten, dem Mor- der Kommunistischen Partei, die auch deren genland und Nordafrika. Von den 80 000 Juden Integration unterstützte. Viele von ihnen sollten aus Frankreich, die im Kriege deportiert und sich dann während des Zweiten Weltkriegs der getötet wurden, waren 69 Prozent Ausländer.8 Résistance anschließen. 1921 zählte man in Frankreich 1 532 000 Aus- Die „glorreichen“ dreißig Jahre der Einwanderung länder (4 Prozent der Gesamtbevölkerung), 1926 (1945 –1975) waren es 2 409 000 Personen (6 Prozent der Bevöl- Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Einwan- kerung) und 1931 wurde mit 2 715 000 Personen derungslandschaft vielfältiger. Die Zuwanderung (6,4 Prozent der Bevölkerung) der Höchststand von Italienern ging nach den ersten Jahren des erreicht. Die letzte Statistik vor dem Zweiten Welt- Wiederaufb aus langsam zurück und wurde von krieg von 1936 ging von 2,2 Millionen Immigran- einer zeitweiligen Immigration aus Spanien, ten aus.6 Jugoslawien, der Türkei, Tunesien, Marokko und den Ländern südlich der Sahara abgelöst. Die Die Zeit der Stürme (1930 –1944) Einwanderung aus Algerien ist älter, da sie schon Mit den dreißiger Jahren kam die Zeit der Krisen: Ende des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte. Von zunächst die wirtschaft liche, soziale und politische 1946 bis 1956 blieb die globale Einwanderung Krise vor dem Sturz in den Zweiten Weltkrieg, noch vergleichsweise gering, obwohl der Arbeiter- die moralische und ausländerfeindliche Krise bedarf für den Wiederaufb au groß war. Ab 1956, vor der Vichyregierung, die Zeit des Frankreich zur Zeit des fi eberhaft en Wachstums, kam es dann den Franzosen! Der Überfall durch die Ausländer zu einer großen und andauernden Immigration wurde zum neuen Th ema. Ein rechtsextremer Ab- insbesondere aus den ehemaligen Kolonien. Nach geordneter schrie im Parlament: Frankreich zählt dem Algerienkrieg strömten etwa 1,5 Millionen zurzeit 330 000 Arbeitslose. Wenn ich diese Zahl mit sogenannte Heimkehrer (rapatriés) nach Frank- den 1,2 Millionen ausländischen Arbeiternehmer reich, was etwa 3 Prozent der damaligen Bevölke- vergleiche, ist es leicht einzusehen, dass die Frage rung des Landes entsprach.9 Obwohl es sich um der Arbeitslosigkeit für uns geregelt wäre, wenn die Binnenmigration handelte, ist die Entwicklung ausländischen Arbeiter Frankreich verlassen wür- beachtlich. Dies alles ergab schließlich einen den. Das Schlimmste war, dass Gewerkschaft en Ausländeranteil ähnlich wie 1931 (7 Prozent der und Menschenrechtsliga dasselbe dachten!7 Gesamtbevölkerung).

43

F-01.indd 43 10.04.2014 13:55:55 Daniel Peter Archive und Migrationsgeschichte aus französischer Sicht

3 | Anmeldung von zwei Arbeitern aus Polen und Russland beim Bürgermeisteramt in Nancy durch den Luxusautofabrikanten Closse, 1923. Vorlage: Archives municipales Nancy, 2 I 371 (CP)

44

F-01.indd 44 10.04.2014 13:55:55 Archive und Migrationsgeschichte aus französischer Sicht Daniel Peter

Die neue Krise der Globalisierung Aufruhr der Jugendlichen in den Schlafstädten nördlich von Paris im Sommer 1981, die Konfl ikte Seit 1974 wurde die Geschichte der Migration bei Citroën in Aulnay oder bei Talbot in Poissy wieder von einer Weltkrise bestimmt. Angefangen 1982/83, wo sich die Mehrheit der Streikenden mit dem Jom-Kippur-Krieg und dem Ölpreis- auf den Islam berief, sind Ausdruck einer großen schock 1973 verschärft e sich die Situation dann Vertrauenskrise. Politisch gesehen war der Aus- seit den 1980er Jahren. Sie dauert bis heute an und gleich zwischen einer Aufnahmetradition auf der markiert das Ende der bisherigen Industriegesell- Basis universeller Menschenrechte einerseits und schaft , mit der sich die Arbeitsmigrationen entwi- ausländerfeindlichen Gesetzen andererseits oft ckelt hatten. Zunächst blieben ausländerfeindliche schwierig. Die Republik handelte nicht immer bei- Reaktionen aus, die Situation änderte sich aber spielhaft und manchmal gespalten oder schwach. ziemlich rasch. In der Folge wurde das Staats- Aber sie hatte den Einwanderern und Flüchtlingen sekretariat für Immigration, das 1938 aufgehoben schon 1938 wichtige Rechte gegeben und später, worden war, wieder eingerichtet. Es folgten große 1978 und 1986, gefährliche Gesetzesprojekte fi nanzielle Anstrengungen zum Bau von Sozial- zurückgewiesen! Der ehemalige sozialistische Pre- wohnungen für Immigranten. 1974 stoppte der mierminister Michel Rocard hat 1990 erklärt: La Staat die Arbeitereinwanderung und förderte die France ne peut accueillir toute la misère du monde, Familienzusammenführung der Nichteuropäer. mais elle doit en prendre sa part. (Frankreich Ganz wenige kehrten in ihre Heimat zurück, wo- kann nicht die ganze Armut der Welt aufnehmen, bei die Europäer zunehmend von der Verkehrs-, aber es muss seinen Teil daran tragen). Zwischen Niederlassungs- und Arbeitsfreiheit profi tierten.10 Rocards Anhängern und seinen Gegnern kam es damals zu heft igen Debatten. Manche meinten, Die Entstehung eines neuen Frankreichs das wäre ein Ruf nach einem klaren Immigrations- Seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts gewann verbot, andere hielten dies eher für eine Warnung die Vorstellung von einer dauerhaft en Niederlas- vor einer allzu strengen Antiimmigrationspolitik. sung der Migranten an Bedeutung. Die Mi gra- Trotz vieler Verbesserungen wachsen die Probleme tionslandschaft hat sich geändert. Immer mehr weiter: heimliche Einwanderung, Zunahme illega- Einwanderer, darunter viele Flüchtlinge, stammten ler Arbeitnehmer, Unterbezahlung, Wohnungsnot aus Lateinamerika, Asien oder Afrika. Neue Ein- und vieles mehr.11 wanderungswege kamen hinzu aus China, Indien Frankreich ist heutzutage in Europa nach oder Pakistan. Seit dem Fall der Mauer sieht man Deutschland das Land mit der zweithöchsten Zahl immer mehr Osteuropäer, meistens aus Rumä- an Einwanderern. Wie seine Nachbarn hat es lange nien und Bulgarien, darunter viele Roma, deren gezögert, sich als Immigrationsland zu bezeich- zunehmende Präsenz neue Probleme schafft , aber nen. Obwohl die natürliche Bevölkerungsentwick- auch Flüchtlinge aus Tschetschenien oder Transit- lung positiver ausfällt als in anderen Ländern Eu- migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien. ropas, wird auch in Frankreich die Einwanderung Die Frage der Integration gehört seither zu 2030 der einzige Motor des demographischen den großen nationalen Herausforderungen. Der Wachstums sein.

45

F-01.indd 45 10.04.2014 13:55:56 Daniel Peter Archive und Migrationsgeschichte aus französischer Sicht

II. Archivalische Quellen sowie Bücher, die sich mit der Geschichte der Migration befassen. Dazu hat er sich sehr für den Die gesamte Entwicklung auf dem Feld der Ge- Bau der Cité nationale de l’histoire de l’immigration setzgebung, der Anwendung der Gesetze, der po- eingesetzt. Das Museum wurde 2004 geplant und lizeilichen Kontrollen, der Arbeit, der Wirtschaft , hat 2007 seine Tore geöff net.13 des Wohnungsbaus, aber auch des alltäglichen Neben diesem großen Verein existieren zahl- Lebens haben zur Produktion von unzähligen reiche weitere Vereinigungen unterschiedlicher Dokumenten geführt, seien sie behördlicher oder Art und Größe wie etwa die Association culturelle privater Herkunft . Wer sind die Aktenbildner, wer berbère in Paris, das Portail d’information sur la verwahrt die Archivalien und wie kann man diese communauté haïtienne in Paris, A ta Turquie in nutzen, damit man diese Migrationen bezeugen Nancy oder die ARAM (Association recherche und ihre Geschichte schreiben kann? archivage de la mémoire arménienne) in Marseille. Wir haben das große Glück, dass die verschiede- Was die Archive angeht, so muss man sich auf nen Archivbestände, die zur Erforschung der Ge- nationaler Ebene natürlich vor allem an die Ar- schichte der Migrationen beitragen können, von chives nationales, die Archives d’Outremer und die dem Verein Génériques zusammengestellt wurden. Archives du monde du travail wenden. Migrationen Dieser Verein, der 1987 gegründet wurde, setzt sind eine staatliche Angelegenheit. Bevor sie ihren sich für Geschichte, Bewahrung und Inventarisa- ersten Antrag stellen (auf Einreise, Wohnung, tion der Archive der Migrationen in Frankreich Arbeit, Asyl, usw.) stoßen die Migranten oft oder und in Europa mittels kultureller und wissen- öft ers auf Zoll- oder Polizeibehörden. Die genann- schaft licher Tätigkeiten ein. Gemeinsam mit dem ten Archive bewahren aber nicht nur behördliche Kulturministerium und mit Unterstützung der Dokumente, Akten der Ministerien (Inneres, französischen Archivdirektion, des Service inter- Ausland, Arbeit, Soziales, usw.) sowie ihrer vielen ministériel des archives (SIAF), wurde das nationale Zweigstellen, Archive der Verwaltungen der ehe- Inventar der öff entlichen und privaten Archive maligen Kolonien, sondern auch Papiere privater für die Geschichte der Ausländer in Frankreich Institutionen oder solcher mit gemischtem Status, von der Revolution bis 2005 in vier Bänden mit die als Deposita in die Archive gekommen sind, insgesamt 3 346 Seiten, einem geographischen z. B. die zahlreicher Kohlen- und Eisenbergwerke, Register von 5 000 Namen, einem Zeitungsregister Textilfabriken, Banken und vieler anderen indust- und biographischen Angaben von Ausländern, rieller oder kommerzieller Gesellschaft en. Letztere die an der politischen, wirtschaft lichen oder kul- befi nden sich überwiegend in denArchives du turellen Entwicklung Frankreichs teilgenommen monde du travail in Roubaix. haben, veröff entlicht.12 Darüber hinaus werden Die Geschichte des fahrenden Volkes, die ich etwa hundert öff entliche und private Bestände im oben schon erwähnt habe, ist nicht einfach zu Online-Katalog der Webseite Odysséo aufgeführt. schreiben. Allerdings führte die Einführung des Der Verein hat auch mehrere Ausstellungen gerichtlichen anthropometrischen Systems, das im sowie wissenschaft liche Treff en und Seminare Jahre 1879 vom französischen Kriminologen Al- organisiert. Er gibt die Zeitschrift Migrance heraus phonse Bertillon ausgedacht wurde, zur Erstellung

46

F-01.indd 46 10.04.2014 13:55:56 Archive und Migrationsgeschichte aus französischer Sicht Daniel Peter

zahlreicher Karteien, von denen die der Polizeiprä- Die erste Periode reicht von 1800 bis 1940. Hier fektur von Paris die größte ist. Solche Karteien gibt fi nden sich viele Akten in den Unterserien 1 M es auch in vielen Archives départementales, wo sie (Allgemeine Verwaltung des Départements), 4 M aber oft leider zu lange vernachlässigt wurden. Die (Polizei), Serie Z (Unterpräfekturen). Letztere meisten gehen auf die zwanziger Jahre zurück. Das betreff en vor allem die Polizeiüberwachung der System wurde 1970 aufgehoben. Migranten unter Aufsicht des Präfekten. In der Auf regionaler Ebene, also der der Départe- Unterserie 4 M fi ndet man auch Angaben über die ments, lassen sich Archivbestände aus zwei Perio- Ausländer, die Flüchtlinge, die Ausgewiesenen, die den unterscheiden:14 Residenzerklärungen usw. Zählungen und statisti-

4 | Fest der Portugiesen von Saint-Denis, 1948. Vorlage: Archives municipales Saint-Denis, 13 Fi 2526_S

47

F-01.indd 47 10.04.2014 13:55:56 Daniel Peter Archive und Migrationsgeschichte aus französischer Sicht

sche Angaben zu Ausländern sowie die Erteilun- ber 2012 bis Februar 2013, oder die der Archives gen der Staatsbürgerschaft seit der Revolution départementales des Alpes Maritimes in Nizza kann man in der Unterserie 6 M (Bevölkerung) im Frühjahr 2013 über L’immigration dans les fi nden. Alpes-Maritimes au XXe siècle. Die Gerichtsbestände enthalten verschiedenste Die französischen Kommunalarchive be- Akten, die Ausländer angehen: Delikte aller Art, wahren auch interessante Bestände zur Mi gra- Staatsbürgerschaft sanfragen, illegale Ausreisen, tionsgeschichte, aber die Situation ist von Ort zu Arbeiternehmer ohne Genehmigung, Ausweisun- Ort verschieden. Das Stadtarchiv Lyon (Rhône) gen und vieles mehr. Anderes, insbesondere auch beispielsweise hat nur ganz wenige behördliche Akten, die auch nur von geringem Interesse sind Personalakten des Konsulatspersonals, gehören (Aufnahmeatteste, Familienzusammenführungen). zur Unterserie 8 M (Handel und Industrie). Ab- Darüber hinaus gibt es dort einen Bestand (Signa- reise- oder Ankunft slisten bzw. Zusammenstellun- tur 236 II) mit Unterlagen des Vereins Association gen der Flüchtlingszahlen sind in verschiedenen Etudes sociales et service d’accueil aux nord-afri- Unterserien der Serie M zu suchen. cains (ESSANA) und der Association de coopéra- Für die Zeit nach 1940 muss man vor allem tion franco-algérienne du Lyonnais (ACFAL) aus in der Serie W recherchieren, besonders in den den Jahren 1950 bis 1974. Die Akteninhalte sind Abgaben des Kabinetts des Präfekten sowie in den sehr unterschiedlich und betreff en etwa die Ge- Unterlagen der verschiedenen Dienststellen, die schichte des Vereins, die Zusammenarbeit mit den sich mit der Aufnahme und Kontrolle von Auslän- Behörden und anderen Vereinen u.a. bei Alphabe- dern beschäft igen. Die Archive der Arbeitsdirek- tisierung und Integration, Berichte, Studien und tion sowie die Bestände der Gerichte liefern auch anderes. Das Ganze umfasst zehn Archivkartons viele interessante Informationen zu dem Th ema. und ist nicht geordnet. Darüber hinaus sollte man nicht die Privatarchive Das Stadtarchiv Saint-Denis (Seine-Saint-Denis) vergessen, etwa das des Vereins Service social verwahrt ebenfalls wenig spezielle Dokumente d‘aide aux émigrants, der 1924 gegründet wurde zum Th ema, verfügt aber über einige schöne und leider 2006 von der technokratischen Verwal- Sammlungen von Karten und Fotos, die die grenz- tung verschlungen wurde.15 überschreitende und die Binnenmigration sehr gut Das Th ema Migration(en) wurde in den letzten illustrieren. Jahren oft in Ausstellungen bearbeitet und dem Im Stadtarchiv Straßburg (Bas-Rhin) fi ndet Publikum vorgestellt. Zu nennen wäre insbeson- man Bevölkerungsregister und Häuserkarteien dere die sehr interessante Ausstellung Nantais bis 1978 und interessante behördliche Akten über venus d‘ailleurs – Histoire des étrangers à Nantes verschiedene Th emen wie den Bau von Heimen de 1918 à nos jours, die die Stadt in Partnerschaft und Wohnungen für Migranten (1970 –1985), mit den Archives départementales de Loire-Atlan- Schultransporte für Kinder von Einwanderern tique und verschiedenen Vereinen im Jahr 2011 (1978 –1980), die Unterstützung des angesiedelten präsentiert hat, die Ausstellung Itinéraires croisés fahrenden Volkes (1975 –1990), die Alphabetisie- 1830 –1870 – Vosges Algérie – Algérie Vosges16 der rung (1973 –1989) und andere soziale Aktivitäten, Archives départementales des Vosges vom Novem- aber auch Dokumente privater Herkunft , vor

48

F-01.indd 48 10.04.2014 13:55:57 Archive und Migrationsgeschichte aus französischer Sicht Daniel Peter

allem die des Vereins Association pour la promo- Perpignan, Toulouse). Die Hinweise zum reichen tion des populations nomades d’Alsace (APPONA) Archivmaterial, das in zahlreichen Archiven liegt (1974 – 2003) unter der Signatur 168 Z, und des oder vielleicht noch zu fi nden ist, mögen aber Vereins Amitiés Nord-africaines (1953 –1971), der genügen. Obwohl die Forschung schon viele Fel- ein Heim verwaltete, unter der Signatur 218 Z. der der Mi gra tionsgeschichte untersucht hat, gibt Das Stadtarchiv Saint-Chamond (Loire) ver- es noch zahlreiche Aspekte näher zu erforschen. wahrt ebenfalls Bevölkerungsregister (1836 –1975) Bewusst verzichtet habe ich auf Ausführungen zur und in geringem Umfang auch Akten, dazu Auf- sog. Oral History, den Filmaufnahmen und Ge- nahmeatteste, vor allem aber 155 Fotos der Com- sprächen von und mit Migranten oder Migranten- pagnie des forges et aciéries de la Marine, die in der kindern, die von manchen Archiven seit einigen ersten Hälft e des 20. Jahrhunderts viele Gastarbei- Jahren geführt werden. Dies könnte praktisch ter angestellt hat, vor allem aus Nord afrika, aber schon ein Th ema für einen zukünft igen Archivtag auch aus Griechenland, Spanien, Italien und sogar abgeben. China! Im Stadtarchiv Nancy (Meurthe-et-Moselle) kann der Forscher, der sich für das Th ema Migra- tionen interessiert, besonders folgende Doku- mente einsehen: − Bevölkerungsregister und Häuserkarteien (1795 –1978) (Serie 1 F); − Optionskarteien und Register der Elsass-Loth- ringer und Briefwechsel (1871–1884) (9 E 6978); − Naturalisierungsregister (1800 –1946) (9 E 168); − Bestand der jüdischen Gemeinschaft von Nancy (1780 –1971) (352 Z); − Bestand der Fédération de Meurthe-et-Moselle der Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF) (ca 1950 –1990) (68 Z); − Bestand der Association culturelle juive (ACJ) (ca 1900 –1980). Weitere Übernahmen von Deposita sind im Gespräch. Man könnte noch viele andere archivalische Quellen nennen, insbesondere aus Départements und Städten mit einer großen Zahl an Migran- ten in ihrer Geschichte (etwa Départements Pyrénées-Orientales, Bouches-du-Rhône, Rhône bzw. Städte Bordeaux, Lille, Marseille, Nantes,

49

F-01.indd 49 10.04.2014 13:55:57 Daniel Peter Archive und Migrationsgeschichte aus französischer Sicht

Anmerkungen

1 Siehe dazu z. B. Didier Violain: Bretons de Paris. Des exilés en capitale. Paris 1997; Roger Girard: Quand les Auvergnats partaient conquérir. Paris 1980. 2 Patrick Weil: Droit du sol vs droit du sang? Paris 2002. 3 Philippe E. Landau: Les Juifs de France et la Grande Guerre un patriotisme républicain, 1914 –1941. Paris 1999, S. 14. 4 Siehe u. a. Annick Foucrier: Le rêve californien migrants français sur la côte Pacifi que (XVIIIe–XXe siècles). Paris 1999. – Marcel Fournier: Les Français au Québec, 1765 –1865 un mouvement migratoire méconnu. Quebec 1995. – Fabienne Fischer: Alsaciens et Lorrains en Algérie. Histoire d’une migration. 1830 –1914. Nizza 1999. 5 Siehe dazu u. a. Nancy L. Green: Les Travailleurs immigrés juifs à la Belle époque. Le Pletzl’ de Paris. Paris 1985. – Gérard Noiriel: Immigration, antisémitisme et racisme en France (XIXe-XXe siècle). Discours publics, humiliations privées. Paris 2007. 6 Siehe dazu Gérard Noiriel: Le Creuset français. Histoire de l’immigration (XIXeXXe siècle). Paris 1988; auch ders.: Gens d’ici venus d’ailleurs. La France de l’immigration de 1900 à nos jours. Paris 2004. 7 Siehe dazu Mary D. Lewis: Les Frontières de la République. Im- migration et limites de l’universalisme en France (1918 –1940). Marseille 2010. – Catherine Wihtol de Wenden: Les Immigrés et la politique. Cent cinquante ans d’évolution. Paris 1988. 8 Das Vichyregime hat nicht nur die Juden aus der Gesellschaft ausgeschlossen und später die ausländischen Juden in Spezial- lager eingesperrt (Gesetz vom 4. Oktober 1940), sondern auch die übrigen Ausländer streng bewacht und ihnen den freien Verkehr verboten und sie vom Schutz der Arbeitsgesetze ausgeschlossen (Gesetz vom 27. September 1940). 9 Siehe u. a. Benjamin Stora: Histoire de la guerre d’Algérie (1954 –1962). Paris 1992. – Gilles Manceron und Hassan Remaoun: D’une rive à l’autre. Paris 1993. 10 Siehe dazu Alexis Spire: Étrangers à la carte: l’administration de l’immigration en France (1945 –1975). Paris 2005. 11 Siehe dazu Dominique Schnapper: La France de l’intégration: sociologie de la nation en 1990. Paris 1993. 12 Siehe dazu: Génériques: Les étrangers en France, guide des sources d’archives publiques et privées XIXXXèmes siècles. I-III. Paris 1999, IV. Paris 2005. 13 Génériques, 34 rue de Citeaux 75012 Paris; www.generiques.org. 14 Siehe dazu u. a. Jérémy Guedj, Quentin Dupuis, Delphine Folliet, Tatiana Sagatni und Patrick Veglia: Histoire et mémoire des immigrations en région PACA, mai 2008. Paris 2008. 15 Vgl. Th érèse Le Liepvre und Marie-Hélène de Bousquet: Étude de 4000 dossiers du Service social d’aide aux émigrants. In: Français et immigrés. Hg. von Alain Girard und Jean Stoetzel (INED, Travaux et Documents 20). Paris 1954. 16 Siehe dazu den sehr schönen und didaktisch gelungenen Katalog: Itinéraires croisés 1830 –1970. Vosges Algérie Algérie Vosges. Epinal 2012.

50

F-01.indd 50 10.04.2014 13:55:57 Archive und Migration Gerhard Melinz

Gerhard Melinz Archive und Migration

Ein Bericht aus Österreich Union, wodurch die Migra tionsforschung noch- mals begünstigt wurde, nicht selten eingebunden Archive und Migration als Motto eines Archivtages in europäische Forschungsnetzwerke.2 lässt aus österreichischer Perspektive erst einmal Auf Fragen wie Wer betreibt welche (Mi gra tions-) aufh orchen. Der folgende Länderbericht versucht Forschung mit wessen Geld und zu wessen Vorteil? in aller gebotenen Kürze zwar viele Aspekte anzu- wird hier nicht weiter eingegangen. In Österreich sprechen, kann aber nur wenige ausführen. Dies beeinfl usst hinsichtlich der Finanzierung unter- ist eigentlich schade, denn der Berichterstatter dessen das Innenministerium die Auft ragsland- fungiert hier in einer zweifachen Rolle: zum einen schaft sehr stark, was von der sozialwissenschaft - explizit als akademischer Informant und zum lich ausgerichteten Mi gra tionsforschung kritisiert anderen implizit vollgetränkt mit biographischer wird. In der akademischen Landschaft tummeln Verstrickung und Zeitgenossenschaft mit dem sich allerlei Forscher und Forscherinnen mit und Th ema Migration in den vergangenen Jahrzehnten. ohne den berühmten Mi gra tionshintergrund; sie alle erhoff en sich die Zuerkennung von For- Migra tionsforschung in Österreich schungsgeldern. Die einen folgen einem Main- Gemäß der Fokussierung des Tagungsthemas auf stream mit einer wie immer gearteten Politik- die sog. Gastarbeiter-Migration und auf die Flücht- beratungsfunktion. Die anderen erfreuen sich an lingsthematik seit den 1960er Jahren geht es hier ihrem postmodernen, postkolonialen, subaltern eben nicht um Th emen, welche die Historikerzunft studies approach oder gar an intersektionalen For- als historische Mi gra tionsforschung betreibt: Der schungskonzepten, wo es um die Kombination der Schwerpunkt liegt in diesem Zusammenhang auf Analysedimensionen von race, class und gender der Zeit ab den 1970er-Jahren. In den 1970er-Jah- bzw. auch body geht.3 Andere wiederum setzen auf ren war Mi gra tionsforschung in Österreich noch Kunst- und Kulturinterventionen im gesellschaft - kein Th ema. Sie hat dann in den 1980er-Jahren lichen Raum (Flashmobs oder andere soziokultu- kleine schwache Pfl änzlein hervorgebracht und relle Interventionen im öff entlichen Raum). kam erst in den 1990er-Jahren richtig in Schwung. Die aktuelle Struktur der Migra tions- und Integ- Seit 1995 ist Österreich Mitglied der Europäischen rationsforschung – so die neumodische Begriffl ich-

51

F-01.indd 51 10.04.2014 13:55:57 Gerhard Melinz Archive und Migration

keit – ist folgendermaßen strukturiert: Österreich Ludwig-Boltzmann-Institut für Menschenrechte ist Teil des Europäischen Migra tionsnetzwerkes eine wichtige Rolle bei der österreichischen Men- (EMN), das die Europäische Kommission 2003 aus schenrechtsforschung, nicht zuletzt im Bereich des der Taufe gehoben hat.4 Die IOM (Internationale Asylwesens.11 Organisation für Migration) Wien wurde im Jahr 2003 als nationaler Kontaktpunkt Österreichs vom Ergebnisse einer E-Mail-Umfrage zu Archiv und Bundesministerium für Inneres nominiert.5 Des Migration Weiteren gibt es den Österreichischen Integrati- Wir kommen nun zu den Ergebnissen der vom onsfonds (OIF), ursprünglich 1960 als Flüchtlings- Autor im Vorfeld des Archivtags unternommenen fonds der Vereinten Nationen gegründet, 1991 E-Mail-Umfrage beim Österreichischen Staatsar- aus dem Innenministerium ausgegliedert und chiv, allen Landesarchiven, den Stadtarchiven der seit 2002 für die Umsetzung der Integrationsver- Landeshauptstädte und einzelner Industriestädte. einbarung mitverantwortlich, denn Neuzuwan- An die jeweiligen Archive bzw. Archivdirektoren dernde müssen seither deutsche Sprachkenntnisse ergingen folgende Fragen: erwerben und nachweisen, um einen Dauerauf- −Welche Überlieferung zum Th ema Migration 6 enthalt zu erlangen. Seit 2009 besteht zudem eine (insbesondere im Sinne des Tagungsthemas Forschungsplattform Migration und Integration Gastarbeitermigration und Flüchtlinge) wird Research,7 die an der Universität Wien (Institut gesichert und wie? für Soziologie) verankert ist und inneruniversitäre −Wurden bzw. werden einschlägige Projekte Netzwerke pfl egt, unterdessen aber auch mit der gestartet, durchgeführt bzw. unterstützt? Kommission für Mi gra tions- und Integrationsfor- −Sind an Sie Initiativen herangetragen worden, schung der Österreichischen Akademie der Wissen- die das Th ema Migration zum emaTh hatten? schaft en kooperiert.8 Die Beteiligungsquote war enorm hoch. Es Wo das Stichwort Migration fällt, ist die Integra- konnten letztlich von 22 Anfragen 19 Antwort- tionsmetapher nicht weit.9 Wo das Stichwort Asyl mails für die Auswertung herangezogen werden.12 und Flüchtling fällt, ist der politisch und medial Aus Platzgründen können die Ergebnisse hier nur inszenierte Asylmissbrauch und die Flüchtlings- in Kurzform präsentiert werden. welle nicht mehr weit. Ein zumindest fachlich Mehrheitlich gibt es keine aus dem jeweiligen fundiertes Gegengewicht bilden hier die Asylkoor- Archiv betriebene themenbezogene Forschung; dination Österreich, ein Zusammenschluss von genannt wurden in Einzelfällen immer wieder sozialen Trägereinrichtungen (Caritas, Diakonie Diplomarbeiten oder Dissertationen, die von den usw.) und die sich mehr als politisch verstehenden Archiven unterstützt werden. Direkte Kooperatio- Pro-Flüchtlinge-NGOs. Die Asylkoordination nen – sogar in Form gemeinsamer Lehrveranstal- betreibt Monitoring, schaut über den Tellerrand tungen – wie im Falle des Salzburger Stadtarchivs, hinaus, betreibt nicht unbedingt Forschung, wie es das mit dem Institut für Geschichte der Universität der akademische Betrieb möchte, sondern liefert Salzburg zusammenarbeitet, sind Ausnahmefälle. glasklare Fakten und zeigt Tendenzen rund ums Aus diesen entstehen beispielsweise Ausstellungen Th ema Flüchtlinge auf.10 Zu guter Letzt spielt das (Mi gra tionsstadt Salzburg) im öff entlichen Raum

52

F-01.indd 52 10.04.2014 13:55:57 Archive und Migration Gerhard Melinz

(Makartweg, der über die Salzach führt). Aus Vo- ten nur auf Zeit aufzubewahren sind. Sie seien – so rarlberger Sicht wäre dies gerade mangels Univer- die vorherrschende Meinung – kein archivwürdiges sität gar nicht möglich; allerdings gibt es dort seit Schrift gut. Das Tiroler Landesarchiv bemüht sich Jahrzehnten engagierte und kritische Historiker derzeit, diesbezüglich relevante Bestände in seine und Historikerinnen, die Forschungen im Kontext Hände zu bekommen. von Vereinen betreiben und auch publizistisch Aus der Not heraus haben einige Antwortmails tätig sind. Aber auch an anderen Standorten sind auf eigene Forschungen bzw. aus ihren Archivalien es vereinsgetragene Aktivitäten, die themenbezo- zustande gekommene Forschungen und Publika- gen aktiv sind, zum Beispiel der Verein Alltag in tionen verwiesen, die ältere Zeiträume betreff en, Wiener Neustadt. zum Beispiel Flüchtlinge nach 1945 oder Mi gra- Es gibt auch Archive, die bedauern, dass tionsphänomene älterer Zeit. sie nicht schon seit Jahren alles zur Mi gra- In einigen Antwortmails wird schlicht auf vor- tionsgeschichte übernommen respektive gesam- handene Publikationen zum Th ema verwiesen, die melt haben. Im Regelfall ist das Th ema Migration einen regionalen bzw. örtlichen Bezug haben und eben, wie eine Mailantwort es formulierte, ein höchstwahrscheinlich sozialwissenschaft lichen Stiefk ind. Eine Projektidee aus Vorarlberg, die Zuschnitt haben dürft en. Es gibt auch Hinweise, im Herbst 2013 gestartet wird, kommt unter dass lokale Archive themenbezogene Ausstellun- Beteiligung des Stadtarchivs und der städtischen gen mach(t)en und dies mit begleitenden Veran- Dienststelle Jugend, Migration, Gemeinwesen staltungen kombinier(t)en. Lustenau in Vorarlberg zustande. Auch das Vorarlberg Museum ist mit an fokussiert sich auf die lokal zahlenmäßig stärkste Bord. Eine derartige Netzwerkkonstruktion dürft e Zuwanderungsgruppe, nämlich die aus der Türkei. in Österreich generell wohl nicht so leicht auf die Aus dem niederösterreichischen Landesarchiv Beine zu stellen sein. wird berichtet, dass im Herbst 2013 ein sogenann- Auf Grund der abgefragten Zeit (ca. 1970 bis tes Niederösterreich-Zentrum für Migra tions- heute) liegen für bestimmte Bereiche die Akten forschung öff entlich in Erscheinung treten wird. noch bei den Behörden (in Österreich zumeist bei Weiterhin existieren Mi gra tions-Forschungs- den Magistratsabteilungen bzw. bei den Bezirks- projekte, die aus universitärer Initiative entstan- verwaltungsbehörden). Eine Antwortmail verweist den sind und dann in den Archiven in Erschei- zu Recht auf einen interessanten und brauchbaren nung treten.13 Eine besondere Variante stellt ein Bestand, die Staatsbürgerschaft sverleihungen Kooperationsprojekt zwischen Universität und nämlich, in denen sich unzählige Familiengeschich- Schule dar. Dessen Titel lautet: Spurensuche: Hall ten widerspiegeln. In der gleichen Mail wird die in Bewegung. Feldforschung und Ausstellung zur quantitative Auswertungsmethodik nahe gelegt Arbeitsmigration in Hall und Umgebung (1960er und festgehalten: Generell ist eher ein Trend zu Jahre bis heute).14 diff user Oral History vorherrschend. Aus einem Gelegentlich wird Klartext gesprochen: Das anderen Bundesland wird kritisch vermerkt, dass Archiv X ist sich selbstverständlich bewusst, dass das Akten wie die Fremdenkartei, die Akten der Frem- ihm zufallende Amtsschrift gut bei weitem nicht alle denpolizei etwa bei den Bezirkshauptmannschaf- gegenwärtigen und zukünft igen Fragen der Mi gra-

53

F-01.indd 53 10.04.2014 13:55:57 Gerhard Melinz Archive und Migration

tionsforschung beantworten kann. Für eine darüber In einer sehr holzschnittartigen Form soll hier hinaus reichende, planmäßige Sammel- und Doku- die Th ese vertreten werden, dass nicht nur im mentationstätigkeit fehlen aber die Ressourcen. Ausland, sondern auch in Österreich Archive Ein sehr verkürztes Bild der Umfrageergeb- zumeist als Zulieferer für öff entlichkeitswirksame nisse könnte etwa so lauten: Mehrheitlich gibt es Ausstellungen fungieren. Der Vollständigkeit keine aus dem jeweiligen Archiv heraus betrie- halber muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass bene themenbezogene Forschung und zwar auf die erste Ausstellung zum Th ema Migration 1996 Grund noch nicht ausreichend vorhandener im Historischen Museum der Stadt Wien gezeigt Aktenüberlieferung oder mangels Personal- bzw. wurde.17 Die nächsten beiden Ausstellungen zu Zeitressourcen. In Einzelfällen besteht – dort unserem Th ema Museum und Migration wurden wo eine Nachfrage existiert – eine Unterstüt- bereits zum wissenschaft lichen Vergleichsobjekt zung für externe Forschung, ausnahmsweise bezüglich erinnerungsgeschichtlicher Narrative eine Kooperation mit Hochschulinstituten. An herangezogen.18 manchen Standorten existieren allerdings bereits Die Ausstellung migration. eine zeitreise nach ansatzweise Netzwerke, die sowohl Sammel- als europa wurde 2003 erstmals im Museum Ar- auch Dokumentationsaktivitäten betreiben und beitswelt in Steyr/Oberösterreich gezeigt und letztlich neben der Herausgabe von Publikationen spannte den thematischen Bogen von den Mi gra- auch im Ausstellungsbereich engagiert sind. Die tionsphänomenen des 19. Jahrhunderts bis in die Entwicklungstendenz deutet zaghaft darauf hin, Gegenwart. Im Jahre 2004 war wieder im Histori- dass möglicherweise schon in ein paar Jahren der schen Museum der Stadt Wien (mittlerweile Wien österreichische Archivtag das Th ema Archive und Museum genannt) eine Mi gra tionsausstellung zu 15 Migration diskutiert wird. sehen, die eher zufällig dort gelandet war. Die Aus- stellung Gastarbajteri. 40 Jahre Arbeitsmigration Wahlverwandtschaft zum Thema Diskurs Museum und knüpft e am Anwerbeabkommen mit der Türkei im Migration? Jahr 1964 an. Das 1962 mit Spanien geschlossene Im vorigen Abschnitt haben wir der Archivzent- blieb praktisch irrelevant, ganz anders dann das riertheit den Vorzug eingeräumt. An dieser Stelle Abkommen mit Jugoslawien im Jahre 1966.19 Die zumindest soll in Erinnerung gerufen werden, Genese der Ausstellung hatte viel mit den zivil- dass schon seit längerer Zeit ein theoretisch wie gesellschaft lichen Aktivitäten der Initiative Min- praktisch refl ektierter Diskurs bezüglich Migration derheiten (seit 1991 aktiv) zu tun. Eine nachhaltige und Museum existiert. Dies gilt für Deutschland Implementierung dieses ersten Ansatzes migran- und mit Abstrichen auch für Österreich.16 Es tischer Erinnerungsgeschichte unter Beteiligung drängt sich in diesem Zusammenhang die Frage zahlreicher Aktivisten mit Mi gra tionsbiographie auf, ob die dort vorherrschenden Topoi nicht als blieb aus.20 Analogie für den Zusammenhang von Archiv und Ein Blick in die Gegenwart zeigt, dass es off en- Migration verwendbar wären. Mit Einschränkun- sichtlich in anderen institutionellen Kontexten gen könnte die Frage mit einem Ja beantwortet fortlaufend Aktivitäten gibt. Aus einer Koope- werden. ration zwischen dem Demokratiezentrum Wien

54

F-01.indd 54 10.04.2014 13:55:57 Archive und Migration Gerhard Melinz

und der bereits erwähnten Initiative Minderheiten hier alles, was wünschenswert wäre – Bibliothek, ist eine Wanderausstellung Migration on Tour Dokumentationszentrum, Forschungsabteilung, entstanden, die sowohl als Internetmodul als auch Web-Auft ritt mit interaktiven Komponenten Onlineausstellung zu nutzen ist.21 usw.25 Die bisherige Bilanz des Arbeitskreises zeigt, Archiv der Migration, jetzt! dass Gespräche mit Entscheidungsträgern in Wien stattgefunden haben, allerdings ohne konkrete In Vorarlberg gibt es unterdessen Ansätze von Mi- Zusagen. Ende September 2013 wird in Öster- gra tionsarchiven, die im lokalen bzw. regionalen reich wieder eine Nationalratswahl geschlagen, Kontext verortet sind. Ganz anders das folgende weswegen eine Beschlussfassung zu Gunsten Beispiel, dessen Charakterisierung vielleicht nicht eines Archivs der Migration kurzfristig erst recht ganz leicht fällt. Die Rede ist vom Archiv der unrealistisch erscheint. Immerhin hat die grüne Migration.22 Parlamentsabgeordnete Alev Korun einen Ent- Aus der Internet-Perspektive assoziiert man schließungsantrag im Parlament eingebracht, der sofort zwei Bilder: schon wieder eine Gruppe, die für ein Mi gra tionsmuseum plädiert. Ein Haus der Geld für ihr Lieblingsthema möchte und sehr aktiv Geschichte war in Österreich bereits zwischen den Öff entlichkeitsarbeit betreibt. Das andere Bild beiden großen Volksparteien mangels Konsens suggeriert, dass hier ein Projekt von unten lanciert nicht möglich, ein Mi gra tionsmuseum würde wird, aus dem Zuwanderermilieu – so zumin- umso mehr die Rechtspopulisten auf den Plan dest eine erste mögliche Vermutung angesichts rufen. Alev Korun hat zumindest in der Parla- zweier ausgewiesener Aktivisten – Arif Akkılıç mentsarena einen Ball in die Höhe geworfen, über und Ljubomir Bratić. Ihre familiengeschichtliche die Möglichkeiten bleibt sie ohnedies realistisch: Herkunft passt optimal zur klassischen Zuwande- Heute etwas tun, damit sich übermorgen etwas rerpopulation in Österreich, aufgeteilt auf Türkei ändern kann.26 und Ex-Jugoslawien als Herkunft sländern. Die Widersprüchlichkeit bleibt: Das Projekt ist zu- Ausblick gleich von einem akademisch-wissenschaft lichen23 und zivilgesellschaft lichen Impetus getragen, wenn Wenn Insiderbeobachtungen stimmen, dass durch etwa im Stile sozialer Bewegungen formuliert die Politik der knappen Haushaltskassen keine wird: 50 Jahre Arbeitsmigration nach Österreich: entscheidenden Ausbaustrategien auf Archivebene Für ein Archiv der Migration, jetzt! MigrantInnen realistisch sind, dann werden wohl auch keine sind nicht ohne Geschichte!24 angemessenen inhaltlichen Strategien zu Gunsten Dem Konzeptpapier zufolge geht es um den der Mi gra tionsgeschichte umgesetzt werden Aufb au eines speziellen Ortes, der ausschließlich können. Digitalisierungs- und IT-Kosten werden der Geschichte der Mi gra tionsgesellschaft gewidmet das Budget der Archive beanspruchen. Was aber ist, um das Desiderat der Migra tionsgeschichte durch bewusstes Agieren möglich erscheint, ist die endgültig aus der Welt zu schaff en. Bekanntlich ist Sicherung von einschlägigen Bestandsüberliefe- Papier geduldig und in diesem Sinne fi ndet sich rungen. Dies ist eine Kernaufgabe von Archiven

55

F-01.indd 55 10.04.2014 13:55:57 Gerhard Melinz Archive und Migration

und das sollte im Vordergrund stehen. Die alte Anmerkungen und noch immer brandaktuelle Herausforderung 1 Einerseits lebte der Autor selbst immer wieder als Arbeits- lautet: Sicherstellung von Aktenbeständen, die für migrant in der Bundesrepublik Deutschland, andererseits sozialhistorische und sozialpolitische Fragestel- verfügt er über unterschiedliche Naherfahrungen mit lungen gebraucht werden. Zugleich könnte man verschiedenen Th emen wie Solidaritätsaktivitäten rund um den irakisch-kurdischen Befreiungskampf, war Mitbegründer damit auch wesentliche Aspekte der Geschichte der Alternativen Türkeihilfe nach dem Militärputsch 1980 der Migrationen erforschbar machen. und ebenfalls Mitbegründer einer arbeitsmarktpolitischen Beratungseinrichtung für Arbeitsmigranten, die 1983 in Wien als Pilotprojekt gegründet wurde und sodann österreichweit eingeführt wurde. 2 Zu den Forschungsfördermöglichkeiten der Europäischen Union vgl. http://ec.europa.eu/ewsi/de/funding/publprogtenders.cfm. Das Observatory of Citizenship wird sogar von einem gebürtigen Österreicher koordiniert, http://eudo-citizenship.eu/about; eine nicht ganz so optimistische Einschätzung der Rolle von EU-Fördergeldern vertritt Heinz Faßmann, http://www.oeaw.ac.at/kmi/Bilder/kmi_WP15.pdf. Vgl. für die eigene Th ese verstärkend die im Rahmen der EU-Gemein- schaft sinitiative EQUAL betriebenen Forschungsprojekte http://www.imz-tirol.at/studien.html; http://www.zemit.at/de/ projekte/abgeschlossene-projekte/midas-equal.html. 3 Aus Platzgründen muss hier die für Historikerzunft ohnedies abseits liegende sozialwissenschaft lich-theoretisch ausgerichtete Debatte ohne Literaturverweise auskommen. Das Internet liefert ohnedies zu den entsprechenden Forschungskonzepten Informationen. 4 Vgl. http://www.emn.at/de/. 5 Vgl. http://www.iomvienna.at/de/. 6 Vgl. http://www.integrationsfonds.at/. 7 Vgl. http://migration.univie.ac.at/. 8 Vgl. http://www.oeaw.ac.at/kmi/. 9 Im April 2013 wurde von Integrationsstaatssekretär Sebastian Kurz (ÖVP) eine Studie veröff entlicht, die sich mit den Einstel- lungen von Muslimen zu Religion, Kopft uch und Demokratie beschäft igte; vgl. http://www.bmi.gv.at/cms/BMI_Service/ Integrationsstudie.pdf. 10 Vgl. http://www.asyl.at/. 11 Vgl. http://bim.lbg.ac.at/. 12 An dieser Stelle nochmals ein herzliches Dankeschön für die Mitarbeit. 13 Konkret das von Dirk Rupnow geleitete Projekt Deprovincialzing Contemporary Austria History. Migration und die transnationa- len Herausforderungen an nationale Historiographie (ca. 1960 bis heute); vgl. http://www.uibk.ac.at/zeitgeschichte/aktuelles/ deprovincializing_projekt.pdf. 14 Es wird im Rahmen von Sparkling Science durchgeführt und auch von Dirk Rupnow geleitet; vgl. http://www.sparklings- cience.at/de/projekte/520-spurensuche-hall-in-bewegung.

56

F-01.indd 56 10.04.2014 13:55:57 Archive und Migration Gerhard Melinz

15 Die Durchsicht der Jahrgänge Scrinium (Zeitschrift der österreichischen Archivarinnen und Archivare) zeigt keine Spuren der Beschäft igung mit dem ema.Th Forschungsprojekte und die Aktivisten zu Gunsten eines Archivs der Migration könnten tätig werden. Innerhalb der Zunft könnte möglicher- weise die Th emenwahl des Südwestdeutschen Archivtags eine Vorbildfunktion ausüben. 16 Einen guten Überblick bieten: Museum und Migration. Konzepte - Kontexte - Kontroversen. Hg. von Regina Wonisch und Th omas Hübel. Bielefeld 2012. – Museen neu denken. Perspektiven der Kulturvermittlung und Zielgruppenarbeit. Hg. von Hartmut John und Anja Dauschek. Bielefeld 2008. – NeuZugänge. Museen, Sammlungen und Migration. Eine Laborausstellung. Hg. von Lorraine Bluche u. a. Bielefeld 2013. Vgl. auch das Th emenheft zur Migration: neues museum. Die österreichische Museumszeitschrift 11/3 (Juli 2011). 17 Vgl. WIR - Zur Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung nach Wien. Hg. vom Historischen Museum der Stadt Wien. Wien 1996. 18 Vgl. eine gekürzte Version von Christiane Hintermann: Migration ins kollektive Gedächtnis schreiben: Darstellungen österreichischer Mi gra tionsgeschichten in Ausstellungen. In: neues museum. Die österreichische Museumszeitschrift 11/3 (Juli 2011), S. 31–37. 19 Gastarbajteri. 40 Jahre Arbeitsmigration. Hg. von Hakan Gürses, Cornelia Kogoj und Sylvia Mattl. Wien 2004. 20 Die Ausstellung ist virtuell einsehbar: http://www.gastarbajteri. at/. 21 http://www.demokratiezentrum.org/ausstellung.html. 22 Vgl. http://www.youtube.com/watch?v=Oc_hFx2iOis. Vgl. auch https://www.facebook.com/ArchivDerMigration/ timeline?fi lter=1. 23 Dirk Rupnow (Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck) leitet das vom Fonds zur Förderung der wissenschaft lichen Forschung fi nanzierte Großprojekt, das die Grundlagen für das Archiv der Migration erarbeiten soll. 24 Im Internet lassen sich breit gestreuten Argumente und Begründung leicht nachvollziehen, der Autor besitzt als Quelle ein Papier vom März 2013: Arbeitskreis Archiv der Migration: Ideensammlung/Arbeitspapier/Konzept. Wien 2013. Der Arbeitskreis Archiv der Migration weist namentlich sieben Mitglieder aus. 25 Wie Anm. 24, S. 5. 26 Der Standard, 19. Juni 2013, http://dastandard.t/1371170004297/ Gruene-stellen-Antrag-fuer-ein-Mi gra tionsmuseum.

57

F-01.indd 57 10.04.2014 13:55:57 Nasrin Saef Das Dokumentationsprofi l Migration

Nasrin Saef Das Dokumentationsprofi l Migration

Pluralität der Kommune auch im Archivbestand zogenen Unterlagen fällt in Kommunen überall in Deutschland an. Die Einwanderung nach Deutschland hat unsere Gesellschaft grundlegend verändert: Über ein Über DOMiD Drittel der 2011 in Deutschland geborenen Kinder hat inzwischen einen Mi gra tionshintergrund, in DOMiD e. V.2 wurde 1990 als Selbstorganisation der gesamten nordrhein-westfälischen Bevöl- türkischer Migranten mit dem Ziel gegründet, das kerung trifft dies auf immerhin fast ein Viertel historische Erbe der Mi gra tionsgesellschaft für zu- zu. In vielen Archiven tauchen Migration und künft ige Generationen zu bewahren und es einer Migranten1 aber nur zufällig oder nach dem breiten Öff entlichkeit zugänglich zu machen. Fingerspitzengefühl des bewertenden Archivars Mit diesem Anspruch ist DOMiD nicht nur für auf. Um die Überlieferung zu systematisieren und Wissenschaft ler, Journalisten und interessierte transparent zu machen, erarbeitet das Dokumen- Bürger zur Nutzung off en, es beteiligt sich auch tationszentrum und Museum über die Migration an Ausstellungsprojekten in Museen überall in in Deutschland (DOMiD) bis Dezember 2013 auf Deutschland. Die erste dieser Ausstellungen ist der Grundlage einer Arbeitshilfe der Bundeskon- besonders erwähnenswert: In Zusammenarbeit ferenz der Kommunalarchive ein Dokumenta- mit dem Ruhrmuseum in Essen wurde 1998 die tionsprofi l zum Th ema Migration. Das Projekt Ausstellung Fremde Heimat gezeigt, welche den wird gemeinsam mit den Archiven des Rhein-Erft - Ausgangspunkt der musealen Beschäft igung mit Kreises – repräsentiert durch das Kreisarchiv des Migration in Deutschland bildet. Rhein-Erft -Kreises, das Stadtarchiv Hürth und das Im Zuge eines weiteren Ausstellungsprojekts, Stadt- und Kreisarchiv Düren – durchgeführt und des Projekt[s] Migration (2002–2006), wurde der vom Landschaft sverband Rheinland unterstützt. bis dahin hauptsächlich auf die Türkei beschränkte Das Dokumentationsprofi l ist als Handreichung Sammlungsschwerpunkt auf weitere Anwerbestaa- für die Kommunalarchive im Rheinland gedacht. ten der BRD und der DDR, nämlich auf Italien, Durch seinen fl exiblen Aufb au wird es aber auch Griechenland, Spanien, Portugal, Marokko, Tune- darüber hinaus nutzbar sein – das Gros der einbe- sien, Ex-Jugoslawien, Südkorea, , Mosam-

58

F-01.indd 58 10.04.2014 13:55:57 Das Dokumentationsprofi l Migration Nasrin Saef

bik und , erweitert. Inzwischen sammelt scheiden sich die verwaltungsexternen Strukturen, DOMiD Dokumente und Objekte zu allen wie zum Beispiel das Wirtschaft s- und Vereins- Zuwanderungsformen seit 1945. Die so zustande leben. Damit das Dokumentationsprofi l von allen gekommenen Bestände umfassen mehr als 70.000 rheinischen Kommunalarchivaren eingesetzt Objekte, darunter Bücher, sog. graue Literatur, werden kann, muss das richtige Maß zwischen der Zeitungen, Zeitschrift en, Originaldokumente, nötigen Präzision – um es im Arbeitsalltag nutzen Fotografi en, Filme, Tondokumente, Flugblätter, zu können – und der Abstraktion – um ortsüber- Plakate sowie dreidimensionale Gegenstände. greifend gelten zu können – gefunden werden. Zu Auf diese Weise ist eine bundesweit einzigar- diesem Zweck soll auf fl exible Angaben gesetzt tige Sammlung an sozial-, alltags- und kultur- werden: Anstatt genaue Anweisungen zu geben, geschichtlichen Zeugnissen zur Geschichte der welche Unterlagen wo anfallen und unbedingt Einwanderung nach Deutschland zusammenge- übernommen oder kassiert werden müssen, wer- kommen. Das Besondere dabei: Im Gegensatz den verschiedene Herangehensweisen vorgestellt zu öff entlichen Archiven ist die Sammlungvon und Empfehlungen gemacht, die dem bewerten- unten gewachsen. Damit bewahrt DOMiD einen den Archivar als Unterstützung dienen sollen. außergewöhnlichen Fundus an migrantischen Das Dokumentationsprofi l wird auf der Home- Alltagszeugnissen. page des DOMiD veröff entlicht.

Die Zielsetzung des Dokumentationsprofi ls Dokumentationsprofi l: Hintergrund und Zweck

Das Dokumentationsprofi l Migration soll als Zu Beginn soll ein kurzer Überblick über die Arbeitshilfe für Kommunalarchivare dienen, Entstehung des Konzepts des Dokumentations- die Migration und Menschen mit Mi gra- profi ls und die mit ihm angestrebten Ziele gegeben tionshintergrund stärker in ihren Archivbestän- werden. Auf eine Einordnung in die Bewertungs- den repräsentieren möchten. Einwanderung hat diskussion wird an dieser Stelle zwar verzichtet3, es unsere Gesellschaft in vielerlei Hinsicht verän- soll aber erwähnt werden, inwiefern das Doku- dert, und dieser Prozess (sowie die Reaktion von mentationsprofi l sich in einem entscheidenden As- Stadtverwaltung und -bevölkerung) kann durch pekt von den durch die Staatsarchive favorisierten die gezielte Übernahme bestimmter Unterlagen Bewertungsstrategien unterscheidet: Es stellt mit sichtbar gemacht werden. Auch können dadurch der lokalen Lebenswelt ein inhaltliches Kriterium die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im in den Vordergrund, nicht das formale Kriterium Alltagsleben von Menschen mit und ohne Mi gra- der Verwaltungsstrukturen des Archivträgers. tionshintergrund aufgezeigt werden. Grundlage des Dokumentationsprofi ls ist die Ein wichtiger Punkt bei der Erstellung des im Jahr 2009 vom Unterausschuss Überlieferungs- Dokumentationsprofi ls war die Berücksichtigung bildung der Bundeskonferenz der Kommunal- der Diversität kommunaler Strukturen. Aufb au archive veröff entlichte Arbeitshilfe Erstellung eines und Arbeitsweise kommunaler Verwaltungen und Dokumentationsprofi ls für Kommunalarchive4. Archive sind selten identisch. Noch stärker unter- Vorbereitet wurde das Konzept durch ein politi-

59

F-01.indd 59 10.04.2014 13:55:57 Nasrin Saef Das Dokumentationsprofi l Migration

sches Papier, welches bereits 2004 vom Deutschen angelegte räumliche Verlagerung des Lebensmit- Städte tag verabschiedet wurde. In ihm wird die telpunktes von Individuen, Familien und Gruppen Bedeutung archivischer Überlieferungsbildung für oder ganzer Bevölkerungsgruppen7. die Sicherung des historischen Erbes einer Kom- Das Dokumentationsprofi l soll sich ausschließ- mune herausgestellt und ein die lokale Lebenswelt lich mit Migration in Form von Einwanderung einbeziehendes Bewertungsmodell vorgeschlagen, befassen, denn diese hat auf die Veränderung der welches die Verwaltungsstrukturen zugunsten deutschen Gesellschaft und Bevölkerungsstruktur eines auch nichtkommunale Registraturbildner seit der Gründung der Bundesrepublik wesentlich einbeziehenden, Kontinuität und Transparenz mehr Einfl uss als die Auswanderung gehabt. schaff enden Ansatzes zurückstellt.5 Für die Bezeichnung einer Person als Migrant Ein Dokumentationsprofi l in diesem Sinne gibt es verschiedene Kriterien. Der Europäische verfolgt einen umfassenden Zweck. Ausgehend Rat nennt das zeitweise oder dauerhaft e Leben von einem Th emenkomplex aus der lokalen in einem anderen als dem Geburtsland sowie das Lebenswelt legt es Dokumentationsziele fest und Erlangen einer signifi kanten Bindung an dieses betrachtet alle potentiell archivwürdigen Unterla- Land.8 Die UN-Menschenrechtskonvention nennt gen, die zur Erreichung der Ziele beitragen. Dabei zusätzlich die Freiwilligkeit der Auswanderung: werden explizit auch Unterlagen von privaten und Sie soll aus Gründen des persönlichen Vorteils staatlichen Registraturbildnern eingeschlossen. erfolgen, ohne dass zwingende äußere Gründe Überlieferungsbildung im Verbund ist ein wichti- vorliegen.9 Das Statistische Bundesamt beschränkt ger Bestandteil des Konzepts, weshalb im Idealfall sich in seiner Defi nition darauf, dass Migranten Übernahmeabsprachen mit den für diese Unterla- im Ausland geboren und nach Deutschland zuge- gen zuständigen Archiven getroff en werden soll- wandert sind. 10 Aus Gründen der Praktikabilität ten. So kann einerseits auf die Übernahme von in wird im Folgenden mit letztgenannter Begriff sbe- anderen Archiven besser überlieferten Unterlagen stimmung gearbeitet. verzichtet, andererseits der Verlust von dort nicht Davon zu unterscheiden ist der in Deutschland als archivwürdig betrachtetem, für die Kommune gebräuchliche Mi gra tionshintergrund. Unter diesen aber relevantem Schrift gut verhindert werden. fasst das Statistische Bundesamt: […] alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Begriff sbestimmungen: Migration, Migranten und Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie Mi gra tionshintergrund alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle Um den Th emenkomplex Migration angemessen in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumin- überliefern zu können, muss zunächst geklärt wer- dest einem zugewanderten oder als Ausländer in den, was unter dem Begriff zu verstehen ist. Die Deutschland geborenen Elternteil.11 UNESCO defi niert Migration als das Überqueren Darunter fallen nach Einschätzung des Statisti- der Grenze einer politischen oder administrativen schen Bundesamtes üblicherweise Angehörige der Grenze für einen bestimmten Mindestzeitraum6, 1. bis 3. Migrantengeneration12, neben Ausländern der Mi gra tionsforscher Jochen Oltmer versteht auch in Deutschland geborene Deutsche[…], sei es darunter die auf einen längerfristigen Aufenthalt als Kinder von Spätaussiedlern, als ius soli-Kinder

60

F-01.indd 60 10.04.2014 13:55:57 Das Dokumentationsprofi l Migration Nasrin Saef

ausländischer Elternpaare oder als Deutsche mit als auch staatliche Stellen beteiligt sind, und die einseitigem Migra tionshintergrund 13. Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse Das Dokumentationsprofi l soll alle Menschen durch die Bezirksregierung. Für den Nachweis mit Mi gra tionshintergrund im obigen Sinne sowie aller Personen mit Mi gra tionshintergrund ist ein die durch Einwanderung nach Deutschland ent- niedriger Dokumentationsgrad vorgesehen, für stehenden Phänomene einschließen. Aus Gründen Ankunft und Integration je ein mittlerer. der Lesbarkeit wird im Folgenden trotzdem meist von Migranten gesprochen werden, auch wenn 2. Die Beteiligung von Personen mit Mi gra tions- Personen mit Mi gra tionshintergrund gemeint sind. hintergrund am sozialen, politischen, religiösen und kulturellen Leben soll dokumentiert werden. Die Dokumentationsziele Mit diesem Dokumentationsziel soll die Parti- Im nachfolgenden Abschnitt werden die Doku- zipation von Migranten am öff entlichen Leben mentationsziele vorgestellt und beispielhaft einige dargestellt werden. Hierzu gibt es zum Beispiel der zu ihnen gehörigen Unterlagen aufgezählt. Unterlagen des Rats, von Migranten initiierte Pe- titionen, Demonstrationen oder weitere politische 1. Alle Personen mit Mi gra tionshintergrund sowie Aktionen, außerdem Unterlagen zur Kulturför- gegebenenfalls ihre Ankunft in Deutschland und derung sowie das Vereinsregister. Bei diesem Ziel Integration in den hiesigen Alltag sollen dokumen- ist jedoch die zu erwartende Menge von Verwal- tiert werden. tungsschrift gut relativ gering, weshalb eine Ergän- zungsdokumentation nötig ist. Ansprechpartner Die Intention des ersten Dokumentationsziels hierfür sind zum Beispiel lokale Wohlfahrtsver- ist der Nachweis aller Menschen mit Mi gra- bände, Kirchen und Moschee- sowie alevitische tionshintergrund im Sprengel sowie die Doku- Vereine, Kulturvereine und Sportvereine. Es wird mentation ihres Einwanderungsprozesses. Ersteres ein hoher Dokumentationsgrad angestrebt. kann durch die Archivierung der Personenstands- unterlagen sowie die Übernahme der Melderegis- 3. Bildungswege und Arbeitsleben der Personen mit ter erreicht werden. Weitere wichtige Quellen sind Mi gra tionshintergrund sollen dokumentiert werden. das Ausländerzentralregister sowie ein eventuell geführtes lokales Ausländerregister. Auf kommu- Ziel ist die Abbildung der Bildungschancen und naler Ebene fallen unter diesen Th emenkomplex Arbeitsverhältnisse der Menschen mit Mi gra- zum Beispiel die Erteilung von Aufenthaltsgeneh- tionshintergrund. Unter Ersteres fällt die gesamte migungen, die Unterbringung von Asylbewerbern Spanne von Kindertagesstätte über Schule, Uni- sowie Sprach- und Integrationskurse; letztere versität oder Ausbildung bis hin zur Erwachse- werden allerdings häufi g von nichtöff entlichen nenbildung. Neben personenbezogenen Fallakten Trägern durchgeführt, mit denen gesondert (zum Beispiel Schülerakten oder Beiträge für Kontakt aufgenommen werden muss. Unter die Kindergarten und Ganztagsschule) zählen hierzu Integration fallen beispielsweise auch der Einbür- auch Akten über speziell für Migranten getrof- gerungsprozess, an dem sowohl die Kommune fene Maßnahmen, wie zum Beispiel türkischer

61

F-01.indd 61 10.04.2014 13:55:57 Nasrin Saef Das Dokumentationsprofi l Migration

Sprachunterricht in Schulen oder Förderangebote leistungen ersichtlich werden, wie den Leistungen für Kinder aus nichtdeutschen Familien. Zu den nach dem SGB II (Hartz IV) oder dem Wohngeld, Arbeitsverhältnissen existieren nur in begrenz- ebenso aber auch aus Grundbuch, Grundsteuer tem Maße Verwaltungsakten. Der Prozess der und anderen mit Wohneigentum verbundenen Arbeitssuche kann in ihnen abgebildet werden, Abgaben. Zum Alltagsleben zählen verschiedenste ebenso wie Statistiken zur Beschäft igungssitu- Bereiche – hierunter kann man zum Beispiel ation von Ausländern. Zu Angestellten werden trivial scheinende Unterlagen wie Kfz-Zulas- Sozialversicherungsakten geführt, die in der sungen und Akten über die Hundesteuer fassen, Zuständigkeit von Bund und Ländern liegen, ebenso wie die zum Teil sehr aufschlussreichen außerdem existieren mit den Personalakten Akten zu Vornamensänderungen und verschiede- detaillierte Informationen zu den kommunalen nen Sozialleistungen. Auch fallen hierunter viele Beschäft igten. Hier ist auch zu überprüfen, ob ein familienbezogene Leistungen wie der Bezug von Programm zum kommunalen Diversity-Manage- Kindergeld, Leistungen für Bildung und Teilhabe ment existiert, welches aufschlussreiche Informa- oder die Familienhebamme und die Kinderkran- tionen zu den Beschäft igungsverhältnissen von kenschwester. Es ist ein mittlerer Dokumentati- Migranten innerhalb der Verwaltung bietet. Über onsgrad vorgesehen. Selbstständige geben die Akten über Gewerbean- und abmeldungen sowie Gewerbesteuer und 5. Grundlegende Informationen zum Alltag der Konzessionen Auskunft . Insolvenzakten und das deutschen Bevölkerung und Beziehungen zwi- Handelsregister fallen unter die Zuständigkeit des schen Deutschen und Personen mit Mi gra tions- Landesarchivs, ebenso wie die Gewerbeaufsicht. hintergrund sollen dokumentiert werden. Für die Arbeitsbedingungen von Angestellten in Ergänzend sollte auch die Bevölkerung ohne der freien Wirtschaft können Firmenakten (z.B. Mi gra tionshintergrund mit einem niedrigen beim Rheinisch-Westfälischen Wirtschaft sarchiv Doku mentationsgrad in das Dokumentationsprofi l oder beim Bergbauarchiv) und Gewerkschaft sun- einbezogen werden, denn sowohl die Unterschiede terlagen (z.B. im Archiv der sozialen Demokratie) als auch die Gemeinsamkeiten im Alltag der Men- wichtige Quellen sein. Angestrebt ist hier ein schen mit und ohne Mi gra tionshintergrund kön- mittlerer Dokumentationsgrad. nen nur erkannt werden, wenn beide Gruppen an- gemessen repräsentiert sind. Dies bietet sich auch 4. Wohnbedingungen und (Alltags-, Familien-)Le- aus praktischen Gründen an, denn andernfalls ben der Personen mit Mi gra tionshintergrund sollen wäre der bewertende Archivar gezwungen, jeden dokumentiert werden. Bestand doppelt zu bewerten – einmal aus der Mi- Unter diesen Punkt sollen, soweit aus Verwal- gra tionsperspektive, einmal ohne diese. Sofern sie tungsakten ersichtlich, die Wohnbedingungen sich aus Akten erkennen lässt, ist auch die Bezie- und das Alltagsleben der Menschen mit Mi gra- hung zwischen Deutschen und Migranten zu do- tionshintergrund fallen. Die Wohnbedingungen kumentieren. Dazu gehören zum Beispiel die beim können zum Beispiel aus verschiedenen Sozial- Standesamt geführten Akten zu Eheschließungen

62

F-01.indd 62 10.04.2014 13:55:57 Das Dokumentationsprofi l Migration Nasrin Saef

zwischen Deutschen und Ausländern, Hilfsinitia- bild sofort eingeschätzt werden und die Bewertung tiven Deutscher für Einwanderer, Polizeiunterla- daran ausgerichtet werden. gen zu Demonstrationen im Zusammenhang mit Das Quellenkataster hat zweifelsohne eine Migration oder Migranten sowie Medienberichte zentrale Position im Dokumentationsprofi l. Es über entsprechende Veranstaltungen. ist zur Identifi kation der Unterlagen und zur Einschätzung ihrer Funktion unentbehrlich. In Migration und Migranten in Verwaltungsunterlagen der Bewertungspraxis jedoch wird in der Regel der Bestand eines bestimmten Amtes betrachtet, kein Eine der Kernaufgaben des Dokumentationsprofi ls Th emenkomplex. Aus diesem Grund wird auch ist das Identifi zieren derjenigen Behörden, bei ein provenienzorientierter Überblick über die im denen Unterlagen mit Mi gra tionsbezug entstehen. Quellenkataster aufgelisteten Unterlagen gegeben, Die Frage, welche dies sind, könnte kurz mit fast welcher sie kommunalen Ressorts zuordnet. Für alle beantwortet werden. Denn Migration ist ein jedes Ressort erfolgt eine kurze Beschreibung sei- klassisches Querschnittsthema, Akten mit Bezug ner Aufgaben, mit besonderem Augenmerk auf die dazu fi nden sich überall inner- und außerhalb der für das Th emenfeld Migration relevanten Unter- Verwaltung. Einerseits existieren speziell für Mi- lagen. Abschließend erfolgt eine stichpunktartige gra tionsthemen eingerichtete Behörden, anderer- Aufzählung der für die Übernahme in Betracht seits werden Migration und Migranten als Teil der kommenden Akten (wobei natürlich im Einzelfall Bevölkerung auch in fast allen nicht-migrations- weiterhin geprüft werden muss, ob die vorliegen- spezifi schen Behörden behandelt. den Akten tatsächlich archivwürdig und stimmig Es lassen sich drei große Unterlagengruppen mit den bisherigen Bewertungsentscheidungen im unterscheiden: erstens das Schrift gut der Fach- behörden zu Mi grationsthemen, zweitens die eigenen Archiv sind). einen Mi gra tionsbezug aufweisenden Akten der Bewertung von Massenakten: allgemeinen Verwaltung sowie drittens massenhaft Grundsätzliche Überlegungen gleichförmige Einzelfallakten zu Personen mit Mi- grationshintergrund. Massenhaft gleichförmige Einzelfallakten müssen Teil des Dokumentrationsprofi ls ist ein Quel- bei der Bewertung gesondert behandelt werden. lenkataster, welches jedem Dokumentationsziel Aufgrund ihrer Anzahl und formalen Gleichför- die auf allen Ebenen entstehenden Unterlagen migkeit werden in der Regel nur Stichproben aus zuordnet. Dort werden der angestrebte Dokumen- dem Gesamtbestand gezogen, anstatt die einzelnen tationsgrad, der Registraturbildner sowie (falls zu- Akten zu bewerten. Bei der Erörterung von treff end) das zuständige nichtkommunale Archiv Stichprobenverfahren im Kontext des Dokumen- aufgeführt. Das Kataster gibt bereits vor der ei- tationsprofi ls Migration ist dabei Verschiedenes zu gentlichen Bewertung einen Überblick über alle zu beachten. einem Th emenkomplex entstehenden Unterlagen. Zunächst einmal ist es unmöglich, bei der Dadurch kann der Beitrag jeder Unterlagengruppe Bewertung von Massenakten zwischen Akten zum in der Überlieferung entstehenden Gesamt- mit Mi gra tionsbezug und solchen ohne Mi gra-

63

F-01.indd 63 10.04.2014 13:55:57 Nasrin Saef Das Dokumentationsprofi l Migration

tionsbezug zu trennen. Es muss ein gemeinsames stimmung des Mi gra tionsstatus ist diese Methode Verfahren für alle Akten genutzt werden. Deshalb allerdings ungenau: Zwar kann man einen Mi- muss bei der Entscheidung für eine Methode das gra tionshintergrund aufgrund eines ausländisch im Gesamtbestand entstehende Abbild bedacht klingenden Namens meist annehmen. Aber es gibt werden. Für die Wahl des Stichprobenverfah- sowohl Deutsche ohne Mi gra tionshintergrund mit rens sind die zur Verfügung stehenden Kriterien ausländisch klingenden Namen, als auch Perso- entscheidend: In vielen Verwaltungsakten sind nen mit Mi gra tionshintergrund und deutschem das zum Beispiel die Staatsangehörigkeit, der Namen. Der Nachname ist also nicht ideal, um die Geburtsort, der Name und das Geburtsdatum. Trennung zwischen Deutschen mit- und ohne Mi- Staatsangehörigkeit und Geburtsort sind Kriterien, gra tionshintergrund vorzunehmen. Aufgrund der die auf einen Mi gra tionshintergrund im Sinne des Ablage in den Registraturen ist er aber vermutlich Statistischen Bundesamtes hinweisen. Um sie zu am einfachsten zu erheben. erfahren, ist allerdings ein Blick in die Akte nötig Bei der Wahl des Buchstabens müssen verschie- – ein Aufwand, der je nach Umfang der Anbie- dene Faktoren beachtet werden: Erstens bestimmt tung nicht immer vertretbar ist. Noch schwieriger sie die Größe der Stichprobe: Nachnamen mit ist die Verknüpfung mit den Daten der Eltern, M sind in Deutschland wesentlich häufi ger als die für die Einstufung als Person mit Mi gra- Nachnamen mit Y. Zweitens sind die Nachnamen tionshintergrund ebenfalls relevant sind: Grund- verschiedener Nationalitäten unterschiedlich auf sätzlich ist die Verknüpfung über Melde- und das Alphabet verteilt: Während unter M häufi ge Standesregister natürlich möglich. Der Arbeitsauf- deutschen Nachnamen wie Müller und Meier wand, um sie vorzunehmen, wäre aber enorm und fallen, fi nden sich unter Y hauptsächlich türki- defi nitiv im Rahmen der normalen Arbeit nicht zu sche Nachnamen. Diese Faktoren sollten bei der leisten. Im Sinne der Praktikabilität müssen also Auswahl eines oder mehrerer Buchstaben als andere Kriterien herangezogen werden. Samplingkriterium bedacht werden, denn sie ver- zerren die Grundgesamtheit in jedem Fall. Durch eine bewusste Auswahl der Buchstaben kann sich Steuerung der Stichprobenzusammensetzung durch Buchstabenauswahl dieser Eff ekt zunutze gemacht werden. Dafür sind allerdings detaillierte Daten über die Verteilung Beliebt ist die Stichprobe nach Nachnamen, da der in Deutschland vorkommenden Nachnamen viele Registraturen ihre Akten alphabetisch able- auf das Alphabet sowie die Zusammensetzung der gen. Dabei werden alle Akten zu Personen über- darin vorkommenden Nationalitäten nötig. nommen, deren Nachname mit einem bestimmten Da solche in der Literatur nicht auffi ndbar wa- Buchstaben anfängt. Vorteilhaft an dieser Stich- ren, wurde für das Dokumentationsprofi l ein circa probenmethode ist die Erfassung auch nachfolgen- 3000 Akten umfassender Bestand an Sozialhilfe- der Generationen, solange sie nicht durch Heirat akten auf die im Aktentitel aufgeführten Nach- einen anderen Namen annehmen, außerdem kön- namen hin ausgewertet. Zu jeder darin behandel- nen die Entwicklungen einzelner Personen über ten Person wurde ein Datensatz gebildet, welcher mehrere Bände hinweg verfolgt werden. Zur Be- Vor- und Nachnamen sowie eine Einschätzung des

64

F-01.indd 64 10.04.2014 13:55:57 Das Dokumentationsprofi l Migration Nasrin Saef

Mi gra tionsstatus und die vermutete Herkunft s- ungefähr den Verhältnissen in der Bevölkerung region enthält. entsprechen. Dieses Verhältnis sieht folgender- Dabei existieren einige Fallstricke: In den maßen aus: Etwa 30% der im Rhein-Erft -Kreis übermittelten Daten sind keine Geburtsorte oder lebenden Ausländer sind Osteuropäer, 28% sind Staatsangehörigkeiten enthalten, weshalb jede Türken, 9% sind Araber und 8% Italiener.15 Auch Einordnung eine Schätzung aufgrund von Vor- diese Verhältnisse sind insofern problematisch, und Nachnamen ist. Diese Schätzungen sind auf als dass sie nur die Ausländer angeben, nicht aber vielfältige Weise fehleranfällig: Deutsche Eltern die Zahl der Deutschen mit entsprechendem Mi- können ihren Kindern auch ohne einen Elternteil gra tionshintergrund. Während Ausländer knapp mit Mi gra tionshintergrund ausländische Namen 10 % der Bevölkerung des Rhein-Erft -Kreises geben, manche Namen sind nicht eindeutig einer ausmachen16, haben insgesamt 22% der Bevölke- Region zuzuordnen, außerdem besteht gele- rung einen Mi gra tionshintergrund17 – aus welchen gentlich Verwechslungsgefahr bei Namen aus Nationalitäten sich die übrigen 12% zusammen- verschiedenen Regionen. Letzteres gilt insbeson- setzen, ist nicht bekannt. Hilfsweise wurde daher dere für auf den Islam zurückgehende arabische mit den Zahlen zu Ausländern gearbeitet. Die und türkische Namen sowie für deutsche und Ermittlung der Buchstabenkombinationen erfolgte osteuropäische Nachnamen. Während letztere ein mit Hilfe eines Computerprogramms, das nach Indiz für einen Mi gra tionshintergrund sein kön- Eingabe von Zielwerten die zur Zielerreichung nen, kann besagte Migration bereits Genera tionen dienenden Buchstabenkombinationen ausgibt. zurückliegen und so nicht für die Erfassung Im letzten Schritt wurden die Ergebnisse durch dieses Profi l gedacht sein. Eine Zuordnung überprüft , die durch die Stichprobenziehungen zu Osteuropa erfolgte trotzdem, weshalb in der mit verschiedenen Buchstaben(-kombinationen) Auswertung Osteuropäer vermutlich überreprä- erzielt werden, wie zum Beispiel dem vom Landes- sentiert sind. archiv Nordrhein-Westfalengenutzten Buchstaben Anschließend wurde die Zusammensetzung der T oder die im baden-württembergischen Landes- verschiedenen Herkunft sregionen für jeden Buch- archiv gebräuchliche Kombination DOT. Außer- staben analysiert. Besonderer Wert wurde dabei dem wurden Buchstabenkombinationen ermittelt, auf die größten Ausländergruppen im Rhein- die ungefähr zwischen zwei und zehn Prozent des Erft -Kreis14 gelegt: Osteuropäer, Türken, Araber Gesamtbestandes ausmachen und deren Verhält- und Italiener. Eine weniger grobe Auft eilung ist nis Deutsche ohne Mi gra tionshintergrund und aufgrund der Datenlage nicht möglich: Dafür Bürger mit Mi gra tionshintergrund bei ungefähr wäre die Unterscheidung zwischen zum Beispiel 65:35 (entsprechend dem Verhältnis in den Akten) polnischen und ukrainischen Nachnamen nötig, oder 50:50 (ausgeglichenes Verhältnis) liegt. für die die Kenntnisse fehlen. Außerdem wurde Die so zusammengestellten Daten fi nden sich notiert, wie groß der Anteil des Buchstabens am vollständig im abgeschlossenen Dokumentati- Gesamtbestand ist. onsprofi l. Zusätzlich macht es Vorschläge, welche Weiterhin sollte das Verhältnis der verschie- Buchstaben sich besonders gut für die Erreichung denen Herkunft sregionen in der Stichprobe verschiedener Ziele eignen. Nachfolgend abgebil-

65

F-01.indd 65 10.04.2014 13:55:57 Nasrin Saef Das Dokumentationsprofi l Migration

dete Tabelle ist ein Auszug der Ergebnisse; in jeder tung der ein eigenes Archiv führenden Institu- Zeile wird jeweils eine Buchstabenkombination tionen, wie zum Beispiel der evangelischen und mit der Stichprobengröße, ihrem Anteil am Ge- katholischen Kirche, soll hier verzichtet werden. samtbestand, dem Verhältnis zwischen Deutschen Stattdessen wird im Dokumentationsprofi l auf und Migranten in der Stichprobe und dem Anteil diejenigen Registraturbildner eingegangen, deren der vier größten Ausländergruppen an letzteren Wirken nur in den eigenen Unterlagen dokumen- beschrieben. tiert und nirgendwo archiviert wird. Darunter

Buchstaben Zahl/Anteil Verhältnis Araber Italiener Osteuropäer Türken

C 59/2,39% 37:63 5 % 16 % 32 % 32 %

C,D,L 250/10,12% 62:38 7 % 10 % 35 % 32 %

C,D,V 203/8,22% 55:45 9 % 11 % 36 % 33 %

D,L 191/7,73% 69:31 9 % 5 % 37 % 31 %

D,O,T 208/8,5% 59:41 21 % 5 % 25 % 32 %

D,U,V 166/6,72% 63:37 10 % 7 % 36 % 33 %

T 73/2,96% 51:49 22 % 3 % 22 % 22 %

Sammlungsbildung im Bereich Migration fallen zum Beispiel Kulturvereine, Interessensver- Die Ergänzung der städtischen Überlieferung bände, politische Initiativen oder Parteien, durch Sammlungsgut ist zur Abbildung aller Moscheevereine, alevitische Vereine, verschiedene Facetten des Alltags der Menschen mit Mi gra- christliche Kirchen u.v.m. Der Integrationsbeauf- tionshintergrund unerlässlich. Vor allem im tragte hat häufi g einen Überblick über die aktiven Bereich der Partizipation von Menschen mit Mi- migrantischen Selbstorganisationen im Ort. gra tionshintergrund am öff entlichen Leben (siehe Wenn die Kapazitäten es zulassen, ist auch Dokumentationsziel 2) sind große Lücken in der eine eigenständige Ergänzungsdokumentation in Verwaltungsüberlieferung zu erwarten – hier ist Erwägung zu ziehen. Denkbar wären zum Beispiel Ergänzungsdokumentation also besonders wich- Oral-History-Projekte (für welche die vorherige tig. Mögliche Quellen für diese sind zum Beispiel Vernetzung mit den Migrantenselbstorganisatio- Medienberichte, Unterlagen verschiedener Vereine nen unerlässlich ist) oder die fotografi sche Doku- und Initiativen sowie politischer Parteien und mentation von Veranstaltungen der Migrantenor- religiöser Vereinigungen. Auf eine nähere Betrach- ganisationen.

66

F-01.indd 66 10.04.2014 13:55:57 Das Dokumentationsprofi l Migration Nasrin Saef

Sollten die räumlichen oder personellen Kapa- zitäten zur Archivierung von für das Archiv inte- ressanten Unterlagen nicht vorhanden sein, kann auch die Überlieferung im Verbund eine Lösung sein: Möglicherweise gibt es andere räumlich oder fachlich zuständige Archive (wie zum Beispiel das Kreisarchiv oder DOMiD), für die die Archivie- rung der Unterlagen in Betracht käme.

Das Mosaik zusammensetzen Viele der in dem Dokumentationsprofi l genann- ten Unterlagen würden auch ohne Hinzuziehen desselben übernommen werden. Das Profi l ermöglicht es aber, die Überlieferung bewusst zu steuern und dem Bestand die Unterlagen hinzu- zufügen, die lokal besonders relevante Facetten der Migration widerspiegeln. Es zeigt auf, wie sich aus vielen Fragmenten ein Gesamtbild der vielfältigen Stadtgesellschaft zusammensetzen kann. Dieses wird nicht immer zentral in einer einzigen Insti- tution vorhanden sein können: Wer sich für das Arbeitsleben von Menschen mit Migra tionsleben interessiert, wird in Nordrhein-Westfalen in Stadt- und Landes archiv fündig, aber auch im Rhei- nisch-Westfälischen Wirtschaft sarchiv, im Berg- bauarchiv, im Archiv der Friedrich-Ebert-Stift ung und in den Archiven der Unternehmen selbst. Das Dokumentationsprofi l dient als Orientierungshilfe sowohl für Archivare als auch für Forscher.

67

F-01.indd 67 10.04.2014 13:55:57 Nasrin Saef Das Dokumentationsprofi l Migration

Anmerkungen

1 Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Folgenden das generische Auswaehlen&auswahlverzeichnis=ordnungsstruktur&auswahl- Maskulinum verwendet. Dies schließt ausdrücklich Frauen und ziel=werteabruf&selectionname=12521-02ir&auswahltext= Männer ein. %23RKREISE-05362&nummer=3&variable=1&name=KREISE 2 Mehr Informationen über DOMiD unter www.domid.org. &werteabruf=Werteabruf (zuletzt abgerufen am 15.11.2013). 3 Bei Interesse an der Geschichte der Bewertungsdiskussion 15 Wie Anm. 14. können zum Beispiel folgende Überblicksdarstellungen 16 Wie Anm. 14. herangezogen werden: Matthias Buchholz: Überlieferungsbildung 17 Statistisches Bundesamt: Zensus 2011. In: Zensus2011.de, bei massenhaft gleichförmigen Einzelfallakten im Spannungs- https://ergebnisse.zensus2011.de/#dynTable:statUnit=PERSON; verhältnis von Bewertungsdiskussion, Repräsentativität und absRel=PROZENT;ags=05362;agsAxis=X;yAxis= Nutzungsperspektive. Eine Fallstudie am Beispiel von Sozialhil- MIGRATION_18 (zuletzt abgerufen am 15.11.2013). feakten der oberbergischen Gemeinde Lindlar. In: Archivheft e/ Landschaft sverband Rheinland, Archivberatungsstelle Rheinland 35 (2001), S. 100–223 und Bodo Uhl: Die Geschichte der Bewertungsdiskussion. In: Bilanz und Perspektiven archivischer Bewertung. Beiträge eines archivwissenschaft lichen Kolloquiums. Hg. von Andrea Wettmann (Veröff entlichungen der Archivschule Marburg 21). Marburg 1994, S. 11–35. 4 Bundeskonferenz der Kommunalarchive: Arbeitshilfe. Erstellung eines Dokumentationsprofi ls für Kommunalarchive, 2009. In: Bundeskonferenz-kommunalarchive.de, http://www.bundeskon- ferenz-kommunalarchive.de/empfehlungen/Arbeitshilfe_Doku- mentationsprofi l.pdf (zuletzt abgerufen am 15.11.2013). 5 Bundeskonferenz der Kommunalarchive: Das historische Erbe sichern! Was ist aus kommunaler Sicht Überlieferungsbildung?, 2004. In: Bundeskonferenz-kommunalarchive.de, http:// www.bundeskonferenz-kommunalarchive.de/empfehlungen/ Positionspapier_Ueberlieferungsbildung.pdf (zuletzt abgerufen am 15.11.2013). 6 Migrant/Migration. In: Unesco.org, URL: http://www.unesco.org/ new/en/social-and-human-sciences/themes/international- migration/glossary/migrant/ (zuletzt abgerufen am 15.11.2013). 7 Jochen Oltmer: Migration im 19. und 20. Jahrhundert. München 2010, S. 1. 8 Wie Anm.6. 9 Wie Anm. 6. 10 Vgl. Statistisches Bundesamt: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Mi gra tionshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2005 – Wiesbaden 2009. https://www.destatis.de/ DE/Publikationen/Th ematisch/Bevoelkerung/MigrationIntegra- tion/Mi gra tionshintergrund2010220057004.pdf?__blob= publicationFile (zuletzt abgerufen am 15.11.2013). 11 Wie Anm. 10. 12 Wie Anm. 10. 13 Wie Anm. 10. 14 Statistisches Landesamt NRW: Ausländische Bevölkerung nach Geschlecht und Staatsangehörigkeiten (207). Kreisfreie Städte und Kreise – Stichtag (Tabelle 12521-02ir). In: Landesdatenbank. nrw.de, https://www.landesdatenbank.nrw.de/ldbnrw/online/ data?operation=abruft abelleBearbeiten&levelindex=2&levelid= 1383902088934&auswahloperation=abruft abelleAuspraegung

68

F-01.indd 68 10.04.2014 13:55:57 Vereinsüberlieferung als Zugang zur lokalen Migrationsgeschichte Jürgen Lotterer

Jürgen Lotterer Vereinsüberlieferung als Zugang zur lokalen Mi gra tionsgeschichte

Dieser Beitrag gibt einen Einblick in die aktuellen der Kernaufgaben betrachtet und nicht nur als Aktivitäten des Stadtarchivs Stuttgart auf dem Feld ein Anhängsel. Sie wird systematisch betrieben der Überlieferungsbildung zur modernen Mi- und ist mit entsprechenden Ressourcen hinterlegt. gra tionsgeschichte. Präsentiert werden konkrete Ebenso bestehen eingespielte Routinen hinsicht- Arbeitsbeispiele, die aus einer pragmatischen lich der Gestaltung von Verträgen, Regelung von Herangehensweise an das Th ema entstanden und Zugängen etc. vom Blick auf das Machbare geleitet sind. Gedacht sind sie als Beispiel dafür, wie ein Archiv sich im Vereinsarchive in der kommunalen Überlieferung Rahmen seiner kontinuierlich zu versehenden Es ist in Kommunalarchiven von einem tradi- Kernaufgaben einem gesellschaft lich-politisch tionell umfangreichen Dokumentationsbereich aktuellen Th ema stellen kann. Der Anspruch einer auszugehen: Zeitungsausschnittsammlungen, Per- best practice kann dabei naheliegenderweise nicht sonenkarteien, genealogische Sammlungen und erhoben werden, diese müsste sich aus dem Ver- ähnliches Material sind gewöhnlich in großem gleich mit anderen Ansätzen ergeben. Umfang vorhanden. Im Stadtarchiv Stuttgart ist Grundvoraussetzung für alle Aktivitäten auf dieser Bereich – auch in Reaktion auf besonders diesem Gebiet ist eine qualitative und quantitative empfi ndliche Kriegsverluste – in besonderer Weise Mindestausstattung an Ressourcen in Gestalt fach- gepfl egt worden.2 Eine thematische Erweiterung lich ausgebildeter Archivarinnen und Archivare, im Sinne aktueller zeitgeschichtlicher Fragestel- ausgestattet mit Magazinreserve, Arbeitszeit und lungen erschiene durchaus denkbar. Sachmitteln. Dies ist im Stadtarchiv Stuttgart Allerdings sollte auch im Bereich der nichtamt- gegeben, dagegen existiert zurzeit kein auf das lichen Überlieferungsbildung der Umgang Th ema bezogenes Großprojekt, das umfangreiche mit dem prozessgenerierten Schrift gut als die Sondermittel, zusätzliche Personalressourcen oder Kernkompetenz der Archive im Auge behalten Ähnliches bereitstellen könnte.1 Grundvorausset- werden. Archive sammeln nicht primär thema- zung ist weiterhin eine archivarische Grundsatz- tisch, auch keine Lebensgeschichten, sondern sie entscheidung: Die nichtamtliche Überlieferung übernehmen den schrift lichen und auch bildlichen wird ohne Einschränkung als relevant und Teil Niederschlag von institutionellem, auch familiä-

69

F-01.indd 69 10.04.2014 13:55:57 Jürgen Lotterer Vereinsüberlieferung als Zugang zur lokalen Migrationsgeschichte

rem oder persönlichem Handeln, dem Erledigen beim Stadtarchiv übernommenen und bearbei- von Aufgaben, dem Verfolgen von Interessen etc. teten Beständen. Allein fast 500 Sport treibende Daraus lassen sich Lebensgeschichten rekons- Vereine fi nden sich in Stuttgart. Insgesamt weist truieren, aber auch verifi zieren. Der Überrest, das Vereinsregister fast 6000 Vereine aller Art um einen klassischen Begriff der Quellenkunde aus. Insbesondere den im kommunalen Archiv- heranzuziehen, entfaltet dann unter Umständen dienst tätigen Kollegen und Kolleginnen ist diese seine Vetomacht, das berühmte und viel zitierte Bestandsgruppe wohlvertraut und muss nicht Vetorecht der Quellen.3 weiter erörtert werden. Was ein Vereinsarchiv Gerade da, wo man mit gutem Grund auf das kulturgeschichtlich bedeuten kann, zeigte die Zeitzeugengespräch zurückgreift , um verborgene Foyerausstellung des Stadtarchivs Mit Brudergruß Geschichte sichtbar zu machen und den Menschen und Handschlag, die sich ausschließlich aus dem in den Mittelpunkt zu stellen, wo man Geschichte Bestand des Stuttgarter Arbeiterbildungsvereins, bzw. die Darstellung von Geschichte in Biografi en später Allgemeiner Bildungsverein, speiste.5 übersetzt, wird es darum gehen müssen, diesen Es ist ein naheliegender Gedanke, für das individualisierten Traditionen eine adäquate zeitgeschichtliche Großthema Migration auch archivische Überlieferung im klassischen Sinn an diesen Ansatz zu nutzen. Der aktuelle Bericht der die Seite zu stellen, in Form von prozessgenerier- Landeshauptstadt Stuttgart zu lokalen Vereinen tem Schrift gut und transparenten Provenienzen und Vereinsstrukturen weist immerhin unter den – Quellen mit Vetomacht.4 Selbstzweckvereinen auch 150 Vereine von Volks- Vereinsarchive stellen eine verhältnismäßig gut gruppen aus.6 Da dieser Bericht aber einer mo- erreichbare Gattung nichtamtlicher Überlieferung dernen Klassifi zierung (Müller-Jentsch) folgt und dar, die hohen Informationswert hat und viele den Migrantenverein oder Migrantenkulturverein praktische Vorteile birgt. Die übernommenen als Kategorie gar nicht kennt, dürft e die Zahl Unterlagen sind in der Regel verhältnismäßig gut migrantisch geprägter Kultur-, Sport-, Hilfs- oder strukturiert, Vereine verfügen über ein Min- Geselligkeitsvereine noch erheblich größer sein.7 destmaß an Verfasstheit und eine überpersonale Sozialwissenschaft liche Erkenntnisse und Lite- Organisation, in der geordnet kommuniziert ratur über Ausländervereine oder Migrantenvereine werden muss, in der Positionen formuliert und existieren, wenn auch nicht allzu reichhaltig, und Entscheidungen getroff en und dokumentiert erlauben eine Grundorientierung. Man fi ndet die werden müssen. Da sie immer Interessen und ersten nationalen Selbstorganisationen demnach Bedürfnisse ganzer Gruppen abbilden, darf man bereits bald nach Ankunft der ersten Arbeits- ihnen stets eine gewisse stadtgeschichtliche Rele- migranten. Bereits in den 1960er-Jahren wurden vanz zusprechen. sie ein gängiges Phänomen. In den 1970er-Jahren Die Zahl der Stuttgarter Vereine ist groß, das verfügte bereits jede größere Ausländergruppe Spektrum ist weit. Es reicht vom Radfahrverein über eigene Selbstorganisationen zur Entfaltung RV Stuttgardia über den Deutschen Naturkunde- ihres kulturellen, sozialen und politischen Willens8. verein bis zur Bürgerinitiative am Veielbrunnen – Zunächst ging es um Hilfestellungen für diese willkürliche Reihe ergibt sich aus den zuletzt Landsleute, um die Bewahrung und Pfl ege der

70

F-01.indd 70 10.04.2014 13:55:57 Vereinsüberlieferung als Zugang zur lokalen Migrationsgeschichte Jürgen Lotterer

heimischen Kultur, um soziale Dienstleistungen. tutionen oder binationalen Kulturvereinigungen, Mit der Ausbreitung der Vereine kann auch eine also der deutsch-griechischen, deutsch-türkischen Ausdiff erenzierung der Vereinszwecke beobach- oder deutsch-jugoslawischen Gesellschaft oder tet werden. Bereits in den 1970er-Jahren stößt auch mit dem italienischen Kulturinstitut. Weder man auf Vereine, die sich politisch verstanden, wurden einschlägige Migrantenvereine erkennbar und dies nicht nur mit Blick auf ihre Situation im Gegenstand einer regelmäßigen Aktenführung Gast- bzw. Aufnahmeland, sondern auch bezogen noch fi nden sich eigene Vereinsprovenienzen. auf die politische Situation in den Herkunft s- Es ist also eine deutliche Überlieferungslücke zu ländern, insbesondere in der Türkei und Grie- konstatieren, der im Sinne einer aktiven und diff e- chenland. Ebenso lassen sich Ausrichtungen im renzierten nichtamtlichen Überlieferungsbildung Sinne ausschließlicher Kulturpfl ege fi nden, oder begegnet werden muss. Das Stadtarchiv setzte da- es entstanden auf die besondere gesellschaft liche her gemeinsam mit dem Stuttgarter Stadtmuseum Situation bezogene Selbsthilfevereine, etwa die in das Projekt Sammlung und Erforschung städtischer ausländerspezifi schen Schulfragen engagierten Erinnerungskulturen am Beispiel der Stuttgarter 11 Elternvereine, welche insbesondere für Spanier Migrantenkulturvereine auf. Die Aufgabe wurde und Portugiesen eine wichtige Organisationsform einer stadtgeschichtlich bewährten und auch im wurden.9 Th ema bewanderten Historikerin übertragen und Kategorisierungsversuche fanden und fi nden im Rahmen eines über mehrere Monate angeleg- 12 sich verschiedentlich und sind zur Orientierung ten Werkvertrages bearbeitet. Die erhofft en Er- sicherlich willkommen, am Ende wird man jedoch gebnisse waren neben einer möglichst aussagekräf- immer der lokalen Situation Rechnung tragen tigen Schrift - und Bildüberlieferung zum Th ema und den einzelnen Verein in seiner individuellen sowie einer gegenständlichen Überlieferung im Ausprägung betrachten müssen.10 Interesse des künft igen Stuttgarter Stadtmuseums auch eine Sammlung von Interviews mit Ver- Migrantenkulturvereine in Stuttgart einsmitgliedern als Zeitzeugen der lokalen Mi gra- tionsgeschichte, die wiederum als digitale Objekte Welche Vielfalt an ethnischen bzw. Migrantenver- Bestandteil der digitalen Langzeitarchivierung einen in Stuttgart existiert, off enbart sich bereits beim Stadtarchiv Stuttgart werden sollen. bei einem Blick auf die städtische Internetseite Auf der Ebene der Vereinskontakte und poten- und die dort nachgewiesenen Kontaktdaten. Sucht tieller Vereinsüberlieferung ist – neben einer Fülle man dagegen nach einem entsprechenden Nieder- wertvoller Erfahrungen – folgendes vorläufi ge Er- schlag in den Beständen des Stadtarchivs, ergibt gebnis zu verzeichnen: Es wurden Kontaktaufnah- sich eine recht dünne Auswahl. Primär sind ver- men und Gespräche mit 16 Vereinen dokumen- streute amtliche Vorgänge erhalten, insbesondere tiert, davon entfi elen jedoch nur sechs hinsichtlich im zentralen Bestand Hauptaktei, der Rückgra- ihres ethnischen bzw. Nationalitätenbezuges tüberlieferung der Stuttgarter Stadtverwaltung seit auf die großen vier Einwandererländer Türkei, 1945. Es handelt sich vor allem um anlassbezogene Griechenland, Italien und das frühere Jugoslawien. Kommunikation mit einigen staatsnahen Insti- Zu konstatieren war außerdem ein insgesamt sehr

71

F-01.indd 71 10.04.2014 13:55:57 Jürgen Lotterer Vereinsüberlieferung als Zugang zur lokalen Migrationsgeschichte

hoher Kommunikationsaufwand, insbesondere Bereits die Skizzierung der Rahmenbedingun- dann, wenn über die erste Kontaktaufnahme hin- gen und Ergebnisse macht deutlich, dass ein streng aus greifb are Ergebnisse erzielt werden konnten. deduktives Vorgehen ausgehend von umfangrei- In vier Fällen erfolgte schließlich die Übernahme chen Vorgaben etwa im Sinne eines Dokumenta- von Unterlagen und die Bildung von Beständen: tionsprofi ls an der Wirklichkeit gescheitert wäre. 1. A.R.C.E.S. e. V. Associazione Recreativa Cul- Es ging darum, mit den vorhandenen begrenzten tura d‘Europa e Sport wurde als ältester italieni- Mitteln Chancen der Überlieferungsbildung zu su- scher Kulturverein 1966 in Stuttgart gegründet. chen und zu nutzen. Bei den kleinen Übernahmen Er war zunächst in Weilimdorf und ist seither in – nur wenige Ordner – der Ashanti-Union und Möhringen ansässig. Die Wurzel des Vereins, die des Arbeitskreises Lateinamerikanischer Vereine Fußballmannschaft I Corsari bestimmte über lange handelte es sich ausschließlich um Unterlagen aus Zeit dessen Hauptzweck, später kam eine breite der Gründungszeit dieser noch sehr jungen Verei- Palette kultureller Aktivitäten hinzu. nigungen. Der ebenfalls kleine Bestand des Circulo 2. Ashanti-Union of Ghana e. V. wurde 1995 in Argentino (15 Verzeichnungseinheiten) um- Stuttgart gegründet. Der Verein gibt als Ziel an, spannt immerhin die gesamte Wirkungszeit von die Integration der in Stuttgart und Umgebung le- inzwischen drei Jahrzehnten, auf die dieser Verein benden Angehörigen der Ashanti fördern zu wollen. zurückblicken kann. Man wird jedem dieser Be- Er betrachtet sich jedoch ebenso als Träger und stände grundsätzlich Archivwürdigkeit zusprechen Bewahrer einer ethnischen Identität der Ashanti, und ihnen gerade mit Blick auf die hohe Hetero- eines vor allem in der gleichnamigen Region genität der Stuttgarter Einwanderungsgesellschaft Ghanas beheimateten Volkes. Hinzu kommen eine hohe Relevanz zuschreiben. Mit Blick auf die praktische und soziale Leistungen sowie Beratung. großen migrationsgeschichtlichen Linien, die sich 3. Circulo Argentino de Baden-Württemberg in der Geschichte der Bundesrepublik wie auch e. V. – der Verein existiert seit 1984 und begann Stuttgarts ausmachen lassen, wird man dennoch als Anlauf- und Beratungsstelle für Argentinier in insbesondere dem Bestand des italienischen Ver- Deutschland. Bald setzte man sich auch die Ver- eins A.R.C.E.S. große Aufmerksamkeit zuwenden mittlung und das Bekanntmachen der argentini- dürfen, da er für eine auch quantitativ bedeutende schen Kultur zum Ziel und engagiert sich in jüngs- Gruppe von Einwanderern steht und einen Gutteil ter Zeit auch für soziale Projekte in Argentinien. deren zeitlicher Präsenz im Land umspannt. In der Erinnerungskultur des Vereins spielt auch Der Bestand A.R.C.E.S. e. V.13 der Aspekt einer wechselseitigen deutsch-argenti- nischen Mi gra tionsgeschichte eine wichtige Rolle. Äußerlich ist auch dieser Bestand nicht groß. Es 4. Arbeitskreis der Lateinamerikanischen Vereine handelt sich um circa einen Regalmeter mit je e. V. – es handelt sich um einen seit 1997 wirken- 36 Akten-Verzeichnungseinheiten und 36 Foto- den Dachverband lateinamerikanischer oder und AV-Einheiten. Die Unterlagen wurden dem lateinamerikanisch-deutscher Vereine. Bei diesen Archiv als Schenkung übergeben und werden wie stehen die Veranstaltungskultur und insbesondere sonstiges Archivgut behandelt. Nur die Hälft e der Tanz stark im Mittelpunkt der Aktivitäten. des Aktenmaterials ist frei benutzbar, ansonsten

72

F-01.indd 72 10.04.2014 13:55:57 Vereinsüberlieferung als Zugang zur lokalen Migrationsgeschichte Jürgen Lotterer

bestehen Sperrfristen, teils die 30jährige Sach- aktensperrfrist, teils personenbezogene Sperrfris- ten. Inhaltlich kann man, und dies drückt sich auch in der Klassifi kation aus, neben allgemeinen Vereinsangelegenheiten reiches Material zum Th ema Sport und hier vor allem zum Fußball, daneben aber auch zum in jüngerer Zeit sehr intensiv betriebenen Boccia erwarten. Weiterhin fi nden sich Bausachen und der Niederschlag eines reichen Kulturveranstaltungsbetriebs.14 Hinsichtlich der Sprache ist zu bemerken, dass die Hälft e des Schrift gutes ganz, überwiegend oder zumindest in weiten Teilen auf Italienisch verfasst wurde, während die restlichen Unterlagen teils mit italienischen Elementen durchsetzt oder rein deutschsprachig sind. Die Hälft e des Materials reicht in die Gründungszeit, die späten 1960er und die 1970er-Jahre zurück. Die allgemeinen Verwaltungsunterlagen dokumentieren zunächst wie bei jeder intakten Vereinsüberlieferung das tägliche Kleingeschäft der Vereinsarbeit: Konstituierung und Vor- standswahlen, Teilnehmerlisten, Schrift wechsel, Tätigkeitsberichte, Protokolle des Vorstandes und der Geschäft sleitung, Jahreshauptversammlung, Frauenversammlung – dies wohlgemerkt seit den Gründungsjahren und daher auch geeignet, eine längerfristige Entwicklung zu verfolgen. Ebenfalls bemerkenswert erscheint der vorhandene Schrift - verkehr mit dem italienischen Generalkonsulat. 1 | Informationen für und über Ausländer, März 1987.

Er enthält Unterstützungsgesuche, Veranstaltungs- Vorlage: Stadtarchiv Stuttgart, Bestand 1062 A.R.C.E.S. e. V. Stuttgart Nr. 6. berichte, Dankschreiben sowie Angelegenheiten diverser Ausländervertretungen und Unterstüt- zungskomitees. Es muss in diesem Zusammen- Die Unterlagen, die den Sportbetrieb im enge- hang betont werden, dass eine intakte Gegen- ren Sinn abbilden, unterscheiden sich in vielfacher überlieferung bei den zuständigen ausländischen Hinsicht nicht von dem, was man generell in einer Archiven durchaus keine Selbstverständlichkeit, in Sportvereinsüberlieferung erwarten kann. Sie jedem Fall jedoch schwer erreichbar ist. enthalten etwa die Behandlung von Platzfragen

73

F-01.indd 73 10.04.2014 13:55:57 Jürgen Lotterer Vereinsüberlieferung als Zugang zur lokalen Migrationsgeschichte

und Spielbetrieb, die Gründung einer Frauenfuß- aussagekräft ige Dokumente aus dem Umfeld von ballmannschaft oder auch Unterlagen zu Sport- Einwandererfamilien, vielleicht sogar Perso- gerichtsverfahren. Inhaltlich sind sie aber auch nen- oder Familiennachlässe etwa in Gestalt von unter dem Aspekt der Mi gra tionsgeschichte von Briefk onvoluten, Tagebüchern, kommentierten großem Interesse, zumal der Weg der sogenannten Alben oder Ähnlichem als die sehr viel selteneren Ausländermannschaft en, die zunächst in eigenen und schwerer zu bergenden Funde, auch wenn sie Ligen spielten, in die Mitte des DFB-Fußballs vereinzelt existieren mögen. durchaus steinig war. Von Interesse ist schließlich Weiterhin ist festzuhalten, dass sich die Auf- auch das vielfältige Material zur Kulturarbeit, gabe, die Überlieferungslücke im Bereich der das mit Programmen, Handzetteln, Plakaten und Mi gra tionsgeschichte zu schließen, nur bedingt Broschüren auch viel problemlos zugängliches, outsourcen lässt. Ein Werkvertrag oder sonstiges gedrucktes Material der jüngsten Zeit enthält. befristetes Projekt scheint nur ab einer sehr um- fangreichen Dimension eine sinnvolle Gesamt- Ergebnis und Ausblick lösung darzustellen. Im Stuttgarter Fall wirkte es lediglich als Startimpuls. Die ersten konkreten Er- Die Relevanz des Bestandes für die moderne fahrungen, die Kontaktaufnahme und Vermittlung Mi gra tionsgeschichte ist aus Sicht des Bearbei- des Anliegens nahmen bereits den größten Anteil ters eindeutig. Wirkungszeit des Vereins und der verfügbaren Sondermittel in Anspruch. Wenn Laufzeit des Bestandes umfassen einen Gutteil des man aber auch nichtamtliche Überlieferungsbil- für das Phänomen insgesamt relevanten Zeit- dung als kontinuierliche archivarische Kernauf- raums. Das Phänomen ist stets mit den Händen gabe auff asst, wird man sich der neuen Aufgabe greifb ar. Wie repräsentativ jedoch die Italiener, mit den dauerhaft vorhandenen Kräft en stellen die dem Benutzer in den Quellen des Vereins müssen. Sprachkenntnisse stellen hierbei aller- A.R.C.E.S. begegnen, für die italienische Bevöl- kerungsgruppe insgesamt sind, muss naturgemäß dings eine Voraussetzung dar, ohne die man kaum die Mi gra tionsforschung entscheiden. Die Vorteile auskommen wird. Zwar kann der Bearbeiter sich des Vereins als institutionelles Kontinuum lassen in einem gemischtsprachigen Vereinsbestand auch sich in der zeitlich weit gestreckten und zugleich an deutschen Bestandteilen orientieren, doch wird lückenlosen Überlieferung deutlich ablesen. Hier dies nur für eine grobe Erfassung und die Verwah- wirkte sich allerdings auch die Kontinuität in der rung für eine spätere, eingehendere Beschäft igung Vereinsführung in Gestalt eines über Jahrzehnte ausreichen. Zu bedenken ist beim Umgang mit hinweg amtierenden Vorsitzenden aus, dem fremdsprachigen Beständen nicht nur die Bearbei- letztlich auch die Übergabe der Unterlagen zu tung selbst, sondern auch die dauerhaft e Zugäng- verdanken war. Für die Einwerbung waren zwar lichmachung, die Verwaltung des Bestandes im eine besondere Initiative und damit verbunden defi nierten Rechtsraum des Lesesaals. Die in Rede vermehrter Aufwand nötig, andererseits traten stehenden Unterlagen bewegen sich recht nahe aber mit Blick auf das Ergebnis durchaus keine an der Gegenwart, auch wenn mit dem Verein unverhältnismäßig großen Probleme auf.15 Im selbst Einigkeit erzielt wurde, sind schutzwürdige Vergleich zu Vereinsüberlieferungen erscheinen Belange Dritter stets zu beachten.

74

F-01.indd 74 10.04.2014 13:55:58 Vereinsüberlieferung als Zugang zur lokalen Migrationsgeschichte Jürgen Lotterer

2 | Programm für ein Fußballturnier in Mannheim im Jahr 1974 in italienischer Sprache. Vorlage: Stadtarchiv Stuttgart, Bestand 1062A.R.C.E.S. e. V. Stuttgart Nr. 9.

Was schließlich die Gefahr einer einseitigen Perspektiven eröff net. Am Bestand A.R.C.E.S. ist Schwerpunktsetzung betrifft , so ist zu betonen, vieles interessant: Neben dem Aspekt Italiener dass stets auch der Bestand einer lokalen Institu- in Stuttgart zählen hierzu vielfältige sportge- tion archiviert wird, die mit ihrem Umfeld vielfäl- schichtliche Perspektiven, etwa zum Frauenfuß- tig agiert und entsprechend vielfältige inhaltliche ball oder zur Entwicklung des Bocciasports in

75

F-01.indd 75 10.04.2014 13:55:58 Jürgen Lotterer Vereinsüberlieferung als Zugang zur lokalen Migrationsgeschichte

3 | Plakat für ein internationales Fußballturnier in Stuttgart-Hausen im Jahr 1980. Vorlage: Stadtarchiv Stuttgart, Bestand 1062 A.R.C.E.S. e. V. Stuttgart Nr. 7.

76

F-01.indd 76 10.04.2014 13:55:59 Vereinsüberlieferung als Zugang zur lokalen Migrationsgeschichte Jürgen Lotterer

Deutschland – die Aktivitäten des Vereins auf und Dokumentation. Dokumentation zum Kolloquium vom 20. Juli 2010 im Stadtarchiv München. Hg. vom Stadtarchiv diesem Feld gipfelten in der Ausrichtung einer München. München 2010. S. 27–36. Europameisterschaft . Weiterhin werden von der 2 Kurt Leipner: Die stadtgeschichtlichen Sammlungen des Archivs Bildungsarbeit über das Veranstaltungswesen bis der Stadt Stuttgart. Stuttgart 1972. S. 5ff . 3 Zur Quellenkategorie Überrest Ahasver von Brandt: Werkzeug hin zum engagierten Laientheater vielfältige Th e- des Historikers. Stuttgart 101983, S. 56ff ; zur von Reinhard men des lokalen Kulturlebens berührt. Koselleck entwickelten geschichtstheoretischen Denkfi gur Die Arbeitsplanung auf dem Feld der Überlie- zusammenfassend Stefan Jordan: Vetorecht der Quellen, Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.02.2010. ferungsbildung zur Mi gra tionsgeschichte wird 4 Dies ist nicht als Geringschätzung von Zeitzeugengesprächen für das Stadtarchiv Stuttgart auch künft ig von den als historischer Quelle zu verstehen. Das Stadtarchiv Stuttgart beteiligt sich – z. B. als Mitinitiator stadtteilgeschichtlicher eigenen Kenntnissen und Ressourcen ausgehen, Projekte – selbst an der Sammlung von Gesprächen und also von der vorhandenen Arbeitskapazität, übernimmt diese im Rahmen seines Engagements zur digitalen den bestehenden Kontakten und der im Archiv Langzeitarchivierung in seine Bestände: Das Veielbrunnen- viertel. Der historische Teil des NeckarParks. Hg. von der vorhandenen oder anderweitig mobilisierbaren Landeshauptstadt Stuttgart u. a. Stuttgart 2012. – Stadtarchiv Sprachkompetenz. Damit wird sicherlich keine Stuttgart Bestand 1066 Bürgerini tiative am Veielbrunnen. adäquate Berücksichtigung sämtlicher in Stuttgart 5 Stadtarchiv Stuttgart Bestand 1058 Allgemeiner Bildungsverein. 6 Nadja Wittmann: Vereine und Vereinsstrukturen in Stuttgart nachweisbarer Ethnien und Einwanderungsgrup- 2011. In: Statistik und Informationsmanagement 10 (2011), pen im Sinne individueller Bestandsbildung mög- siehe http://www.stuttgart.de/item/show/305805/1/publ/20170 lich sein, wohl aber die Bildung einer exemplarisch (zuletzt abgerufen am 31.8.2013) 7 Walther Müller-Jentsch: Der Verein – ein blinder Fleck der aussagekräft igen Überlieferung. Beim Blick auf Organisationssoziologie. In: Berliner Journal für Soziologie 18 die Mi gra tionsgeschichte insgesamt ist schließlich (2008) H. 3, S. 476ff . 8 Gerhard Jahn und Faruk Sen: Ausländische Selbstorganisationen zu bedenken, dass diese ohnehin nur in überlo- in der Bundesrepublik Deutschland. In: Zeitschrift für Auslän- kaler Perspektive verständlich werden kann. Die derrecht 3 (1984) S. 136. Überlieferung lokaler Vereinsarchive an verschie- 9 Jahn/Sen, wie Anm. 8, S. 138. – Dietrich Th ränhardt: Spanische Einwanderer schaff en Bildungskapital. In: Selbsthilfe. Wie denen Orten mit naturgemäß unterschiedlichen Migranten Netzwerke knüpfen und soziales Kapital schaff en. Hg. Schwerpunkten trägt in ihrer Gesamtheit hierzu von Karin Weiss und Dietrich Th ränhardt. Freiburg 2005, S. 93ff . ebenso bei wie die Überlieferung einer einzelnen 10 Ulla-Kristina Schuleri-Hartje, Paul von Kodolitsch: Ausländische Arbeitnehmer und ihre Familien. Teil 5: Ethnische Verein. Berlin muttersprachlichen Gemeinde in einem Kirchen- 1989, S. 19ff . – Uwe Hunger: Ausländervereine in Deutschland: archiv oder eines von Ausländern gegründeten Eine Gesamterfassung auf der Basis des Bundesausländerver- einsregisters. In: Weiss/Th ränhardt, wie Anm. 9, S. 229ff . Unternehmens in einem Wirtschaft sarchiv. 11 Vgl. den Beitrag von Anja Dauschek in diesem Band. 12 Bearbeiterin war Dr. Caroline Gritschke (Haus der Geschichte Baden-Württemberg). Die zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse erfolgt auf Grundlage ihres unveröff entlichten Berichts „Sammlung und Erforschung städtischer Erinnerungs- kulturen am Beispiel der Stuttgarter Migrantenkulturvereine“. 13 Zum Verein und seinen Aktivitäten auch: Carola Rönneburg: Anmerkungen Grazie mille! Wie die Italiener unser Leben verschönert haben. Freiburg 2005, S. 46ff . 1 Beispielhaft sei das Stadtarchiv Nürnberg genannt: Michael 14 Stadtarchiv Stuttgart Bestand 1062A.R.C.E.S. e. V. Stuttgart. Diefenbacher: Das Forschungsprojekt «Migration» im Stadt- 15 Vgl. Hans-Christian Hermann: Erfahrungen des Stadtarchivs archiv Nürnberg: «Zuwanderung nach Nürnberg nach 1945 bis Saarbrücken mit Projekten zur Mi gra tionsgeschichte. In: Unsere heute». In: Migranten in München. Archivische Überlieferung Archive Nr. 57 (2013) S. 45 f.

77

F-01.indd 77 10.04.2014 13:56:00 Anja Dauschek „Meine Stadt – meine Geschichte“

Anja Dauschek „Meine Stadt – meine Geschichte“ Städtische Migra tionsgeschichte sammeln in einem Museum*

Es ist eine kleine Ausstellung. Es gibt keine großen alle3, bilden viele Museen noch nicht die seit Jahr- Kunstwerke darin. Sie erzählt Geschichten, wie wir zehnten existierende gesellschaft liche Vielfalt ab sie in unserer Nachbarschaft hören könnten, wenn – weder in ihren Ausstellungen und ihrem Publi- wir die Ohren aufsperrten. Wir sehen Gegenstände, kumsprofi l noch in den Sammlungen. Obwohl die die wir schon oft gesehen haben. Hier gleitet unser Museen in den 1980er-Jahren die Sozial- und All- Blick nicht über sie hinweg. Man hat sie hingelegt, tagsgeschichte entdeckten, waren die Geschichte damit wir uns mit ihnen beschäft igen, damit wir der Migration und die Geschichten der Migranten aufh ören, sie zu übersehen, und endlich beginnen, nicht Teil der Musealisierung des Popularen.4 Dies sie zu lesen.1 kann unter anderem damit erklärt werden, dass Arno Widmann beginnt seine Rezension die Sammlungen historischer Museen zumeist auf der Ausstellung Merhaba Stuttgart – oder die die nationale Geschichte und die nationale Idee Geschichte vom Simit und der Brezel, die anläss- des 19. Jahrhunderts bezogen sind – eine Tatsache, lich des 50. Jahrestages des Anwerbeabkommens die angesichts der Genese von Museumssammlun- zwischen Deutschland und der Türkei im Linden- gen nicht verwunderlich ist. Die gesellschaft lichen Museum Stuttgart2 gezeigt wurde, mit einer Veränderungen der Industrialisierung lösten Ende zentralen Beobachtung: Objekte, die Migra- des 19. Jahrhunderts einen ersten Museumsboom tionsgeschichten erzählen, sind oft unscheinbare aus. Museen entstanden als Orte der Bewahrung Alltagsobjekte, die erst durch die damit ver- und der Identitätsstift ung5 des Bildungsbür- bundenen persönlichen Geschichten Tiefe und gertums. Die Museen waren Rettung vor und Bedeutung erhalten. Sie sind meist klein und Notwehr gegen die Moderne und hatten dabei die haben oft keine Hingucker-Qualitäten. Dennoch Nation als klaren Bezugspunkt.6 Diese Einstellung dürfen wir sie nicht übersehen, andernfalls bleiben hat sich auch im 20. Jahrhundert nicht grund- wichtige Kapitel der Stadt- und Regionalgeschichte legend verändert – trotz des Postulats der Kultur Leerstellen in den Museen. für alle. Hans-Joachim Klein hat Museen nicht zu Trotz großer Modernisierungsleistungen im Unrecht – wenn auch nicht auf das Th ema Mi gra- 20. Jahrhundert, nicht zuletzt unter dem von tionsgeschichte bezogen – Züge eines ‚autopoeti- Hilmar Hoff mann formulierten Ziel Kultur für schen Systems‘7 attestiert.

78

F-01.indd 78 10.04.2014 13:56:00 „Meine Stadt – meine Geschichte“ Anja Dauschek

Besonders off ensichtlich wird dies in Stadt- Erinnerungen fehlt.10 Das Sammlungsprojekt museen als einer speziellen Form von Ge- DOMiD – Dokumentationszentrum und Museum schichtsmuseen. Obwohl Städte schon immer über die Migration in Deutschland e. V. leistet hier durch Zuwanderung geprägt waren – ob durch seit 1990 wichtige Arbeit, konnte allerdings das Binnenmigration vom Land im ausgehenden Ziel eines Museums bislang nicht realisieren.11 19. Jahrhundert oder durch die Anwerbung von Aber: Die Diskussion um das Th ema Migration im sog. Gastarbeitern nach 1955 – wird das Th ema Museum ist in Deutschland mit einem Memo- Mi gra tionsgeschichte meist nur am Rande gestreift randum des Deutschen Museumsbundes 2010 und oder, wenn überhaupt, in Sonderausstellungen der Gründung eines Arbeitskreises auf nationaler behandelt. Zwar stellte Gottfried Korff bereits 2005 Verbandsebene angekommen und auch die Jah- fest: ...[das] Ortsmuseum [kann] so dazu beitra- restagung des Deutschen Museumsbundes 2012 gen, die Gesellschaft als Gesellschaft im Wandel, hat die Einwanderungsgesellschaft in den Blick in Bewegung, in ständiger Transformation zu genommen.12 explizieren, als Gesellschaft , die durch Kulturen im In Stadtmuseen wuchs und wächst die Er- Plural und so durch dauernde Fremdheitserfahrun- kenntnis, dass es Handlungsbedarf in vielfacher gen, durch dauernde Kontakt- und Kontrasterfah- Hinsicht gibt. Die Zeit drängt, denn die materiel- rungen gekennzeichnet ist.8 Diese Programmatik len und auch die immateriellen Zeugnisse der setzten jedoch nur wenige Museen in ständigen Migration verschwinden, werden sie nicht – wie Ausstellungen um. Erwähnenswerte Ausnah- auch andere Objekte der Alltagskultur – zeitnah men sind das Historische Museum Frankfurt, das gesammelt. Für die erste Generation der Gast- ab 2004 die Dauerausstellung Von Fremden zu arbeiter werden die Geschichten und Dinge in Frankfurtern – Zuwanderung und Zusammen- Kürze verloren gehen – schon heute sind viele leben präsentierte9, und die semipermanente Rentner der ersten Generation in ihr Herkunft s- Ausstellung … ein jeder nach seiner Façon. 300 land zurückgekehrt oder haben die Dokumente Jahre Zuwanderung nach Friedrichshain-Kreuzberg ihres (Arbeits-)Lebens entsorgt. Angeregt durch (April 2005 – Oktober 2010) des Bezirksmuse- die Berliner Tagung Migration in Museums: ums Friedrichshain-Kreuzberg in Berlin. Eine in Narratives of Diversity in Europe, die vom 23. bis die Stadtgeschichte integrierte Geschichte der zum 25. Oktober 2008 vom Netzwerk Migration Migration erzählen nur sehr wenige Stadtmuseen in Europa e. V. in verschiedenen Berliner Museen – das Museum Neukölln ist dafür ein Beispiel. organisiert wurde13, entstand ein Arbeitsverbund Viele Stadtmuseen weisen in ihren Sammlungen von Stadt- und Regionalmuseen, der sich seit im Hinblick auf die Mi gra tionsgeschichte jedoch Mitte 2009 zu regelmäßigen Arbeitstagungen meist eine Leerstelle auf und sind für die Aufgabe, zum Th ema Migra tionsgeschichte trifft .14 Aus den die Geschichte der Einwanderungsgesellschaft zu Diskussionen dieses Arbeitsverbundes entstand dokumentieren, zu überliefern und auszustellen, die Idee, im Internet ein virtuelles Museumsdepot nur ungenügend gerüstet. Rainer Ohliger und Jan zur Mi gra tionsgeschichte der Städte anzulegen. Motte konstatierten zu Recht, dass es im Gedächt- Die Webseite sollte einen zentralen Ort schaff en, nis der Einwanderungsgesellschaft an geteilten wo lokal und regional gesammelte Objekte und die

79

F-01.indd 79 10.04.2014 13:56:01 Anja Dauschek „Meine Stadt – meine Geschichte“

damit verbundenen Lebensgeschichten sichtbar Weltkriegs; Auswanderung, Vertreibung und Exil werden. In der Diskussion mit Kolleginnen und verfolgter Minderheiten insbesondere der Juden Kollegen stellte sich heraus, dass viele Häuser be- unter dem NS-Regime in der Zwischenkriegszeit reits im Rahmen von Sonderausstellungsprojekten und während des Zweiten Weltkriegs; Flucht und zur jüngeren Mi gra tionsgeschichte, insbesondere Vertreibung Deutscher und deutscher Minder- zur Arbeitsmigration seit den 1950er-Jahren ge- heiten als Folge des Krieges und Arbeitsmigration sammelt hatten. Zudem wurde deutlich, dass auch in der Nachkriegszeit; Aussiedlung, Asyl und zu früheren Migrationen im 19. und 20. Jahrhun- Arbeitsmigration nach dem Fall des Eisernen dert durchaus Objekte vorhanden sind, die aber Vorhangs 1989/90. Die Sammlung aus der Zeit bei der Inventarisierung bislang noch nicht unter nach 1945 ist – wenig überraschend – bisher die dem Aspekt Migration betrachtet wurden. umfangreichste. Die neun Th emen, die die Sammlung struk- 1. www.migrationsgeschichte.de – Webseite und turieren, basieren auf dem Index SHIC – Social Sammlungsprojekte History and Industrial Classifi cation, der vom Das Ziel der Webseite, die Ende 2011 online ging, Hamburger Museum für Arbeit übersetzt und 15 ist es, ein Bewusstsein für die Bedeutung der Mi- aktualisiert wurde. Die Th emen sind – Kultur, gra tionsgeschichte zu wecken und eine städteüber- Sprache, Religion und Tradition –, – Politik und greifende Sammlungsstrategie zu entwickeln und Verwaltung –, – Organisationen, Gemeinschaft en umzusetzen. Im Mittelpunkt der Webseite steht und Vereine –, – Bildung –, – Arbeit –, – Freizeit eine Objektsammlung zur Migration, in der fast –, – Individuum, Familie, Generation –, – Wohnen jedes Objekt mit einer persönlichen Geschichte – und – Konsum –. Ein sozialhistorischer Ansatz- verbunden ist. Es bestehen Gliederungsmöglich- punkt erschien für den Aufb au einer Sammlung keiten nach acht Epochen und neun Th emen, zur Mi gra tionsgeschichte am besten geeignet. Da per Volltextsuche ist eine Suche nach Ländern, eine Online-Präsentation von Objekten anderen Orten oder Schlagworten vorgesehen. Die acht Voraussetzungen folgt als eine EDV-gestützte Epochen – Mittelalter, Frühe Neuzeit, das lange Inventarisierung, wurden einzelne Kategorien 19. Jahrhundert, Erster Weltkrieg, Zwischenkriegs- zusammengefasst. Zudem stehen die beschreiben- zeit, Zweiter Weltkrieg und die Zeitgeschichte von den Texte im Vordergrund. Durch eine Koopera- 1945 –1989 und ab 1989/90 – markieren nicht nur tion mit museum-digital16 wird es Museen einfach die wesentlichen historischen Abschnitte, sie er- gemacht, ihre Bestände zur Migra tionsgeschichte zählen auch jeweils andere Migra tionsgeschichten: ins Netz zu stellen.17 Um die Seite kontinuierlich Land-Stadt-Migrationen in die mittelalterlichen mit Objekten zu füllen, können sich interessierte Städte; die Flucht aus religiösen und politischen Museen als Redakteure freischalten lassen und Gründen und die trans atlantische oder binnen- ihre Objekte dann über die Eingabemaske von europäische Arbeits- und Siedlungsmigration museum-digital eingeben. Aber auch Privatper- der Frühen Neuzeit; die Massenmigrationen des sonen können ihre persönlichen Objekte zeigen langen 19. Jahrhunderts; Deportationen, Umsied- – sie müssen sich lediglich mit Informationen zu lungen und Mobilmachung während des Ersten ihrem Objekt an den Webmaster der Seite wenden.

80

F-01.indd 80 10.04.2014 13:56:01 „Meine Stadt – meine Geschichte“ Anja Dauschek

Diese Möglichkeit ist für viele Menschen mit die Chance, gerade die jüngere Stadtgeschichte Zuwanderungsgeschichte wichtig, denn sie wollen mit einem ständigen Blick auf die Migration zu die Dinge, die ihre – oft auch schmerzliche, wenn erzählen. Denn auch das zukünft ige Stuttgarter nicht gar traumatische – Mi gra tionserfahrung Publikum hat schon heute zu 40 Prozent einen erzählen (noch) nicht an ein Museum geben, sogenannten Migra tionshintergrund. Eine zen- sondern in Privatbesitz behalten. Ergänzt wird trale Zielgruppe des Museums sind Kinder und die Objektsammlung durch Lernmaterialien zum Jugendliche, die bereits mehrheitlich in Elternhäu- Th ema für Lehrer und Schüler sowie durch Aus- sern mit Zuwanderungsgeschichte aufwachsen. stellungsbeschreibungen und -hinweise. Gerade für sie ist es wichtig, dass das Museum die Ein wesentlicher Aspekt bei der Erstellung der Geschichte ihrer Eltern und Großeltern als Teil der Webseite war die Erprobung verschiedener Samm- Stadtgeschichte erzählt. lungsstrategien im Vorfeld. Das Pilotprojekt fand Seit Beginn der Museumsplanung wurden ver- in Stuttgart statt, wo das in Planung befi ndliche schiedene Wege erprobt, die Mi gra tionsgeschichte Stadtmuseum unter dem Slogan Meine Stadt – der Stadt zu sammeln und zu dokumentieren. Ziel meine Geschichte 2010 und 2011 verschiedene war und ist es, eine stadthistorische Sammlung Sammlungsaktionen durchführte. Der Titel Meine aufzubauen und Geschichte(n) zu erzählen, die Stadt – meine Geschichte zielte dabei bewusst nicht aus der Perspektive der Bürgerinnen und Bürger allein auf Bürger mit Mi gra tionshintergrund, mit Mi gra tionshintergrund bedeutsam sind. sondern wandte sich an alle Interessierten und Partizipation war und ist deshalb geboten. Samm- versuchte die Dichotomie von Wir und Sie zu lungsaktionen zur jüngeren Migrationgeschichte vermeiden. Die Entwicklung der Webseite und fanden in Zusammenarbeit mit Migrantenkultur- die damit verbundenen Sammlungsaktionen in vereinen statt, in der Stadtverwaltung selbst, für Stuttgart wurden durch die fi nanzielle Förderung und während Sonderausstellungsprojekten, im der Robert Bosch Stift ung möglich. Die verschie- Rahmen von Schulprojekten, in Sprach- und Ori- denen Sammlungsstrategien stehen im Fokus des entierungskursen sowie mit einem Sammelstand folgenden Berichtes. in öff entlichen Einrichtungen, bei Stadtfesten und in Firmen. Eingeschränkt waren die Aktivitäten 2. Migra tionsgeschichte im Stadtmuseum Stuttgart in Stuttgart dadurch, dass die Stadt bisher noch Das Stadtmuseum Stuttgart ist seit 2007 in Pla- kein Stadtmuseum hatte und daher die Museums- nung, die Eröff nung ist derzeit für 2017 vor- aktivitäten in Ermangelung einer Schausammlung gesehen. Die neue Institution hat es sich zum Ziel entsprechend erklärungsintensiv waren. gesetzt, die Mi gra tionsgeschichte der Stadt als einen integrierten Teil der Stadtgeschichte zu er- 3. Sammlungsstrategien zählen. Stuttgart wurde – ebenso wie andere Städte 3.1. Sammeln in der eigenen Sammlung – schon früh durch Aus- und Einwanderung geprägt, besonders jedoch durch die Einwande- Eine wichtige Sammlungsstrategie kann am Bei- rung in der zweiten Hälft e des 20. Jahrhunderts. spiel des Stadtmuseums Stuttgart nicht vertiefend Als neu zu gründendes Stadtmuseum besteht hier vorgestellt werden, dennoch ist sie grundlegend:

81

F-01.indd 81 10.04.2014 13:56:01 Anja Dauschek „Meine Stadt – meine Geschichte“

die Sichtung und Neubewertung der vorhande- licher, aber deutlicher Skepsis. Das zu gründende nen Sammlung unter dem Aspekt der Mi gra- Stadtmuseum wurde als städtisches Amt angese- tionsgeschichte. Wie interessant und ertragreich hen und damit als Teil einer Behördenstruktur, dieses Unterfangen sein kann, zeigte die Labor- mit der nicht nur positive Erfahrungen verbunden ausstellung Neuzugänge – Migra tionsgeschichten waren. Eine Vertrauensbasis zu schaff en und die in Berliner Sammlungen, die im Frühjahr 2011 Ernsthaft igkeit und Langfristigkeit des Museums- im Bezirksmuseum Friedrichshain-Kreuzberg zu projektes zu vermitteln, war grundlegend für sehen war.18 Beteiligt waren neben dem Bezirks- die Zusammenarbeit. Ein weiteres Projekt ohne museum das Stadtmuseum Berlin, das Museum dauerhaft e Perspektive hätte weder Zustimmung für Islamische Kunst Berlin, das Werkbundarchiv noch Unterstützung gefunden. In Kooperation mit – Museum der Dinge und das Forschungsprojekt dem Stuttgarter Stadtarchiv wurde eine Studie zur Experimentierfeld Museologie an der Technischen Geschichte der Migrantenkulturvereine beauft ragt, Universität Berlin. Die Museen zeigten Mi gra- die mehrere Ziele verfolgte. Zum Ersten sollte tionsobjekte aus ihren Beständen und ergänzten die Geschichte der wichtigsten Vereine dargelegt sie um aktuell Gesammeltes. Objekte aus den werden, zum Zweiten sollten lebensgeschichtliche Beständen wie eine Grundstein-Zeitkapsel der Interviews mit den Vorständen und anderen wich- Hugenotten und ein böhmischer Bierkrug erzähl- tigen Protagonisten geführt werden, zum Dritten ten von frühen Migrationen nach Berlin.19 Das sollte nach möglichen Objekten für die Museums- Sammeln in der eigenen Sammlung oder die Über- sammlung recherchiert werden und zum Vierten prüfung der Sammlung auf migrationshistorisch wurden die Vereine ermuntert, ihre Vereinsarchive 21 aussagekräft ige Objekte ist eine lohnende, wenn dem Stadtarchiv zu übergeben. auch aufwändige Arbeit. Es macht jedenfalls Sinn, Gemeinsam ist den Vereinen, so ein Ergebnis das Stichwort Migration in die (EDV-gestützte) der Studie, ihre Rolle als kulturelle Broker. Sie Inventarisierung aufzunehmen und neu zu inven- und ihre Mitglieder fungieren als Bindeglieder tarisierende Objekte nach migrationshistorischen zwischen den Kulturen der Herkunft s- und der Perspektiven zu befragen. Ankunft sgesellschaft , wobei sie sich mehrheitlich eindeutig auf die Ankunft sgesellschaft beziehen. Sie sind inter- und transkulturelle Akteure und 3.2. Migrantenkulturvereine als Quelle verstehen sich unabhängig von ihrer Gründungs- In Stuttgart haben sich über 250 Migrantenkultur- geschichte heute als Vorreiter in Sachen Integra- vereine etabliert, die im Forum der Kulturen eine tion. Die zeit- und betreuungsintensive Arbeit mit Dachorganisation haben.20 Über das Forum der den Vereinen schuf eine langfristige und stabile Kulturen, den Vorstand und die Zeitschrift Inter- Vertrauensbasis, die auch anderen Projekten des kultur wurden die Vereine bereits 2008 auf die Ak- Stadtmuseums zugute kam. Grundsätzlich waren tivitäten des Stadtmuseums aufmerksam gemacht die Vereine daran interessiert, ihre Bestände ins und zur Mitarbeit eingeladen. Die Reaktionen Archiv oder Museum zu geben. Die notwendige waren zunächst durchaus gemischt und reichten Zeit, Kontakte aufzubauen, zu vertiefen und zu von Begeisterung über Interesse bis hin zu freund- pfl egen, darf dabei nicht unterschätzt werden. Die

82

F-01.indd 82 10.04.2014 13:56:01 „Meine Stadt – meine Geschichte“ Anja Dauschek

Vereinsvorstände arbeiten ehrenamtlich, und Termine fanden daher meist am Abend statt. Die Grundlagen der Museums- und Archivarbeit mussten erklärt werden und ein Besuch der Institutionen – der Depots und Magazine – sowie die Präsentation eines Findbuchs waren dabei wesentliche und hilfreiche Maßnahmen. Zu beachten ist bei der Arbeit mit Migrantenkulturvereinen, dass die Ansprechpartner in den Vereinen größtenteils in der Öff entlichkeit bekannte Repräsentanten sind und die Perspektive der Vereine aufgrund ihrer Statuten meist national geprägt ist.

3.3. Jenseits des Archivs: Sammeln in der Stadtverwaltung Stadt- und Landesarchive sind eine wesentliche Quelle für das Th ema Mi gra- tionsgeschichte, doch die Quellenlage ist zu- mindest im Hinblick auf die Stadt Stuttgart und die Arbeitsmigration im 20. Jahrhundert nicht befriedigend. Zwar fi nden sich für die Zeit ab 1955 Protokolle zu politischen Entwicklungen – wie die Gründung des Ausländerbeirats oder des Internationalen Ausschusses –, Berichte, Statistiken sowie einzelne Dokumente, die von Alltagsproble- men berichten – wie zum Beispiel mehrspra- chige Patientenfi beln aus den städtischen Krankenhäusern, die ausländischen Patien- ten und dem Krankenhauspersonal einfache Übersetzungshilfen boten, oder Bade - verordnungen in verschiedenen Sprachen. Es fehlen jedoch persönliche Dokumente 1 | T-Shirt der Asylanten-Fußballmannschaft „Container Plieningen“. oder Vereinsarchive. Auch in Firmenarchi- Stuttgart-Plieningen, um 1990. ven – und dies gilt selbst für Global Player mit Vorlage und Aufnahme: Stadtmuseum Stuttgart, Inv.-Nr. S 2559.1

83

F-01.indd 83 10.04.2014 13:56:01 Anja Dauschek „Meine Stadt – meine Geschichte“

Sitz in Stuttgart wie Daimler oder Bosch – gibt es 3.4. Sammeln im öff entlichen Raum erstaunlicherweise nur wenige Dokumente oder Eine wesentliche Grundlage für die Erstellung der Abbildungen, die die Veränderungen der Unter- Webseite www.migrationsgeschichte.de waren nehmen durch die Arbeitsmigration belegen. Sammlungsaktionen im öff entlichen Raum. An- In Stuttgart ergab sich 2007 mit der Aufl ösung gesichts der Tatsache, dass in Migrantenvereinen des Büros der kommunalen Flüchtlingsbeauf- nur ein Teil der Bevölkerung mit Zuwanderungs- tragten im Sozialamt eine weitere Sammlungs- geschichte organisiert ist, erschien es wünschens- option. Neben der behördlichen Überlieferung wert, an zentralen öff entlichen Orten auf die fanden sich hier wie in anderen Dienststellen des Initiative zur Erarbeitung der städtischen Mi- Sozialamtes auch eine Reihe dreidimensionaler gra tionsgeschichte aufmerksam zu machen. Das Objekte. Dies waren zum Beispiel Fotoalben, die Heimatmuseum Reutlingen hatte 2009 mit einer von Flüchtlingen und Sozialarbeitern gemein- Sammelaktion in der Fußgängerzone Reutlingens sam angelegt worden waren, Protestbanner zur Vorbereitung der Sonderausstellung Aus- gegen Ausweisungen, Einrichtungsgegenstände packen: Dinge und Geschichten von Zuwanderern der Wohncontainer, in denen die Flüchtlinge sehr gute Erfahrungen gemacht. Hier diente ein untergebracht waren, oder auch die T-Shirts der ansprechend gestalteter Container als Eye-Catcher von Asylanten gegründeten Fußballmannschaf- und Ort für Interviews. Gesammelt werden konn- ten. Der Mannschaft sname Container Plieningen, ten in zehn Wochen rund 400 Objekte, Fotos und eines Fußballclubs aus dem Vorort Plieningen, Dokumente von 100 interessierten Bürgern.22 zeugt eindrucksvoll von einem durchaus selbst- In Stuttgart wurde an zwei Orten ein Samm- ironischen Umgang mit der sehr provisorischen lungsstand aufgestellt. Der erste Standort war das Wohnsituation. Es fand sich aber auch der Volkshochschulzentrum Treff punkt Rotebühlplatz, Prototyp einer Chip-Einkaufskarte des Stuttgarter wo der Stand im April 2011 eine Woche aufgebaut Modells, die Asylbewerbern den selbstbestimmten war. Inhaltlicher Anknüpfungspunkt war das Einkauf in normalen Supermärkten ermöglichte Länderfestival Türkei, das anlässlich des Jubiläums und das Problem fertig gepackter Lebensmittel- 50 Jahre Anwerbeabkommen zwischen Deutsch- pakete mit falschen oder unbeliebten Inhalten land und der Türkei stattfand. Ein zweites Mal löste. Die unerwartete Fülle an Objekten, die wurde der Stand für fünf Tage im Juli 2011 beim jenseits der amtlichen Überlieferung in den Bü- Sommerfestival der Kulturen auf dem Stuttgarter ros des Sozialamtes auft auchte, war überraschend Marktplatz präsentiert. Beide Male wurden Flyer und beeindruckend. Problematisch war die in mehreren Sprachen (deutsch, türkisch, russisch) Tatsache, dass bei vielen Objekten persönliche aufgelegt und Objekte als Anschauungsmaterial Zuschreibungen und Geschichten fehlten und dargeboten. In der Volkshochschule wurde mit auch nicht mehr recherchierbar waren. Einige den Besuchern auch ein Clickdummy der Webseite der Objekte, wie zum Beispiel die Fußball-Trikots www.migrationsgeschichte.de erprobt. In der und Pokale, erzählen dennoch eine anschauliche Volkshochschule konnte ein breites und eher mu- Geschichte. seumsfernes, aber sehr interessiertes Publikum an-

84

F-01.indd 84 10.04.2014 13:56:01 „Meine Stadt – meine Geschichte“ Anja Dauschek

2 | Der Sammlungsstand „Meine Stadt – meine Geschichte“ im Volkshochschulzentrum „Treff punkt Rotebühlplatz“. Aufnahme: Stadtmuseum Stuttgart

gesprochen werden, das zudem meist über relativ mit Zuwanderungsgeschichte. Bei beiden Anlässen viel Zeit verfügte. Es waren Mitglieder interkultu- ergaben sich interessante Kontakte, an die sich reller Seniorengruppen, die sich zu Erzählcafés tra- weiterführende Interviews anknüpfen ließen. fen, Lehrer und Teilnehmer von Sprach- und Inte- Anders als bei der Reutlinger Sammlungsaktion grationskursen und das allgemeine Kurs publikum. konnten ohne konkreten Ausstellungsanlass und Beim Sommerfestival war das Publikum deutlich die damit verbundene Motivation relativ wenige jünger, und viele Interessierte kamen aus Familien Objekte gesammelt werden.

85

F-01.indd 85 10.04.2014 13:56:01 Anja Dauschek „Meine Stadt – meine Geschichte“

3.5. Sammeln für Ausstellungen Fokussierung auf ein Th ema – in diesem Fall die ersten Jahre in einer neuen Heimat – bestimm- Sammelaktionen für konkrete Sonderausstel- ten jedoch in hohem Maße die Objektauswahl. lungsprojekte mit einem sichtbaren Ergebnis in Zunächst brachten die Interviewpartner Objekte, absehbarer Zeit stellten sich bisher als eff ektivste von denen sie dachten, dass sie vom Museum Form der Sammlung dar. Im Rahmen von explo- erwartet werden würden: Koff er, Pässe und andere rativen Interviews zu einem historischen Anlass typische Objekte der Migration. Im Laufe der off en oder zu einem spezifi schen Th ema erinnern sich geführten Gespräche kamen jedoch zunehmend die Gesprächspartner gut an Objekte, Dokumente auch andere Objekte in den Fokus – Gegenstände oder Fotos, die für ein Ereignis, einen Prozess oder des privaten religiösen Lebens, Sprachlern-Schall- eine Erinnerung besonders aussagekräft ig sind. platten oder auch Dokumente eines wilden Streiks. 2009 und 2010 führten wir im Rahmen der Die Ausstellung Liebe auf den zweiten Blick, die auf Vorbereitung einer Ausstellung zu den deutsch- Basis der Interviews entstand und im Stuttgar- griechischen und deutsch-spanischen Anwerbe- ter Rathaus gezeigt wurde, war selbst wiederum abkommen von 1960 rund 30 biografi sche Inter- Sammelanlass. views durch. Unsere Gesprächspartner waren Viele Interviewpartner hatten ihre Objekte griechisch- und spanischstämmige Stuttgar- zunächst nur als Leihgaben für die Sonderausstel- terinnen und Stuttgarter der ersten Gastarbei- lung zur Verfügung gestellt, denn die Erinnerung ter-Generation. Die Interviewpartner wurden auf an die eigene Migration war und ist mit vielen, unterschiedliche Weise gefunden: Während sich durchaus schwierigen Erinnerungen verbunden. die Griechische Gemeinde Stuttgart als zentraler Die Ausstellung als sichtbare Wertschätzung Verein der großen griechischstämmigen Bevölke- dieser Geschichte und als selbstverständlicher rungsgruppe als Ansprechpunkt hilfreich erwies Teil der Stadtgeschichte inspirierte viele Leih- und sich die Kontakte von dort aus im Schneeball- geber, ihre Erinnerungsstücke der Sammlung system weiterentwickelten, stellte sich die Situation des Stadtmuseums zu schenken. Aufgrund der bei den informell organisierten spanischstäm- Ausstellung konnten weitere Interviewpartner migen Stuttgartern ganz anders dar. Über eine gezielt angesprochen werden. Vor dem Interview Empfehlung entstand ein Kontakt zur zentralen wurden sie beim Rundgang durch die Ausstellung Figur des informellen Netzwerkes, und die ersten anhand der Präsentation angeregt, über eigene Treff en fanden dementsprechend in verschiedenen mögliche Objekte nachzudenken. Und anders als spanischen Lokalen statt. in der Zeit hektischer Ausstellungsvorbereitun- Vielen Interviewpartnern war der historische gen kurz vor Eröff nung konnten die Interviews Anlass nicht gegenwärtig, sie entwickelten jedoch während der Ausstellung mit größerer Gelas- im Laufe der Gespräche ein Bewusstsein für ihre senheit geführt werden. Dieser Vorteil wurde Geschichte und ihren Anteil an der Entwicklung jedoch durch den Nachteil geschmälert, dass die der Stadt. Individuelle Biografi en und Stadt- bereits laufende Ausstellung zu einer ähnlichen geschichte konnten im Kontext der Interviews Objektauswahl führte und weniger Anreize für in refl ektierter Weise verknüpft werden. Die Schenkungen bot.

86

F-01.indd 86 10.04.2014 13:56:02 „Meine Stadt – meine Geschichte“ Anja Dauschek

Das 50jährige Jubiläum des deutsch-türkischen chen Umfeld mögliche Gesprächspartner – ohne Anwerbeabkommens des Jahres 1961 bot 2011 die Vorgaben des Museums. Das konnte die eigene nächste Gelegenheit für eine Sonderausstellung. Großmutter sein, der türkische Kollege des Vaters, Merhaba Stuttgart oder die Geschichte vom Simit der Imam der örtlichen Moschee oder Freunde und der Brezel wurde vom Stadtmuseum Stuttgart von Freunden. So entstanden – sozusagen aus der in Zusammenarbeit mit dem Linden- Mitte der Gesellschaft – über 100 Interviews und Museum Stuttgart, einem staatlichen Museum sehr persönliche Einblicke in 50 Jahre deutsch-tür- für Völkerkunde, und dem Deutsch-Türkischen kische Stadtgeschichte. Die Kuratorinnen trugen Forum, einer deutsch-türkischen Bürgerinitiative, weitere Interviews und Recherchen bei und entwickelt. Hier waren ebenfalls Interviews die entwickelten gemeinsam mit den Schülern daraus Grundlage für die Wahl der Ausstellungsthemen die thematische Struktur der Ausstellung. Auch und bildeten den Anlass für das Sammeln von hier war die Ausstellung ein guter Sammelanlass Objekten. Der Weg zu den Interviewpartnern und und führte zu vielen unerwarteten Objekten der die Form der Gespräche gestalteten sich jedoch Mi gra tionsgeschichte, unter anderem einem acht wiederum anders, denn das türkisch geprägte Meter langen Brief eines Türken an seinen Cousin Stadtleben Stuttgarts ist extrem vielfältig und es in Deutschland. wäre nahezu unmöglich gewesen, diese Vielfalt entsprechend abzubilden. Konzeptionelles Ziel 3.6. Projekte in Klassenverbänden war es deshalb, die Ausstellung aus Sicht der dritten und vierten Generation von Stuttgartern Die gesellschaft liche Vielfalt in den Klassenver- mit Zuwanderungsgeschichte zu entwickeln. Um bänden städtischer Schulen macht die Zusammen- dieses Ziel zu realisieren, wurden Schulklassen als arbeit mit ihnen zu einem großen Gewinn für die Kooperationspartner angesprochen. Zwei Klassen, Arbeit zum Th ema Mi gra tionsgeschichte. Hier las- eine 7. Realschulklasse und ein Seminarkurs der sen sich Museumsarbeit und (inter- oder trans-) 12. Klasse eines Wirtschaft sgymnasiums, konnten kulturelle Bildungsarbeit in produktiver Weise dafür gewonnen werden. Gewinnbringend war verbinden. Denn die Frage, wie die Geschichte(n) dabei vor allem die Pluralität in den Klassen. Viele unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen in (aber nicht alle) Schülerinnen und Schüler kamen Museen dokumentiert und repräsentiert wer- aus einer Familie mit Zuwanderungsgeschichte, den, ist aufs Engste mit dem Museum als einem wobei die Herkunft sländer der Eltern, Großeltern Ort kultureller Bildungsarbeit verbunden. Eine und in einem Fall der Urgroßeltern vielfältig wa- Projektgruppe mit Schülern der 5. und 6. Klasse ren. Zudem führten die Schüler sehr persönliche einer Hauptschule in Stuttgart-Münster führte Gespräche, die vielleicht nicht allen Regeln der gemeinsam mit einer Museumspädagogin ein empirischen Sozialforschung entsprachen, aber Sammlungsprojekt gezielt für die Webseite sehr off en und interessiert gestaltet wurden. Die www.migrationsgeschichte.de durch. Nach einer Schüler wurden zunächst von den Kuratorinnen Einführung in das Th ema Mi gra tionsgeschichte in die Museumsarbeit und in Interviewtechniken und die Museumsarbeit – besonders wichtig war eingeführt und suchten dann in ihrem persönli- hier ein Besuch des Museumsdepots – begannen

87

F-01.indd 87 10.04.2014 13:56:03 Anja Dauschek „Meine Stadt – meine Geschichte“

die Schülerinnen und Schüler in ihren eigenen gart zog. Jetzt hängt das Besteck als Erinnerungs- Familien und in der Nachbarschaft nach Objekten stück im Wohnzimmer. Für die jungen Sammler und Geschichten zu suchen. Unter den gefunde- war es eine große Herausforderung, Objekte zu nen Objekte fand sich ein geschnitztes Besteck, suchen. Noch größer war allerdings für die das der Großvater in zu bearbeiten 10- bis 12-Jährigen die Herausforderung, Texte zu begonnen hatte, der Vater mit in die DDR nahm den Objekten zu schreiben. Deshalb wurden die und dort fertigstellte, bevor er von dort nach Stutt- Geschichten in Form von Audioclips dokumen-

3 | Mi gra tionsgeschichte in einem Sprach- und Integrationskurs. Aufnahme: Stadtmuseum Stuttgart

88

F-01.indd 88 10.04.2014 13:56:03 „Meine Stadt – meine Geschichte“ Anja Dauschek

tiert, die jetzt zusammen mit den Objekten online legenden Paradigmenwechsel23. Zwei wesentliche präsentiert werden. Konstanten der Museumsarbeit – der traditionell Ein dritter Lernzusammenhang, der als Dis- nationale Bezugsrahmen und der Fokus auf einen kussions- und Sammlungsort genutzt wurde, Ort, eine Stadt oder eine Region – verlieren mit waren Integrations- und Sprachkurse. Das und unter der Perspektive der Migration ihre Re- Stadtmuseum stellte eine Lerneinheit zur lokalen levanz, denn der Alltag der Stadtbewohner ist seit Mi gra tionsgeschichte zusammen und bot diese Jahrzehnten polylokal und transkulturell geprägt. verschiedenen Kursveranstaltern an. Das Angebot Viele Menschen haben mehr als eine Heimat, wurde im Rahmen der Stundenkontingente zu sind sozusagen zweiheimisch oder dreiheimisch kulturellen Th emen gerne angenommen. Als Teil und pendeln zwischen Ländern und Sprachen: des Programms wurden die Teilnehmer gebe- Lebensformen enden nicht mehr an den Grenzen ten, persönliche Objekte mitzubringen. Da in der Nationalkulturen, sondern überschreiten diese Sprachkursen Teilnehmer aus unterschiedlichsten und fi nden sich ebenso in anderen Kulturen – so Herkunft sländern und verschiedenen Generatio- beschreibt Wolfgang Welsch das Konzept der nen zusammenkommen, waren die Th emen und Transkulturalität.24 Dabei gilt diese Beschreibung Diskussionen rund um die Objekte immer wieder nicht nur für Menschen mit einem sogenannten andere und ermöglichten einerseits Zugang zu Mi gra tionshintergrund, sondern ebenso für die Minderheiten und andererseits zu unterschied- Mehrheitsbevölkerung. Sich dies immer wieder ins lichsten Th emen. Sollen aus diesem Kontext inter- Gedächtnis zu rufen ist entscheidend, um nicht in essante Objekte und Geschichten für das Museum der Dokumentation von Objekten zur Migra- gesammelt werden, ist allerdings eine Nachberei- tion implizit die Dichotomie von Wir und Sie tung mit längeren Einzelinterviews notwendig. fortzuführen oder gar eine einseitige Integrations- Festzuhalten ist, dass gerade in den Sprachkur- geschichte zu schreiben. Es muss gerade in einem sen vielfach hochsensible Th emen zur Sprache ortsbezogenen Museum immer darum gehen, die kamen. Dies betraf vor allem Dokumente, die von Veränderung des Ortes durch die Menschen – egal deutschen Behörden aufgrund von Sprachschwie- woher sie kommen – zu dokumentieren und nach- rigkeiten und Unkenntnis der Namensgebung vollziehbar zu machen. Dies ist eine anspruchs- in anderen Kulturen falsch ausgestellt wurden. volle Aufgabe, die historisch arbeitende Museen an Dieses häufi g anzutreff ende Phänomen zeigt zwar die Grenzen ihrer bisherigen Präsentationsformen interessante Aspekte der Migra tionsgeschichte auf, bringen kann.25 kann jedoch mit Blick auf den Datenschutz der Über das Rüstzeug für die Sammlung von jeweiligen Gesprächspartner nicht in jedem Fall Mi gra tionsgeschichten verfügen die meisten Eingang ins Museum fi nden. Stadtmuseen aufgrund ihrer Erfahrung mit der Sammlung von Sozial- und Alltagsgeschichten. 4. Migra tionsgeschichte sammeln Die Grundlage der Dokumentation sind die Die museale Dokumentation der Mi gra tions- Geschichten der Menschen und ihre subjektiven geschichte konfrontiert Stadt- und Regional- Erinnerungen. Das Eingehen auf die Akteure, ihre museen, so Bernhard Tschofen, mit einem grund- erlebten Handlungsspielräume und durchlebten

89

F-01.indd 89 10.04.2014 13:56:03 Anja Dauschek „Meine Stadt – meine Geschichte“

Konfl ikte kann auch, so Bernhard Tschofen, vor sonen mit entsprechenden Sprachkompetenzen, einer hegemonialen Folklorisierung der Migran- aber vor allem auch kulturelle Übersetzer zur tinnen und Migranten26 schützen. Dennoch ist Unterstützung einzubeziehen. Zum einen ver- eine Refl exion der eigenen Haltung wesentliche einfachen Sprachkenntnisse den Zugang zu den Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit Menschen, zum anderen sind sie unabdingbar, Mi gra tionsgeschichte. Darüber hinaus sind bei um manche Objekte einfach auch nur lesen zu der Sammlung von Dingen und Erzählungen können. Ebenso wichtig sind Kenntnisse der der Migration unserer Erfahrung nach folgende jeweiligen Geschichte des Herkunft slandes und Aspekte wesentlich: Wissen über die aktuelle politische Situation. • Es muss Basisarbeit geleistet werden. Historische Museen brauchen entweder Personal mit ent- Museen sind kein Ort, mit dem sich Bürger sprechendem Hintergrundwissen oder aber mit Mi gra tionshintergrund identifi zieren, denn verlässliche Auskunft spersonen, um Interview- bislang fi nden sie sich und ihre Geschichten partnern sinnvolle Fragen stellen zu können und dort nicht wieder. Die Relevanz der Institu- um Objekte in die jeweiligen Kontexte einord- tion Museum und der Museumsarbeit müssen nen zu können. Andernfalls ergeht es einem wie nachvollziehbar erklärt werden, ebenso wie die dem schwäbischen Metzger, der – für seine Zeit historische Bedeutung der persönlichen Mi- fortschrittlich – in den 1960er-Jahren schweine- gra tionserfahrung. Historische Jahrestage von fl eischfreie Wurstwaren anbot. Er warb für sein Anwerbeabkommen und damit verbundene Angebot mit einem Plakat, das seine Tochter Ausstellungen sind gute Anlässe, um die Be- in einem türkischen Kostüm zeigte. Dass das deutung von Stadtgeschichte insgesamt und die Kleidungsstück ein Beschneidungskostüm für Bedeutung der eigenen Lebensgeschichte als Teil Jungen war, hatte ihm niemand gesagt. In der dieser Geschichte zu verdeutlichen. eingangs zitierten Ausstellung Merhaba Stuttgart •Eine verbindliche Vertrauensbasis mit den Communities ist die Grundlage der Arbeit. Dies war es ein ausdrucksstarkes Objekt. bedeutet intensive Kontaktpfl ege durch feste • Die anspruchsvollste Aufgabe besteht darin, Ansprechpartner im Museum, das heißt, es das richtige Verhältnis von Partizipation und braucht einen Kurator für Mi gra tionsgeschichte Professionalität zu fi nden. Auf der einen Seite oder einen Community Offi cer27, wie ihn man- sind Museen bei der Dokumentation der Mi- che britische Museen bereits haben. Gerade gra tionsgeschichte auf Einzelpersonen, Vereine dieser sensible Th emenbereich sollte nicht von und Organisationen angewiesen. Ohne die externen Werkvertragsnehmern oder zeitlich Menschen und ihre Erfahrungen können sie befristetem Personal übernommen werden. Der die Geschichte nicht erzählen. Auf der anderen Personalaufwand für die Auseinandersetzung Seite liegt die Aufgabe des Kuratierens bei den mit dem Th ema ist nicht zu unterschätzen und Museumsmitarbeitern. Selbstrefl exion und ein es braucht ein Commitment der Institution. kontinuierliches Hinterfragen des eigenen Tuns •Es bedarf zusätzlicher Kompetenzen. Es ist sollten immer Teil der professionellen Grund- sinnvoll und manchmal sogar unabdingbar, je haltung sein – in Bezug auf das Th ema Mi gra- nach Herkunft sland der Interviewpartner Per- tionsgeschichte ist diese Haltung fundamental.

90

F-01.indd 90 10.04.2014 13:56:03 „Meine Stadt – meine Geschichte“ Anja Dauschek

Stadtgeschichte unter dem Blickwinkel der Mi- Anmerkungen gra tionsgeschichte zu erzählen, erfordert einen fri- * Überarbeitete Version des Artikels: Meine Stadt – meine schen Blick auf die Stadt, aber auch über die Stadt Geschichte. Ein Werkstattbericht zur Sammlung städtischer hinaus, originäre Forschung und neue Samm- Mi gra tionsgeschichte. In: Museum und Migration. Konzepte – lungsstrategien. Was wir heute als sammlungswür- Kontexte – Kontroversen. Hg. von Regina Wonisch und Th omas Hübel. Bielefeld 2012. dig betrachten, wird in einigen Jahrzehnten die 1 Arno Widmann: Der andere weite Weg nach Westen. In: Geschichte, das kulturelle Gedächtnis sein. Wir Frankfurter Rundschau, Sonderbeilage Museen vom 18./19. Juni 2011, S. 1617, hier S. 16. müssen uns also heute fragen: Wessen Gedächtnis 2 Merhaba Stuttgart im Linden-Museum, Stuttgart wird es sein? 05.06.–18.12.2011. Ein Kooperationsprojekt des Linden- Museums Stuttgart mit dem Stadtmuseum Stuttgart und dem Deutsch-Türkischen Forum Stuttgart. 3 Hilmar Hoff mann: Kultur für alle. Frankfurt a. M. 1979. 4 Gottfried Korff : Die Popularisierung des Musealen und die Musealisierung des Popularen. In: Museum als soziales Gedächtnis? (Klagenfurter Beiträge zur bildungswissenschaft - lichen Forschung, Bd. 19). Hg. von Gottfried Fliedl. Klagenfurt 1988, S. 923. 5 Hermann Lübbe: Der Fortschritt und das Museum. Über den Grund unseres Vergnügens an historischen Gegenständen. London 1982, S. 7. 6 Odo Marquard: Wegwerfgesellschaft und Bewahrungskultur. In: Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800. Hg. von Andreas Grote. (Berliner Schrift en zur Museumskunde 10). Opladen 1994, S. 909–920, hier S. 917. 7 Hans-Joachim Klein: Zur Einführung. In: Vom Präsentieren zum Vermitteln. Hg. von dems. (Karlsruher Schrift en zur Besucherforschung 5). Karlsruhe 1994, S. 11– 22, hier S. 11. 8 Gottfried Korff : Fragen zur Mi gra tionsmusealisierung. In: Migration und Museum. Neue Ansätze in der Museumspraxis. Hg. von Henrike Hampe. Münster 2005, S. 516, hier S. 13. 9 Das Historische Museum Frankfurt wird komplett neu konzi- piert und umgebaut, so dass alle Ausstellungen 2011 geschlossen wurden. 10 Jan Motte und Rainer Ohliger: Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft . Einführende Betrachtungen. In: Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft . Hg. von dens. Essen 2004, S. 7–16, hier S. 13. 11 http://www.domid.org (zuletzt abgerufen am 11.9.2013). 12 Alle Welt im Museum. Jahrestagung des Deutschen Museums- bundes, 6.–9. Mai 2012 in Stuttgart . 13 http://www.migrants-moving-history.org (zuletzt abgerufen am 30.8.2013). 14 Zur ersten Arbeitstagung Stadt – Migration – Museum luden das LWL-Industriemuseum Westfalen-Lippe, das Netzwerk Migration in Europa e. V. und das Stadtmuseum Stuttgart im Juni 2009 nach Dortmund ein. Die Folgetagung Stadtmuseen in der Einwanderungsgesellschaft : Sammlungs strategien konzipieren und umsetzen fand im April 2010 auf Einladung

91

F-01.indd 91 10.04.2014 13:56:03 Anja Dauschek „Meine Stadt – meine Geschichte“

des Stadtmuseum Stuttgart in Stuttgart statt. Mitorganisatoren München 2009. – http://crossingmunich.org/ (zuletzt abgerufen waren das LWL-Industriemuseum und das Netzwerk Migration am 11.9.2013). in Europa e. V. Das dritte Treff en wurde vom Bezirksmuseum 26 Tschofen, Auspacken, wie Anm. 22, S. 224. Friedrichshain-Kreuzberg unter dem Titel Stadt – Museum – 27 Vgl. u.a. die National Museums of Liverpool, zu denen das 2011 Migration: Mi gra tionsgeschichte sammeln und ausstellen vom eröff nete Liverpool Museum gehört: http://www.liverpool- 27.2. bis 1.3.2011 in Berlin ausgerichtet. museums.org.uk/learning/community/ (zuletzt abgerufen am 15 Social History and Industrial Classifi cation – SHIC. Sozial- 11.9.2013). geschichtliche und industrielle Klassifi kation. Eine thematische Klassifi kation für Museumssammlungen. Hg. vom Museum der Arbeit. Band 1: Die Klassifi kation. Veröff entlicht für die SHIC Working Party vom Centre for English Cultural Tradition and Language, University of Sheffi eld, 1983. Zweite, übersetzte und bearbeitete Aufl age einschließlich der Revision 2.1 vom Juni 1996. Hamburg: Museum der Arbeit 1999. 16 http://www.museum-digital.de 17 Ein herzlicher Dank geht hier an Stefan Rohde-Enslin in Berlin, der museum-digital betreibt. 18 Lorraine Bluche, Christine Gerbich, Susan Kamel, Susanne Lanwerd und Frauke Miera (Hg.): NeuZugänge. Museen, Sammlungen und Migration. Eine Laborausstellung. Bielefeld 2013. 19 http://www.kreuzbergmuseum.de/index.php?id = 230. – http://www.lwl.org/LWL/Kultur/wim/portal/S/hannover/ort/ migration/exponat/ausstellungen/sonderausstellungen/2011/ NeuZugaenge (abgerufen am 30.8.2013). 20 http://www.forum-der-kulturen.de (zuletzt abgerufen am 11.9.2013). 21 Caroline Gritschke: Sammlung und Erforschung städtischer Erinnerungskulturen am Beispiel der Stuttgarter Migranten- kulturvereine. Unveröff entlichtes Manuskript im Auft rag des Stadtmuseums Stuttgart und des Stadtarchivs Stuttgart. Stuttgart 2010. 22 Auspacken. Dinge und Geschichten von Zuwanderern. Eine Dokumentation zur Reutlinger Mi gra tionsgeschichte. Hg. vom Stadtarchiv beim Kulturamt der Stadt Reutlingen. Reutlingen 2010, S. 10. 23 Bernhard Tschofen: ‚Auspacken‘ – ein Projekt der Stadt Reutlin- gen im Kontext der Diskussion um Migration und Museum. In: Auspacken, wie Anm. 22, S. 219. 24 Wolfgang Welsch: Transkulturalität. Zur veränderten Verfasstheit heutiger Kulturen. In: Zeitschrift für Kulturaustausch 45 (1995), S. 1; auch Ders.: Transkulturalität. Lebensformen nach Aufl ösung der Kulturen. In: Kurt Luger und Rudi Renger (Hg.): Dialog der Kulturen. Die multikulturelle Gesellschaft und die Medien. Wien/St. Johann im Pongau 1994, S. 147–169. 25 So zeigte das Ausstellungsprojekt Crossing Munich 2009 die Perspektive der Migration am Beispiel der Großstadt München vor allem mit künstlerischen Mitteln. Vgl. Natalie Bayer, Andrea Engl, Sabine Hess und Johannes Moser (Hg.): Crossing Munich. Beiträge zur Migration aus Kunst, Wissenschaft und Aktivismus.

92

F-01.indd 92 10.04.2014 13:56:03 F-01.indd 93 10.04.2014 13:56:03 Die Autorinnen und Autoren

Dr. Anja Dauschek Dr. Jürgen Lotterer Seit 2007 Leiterin des Planungsstabes des im Auf- Archivar und Historiker, seit 2005 am Stadtarchiv bau befi ndlichen Stadtmuseums Stuttgart. Studium Stuttgart. Studium der Geschichte in Bochum. der Sozialwissenschaft en an der Ludwig-Maximi- Promotion ebd. zur Gegenreformation im lians-Universität München und Museum Studies Hochstift Paderborn. Arbeitsschwerpunkte u. a. an der George Washington University, Washing- Vereins überlieferung und Geschichte des Sports. ton D.C. Promotion im Fach Volkskunde an der Universität Hamburg, Ausbildung als Moderatorin Dr. habil. Gerhard Melinz und Organisationsentwicklerin. 2000–2006 Bera- Studium der Geschichte und Politikwissenschaft in terin bei der Museumsberatung LORD Cultural Graz und Wien, ebendort Promotion und Habili- Resources. Mitglied im Vorstand des Museums- tation. Postgraduate Diplom in Politikwissenschaf- verbands Baden-Württemberg. Lehrauft rag für ten. Privatdozent am Institut für Wirtschaft s- und Museumsmanagement an der Freien Universität Sozialgeschichte der Universität Wien. Lehrtätig- Berlin. keiten in der Vergangenheit an den Universitäten Linz, Tampere und aktuell in Wien. Forschungs- Dr. Roland Deigendesch schwerpunkte (Vergleichende) Stadtgeschichte, Leiter des Stadtarchivs Reutlingen seit 2012. Zeitgeschichte, Geschichte und Gegenwart von Studium der Geschichte und Germanistik in Tü- Sozialpolitik und Sozialarbeit, Jugend und Kind- bingen, Marburg und Wien, 1990-2008 Stadtarchi- heit, Arbeitsmarkt. Des Weiteren Lehrtätigkeit an var in Münsingen, 2008-2012 in Kirchheim unter der Fachhochschule FH Campus Wien/Soziale Teck. Arbeit. Mitbegründer der Alternativen Türkeihilfe Österreich (1981) und eines Beratungszentrums Dr. Sandra Kostner für Migranten und Migrantinnen in Wien (1983). Seit 2010 Geschäft sführerin des Masterstudien- gangs Interkulturalität und Integration an der Dr. Daniel Peter Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd. Ausbildung als Historiker, Archivar und Kauf- Studium der Geschichte und Soziologie in Stutt- mann. Tätigkeit als Archivar in Straßburg und gart und Sydney. Interessenschwerpunkte sind Neukaledonien, seit 2006 Direktor des Stadtar- Diversitäts orientierung von Organisationen und chivs Nancy. auch vergleichenden Migrationsforschung unter besonderem Augenmerk auf Australien.

F-01.indd 94 10.04.2014 13:56:03 Nasrin Saef Dr. Michael Stephan Mitarbeiterin des Vereins DOMiD in Köln, verant- Seit 2008 Leiter des Stadtarchivs München. Stu- wortlich die die Entwicklung eines Dokumenta- dium der Geschichte, Sozialkunde und Germa- tionsprofi ls Migration. 2009 bis 2012 Ausbildung nistik an der Ludwig-Maximilians-Universität in zur Diplom-Archivarin (FH) im Hessischen München. Nach der Ausbildung zum höheren Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, derzeit Studium der Archivdienst an der Bayerischen Archivschule Informationsverarbeitung für digitale Geisteswis- 1997-2008 Tätigkeiten am Bayerischen Haupt- senschaft en an der Universität Köln. staatsarchiv, dem Staatsarchiv München und bei der Generaldirektion der Staatlichen Archive Dr. Bettina Severin-Barboutie Bayerns. Leiter des Unterausschusses Überliefe- Seit 2007 wissenschaft liche Mitarbeiterin am rungsbildung bei der Bundeskonferenz der Kom- Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte munalarchivare, Vorsitzender des Arbeitskreises der Universität Gießen. Studium der Geschichte, Stadtarchive beim Bayerischen Städtetag sowie Fachjournalistik Geschichte, Russisch und Phi- Geschäft sführender Vorstand der Arbeitsgemein- losophie in Gießen und Bordeaux. Mitarbeit an schaft bayerischer Kommunalarchivare. einem Editionsprojekt des Hessischen Landtages, Lehrauft räge in Frankreich und Deutschland. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Historische Komparatistik, Trans- fer- und Verfl echtungsgeschichte, Stadtgeschichte sowie Historische Migrationsforschung. Derzeit Habilitation mit einer Studie über Migrationspro- zesse nach 1945 in Stuttgart und Lyon.

F-01.indd 95 10.04.2014 13:56:03 F-01.indd 96 10.04.2014 13:56:03