OLDENBOURG MGZ 74/1–2 (2015): 1–26

Aufsatz

Reiner Pommerin Bundesstaaten und Reichsleitung

Zur Entstehung deutscher Kriegsziele 1914

DOI 10.1515/mgzs-2015-0001

Zusammenfassung: Fritz Fischer hat in seinen Schriften die am 9. September 1914 im Großen Hauptquartier in Koblenz angefertigte »Vorläufige Aufzeichnung über die Richtlinien unserer Politik beim Friedensschluss« plakativ als »September- programm« Bethmann Hollwegs bezeichnet und dem Reichskanzler bereits län- gere Zeit festliegende und von verschiedenen Interessengruppen beeinflusste Kriegsziele unterstellt. Tatsächlich trugen bereits im August 1914 Bundesfürsten wie König Lud- wig III. von Bayern oder König Wilhelm II. von Württemberg im Großen Haupt- quartier in Koblenz Kriegsziele vor, die ihren Niederschlag in der Aufzeichnung fanden. Im Verlauf des Krieges brachten weitere Bundesfürsten ihre Kriegsziele bei der Reichsleitung vor, galt es doch eine eventuelle Vergrößerung ihrer Territo- rien im Sinne ihrer Dynastien rechtzeitig abzusichern. Bei allen Bekundungen zur Nation spiegelte sich hier der – durchaus bis heute spürbare – »sacro egoismo«, der Einzelterritorien des Deutschen Bundesstaates.

Schlüsselwörter: Kriegsziele 1914, Bundesstaaten, Reichsleitung, Landesfürsten, Dynastiewahrung

Bei der Rückschau auf den Ersten Weltkrieg wird vom Deutschen Reich häufig das Bild eines zentral von Kaiser und Reichskanzler geführten Nationalstaats gezeichnet. Dabei handelte es sich um einen Bundesstaat, dessen Verfassung auf der nur geringfügig erweiterten Verfassung des Norddeutschen Bundes basierte, deren Geltungsbereich im April 1871 auf die süddeutschen Staaten Baden, Bay- ern, Hessen und Württemberg ausgedehnt worden war. Den bundesstaatlichen Charakter des Nationalstaats hatte schon das Ringen um den vom künftigen Kaiser zu tragenden Titel unterstrichen; denn während Preußens König Wil- helm I. gern »Kaiser von Deutschland« genannt werden wollte, setzten die auf den Erhalt ihrer Partikularstaatlichkeit und Territorialhoheit bedachten Landes-

˗ Kontakt: Reiner Pommerin, Dresden, E Mail: [email protected]

MGZ, © 2015 ZMSBw, Potsdam. Publiziert von De Gruyter 2 Reiner Pommerin OLDENBOURG fürsten statt dessen den Titel »Deutscher Kaiser« durch1. Generell lässt sich sagen, dass das Selbstgefühl der Bürger des Deutschen Kaiserreichs bis zu seinem Ende zwar durchaus vom nationalen Gedanken getragen, aber immer noch sehr stark von der föderalen, bundesstaatlichen Struktur und Kultur bestimmt wurde. Artikel 11 der Reichsverfassung lautete:

»Das Präsidium des Bundes steht dem Könige von Preußen zu, welcher den Namen Deut- scher Kaiser führt. Der Kaiser hat das Reich völkerrechtlich zu vertreten, im Namen des Reichs Krieg zu erklären, Frieden zu schließen, Bündnisse und andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen, Gesandte zu beglaubigen und zu empfangen. Zur Erklärung des Krieges im Namen des Reichs ist die Zustimmung des Bundesrates erforderlich, es sei denn, dass ein Angriff auf das Bundesgebiet oder dessen Küsten erfolgt2.«

Für die Kriegserklärung an Russland erhielt Kaiser Wilhelm II. am 1. August 1914 im Bundesrat die Zustimmung der Bevollmächtigten der Bundesfürsten ohne Diskussion3. Der Bundesratsausschuss für die auswärtigen Angelegenheiten hatte zuvor nicht getagt4. Der Abschluss eines Friedensvertrages hätte ebenfalls der Zustimmung des Bundesrats bedurft. Allerdings konnte dieser Abschluss dem Kaiser und der Reichsleitung unter Umständen von den Bundesstaaten erschwert wer- den. Zur Rechtslage stellte der Marburger Staatsrechtler Victor Bredt in einem 1926 für den Untersuchungsausschuss des Reichstages angefertigten Gutachten fest:

»Lediglich ein Frieden ohne alle Annexionen und Entschädigungen aber auch ohne alle Angliederung, sogar ohne irgendwelche Neuregelung wirtschaftlicher Beziehungen, hätte vom Kaiser allein abgeschlossen werden können5.«

1 Vgl. Daniel-Erasmus Khan, Die deutschen Staatsgrenzen: rechtshistorische Grundlagen und offene Rechtsfragen, Tübingen 2004, S. 58.

2 Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd 2: Deutsche Ver- fassungsgeschichte 1851–1906, 3., neu bearb. Aufl., Stuttgart 1986, Dok. 261, S. 389. 3 – Vgl. Karlheinz Schonauer, 1914 Protokoll eines gewollten Krieges, Berlin 2012, S. 381 f. 4 Vgl. Gerhard Hetzer, Außenpolitik als deutscher Bundesstaat: Das Königreich Bayern 1871–1918. In: Die Außenpolitik der deutschen Länder im Kaiserreich. Geschichte, Akteure und archivische Überlieferung (1871–1918). Beiträge des wissenschaftlichen Kolloquiums zum 90. Gründungstag des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts am 3. August 2010. Hrsg. vom Auswärtigen Amt,

München 2012, S. 44 f. 5 Victor Bredt, Der Deutsche Reichstag im Weltkrieg. Gutachten zur zweiten Abteilung. In: Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversamm- lung und des Deutschen Reichstags. Vierte Reihe: Die Ursachen des Deutschen Zusammenbruchs im Jahre 1818, Bd 8, Berlin 1926, S. 25 f. OLDENBOURG Bundesstaaten und Reichsleitung 3

Jeder andere Friedenschluss hätte nach Bredts Auffassung noch vor seinem eigent- lichen Abschluss der Zustimmung des Bundesrats bedurft, während er dem Reichs- tag lediglich erst nachträglich hätte vorgelegt werden müssen6. Ein Friedensvertrag mit Annexionen konnte zu einer Veränderung des Reichsgebiets, zur territorialen Ausdehnung einzelner Bundesstaaten und somit zur Vergrößerung ihres jeweili- gen wirtschaftlichen und politischen Gewichts innerhalb des Deutschen Reichs führen. Deshalb suchten einige Bundesfürsten, wie zu zeigen sein wird, bereits unmittelbar nach Kriegsbeginn bei der Reichsleitung Kriegsziele einzubringen, noch bevor diese selbst überhaupt erste Kriegsziele formuliert hatte. Im Folgenden soll zum einen gefragt werden, welche Bedeutung den Kriegszielen von Bundes- staaten für die Formulierung der Kriegsziele auf der Ebene der Reichsleitung zukam. Zum anderen soll ein Beitrag zur Beantwortung der Frage ermöglicht werden, welches Gewicht dem Partikularismus einerseits gegenüber der nationa- len Identität andererseits im Deutschen Reich nach Kriegsausbruch 1914 noch zukam. Um das Selbstverständnis der Bundesstaaten bei der Einbringung eigener Kriegsziele sowie ihr Beharren auf partikularistischer Eigenständigkeit besser ver- stehen zu können, ist es hilfreich, einen kurzen Blick auf die militärische Organisa- tion des Bundesstaats Deutsches Reich zu werfen; weil »im militärischen Bereich«, so stellt Peter Graf Kielmansegg fest, »die eigenständige Tradition der bedeutende- ren Bundesstaaten und Dynastien noch am ehesten Lebenskraft hatte«7. Das Bun- desheer, dessen Oberbefehl nominell Kaiser Wilhelm II. innehatte, bestand aus Kontingenten der vier Königreiche Bayern, Preußen, Sachsen und Württemberg. Für diese Lösung hatte die militärpolitische Integration Sachsens in den Nord- deutschen Bund 1866/67 eine Art Vorreiterrolle gespielt, weil sie, unter bewusster Umgehung des Parlaments, die Angelegenheiten des Heeres den Entscheidungen der beiden Monarchen Sachsens und Preußens überließ, und damit nicht zuletzt auch den Charakter des Norddeutschen Bundes als eines Fürstenbundes unter- streichen sollte8. Diesem Beispiel folgten nach der Reichsgründung auch die Militärkonventionen mit Bayern und Württemberg.

6 Ebd., S. 26.

7 Peter Graf Kielmansegg, Deutschland und der Erste Weltkrieg, Frankfurt a. M. 1968, S. 34. Der Staatsrechtler Laband unterstrich 1895, dass selbst das vom Reichstag 1879 verabschiedete Gesetz zu Zöllen und Tabaksteuer vor allem den Zweck gehabt habe, den föderalistischen Charakter des Reiches zu betonen und die partikularistischen Interessen der Bundesstaaten zu stärken. Vgl. Paul Laband, Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung. Vortrag gehalten in der Gehe- Stiftung zu Dresden am 16. März 1895, Dresden 1895, S. 34–36. 8 Vgl. Mirko Buschmann, Zwischen Bündnis und Integration. Sachsens militärischer Eintritt in den Norddeutschen Bund 1866/67, Köln 2004 (= Dresdner Historische Studien, 5), S. 202–209. 4 Reiner Pommerin OLDENBOURG

In Friedenszeiten berücksichtigte die Belange der bundesstaatlichen Kon- tingente eine entsprechende Dislozierung und Besetzung der Armeeinspektio- nen. Diese sollten im Mobilmachungsfall zu Armeeoberkommandos (AOK) umgewandelt werden, in denen dann die bayerischen, preußischen, sächsi- schen und württembergischen Verbände zunächst geschlossen unter der Füh- rung eines Oberbefehlshabers aus dem jeweiligen Bundesstaat zum Einsatz kommen sollten9. Die Leitung der Operationen des Feldheeres übertrug der Kaiser bei Kriegsbeginn dem Chef des preußischen Generalstabs, Helmuth von Moltke d.J. Der Oberbefehl über die 3. Armee, welche sich aus den drei sächsischen Korps sowie einem preußischen Korps zusammensetzte, wurde Friedrich August III. von Sachsen angetragen. Der König verzichtete jedoch auf eine persönliche Führung und übertrug das Kommando seinem früheren Kriegs- minister, Generaloberst Max Clemens Freiherr von Hausen. Die 4. Armee führte der württembergische Thronfolger Herzog Albrecht von Württemberg, die 5. Ar- mee Kronprinz Wilhelm von Preußen und die 6. Armee Kronprinz Rupprecht von Bayern. Die drei Kronprinzen waren allerdings bei ihrer Führung in beson- derer Weise auf die Qualität ihrer Stabschefs angewiesen; denn sie zählten zu den »fürstliche[n] und prinzliche[n] Oberbefehlshaber[n]«, die, wie Dieter Storz anmerkt, »ihre Befehlsgewalt doch vor allem dem Bedürfnis des Systems« ver- dankten, »obwohl sie nicht die Schulung und Routine von Berufssoldaten haben konnten«10. Angesichts der nach wie vor herrschenden Rivalität und Eifersucht zwischen einzelnen Bundesfürsten sowie der Tatsache, dass die Führer von drei Kontin- gentsheeren auch Thronfolger in drei Königreichen waren, konnten Friktionen zwischen den Bundesstaaten mit Kontingentsarmeen und der Obersten Heereslei- tung (OHL) nicht ausgeschlossen werden. »Im Ersten Weltkrieg«, so jedenfalls die nüchterne Feststellung von Christian Stachelbeck, »war die Reichseinigung in den Köpfen der deutschen Armee noch kaum vollzogen«11. Die übrigen Armeen unterstanden preußischen Generalen, allerdings konnten selbst zwischen diesen Animositäten keineswegs ausgeschlossen werden12.

9 Vgl. Edgar Graf von Matuschka, Organisationsgeschichte des Heeres 1890–1918. In: Deutsche

Militärgeschichte in sechs Bänden 1648–1939, Bd 3. Hrsg. vom Militärgeschichtlichen For- schungsamt, Herrsching 1983, S. 157–159. 10 Dieter Storz, Kronprinz Rupprecht von Bayern – dynastische Heerführung im Massenkrieg. In: Monarchen und ihr Militär. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamts hrsg. von

Winfried Heinemann und Markus Pöhlmann, Potsdam 2009 (= Potsdamer Schriften zur Militär- geschichte, 10), S. 45–57, hier S. 47. 11 Christian Stachelbeck, Deutschlands Heer und Marine im Ersten Weltkrieg, München 2013

(= Beiträge zur Militärgeschichte. Militärgeschichte kompakt, 5), S. 27. 12 Ebd. OLDENBOURG Bundesstaaten und Reichsleitung 5

Wie eine Friktion zwischen dem fürstlichen Oberbefehlshaber eines bundes- staatlichen Kontingents und der OHL aussehen konnte, zeigte sich in den ersten Kriegswochen. Seit dem Ausscheiden von Alfred Graf von Schlieffen und der Übernahme des Amts des preußischen Generalstabschefs im Jahr 1906 hatte Moltke am Kriegsplan Schlieffens, abgesehen von einigen operativen Modifi- zierungen, festgehalten13. So verstärkte er, in Erwartung eines dortigen franzö- sischen Angriffs, kräftemäßig die Truppen für den linken Flügel. Hier, am Südabschnitt der Front in Elsass und Lothringen, sollten möglichst große franzö- sische Truppenteile gebunden werden. »Wie dies zu erfolgen hatte«, so stellt Stachelbeck fest, »wurde in der Aufmarschanweisung allerdings nur grob und in Abhängigkeit zum französischen Vorgehen umrissen«14. Zur Lösung dieser Aufgabe wurde Rupprecht von Bayern neben der überwiegend aus bayerischen Verbänden bestehenden 6. Armee noch die 7. Ar- mee unterstellt. Sowohl deren Stab als auch ihr preußischer Oberbefehls- haber, Generaloberst Josias von Heeringen, legten allerdings eine deutlich erkennbare Abneigung an den Tag, »sich dem Kronprinzen von Bayern unter- 15 zuordnen« , wie ein Stabsoffizier der 6. Armee nach einem Besuch in deren Hauptquartier berichtete. Die Aufmarschanweisung, so summiert Markus Pöhl- mann, bot Rupprecht drei Optionen: »Verhielten sich die Franzosen defensiv, so war ein deutsches Vorgehen ›gegen die Mosel unterhalb Frouard und die Meurthe – unter Wegnahme des Forts Manonviller‹ vorgesehen.« Im Fall einer Abwehr der deutschen Offensive durch lediglich schwache französische Kräfte schien eine Verlegung frei werdender deutscher Kräfte an die Nordfront mög- lich. Griffen die Franzosen in Elsass-Lothringen jedoch mit überlegenen Kräften an, wovon die OHL damals ausging, so sollten die deutschen Truppen in eine teilweise bereits vorbereitete Stellung über die Flüsse Nied und Saar zurück- weichen. Bei einem Vorstoß französischer Truppen in diesen »Lothringer

13 Die These von Terence Zuber, Inventing the Schlieffen Plan. German War Planning 1871–1914, Oxford, New York 2002, der Schlieffenplan sei gar kein wirklicher strategisch-operativer Plan gewesen, sondern lediglich eine interne Denkschrift, um eine Verstärkung des Heeres zu pro- pagieren, haben die Autoren des Sammelbandes Der Schlieffenplan. Analysen und Dokumente. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamts und der Otto-von-Bismarck-Stiftung hrsg.

von Hans Ehlert, Michael Epkenhans und Gerhard P. Groß, Paderborn [u. a.] 2006 (= Zeitalter der Weltkriege, 2), und dabei vor allem Gerhard P. Groß in seinem Beitrag There was a Schlieffen Plan.

Neue Quellen, S. 117–160 überzeugend widerlegen können. 14 Stachelbeck, Deutschlands Heer (wie Anm. 11), S. 23. 15 Zit. nach Dieter Storz, »Dieser Stellungs- und Festungskrieg ist scheußlich!« Zu den Kämp- fen in Lothringen und in den Vogesen im Sommer 1914. In: Der Schlieffenplan (wie Anm. 13), S. 173. 6 Reiner Pommerin OLDENBOURG

Sack« galt es dann, sie zusammenzudrängen, zu umfassen und schließlich zu vernichten16. Ohne Rupprecht einer »Offensivbesessenheit« beschuldigen zu wollen, bleibt festzuhalten, dass ihm die Aufmarschanweisung für die ihm unterstellte 6. und 7. Armee mit ihrer starken Abhängigkeit vom Verhalten des französischen Gegners generell wenig behagte. Denn, so durchschaut Markus Pöhlmann Rupprechts Unbehagen:

»Deckung und Fesselung versprachen naturgemäß wenig Gelegenheit zur militärischen Profilbildung. Schlachtenruhm schien allenfalls den im Norden angreifenden Flügelarmeen gewiß17.«

Wie Rupprecht eine Woche später, am 28. August 1914, seinem Onkel Prinz Leo- pold in einem Brief gestand, hatte er das Abwarten als einen »sehr misslichen Auftrag« empfunden18. In seinem Kriegstagebuch unterstrich er, dass ihm die Idee, »den Gegner zwischen Nied und Saar hereinzulocken […] durchaus gekünstelt und schwer ausführbar« erschien, und er »nicht daran glaube, dass der Gegner uns den Gefallen tun wird, in dieser Richtung vorzugehen und in die ihm gestellte Falle zu gehen. Wenn irgendwie möglich, sollten wir unsere Aufgabe, den Gegner auf uns zu ziehen, offensiv lösen, um ihm das Gesetz vorzuschreiben, anstatt es uns von ihm diktieren zu lassen19.« Am 17. August erfuhr Rupprecht von dem zu ihm entsandten Abteilungsleiter der Politischen Abteilung der OHL, Oberstleutnant Wilhelm von Dommes, die 5. Armee unter Kronprinz Wilhelm von Preußen werde am folgenden Tag offensiv vorgehen. Dies veranlasste ihn im Hinblick auf seine Armee, Dommes darauf hinzuweisen, »dass ein fortgesetztes Zurückgehen den Angriffsgeist der Truppe schädige, und ein fortgesetztes Ändern der Befehle deren Vertrauen zur höheren Führung untergrabe«. »Aus freien Stücken«, so Rupprecht weiter, »würde ich nie ein Zurückgehen in die Nied-Stellung befehlen, eher einen Rückzug nach dem unteren Saarbogen ausführen. Wenn die OHL mir nicht einen bestimmten gegen- teiligen Befehl zuschicken würde, würde ich angreifen20.«

16 Markus Pöhlmann, Kriegsgeschichte und Geschichtspolitik: Der Erste Weltkrieg. Die amtliche

– deutsche Militärgeschichtsschreibung 1914 1956, Paderborn [u. a.] 2002 (= Krieg in der Geschich- te, 12), S. 287 f. Zur Nachkriegskritik der Operationen in Lothringen, der Entstehung und dem Quellenwert von Rupprechts Kriegstagebuch vgl. ebd., S. 295–313. 17 Ebd., S. 288. 18 Vgl. Stefan März, Das Haus Wittelsbach im Ersten Weltkrieg. Chance und Zusammenbruch monarchischer Herrschaft, Regensburg 2013, S. 177. 19 Kronprinz Rupprecht von Bayern, Mein Kriegstagebuch. 3 Bde. Hrsg. von Eugen von Frauen- holz, Berlin 1929, Bd 1, S. 12. 20 Ebd., S. 18. OLDENBOURG Bundesstaaten und Reichsleitung 7

Während der Generalquartiermeister in der OHL, Generalleutnant Hermann von Stein, noch für die »Ausführung des Sackmanövers« war, ließ Rupprecht den Angriffsbefehl für die 6. und 7. Armee vorbereiten. Der Chef des Stabes der 21 6. Armee, Generalmajor Konrad Krafft von Dellmensingen , teilte Stein die of- fensive Absicht des bayerischen Kronprinzen am 18. August telefonisch mit. Damit sollte verhindert werden, dass von der OHL noch ein Einspruch erfolgte, nachdem der Angriffsbefehl erteilt worden war. Gegenüber dem dringenden Angriffswunsch des Kronprinzen eines Bundesstaats mit Kommando über ein eigenes militärisches Kontingent befand sich der Generalquartiermeister aller- dings in einer schwierigen Position, äußerte aber immerhin wenigstens seine Bedenken. Schließlich aber gab er gegenüber von Dellmensingen mit der Bemer- kung nach, dass die OHL dem bayerischen Kronprinzen nicht mit einem Angriffs- verbot in den Arm fallen werde. Wörtlich fügte er hinzu: »Sie müssen ja die Verantwortung tragen. Fassen Sie also ihren Entschluss, wie sie es nach ihrem Gewissen für recht halten22.« Das Große Hauptquartier teilte die Absichten der Leitung des Armeeoberkommandos 6 nicht, »wollte, seine Auffassungen aber nicht auf dem Befehlsweg durchsetzen«23. Anstatt sich vor den eindringenden Franzosen zurückzuziehen, nutzte Rupprecht eine sich zwischen der französi- schen 1. und 2. Armee ergebende Lücke und ging, so urteilt Storz, am 20. August zu einem wenig aussichtsreichen Großangriff über24. Nach der Bewertung Stachelbecks behinderten »landsmannschaftliche Vor- behalte […] zwischen Preußen und Bayern während der Kämpfe in Lothringen […] den schnellen Feldzugserfolg«25. Doch das Vorgehen des bayerischen Kronprin- zen, darauf weist Storz zu Recht hin,

»entsprach auch dem Interesse der Dynastie und darüber hinaus dem objektiven Interesse Bayerns. Denn bei einem siegreichen Kriegsausgang, mit dem 1914 ja allgemein gerechnet wurde, hing die künftige innerdeutsche Machtverteilung auch davon ab, wie groß der je- weilige Beitrag zu diesem Sieg gewesen war26.«

Nicht von der Hand zu weisen ist zudem die Überlegung von Herfried Münkler, dass es wohl auch eine gewisse Rivalität und Eifersucht des bayerischen Kron- prinzen auf den preußischen Kronprinzen war, dessen 5. Armee bereits seit dem

21 Vgl. Thomas Müller, Konrad Krafft von Dellmensingen (1862–1953). Portrait eines bayerischen Offiziers, München 2002, S. 290–295.

22 Kronprinz Rupprecht von Bayern, Mein Kriegstagebuch (wie Anm. 19), S. 20 f. 23 Storz, Dieser Stellungs- und Festungskrieg (wie Anm. 15), S. 177. 24 Ebd., S. 162.

25 Stachelbeck, Deutschlands Heer (wie Anm. 11), S. 27. 26 Storz, Kronprinz Rupprecht von Bayern (wie Anm. 10), S. 50. 8 Reiner Pommerin OLDENBOURG

18. August offensiv vorgehen durfte, die Rupprecht zu einem offensiven Vorgehen bewogen27. Erhellend für das zwischen den Bundesstaaten herrschende Klima kann in diesem Kontext die Eintragung angesehen werden, die Krafft von Dellmensingen nach dem Krieg seinem Kriegstagebuch unter dem Datum 31. Juli 1914, der Tag an dem er seine, ihn überraschende, Ernennung zum Chef des Stabes der 6. Armee erhalten hatte, hinzufügte. Ursprünglich war der bayerische Generalmajor im Mobilmachungsfall als Chef des Stabes der 5. Armee unter deren Oberbefehls- haber Kronprinz Wilhelm von Preußen vorgesehen gewesen. Anlässlich der Jahrhundertfeier in Leipzig am 18. Oktober 1913 hatte Krafft, zu diesem Zeitpunkt Chef des Bayerischen Generalstabs, Moltke auf diese Ver- wendung für den Kriegsfall angesprochen. Sie erschien ihm schon aufgrund der geringen Vertrautheit mit dem preußischen Kronprinzen schwierig, und natürlich hätte er eine Verwendung bei der 6. Armee unter dem ihm vertrauten Kronprinz Rupprecht vorgezogen. Moltke, so vertraute Krafft jetzt seinem Tagebuch an, habe kühl entgegnet, dass Preußen sich schon wegen seines großen Gewichts sowie seines großen Anteils an Verantwortung den Einfluss auf die Operationen der 6. Armee durch die Besetzung der Stelle des Chef des Stabes dieser Armee mit einem preußischen Offizier sichern müsse. Der Standpunkt Moltkes, erschien dem bayerischen Generalstabsoffizier recht »preußisch-engherzig«, und, so fügte sei- nem Tagebuch hinzu:

»Ich war verwundert, auch bei ihm auf die allgemeine prinzipielle preußische Auffassung zu stoßen: Nur der Preuße taugt u. versteht etwas. Diese kleinliche Auffassung der Vor- machtstellung, der Mangel an Vertrauen, der verbohrte Egoismus u. die brutale u. taktlose Art, wie der richtige ›Preuße‹ jeden Nichtpreußen seine Überlegenheit fühlen zu lassen sich berechtigt glaubt hat ungeheuer viel geschadet und sehr viel zum späteren Verfall der Stimmung beigetragen28.«

Zur Verwendung Kraffts als Chef des Stabes der 6. Armee bei Kronprinz Rupp- recht kam es, weil Kronprinz Wilhelm für die Position seines Chef des Stabes offensichtlich einen preußischen Offizier, den bisherigen Oberquartiermeister im preußischen Generalstab und seinen früheren Taktiklehrer, Generalmajor Kon- stantin Schmidt von Knobelsdorff, dem bayerischen General vorzog29. Das offensichtlich nicht übergroße Ausmaß nationalen Einheitsgefühls inner- halb der Bundesarmee soll schließlich noch eine kleine Episode aus dem Ersten

27 Vgl. Herfried Münkler, Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, Berlin 2013, S. 128. 28 Zit. nach Storz, Dieser Stellungs- und Festungskrieg (wie Anm. 15), S. 167.

29 Vgl. Othmar Hackl, Der Bayerische Generalstab (1792–1919), München 1999 (= Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, 122), S. 357. OLDENBOURG Bundesstaaten und Reichsleitung 9

Kriegsjahr charakterisieren. Bereits im September 1914 musste Generaloberst Max von Hausen krankheitsbedingt das Kommando über die 3. Armee an den preußi- schen General Karl von Einem abgeben. Wie dünnhäutig die Führung der sächsi- schen Kontingentsarmee darauf reagierte, zeigte sich, als von Hausen nach seiner Genesung keine Verwendung mehr fand. Trotz aller seiner persönlichen Bemü- hungen sowie der hartnäckigen Versuche weiterer sächsischer Generale mit dem stetigen Hinweis, Sachsen verliere an Ansehen im Reich, wenn es im Krieg keinen Armeeoberbefehlshaber stelle, wurde dennoch zunächst kein sächsischer General als Oberbefehlshaber einer Armee eingesetzt30. Erst im April 1916 konnte der preußische Gesandte in Dresden nach Berlin berichten, dass der »Seelenschmerz« und »Kummer« der Sachsen jetzt durch die Ernennung des sächsischen Generals der Infanterie Karl Ludwig d’Elsa zum Oberbefehlshaber einer Armee, der Armee- abteilung Falkenhausen (später Armeeabteilung 2), beseitigt worden sei. Die gesamte sächsische Presse habe diese Ernennung als für den Bundesstaat Sach- sen hocherfreulich bezeichnet31.

Kriegsziele von Bundesstaaten und Reichsleitung nach Kriegsbeginn

Von einem »Augusterlebnis« der deutschen Bevölkerung, so betont Sönke Neit- zel, könne »angesichts der Vielfalt von Gefühlen und Wahrnehmungen« nicht mehr gesprochen werden32. Tatsächlich herrschte im August 1914 keine von der gesamten deutschen Bevölkerung geteilte Kriegsbegeisterung33. In der Kriegser- klärung gegen Russland am 1. August sowie in der Thronrede vor dem Reichs- tag am 4. August hob Kaiser Wilhelm II. hervor, dass nicht etwa Eroberungslust das Deutsche Reich in den Krieg getrieben habe, sondern lediglich die Notwen-

30 Vgl. Jan Hoffmann, Die sächsische Armee im Deutschen Reich 1871 bis 1918, Diss. Dresden 2007, S. 322–329. 31 Ebd., S. 329. General d’Elsa wurde allerdings bereits im Januar 1917 abgelöst, und erst Ende 1918 avancierte mit Hans Carl von Carlowitz erneut ein sächsischer General zum Oberbefehlshaber einer Armee, in diesem Fall zunächst der 9. sowie später der 2. Armee. 32 Sönke Neitzel, Weltkrieg und Revolution 1914–1918/19, Berlin 2008 (= Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, 3), S. 30. 33 Vgl. vor allem Jeffrey Verhey, Der »Geist von 1914« und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000. Niall Ferguson spricht sogar vom Mythos »Kriegsbegeisterung«. Vgl. Niall Fergu- son, Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Stuttgart 2013, S. 216–245. Am Einzelbeispiel wird dies besonders deutlich bei Michael Stöcker, »Augusterlebnis 1914« in Darmstadt. Legende und Wirklichkeit, Darmstadt 1994. 10 Reiner Pommerin OLDENBOURG

34 digkeit des Selbsterhalts . Ähnlich führte Bayerns König Ludwig III. in seinem Aufruf an das bayerische Volk am 4. August aus: »Es gilt das Reich zu schützen, das wir in blutigen Kriegen mit erstritten haben35.« Damit gaben sowohl der Kaiser, der bayerische König als auch andere Bundesfürsten wie etwa König Wilhelm II. von Württemberg oder der Großherzog von Hessen, in ihren Kriegs- aufrufen ein bei Kriegsbeginn bei vielen ihrer Untertanen vorherrschendes Gefühl wieder. Vorformulierte Kriegsziele lagen zu Kriegsbeginn weder bei den Bundesstaa- ten noch bei der Reichsleitung vor. Münkler glaubt sogar:

»Die Deutschen selbst hingegen hatten von allen beteiligten Großmächten die größten Schwierigkeiten, auf die Frage nach dem Sinn des Krieges eine angemessene Antwort zu finden. Im Gegensatz zum verbündeten Österreich-Ungarn, das immerhin die Ermordung des Thronfolgers anführen und den Kampf gegen die serbische Herausforderung geltend machen konnte, hatten sie nichts vorzuweisen, was den Einsatz militärischer Gewalt zwin- gend erfordert hätte. Sie mussten nach einem Sinn des Krieges suchen und Kriegsziele fin- den oder erfinden36.«

Während für die Reichsleitung unter Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg Kriegsziele zu Beginn des Krieges noch keine Rolle spielten, suchten jedoch die Fürsten einzelner Bundesstaaten schon während des ersten Kriegs- monats, ihre Kriegsziele bei der Reichsleitung vorzubringen. Nur so glaubten sie offenbar, eigene Forderungen nach territorialer Erweiterung sowohl gegenüber der Reichsleitung als vor allem auch gegenüber dem im Deutschen Reich so dominanten Bundesstaat Preußen rechtzeitig absichern zu können. Den bundesstaatlichen Kriegzielreigen eröffnete König Ludwig III. von Bay- ern. Am 15. August 1914 erklärte er dem preußischen Gesandten in München, Freiherr Wilhelm von Schoen, nach diesem Krieg dürfe Bayern nicht noch einmal so leer ausgehen wie nach dem Krieg von 1870/71. Und er fügte hinzu: »Er habe nichts dagegen, dass Preußen sich vergrößere, aber Bayern müsse auch etwas bekommen«. Deshalb schlage er eine Aufteilung des Reichslands Elsass-Lothrin- gen, das »Verschwinden« des Königreichs Belgien sowie die »Deutschwerdung«

34 Vgl. die Thronrede Kaiser Wilhelms II., 4.8.1914. In: Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden und Dokumentensammlung zur Zeitgeschichte, Bd 1: Die Wende des Ersten Welt- krieges und der Beginn der innerpolitischen Wandlung 1916/17. Hrsg. von Herbert Michaelis und Ernst Schraepler unter Mitwirkung von Günter Scheel, Berlin 1958, Dok. 109, S. 180. 35 Zit. nach Karl-Heinz Janßen, Macht und Verblendung. Kriegszielpolitik der deutschen Bun- desstaaten 1914–1918, Göttingen 1963, S. 16. 36 Münkler, Der Große Krieg (wie Anm. 27), S. 216. OLDENBOURG Bundesstaaten und Reichsleitung 11 der Rheinmündungen vor. Bayerns Ministerpräsident Georg Graf von Hertling, der bei dem Gespräch anwesend war, suchte noch beim Hinausgehen, die Kriegs- ziele seines Monarchen abzuschwächen, wies den preußischen Gesandten aber darauf hin, dass ein nach dem Krieg erfolgender Gebietszuwachs eines Bundes- staats zu einer Verschiebung des Verhältnisses der Bundesstaaten untereinander führen würde. Konkret warnte er vor einseitigen Vergrößerungen Preußens, »die das bundesstaatliche Gefüge des Deutschen Reichs beeinträchtigen müssen, wenn nicht andere Staaten, darunter wir [Bayern] gleichfalls etwas zugeteilt bekämen«37. Es fällt schwer, diesem Hinweis Hertlings, wie Dieter Weiß annimmt, ledig- lich das uneigennützige Motiv des Erhalts der föderalistischen Reichsverfassung zu unterstellen38. Vielmehr belegt die Äußerung Hertlings die, bei aller national- staatlichen Gemeinsamkeit, immer noch bestehende Rivalität zwischen einigen Bundesstaaten, in diesem Fall zwischen Bayern und Preußen. Eher zu verste- hen ist, dass Hertling die von seinem König gegenüber Schoen formulierten Kriegsziele im Hinblick auf Belgien, besonders aber im Hinblick auf Elsass und Lothringen, wie er dem bayerischen Gesandten in Berlin Hugo Graf von und zu Lerchenfeld in einem Schreiben gestand, peinlich waren. Er bat den Gesandten deshalb, entsprechenden Gerüchten in Berlin entgegenzutreten39. Die Forderung nach einer Auflösung des Staates Belgien betraf ein Territorium außerhalb des Reichsgebiets, das bayerische Kriegsziel einer Aufteilung von Elsass-Lothringen bedeutete jedoch den ungeschminkten bayerischen Versuch eines Zugriffs auf Reichsgebiet. Schließlich verfügte das 1871 von Frankreich an das Deutsche Reich abgetretene Elsass-Lothringen seit der Übernahme der Verfassung von 1911 über den Status eines deutschen Reichslandes, in dem der Kaiser das Amt des Landes- herrn innehatte, welches er durch einen Statthalter ausüben ließ. Die angesichts der Erfolge im Westen anhaltende Siegesstimmung riss am 25. August einen weiteren Bundesfürsten zum Vorbringen eines Kriegsziels hin. Anlässlich eines Besuchs im Großen Hauptquartier in Koblenz regte Wilhelm II., König von Württemberg, bei Kaiser Wilhelm II. das Verschwinden des König-

37 Aufzeichnung Hertling, 15.8.1914, Anlage zum Schreiben Hertling an Lerchenfeld, 15.8.1914. In: Briefwechsel Hertling–Lerchenfeld, 1912–1917. Dienstliche Privatkorrespondenz zwischen dem bayerischen Ministerpräsidenten Georg Graf von Hertling und dem bayerischen Gesandten in Berlin Hugo Graf von und zu Lerchenfeld. Hrsg. und eingel. von Ernst Deuerlein, Bd 1, Boppard am Rhein, Dok. 121, S. 334. 38 Vgl. Dieter J. Weiß, Kronprinz Rupprecht von Bayern (1869–1955). Eine politische Biographie, Regensburg 2007, S. 127. 39 Schreiben Hertling an Lerchenfeld, 15.8.1914. In: Briefwechsel Hertling–Lerchenfeld (wie Anm. 37), Dok. 121, S. 334. 12 Reiner Pommerin OLDENBOURG reichs Belgien von der Landkarte an40. Der württembergische Vorschlag führte den Kaiser seinerseits zu der Überlegung, die Festungen Lüttich und Namur zu deutschen Festungen zu machen. Gleichzeitig kündigte er an, aus dem Elsass alle nicht deutschen Elemente herauszujagen, deren Güter zu konfiszieren und dort mit der Ansiedlung alter Unteroffiziere eine solide Militärgrenze zu schaffen41. Letzteres scheint eine Lieblingsidee des Kaisers gewesen zu sein, denn Bethmann Hollweg notierte:

»Seine Majestät kommt immer wieder aufs neue auf den Gedanken zurück, in Belgien und Frankreich Gebiete als Militärkolonien zu annektieren für Landzuweisungen an verdiente Unteroffiziere und Mannschaften42.«

Am folgenden Tag besuchte König Ludwig III. von Bayern das Große Haupt- quartier. Bei dieser Gelegenheit gedachte er, seine Überlegungen zur Zukunft Elsass-Lothringens dem Kaiser persönlich vorzutragen. Allerdings war er auf der Reise von München nach Koblenz auf den Gedanken gekommen, statt einer Teilung des Reichslands gleich ganz Elsass-Lothringen für Bayern zu rekla- mieren. Ministerpräsident Hertling gelang es jedoch, seinem König diese Idee auszureden, indem er auf die noch unklare Haltung derjenigen Bundesstaaten hinwies, die ebenso wie Bayern Rechte auf das Reichsland besäßen. Auf eine persönliche Demarche in dieser Angelegenheit bei Kaiser Wilhelm II. verzichtete Ludwig III., weil Hertling ihm versprach, die bayerischen Ansprüche »aka- demisch« mit Bethmann zu »erörtern«43. Doch bot sich schließlich auch dem König von Bayern selbst noch die Gelegenheit, dem Reichskanzler seine Über- legungen zu Elsass-Lothringen vorzustellen, der zu diesem Zeitpunkt, wie Klaus Hildebrand anmerkt, noch »an die Chance eines kurzen und begrenzten Kabi- nettskriegs« glaubte44. Gegenüber Hertling zeigte sich Bethmann Hollweg für das Argument auf- geschlossen, dass es sowohl dem föderativen Charakter als auch den Machtver- hältnissen im Reich abträglich sei, wenn sich nach einem gewonnenen Krieg lediglich der Bundesstaat Preußen vergrößere. Deshalb schlug der bayerische Ministerpräsident dem Reichskanzler eine Aufteilung des Reichslands vor, wobei

40 Vgl. Schreiben Graevenitz an Weizsäcker, 25.8.1914, zit. nach Janßen, Macht und Verblendung (wie Anm. 35), S. 30, Anm. 85. 41 Ebd., S. 240, Anm. 162.

42 Aufzeichnung Bethmann Hollweg, BArch, R 43/2476, fol. 48. 43 Vgl. Aufzeichnung Hertling, 28.8.1914, abgedr. unter Anm. 4 zum Schreiben Lerchenfeld an Hertling, 22.8.1914. In: Briefwechsel Hertling–Lerchenfeld (wie Anm. 37), Dok. 123, S. 338. 44 Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871–1949, Stuttgart 1995, S. 318. OLDENBOURG Bundesstaaten und Reichsleitung 13

Preußen Lothringen, Bayern das Unter-Elsass und Baden das Ober-Elsass erhal- ten könne. Obgleich Bethmann Hollweg auf diesen Vorschlag nicht näher ein- ging, vermerkte Hertling zu diesem Gespräch: »Es war, wie ich dem König beim Abschied angedeutet habe tatsächlich nützlich, dass unsere Ansprüche schon jetzt generell angemeldet worden sind45.« Da keine direkte Ablehnung der bayeri- schen Vorschläge durch den Reichskanzler erfolgte, verließen sowohl Ludwig III. als auch sein Ministerpräsident das Große Hauptquartier in dem Gefühl, Beth- mann Hollweg sei einer Aufteilung Elsass-Lothringens nicht abgeneigt46. Am 31. August 1914 regte der preußische Geschäftsträger in Stuttgart, Wil- helm Graf von Mirbach-Harff, beim württembergischen Ministerpräsidenten Carl Freiherr von Weizsäcker eine Angliederung der Niederlande an das Deutsche Reich für den Fall an, dass diese eine Gebietserweiterung in Belgien zugesprochen bekämen. Allerdings müssten die Niederlande dann dem Deutschen Reich Kon- zessionen bei den Schifffahrtsabgaben machen47. Dieser Vorstoß Preußens bewog Weizsäcker in einem Schreiben an den württembergischen Gesandten in Mün- chen, Franz Moser von Filseck, zu dem Kommentar: »Die Geister, die bei dem künftigen Friedensschluss einzelstaatliche Gewinne einheimsen wollen, regen sich bereits48.« Nach den erwähnten Vorstößen von Bundesfürsten erreichten den Reichs- kanzler drei weitere Vorstellungen zu möglichen Kriegszielen. Der Industrielle Walter Rathenau, nach Kriegsbeginn mit der Leitung der Kriegsrohstoffabteilung des preußischen Kriegsministeriums betraut, übersandte ihm am 28. August eine Denkschrift die sich mit einem von Deutschland wirtschaftlich dominierten Mit- 49 teleuropa befasste .Am2. September leitete Unterstaatssekretär Arthur Zimmer- mann vom Auswärtigen Amt in Berlin dem Reichskanzler einige Gedanken weiter, die der erste Direktor der Deutschen Bank, Arthur von Gwinner, geäußert hatte. Dabei hatte Gwinner anregt, von Annexionen abzusehen und dafür weniger auffällige Schritte in Richtung einer wirtschaftlichen deutschen Vorherrschaft in Europa zu lenken50. Über den Statthalter der Reichslande, Johann Freiherr von Dallwitz, der die Inbesitznahme der Westhänge der Vogesen sowie Belforts anreg- te, erreichten den Reichskanzler am 3. September noch Überlegungen des Saar-

45 Aufzeichnung Hertling (wie Anm. 43). 46 Ebd. 47 Vgl. Aufzeichnung Weizsäcker, 31.8.1914, zit. nach Janßen, Macht und Verblendung (wie

Anm. 35), S. 235, Anm. 85. 48 Schreiben Weizsäcker an Moser, 31.8.1914, zit. nach ebd., S. 31. 49 Vgl. Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutsch- land 1914/1918, Düsseldorf 1967, S. 90 f. 50 Ebd., S. 91. 14 Reiner Pommerin OLDENBOURG

Industriellen Karl Röchling, der eine Annexion des Erzbeckens von Longwy-Briey vorschlug51. Offensichtlich ließen die militärischen Anfangserfolge einen Präliminarfrie- den als durchaus möglich erscheinen. So schrieb der württembergische Militär- bevollmächtigte im Großen Hauptquartier, Generalleutnant Friedrich Wilhelm von Graevenitz, am 5. September an Weizsäcker, man müsse sich »mit dem Gedanken eines Zwischenfriedens nach völliger Niederwerfung Frankreichs befassen«52. Tat- sächlich sah sich der Reichskanzler jetzt veranlasst, »für die Eventualität plötzli- cher Verhandlungen, die dann nicht mehr in die Länge gezogen werden dürfen«53, Kriegsziele der Reichsleitung für einen Friedensschluss ausarbeiten zu lassen. Am 9. September 1914 lag die vom Sekretär Bethmann Hollwegs, Kurt Riezler, erstellte »Vorläufige Aufzeichnung über die Richtlinien unserer Politik beim Friedensschluss« vor. Weil der Reichskanzler jedoch eine öffentliche Diskussion von Kriegszielen sowohl aus außen- als auch aus innenpolitischen Gründen zu diesem Zeitpunkt vermeiden wollte, brachte er deren Inhalt lediglich seinem Stellvertreter in Berlin, dem Vizekanzler und Staatssekretär des Innern, Clemens von Delbrück, zur Kenntnis. Die Richtlinien sollten durch verschiedene amtliche Resorts weiter spezifiziert und ergänzt werden. Neben anderen Überlegungen fanden sich hier die an Bethmann Hollweg bereits im August herangetragenen Kriegsziele der Bundesstaaten Bayern und Württemberg wieder. Tatsächlich wurde von nun an, wie Ingeborg Koch feststellt,

»bis zum Ende des Reiches und dem Ende der Monarchie überhaupt ernsthaft über die Ausweitung einzelner deutscher Dynastien durch Landgewinn in Osten und Westen debat- tiert. Das Reich war in Gefahr und ein großer Teil der Bundesfürsten trieb Hausmachtpolitik wie in den Tagen der Kabinettskriege54.«

Die Richtlinien sahen eine militärische Besetzung sowohl der französischen Küste von Dünkirchen bis Boulogne-sur-Mer als auch der flandrischen Küste vor55. Die französischen Festungen sollten geschleift, und Belfort mit dem westlichen Hang der Vogesen sowie das Erzbecken von Briey für Deutschland erworben werden.

51 Vgl. Schreiben Dallwitz nebst Anlage an Bethmann Hollweg, 3.9.1914, BArch, R 43/2476, fol. 63–67. – Zur Antwort des Reichskanzlers vom 9.9.1914, siehe ebd., fol. 68. 52 Vgl. Schreiben Graevenitz an Weizsäcker, 5.9.1914, zit. nach Egmont Zechlin, Probleme des Kriegskalküls und der Kriegsbeendigung im Ersten Weltkrieg. In: Egmont Zechlin, Krieg und Kriegsrisiko. Zur deutschen Politik im Ersten Weltkrieg. Aufsätze, Düsseldorf 1979, S. 42.

53 Schreiben Bethmann Hollweg an Delbrück, 9.9.1914, BArch, R 43/2476, fol. 54. 54 Ingeborg Koch, Die Bundesfürsten und die Reichspolitik in der Zeit Wilhelms II., Diss. Mün- chen 1961, S. 29. 55 Vgl. »Vorläufige Aufzeichnung über die Richtlinien unserer Politik beim Friedensschluss«, BArch, R 43/2476, fol. 64–66. OLDENBOURG Bundesstaaten und Reichsleitung 15

Luxemburg sollte ein Bundesstaat des Deutschen Reichs werden, Belgien jedoch, anders als König Wilhelm II. von Württemberg angeregt hatte, als Staat beste- hen bleiben, allerdings auf das Niveau einer deutschen Provinz herabgestuft werden. Die von Kaiser Wilhelm II. ursprünglich vorgeschlagene deutsche Annektion belgischer Festungen war jetzt einer deutlich dem Partikularismus Rechnung tragenden Annektion Lüttichs und Verviers durch den Bundesstaat Preußen gewichen. Größeren Raum nahmen die Überlegungen zur Gründung eines mitteleuropäi- schen Wirtschaftsverbandes mit gemeinsamen Zollabmachungen ein, um eine zumindest indirekte wirtschaftliche Dominanz des Deutschen Reichs in Mittel- europa zu sichern. Einbezogen werden sollten in diesen Wirtschaftsverband die Staaten Belgien, Dänemark, Frankreich, Niederlande, Österreich-Ungarn und eventuell noch Italien, Schweden und Norwegen. Sogar die Einbeziehung eines, allerdings erst noch zu gründenden, Staates Polen war vorgesehen. Begehrliche Blicke in Richtung Osten warfen die Richtlinien trotz des deut- schen militärischen Erfolgs in Tannenberg Ende August 1914 jedoch noch nicht. Lediglich in allgemeiner Form fanden die Abdrängung Russlands von den deut- schen Grenzen sowie die Brechung der russischen Vorherrschaft über die nicht- russischen Völker Erwähnung. Dies belegt einmal mehr, wie Münkler feststellt, »dass die deutschen Kriegsziele ebenso wenig von langer Hand vorbereitet waren wie der Krieg selbst, sondern der militärischen Lage entsprechend verändert wurden«56. Die von Fritz Fischer aufgestellte These, das Deutsche Reich habe den Krieg bereits in den letzten Vorkriegsjahren konsequent vorbereitet57, so jeden- falls das Resümee von Wolfgang Mommsen, wird »nur noch von einer Minderheit in der Forschung vertreten«58. Um den Inhalt der im September 1914 entstandenen vorläufigen Richtlinien als programmatisch und die deutschen Führungsschichten angeblich bereits seit längerem leitende Zielsetzung herauszustellen, wählte Fischer in seinen Veröf- fentlichungen die plakative Bezeichnung »Septemberprogramm«59. »In Wirklich- keit«, so stellt George-Henri Soutou dazu fest, »hatte dieses ›Septemberprogramm‹ keinerlei endgültigen Charakter; es handelte sich um einen Gelegenheitstext, der verfasst wurde, bevor noch die Reichsführung erkannt hatte, dass die am 6. Sep- tember begonnene Marneschlacht zu einer deutschen Niederlage führen wür-

56 Münkler, Der Große Krieg (wie Anm. 27), S. 268. 57 Vgl. Fritz Fischer, Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911–1914, Düsseldorf 1969. 58 Wolfgang Mommsen, Die Urkatastrophe Deutschlands. Der Erste Weltkrieg 1914–1918, 10., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart 2002 (= Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, 17),

S. 15. 59 Vgl. Fischer, Griff nach der Weltmacht (wie Anm. 49), S. 90–95. 16 Reiner Pommerin OLDENBOURG de60.« Zudem waren, so die Meinung von Michael Salewski, die Richtlinien »un- ausgegoren, in sich widersprüchlich, kaum als Arbeitsgrundlage zu gebrauchen – das wusste niemand besser als Bethmann Hollweg selbst«61. Die von Heinrich Claß, dem Vorsitzenden des Alldeutschen Verbands erstellte »Denkschrift zum deutschen Kriegsziel«, fand in den vorläufigen Richt- linien des 9. September keinen Niederschlag. Die auf die Stimmung drückende negative Wende in der Marneschlacht veranlasste Claß, die umfangreiche Anne- xionen im Westen und Osten fordernde Denkschrift erst Anfang Dezember, nach den Meldungen über das erfolgreiche Vorgehen der deutschen Truppen im Osten, an Bethmann Hollweg zu senden62. Am 10. September unterrichtete Ministerpräsident Hertling in München die Gesandten der Bundesstaaten Baden und Württemberg über den von ihm im Großen Hauptquartier gegenüber dem Reichskanzler gemachten Vorschlag einer Dreiteilung des Reichslands Elsass-Lothringen. Um das Angebot für Württemberg noch schmackhafter zu machen, schlug Hertling vor, dass die südöstlich von Belfort auf der linken Rheinseite gelegene Grafschaft Mömpelgard, die einmal zu Württemberg gehört hatte und 1803 an Frankreich gefallen war, bei dieser Gelegen- heit wieder württembergisch werden könne63. Damit erweiterte der bayerische Ministerpräsident den ursprünglichen Teilungsplan für das Reichsland ohne Abstimmung mit Reichskanzler Bethmann Hollweg sogar um französisches Staatsgebiet, eine Forderung, die einen Friedensschluss mit Frankreich gewiss zusätzlich erschwert hätte. Allerdings verfing diese Verlockung in Stuttgart nicht; denn Weizsäcker teilte dem württembergischen Gesandten in München mit, er hege sowohl gegen jede territoriale Änderung innerhalb Deutschlands als auch gegen eine Aufteilung des Reichslands »die allergrößten Bedenken«64.

60 Georges-Henri Soutou, Die Kriegsziele des Deutschen Reiches, Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten während des Ersten Weltkriegs: Ein Vergleich. In: Der Erste Welt- krieg. Wirkung – Wahrnehmung – Analyse. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungs-

amtes hrsg. von Wolfgang Michalka, München [u. a.] 1994, S. 29.

61 Michael Salewski, Der Erste Weltkrieg, 2., durchges. Aufl., Paderborn [u. a.] 2004, S. 147. 62 Da der Reichskanzler bei Bekanntwerden der von Claß formulierten hypertrophen Kriegsziele eine ungünstige Beeinträchtigung der neutralen Staaten fürchtete, ließ er die noch vorhandenen Restexemplare der Denkschrift im Januar 1915 einziehen. Zudem forderte er von Claß Verschwie- genheit über das Thema Kriegsziele. Als dies nicht half, ließ er bei Claß eine Hausdurchsuchung durchführen und verhängte über diesen zudem eine Postsperre. Da diese Maßnahmen aller- dings verfassungswidrig waren, musste er sie im März 1915 zurücknehmen. Vgl. Alfred Kruck, Geschichte des Alldeutschen Verbandes 1890–1929, Wiesbaden 1954, S. 72 f. 63 Vgl. Schreiben Moser an Weizsäcker, 10.9.1914, zit. nach Janßen, Macht und Verblendung

(wie Anm. 35), S. 31. 64 Schreiben Weizsäcker an Moser, 24.9.1914, ebd. OLDENBOURG Bundesstaaten und Reichsleitung 17

Den Gesandten Lerchenfeld ließ Hertling am 24. Oktober wissen, dass er ein Mitspracherecht der größeren Bundesstaaten für den Moment angemessen halte, »in welchem ernsthaft von den Friedensbedingungen und einer eventuel- len größeren oder kleineren Umgestaltung der europäischen Karte gesprochen werden kann«, denn, so fuhr er fort, »Änderungen des Bundesgebiets unter- liegen bekanntlich der Gesetzgebung des Reiches; mir scheint aber, dass die Bundesregierungen doch nicht erst damit befasst werden sollten, wenn sie vor vollendeten Tatsachen stehen, sondern bevor seitens der Reichsleitung den fremden Staaten gegenüber das letzte Wort gesprochen ist65.« Anfang November 1914 wartete mit Großherzog Friedrich August II. von Oldenburg ein weiterer Bundesfürst mit Kriegszielen auf. Er übermittelte diese jedoch nicht der Reichsleitung, sondern suchte zunächst Unterstützung für seine Vorstellungen in Bayern. Der oldenburgische Gesandte beim Bundesrat in Berlin, Georg von Eucken-Addenhausen, der im Bundesrat ebenfalls die Bundesstaaten Herzogtum Anhalt sowie Lippe-Detmold und Schaumburg-Lippe vertrat, schrieb – allerdings ex post –, König Ludwig III. sei dem Großherzog aus nationalen Gründen einfach sympathisch gewesen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass der Großherzog sich eine größere Chance für die Verwirklichung seiner Kriegsziele erhoffte, wenn diese vom König eines größeren Bundesstaats bei Kaiser Wilhelm II. vorgetragen würden. Der Großherzog hatte telefonischen Kontakt mit dem König von Bayern aufgenommen, was diesen zu der Über- legung bewog, eventuell den ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Kle- mens Graf von Podewils als Kontaktperson nach Oldenburg zu entsenden66. Großherzog Friedrich August II. regte nicht nur, wie schon zuvor die Könige Württembergs und Bayerns, eine Annektion Belgiens an. Der Großherzog ge- dachte vielmehr, Frankreich nach Kriegsende vom Status einer europäischen Großmacht zu einem deutschen Vasallenstaat herabzustufen. Dazu schien ihm eine Aufteilung Frankreich notwendig: Im nördlichen Teil des Landes sollte eine Republik und im südlichen Teil ein Königreich Bourbon errichtet werden, die Inseln Korsika und Malta sollten an Italien fallen67. Zu diesem Zeitpunkt schien Bethmann Hollweg angesichts des negativen Ausgangs der Marneschlacht, der Flandernschlacht, der österreichischen Nieder- lagen in Galizien sowie der schweren Winterkämpfe in Polen eine Diskussion über das künftige Schicksal Belgiens allerdings wenig sinnvoll. »Belgien«, so

65 Schreiben Hertling an Lerchenfeld, 24.10.1914. In: Briefwechsel Hertling-Lerchenfeld (wie Anm. 37), Dok. 129, S. 348. 66 Vgl. Aufzeichnung Hertling, 4.11.1914, zit. nach Janßen, Macht und Verblendung (wie

Anm. 35), S. 35, Anm. 104. 67 Ebd. 18 Reiner Pommerin OLDENBOURG gestand der Reichskanzler Ministerpräsident Weizsäcker in einem Brief am 10. November, »ist ein schauderhaftes Problem«, und er fuhr fort:

»Man kann unter allen Lösungen nur nach der suchen, die noch am wenigsten schlecht ist. Es ist keine beneidenswerte Aufgabe, alle verschiedenen Möglichkeiten, die sich doch allein nach unserer militärischen Stärke beim Friedensschluss richten, im Voraus zu bearbei- ten68.«

Nachdem der Reichskanzler von den Überlegungen des oldenburgischen Fürsten erfahren hatte, warnte er am 15. November Hertling mit einem Schreiben vor einer bayerischen Unterstützung solcher oldenburgischen »Utopien«. Selbst wenn Deutschland, wie er sich ausdrückte, über die »Bärenfelle« verfügen kön- ne, lehne er eine staatsrechtliche Annexion Belgiens schon deshalb ab, weil »eine Annexion größerer Gebiete mit zum Teil recht unerwünschter wallonischer Bevölkerung eine enorme Schwächung für Deutschland bedeuten würde. Allen- falls sei«, so Bethmann Hollweg weiter, »eine Festsetzung Deutschlands an der Nordseeküste, die Übernahme einer militärischen Vormundschaft über Belgien sowie die Anbahnung sehr enger wirtschaftlicher Beziehungen zu diesem Lande in Erwägung zu ziehen69.« Erst im März des folgenden Jahres konnte der olden- burgische Großherzog einen Besuch bei König Ludwig III. in München nutzen, um diesem seine Überlegungen persönlich vorzutragen. Diese entsprachen aller- dings nach Einschätzung Hertlings dem Tenor der Alldeutschen, des Zentral- verbands der Industrie und anderen großen Korporationen70. Bethmann Hollweg zeigte sich erfreut, als Ludwig III. sich auf diese Überlegungen gar nicht erst einließ71. Anfang Dezember weilte Hertling in Berlin und führte mehrere Gespräche mit dem Reichskanzler. Die Weisung, die der König seinem Ministerpräsidenten für ein Gespräch mit Bethmann Hollweg mit auf den Weg gegeben hatte, wies darauf hin, dass ein den ungeheuren Opfern des Krieges und dem Elan der Bevölkerung entsprechendes Resultat am Ende des Krieges für Bayern stehen müsse. Das Argument, ein Kriegsresultat müsse der großen Zahl der Opfer Rechnung tragen, sollte sich bis Kriegsende in den Kriegszielvorstellungen vieler Denkschriften wiederfinden. An erster Stelle, so Ludwig III., rangiere eine Aufteilung Elsass- Lothringens unter gebührender Berücksichtigung Bayerns. Belgien dürfe nicht als selbstständiger Staat weiterbestehen, sondern müsse einem Bundesstaat

68 Schreiben Bethmann Hollweg an Weizsäcker, 10.11.1914, ebd., S. 237, Anm. 121. 69 Schreiben Bethmann Hollweg an Hertling, 15.11.1914, zit. nach ebd., S. 35. 70 Vgl. Schreiben Hertling an Lerchenfeld, 15.3.1915. In: Briefwechsel Hertling-Lerchenfeld (wie

Anm. 37), Dok. 165, S. 418 f. 71 Schreiben Lerchenfeld an Hertling, 1.4.1915. In: Ebd., Dok. 167, S. 420. OLDENBOURG Bundesstaaten und Reichsleitung 19 angegliedert werden, also entweder an Preußen, oder, falls dies nicht ginge, an Bayern fallen72. Zu Beginn des ersten, nur kurzen Gesprächs am 1. Dezember lobte Bethmann Hollweg die Leistungen der bayerischen Armee. Dies nutzte Hertling, um dem Reichskanzler zu verstehen zu geben, dass Ludwig III. gerade im Hinblick auf die Verdienste der bayerischen Armee in Frankreich mit vollem Recht erwarte, dass Bayern bei einem Friedensschluss nicht leer ausgehe73. In einem weiteren Gespräch am folgenden Tag deutete der Reichskanzler an, dass er nach den ersten Erfolgen im Osten auf eine Wende des Krieges hoffe, um zunächst mit Russland und danach mit Frankreich zu einem Friedenabschluss zu kommen. Friedens- angebote vonseiten dieser Mächte glaube er, nicht mehr ablehnen zu können. Als Hertling Bethmann Hollweg auf das Interesse Bayerns an einer direkten Ver- bindung zwischen dem rechts- und dem linksrheinischen Bayern hinwies, rea- gierte der Reichskanzler über den Vorschlag einer Zusammenführung dieser beiden Gebiete auf dem Wege eines Gebietsaustausches mit Baden geradezu erschrocken, und er bat Hertling, davon abzusehen. Hertling gestand allerdings, dass Baden sich wohl kaum zu einem solchen Gebietsaustausch bereit erklären würde. Zudem habe jeder Gebietsaustausch innerhalb des Bundesgebiets miss- liche Seiten, aber dann müsse Bayern eben eine Entschädigung in anderer Weise erhalten74. Im Gespräch am 3. Dezember gestand Bethmann Hollweg zur Überraschung Hertlings, er sei jetzt selbst zu der Überzeugung gekommen, dass Elsass-Loth- ringen aufgeteilt werden müsse. Da die beiden größten Bundesstaaten Bayern und Preußen das Reichsland im Interesse des Reiches und im Interesse der Geschlossenheit der Nation übernähmen, könnten sich die anderen Bundesstaa- ten darüber nicht beklagen. Eine Annexion Belgiens, so der Reichskanzler weiter, sei zurzeit nicht wünschenswert. Er denke allenfalls an eine Zollunion, die Über- nahme belgischer Eisenbahnen und die Verwaltung des Hafens von Antwerpen75. In seinem Bericht über diese Gespräche für Ludwig III. sah Hertling nunmehr die »sichere Aussicht« auf eine Teilung des Reichslands und die Möglichkeit »dass das ganze Elsass an Bayern fallen wird«76.

72 Vgl. Aufzeichnung Hertling, 28.11.1914, zit. nach Janßen, Macht und Verblendung (wie Anm. 35), S. 36. 73 Vgl. Aufzeichnung Hertling, 1.12.1914, abgedr. als Anmerkung 2 zum Schreiben Lerchenfeld an Hertling, 14.11.1914. In: Briefwechsel Hertling–Lerchenfeld (wie Anm. 37), Dok. 136, S. 358. 74 Ebd., S. 359. 75 Ebd., S. 359–361.

76 Aufzeichnung Hertling, 6.12.1914, zit. nach Janßen, Macht und Verblendung (wie Anm. 35), S. 41. 20 Reiner Pommerin OLDENBOURG

Das Königreich Sachsen hatte bisher keinerlei Kriegsziele eingebracht. Es war aber durch den sächsischen Gesandten in München, Robert von Stieglitz, der gleichzeitig sowohl bei der badischen Regierung in Stuttgart als auch bei der württembergischen Regierung in Karlsruhe akkreditiert war, über die bayeri- schen Wünsche auf territoriale Erweiterung im Reichsland gut unterrichtet. Der sächsische Staatsminister des Innern und des Auswärtigen, Christoph Graf Vitzthum von Eckstädt, nutzte Anfang Dezember 1914 einen Aufenthalt in Berlin zu Gesprächen sowohl mit Hertling als auch mit seinem Vetter Bethmann Holl- weg über die bayerischen Wünsche. In einem Bericht über die geführten Gesprä- che schrieb Vitzthum an Stieglitz77, der Ministerpräsident Bayerns habe sich über eine eventuelle Aufteilung von Elsass-Lothringen zwischen Preußen und Bayern lediglich in Andeutungen ergangen und betont, mit dem Reichskanzler über dieses Thema bisher noch nicht gesprochen zu haben. Bei dem »föderalisti- schen Geschäft«, so summierte Vitzthums seinen Eindruck, solle Sachsen wohl abgespeist werden; denn Hertling habe Sachsen als Ausgleich lediglich die Heirat eines sächsischen Prinzen mit der Großherzogin von Luxemburg vor- geschlagen. Der Reichskanzler habe ihn gefragt, ob Sachsen ebenfalls so weitreichende Zukunftsgedanken hege wie Bayern. Er habe ihm geantwortet, dass es doch der bayerische Ministerpräsident sei, der die Ansicht vertrete, in einem künftigen Frieden dürfe nicht allein Preußen einen Gebietszuwachs erhalten, »sondern anderen Bundesstaaten auch ein Anteil an der Beute zustehe«78. Dieser Hinweis Bayerns sei angesichts der föderalistischen Struktur des Reichs anzuerkennen. Sachsen sei sich jedoch durchaus der Schwierigkeit bewusst, eine entsprechende Kompensation zu fordern. Bethmann habe sodann die Meinung vertreten, dass in diesem Krieg nicht die Bundesstaaten Länder für sich eroberten, sondern das Deutsche Reich. Daher müsse auch die Reichsgesetzgebung bestimmen, was mit eroberten Ländern geschehen solle. Eine Einverleibung Belgiens ins Reich komme seines Erachtens nicht infrage. Inzwischen aber habe sich gezeigt, so habe der Reichskanzler weiter aus- geführt, dass es doch wohl besser gewesen wäre, Elsass-Lothringen bereits 1870 an die angrenzenden Bundesstaaten zu verteilen. Er frage sich deshalb, ob nicht jetzt die Gelegenheit genutzt werden könne, diesen Fehler wieder gut zu machen. Baden habe schon damals den Erwerb des Elsass ausgeschlagen und würde es jetzt wohl wieder tun. Württemberg und Sachsen lägen geografisch zu weit ent-

77 Vgl. zum Folgenden Schreiben Vitzthum an Stieglitz, Abschrift, 4.12.1914, Sächsisches Haupt- staatsarchiv Dresden, Sächs. Gesandt. Berlin, Nr. 285, Bl. 1–3. 78 Ebd., Bl. 1. OLDENBOURG Bundesstaaten und Reichsleitung 21 fernt, deshalb komme nur eine Aufteilung des Reichslands zwischen Preußen und Bayern in Frage. Er (Vitzthum) habe dem Reichskanzler daraufhin entgegnet, die sächsische Regierung – damit meinte er König Friedrich August III. – habe zu diesem Thema zwar noch nicht Stellung bezogen, für ihn persönlich komme eine Vergrößerung Bayerns, wenn Sachsen leer ausginge, jedoch nicht infrage. Vitzthum schloss sein Schreiben an Stieglitz mit den Sätzen:

»Ich halte es für erwünscht, Dich über diese Gespräche zu informieren schon um Dir an- zudeuten, dass ich mich nicht vor den bayerischen Wagen spannen lassen will. Ich glaube ja, dass es Hertling durchaus ehrlich meint, wenn er an den Vorteilen des Friedens auch Sachsen teilnehmen lassen will. Aber weder Preußen noch Bayern werden geneigt sein, uns eine Quadratrute ihres Landes als Kompensation abzutreten. Liegt die Sache aber so, so würde eine bedeutende Vergrößerung Bayerns seine Stellung im Reiche wesentlich stärken und nur dazu führen, dass Preußen noch mehr als bisher schon, sich in allen wichtigen Fragen zunächst mit Bayern verständigt, und die sächsischen Interessen den vereinig- ten preußisch-bayerischen Interessen gegenüber ins Hintertreffen geraten. Dann wäre mir schon lieber ganz Elsass-Lothringen würde eine preußische Provinz79.«

Was die bundesstaatlichen Kriegsziele anbelangte, so endete das erste Kriegsjahr für Reichskanzler Bethmann Hollweg mit einer Information des Auswärtigen Amts über die Forderungen, die der bayerische König am 23. Dezember 1914 in einem Gespräch mit dem Reichstagsabgeordneten des Zentrums Matthias Erz- berger in München geäußert hatte. Erneut unterstrich Ludwig III. dabei den Anspruch seines Bundesstaats auf das Elsass, wo er die bayerische Verfassung einzuführen gedachte. Belgien solle Deutschland, allerdings nicht als Reichsland, angegliedert werden und der König fuhr fort: »wenn Preußen Belgien nicht wolle, würde Bayern es gern machen«80. Nachdem das Auswärtige Amt den Reichs- kanzler über dieses Gespräch informiert hatte, bat Bethmann Hollweg die bayeri- sche Regierung, Erzberger mitzuteilen, dass solche Gespräche über Kriegsziele wegen der gefährlichen Folgen vermieden werden sollten81. Zudem sah sich der bayerische Ministerpräsident selbst noch zu einem Schreiben an Erzberger veranlasst, in dem er den Politiker bat, das Gespräch mit König Ludwig III. vertraulich zu behandeln. Hertling fügte ganz offen hinzu, dass »es im Interesse der Sache gelegen sei, wenn ein möglichst kleiner Per- sonenkreis von den Plänen und Wünschen Seiner Majestät vorerst unterrichtet sei, damit nicht etwa die Sache von anderen Bundesregierungen durchkreuzt

79 Ebd., Bl. 3. 80 Schreiben Unterstaatssekretär Jagow an Zimmermann, 31.12.1914, abgedr. unter Anmerkung 1 zum Schreiben Lerchenfeld an Hertling, 8.1.1915. In: Briefwechsel Hertling–Lerchenfeld (wie

Anm. 37), Dok. 147, S. 379. 81 Ebd. 22 Reiner Pommerin OLDENBOURG werde«82. Sowohl die zitierten Sätze Vitzthums als auch die des bayerischen Ministerpräsidenten unterstreichen die zwischen den Bundesstaaten und beson- ders zwischen den drei Monarchien Bayern, Preußen und Sachsen bestehenden unterschiedlichen Auffassungen über Kriegsziele. Um eventuelle Friedensver- handlungen nicht zu belasten und unnötig zu erschweren, sah sich Bethmann Hollweg am Ende des Kriegsjahres 1914 veranlasst, die öffentliche Diskussion über Kriegsziele zu untersagen83. Ohne darauf hier im Detail näher eingehen zu können, soll zumindest erwähnt werden, dass den Reichskanzler in den folgenden Jahren noch Kriegs- ziele weiterer Bundesfürsten erreichten, die sich, wie die Arbeit von Karl-Heinz Janßen feststellt, zumeist auf die Errichtung von deutschen Dynastien im ost- europäischen Raum richteten. Allerdings konnte Janßen für seine Arbeit nicht die in der DDR liegenden Archivalien früherer Bundesstaaten einsehen. So konnte beispielsweise erst im Jahr 2009 beschrieben werden84, dass die den Reichskanz- ler aus Sachsen erreichenden Kriegsziele ebenfalls in diese geografische Richtung wiesen. Flankierend dazu forderte der sächsische König im Juni 1916, wenn auch vergeblich, eine Verlegung der Königlich-Sächsischen Truppen im XII. Armee- korps an den östlichen Kriegsschauplatz mit der unverständlichen Begründung, dass der Stellungskrieg im Westen seinen Truppen bisher keinen offensiven Ein- satz ermöglicht habe85.

Kriegsende und bundesstaatlicher Egoismus

Am 20. Januar 1918 berichtete der österreichisch-ungarische Gesandte in Dres- den, Karl von Braun, nach Wien, wie befremdend und alarmierend es auf die Regierung des Bundesstaats Sachsen gewirkt habe, zu erfahren, dass bei den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk 1917/18 ein bayerischer Gesandter Mit- glied der deutschen Delegation war. Von dem Bayern bereits im Rahmen der Versailler Verhandlungen eingeräumten Reservatrecht, bei Friedensverhandlun- gen einen eigenen Unterhändler zu entsenden habe die sächsische Regierung erst jetzt erfahren. Dabei sei die Regierung in Dresden doch der Überzeugung, »dass

82 Schreiben Hertling an Erzberger, 8.1.1915, zit. nach Janßen, Macht und Verblendung (wie Anm. 35), S. 43. 83 Vgl. die Verfügung über die Freigabe der Kriegszieldiskussion, 15.11.1916. In: Ursachen und

Folgen (wie Anm. 34), Dok. 195, S. 369 f. 84 Vgl. Reiner Pommerin, »Polen gegen uns eingenommen und stark jüdisch durchsetzt«. König

Friedrich August III. und die Kriegsziele Sachsens im Ersten Weltkrieg, Potsdam 2009. 85 Vgl. Hoffmann, Die sächsische Armee (wie Anm. 30), S. 327–334. OLDENBOURG Bundesstaaten und Reichsleitung 23 speziell Sachsen aus historischen und geografischen Gründen neben Preußen an erster Stelle unter den deutschen Bundesstaaten ein Interesse an der Gestaltung der Dinge im Osten habe – jedenfalls mehr als Bayern«86. Unter Hinweis auf entsprechende Initiativen des Königreichs Bayerns, dessen Sonderrolle bei den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk gewiss ebenfalls mit- spielte, forderte ein Antrag der Konservativen im sächsischen Landtag im März 1918 den Ausbau der Auswärtigen Vertretungen Sachsens87. Verstärkt werden sollte das Personal der sächsischen Vertretungen in Berlin, München und Wien. In Stuttgart, Bern, Kopenhagen, Bulgarien, Polen, der Türkei sowie der Ukraine sollten neue sächsische Vertretungen errichtet werden88. Graf Vitzthum begrüßte diesen Antrag im Namen der sächsischen Staatsregierung als sehr zweckdienlich, »jedoch noch nicht [als] spruchreif«. Er kündigte aber als einen ersten Schritt an, den sächsischen Gesandten in Wien in Kürze gleichzeitig auch in Bulgarien akkreditieren zu lassen. Sogleich wurde die für einen in Sofia notwendigen ständigen Geschäftsträger

Sachsens erforderliche Summe von 30 000 Mark von der Zweiten Kammer des sächsischen Landtags bewilligt89. »Der alte Partikularismus, der namentlich in den letzten Jahrzehnten hier schon stark im Verschwinden begriffen war«, kommen- tierte im August 1918 der österreichisch-ungarische Geschäftsträger Ladislaus Graf Hoyos diese Vorgänge in Dresden in seinem Bericht nach Wien,

»beginnt wieder sein Haupt zu erheben […] Während sich früher der Neid der Einzelstaaten, getreu der guten alten deutsche Tradition, gegen alle anderen in rührender Unparteilichkeit richtete, hat sich die Lage hier nunmehr allmählich dahin geändert, dass man mehr und mehr in Preußen den Gegenstand seiner Ablehnung erblicken zu müssen glaubt. Als Folge davon machen sich in letzter Zeit Ansätze zu einer Tendenz bemerkbar, die sich ein engeres Zusammengehen der Bundesstaaten untereinander mit Spitze gegen die zentralisierenden preußischen Bestrebungen zum Ziele setzt. Hierin könnten die Keime zu tiefergehenden Änderungen in der Struktur des Deutschen Reiches liegen90.«

86 Ebd., S 356. 87 Vgl. Jörg Ludwig, Sächsische Außenpolitik 1871–1918. In: Die Außenpolitik der deutschen Länder im Kaiserreich (wie Anm. 4), S. 72. 88 Die Bundesstaaten hatten nach 1871 einen Großteil ihrer außerdeutschen Vertretungen geschlossen. Vgl. Hans-Joachim Schreckenbach, Innerdeutsche Gesandtschaften 1867–1945. In: Archivar und Historiker. Studien zur Archiv- und Geschichtswissenschaft zum 65. Geburtstag von Heinrich Otto Meissner, Berlin 1956, S. 405. 89 Vgl. Hoffmann, Die sächsische Armee (wie Anm. 30), S. 357. 90 Schreiben Ladislaus Graf Hoyos an den Minister des Äußern, Stephan Graf Burian, 14.8.1918, Haus- Hof und Staatsarchiv Wien, Politisches Archiv des Ministeriums des Äußern 1848–1918 V. Sachsen (Dresden) 1848–1918: Berichte. Weisungen, Varia 1870–1918, Karton Nr. 56 (1917–1918),

Z 140, S. 395–406. Eine Kopie dieses Schreibens verdanke ich meinem Kollegen Prof. Dr. Rudolf Agstner, Wien. 24 Reiner Pommerin OLDENBOURG

König Friedrich August III. stellte anlässlich seines Besuches in Sofia König Ferdinand I. von Bulgarien am 18. September 1918 den sächsischen Gesandten in Wien, Alfred von Nostitz, vor; denn dieser sollte neben seiner Aufgabe in Wien Sachsen auch in Sofia vertreten. Nostitz wurde in Sofia noch am selben Tag als außerordentlicher sächsischer Gesandter und bevollmächtigter Minister ebenso wie der ständige Geschäftsträger Sachsens, Rudolph Steinbach, akkreditiert91. Das Auswärtige Amt kommentierte diesen Schritt des Bundesstaats Sachsen in einem Schreiben vom 24. September 1918 an den preußischen Gesandten in Dresden, Ulrich Graf von Schwerin, mit den warnenden Worten:

»[D]iese Maßnahme könne im Ausland den Eindruck erwecken, als fühlten sich die Bundes- staaten im Reichshause nicht mehr wohl und als lockerte sich das Gefüge des Reiches. Gerade während des Krieges wäre es angezeigt gewesen, einen solchen Eindruck zu ver- meiden, der dazu beitragen kann, den Hoffnungen auf den inneren Zusammenbruch des Reiches, die von unseren Gegnern gehegt werden, Nahrung zuzuführen92.«

Eine eher erheiternde Marginalie aus dem Jahr 1918 sagt nicht nur etwas über die Hochkonjunktur aus, die der Heldenkult im Ersten Weltkrieg erfuhr93, sondern sie spiegelt in gewisser Weise auch das eingangs am Beispiel Sachsens und Bayerns charakterisierte Verhältnis zwischen den Kontingentsarmeen. Dem erfolgreichen Jagdflieger und Führer einer Jagdstaffel, Leutnant Ernst Udet, wurde nach der Verleihung des Ordens Pour le Mérite am 9. April 1918 bei einem Aufenthalt in München vonseiten der bayerischen Armee das Angebot gemacht, von der König- lich-Preußischen Fliegertruppe in die Königlich-Bayerische Fliegertruppe zu wechseln. Als Inhaber des Pour le Mérite wäre Udet dann automatisch der König- lich-Bayerische Militär-Max-Joseph-Orden verliehen worden, der mit der Erhebung in den Adelsstand verbunden war. Udet schlug dieses Angebot jedoch aus und blieb lieber preußischer Offizier94. Bereits zu Beginn des Ersten Weltkriegs hatte sich gezeigt, dass die Bundes- staaten nach vierzig Jahren Nationalstaat Deutsches Reich trotz allem äußeren »gesamtdeutschen« Anschein ihre historische, auf die Region und ihre Landes- fürsten bezogene Identität keineswegs bereits aufgegeben hatten. In einer sich

91 Vgl. Hoffmann, Die sächsische Armee (wie Anm. 30), S. 358. 92 Zit. nach Sebastian Dommes, Landesaußenpolitik unter Waffen. In: Die Außenpolitik der deutschen Länder im Kaiserreich (wie Anm. 4), S. 116 f. 93 Vgl. René Schilling, »Kriegshelden«. Deutungsmuster heroischer Männlichkeit in Deutsch-

– land 1813–1945, Paderborn [u. a.] 2002 (= Krieg in der Geschichte, 15), S. 271 288. 94 Vgl. Armand van Ishoven, Ernst Udet. Biographie eines großen Fliegers, Herrsching 1977,

S. 75. Allerdings hatte die Königlich-Bayerische Fliegertruppe 1915 Udet als noch zu jung abge- wiesen. OLDENBOURG Bundesstaaten und Reichsleitung 25 immer stärker zentralisierenden Verfassungswirklichkeit, die automatisch einen Bedeutungsverlust des Bundesrates nach sich gezogen hatte, vermochten die Bundesstaaten ihre Interessen gegenüber dem Reichstag oder der Reichsleitung immer weniger einzubringen. Dennoch waren der Behauptungswillen sowie das Eigenbewusstsein der einzelnen Länder keineswegs geschwunden95. Dem Bundesstaat Preußen wurde, wie Karl-Ludwig Ay für das König- reich Bayern ermittelt, ein Hang zum »verderblichen Unitarismus«, zur »erbar- mungslose[n] Majorisierung aller nichtpreußischer Bundesstaaten«, unterstellt. Es herrschte – gewiss nicht nur in Bayern – die Sorge um die föderative Verfassung Deutschlands und vor allem davor: »nach dem Krieg durch Preußen völlig an die Wand gedrückt, völlig ohnmächtig gemacht zu werden«96. Diese Sorge bewog zunächst die Könige von Bayern und Württemberg durch das Einbringen von Kriegszielen bei der Reichsleitung schon frühzeitig für eine Vergrößerung ihrer Territorien nach einem Friedensschluss vorstellig zu werden. Im Verlauf des Krie- ges folgten ihnen weitere Bundesfürsten wie Großherzog Friedrich August II. von Oldenburg, Friedrich II. von Baden, Herzog Adolf Friedrich von Mecklenburg- Schwerin und Sachsens König Friedrich August III. mit eigenen Kriegszielwün- schen. Ab Mitte September 1914 erreichten Reichskanzler Bethmann Hollweg aus vielen Bereichen der Gesellschaft zahlreiche Denkschriften zu Kriegszielen. Doch – neben der günstig erscheinenden Kriegslage – veranlassten ihn in erster Linie wohl die auf eine Vergrößerung ihrer Territorien und ihres Einflusses im Deutschen Reich zielenden Kriegszielforderungen der Fürsten von Bundesstaa- ten, auch für die Ebene der Reichsleitung vorläufige Richtlinien für einen eventu- ell schnell abzuschließenden Friedensschluss zusammenstellen zu lassen. Die Forderungen auf territoriale Erweiterung und wirtschaftlichen Macht- zuwachs einzelner Bundesstaaten belasteten zwangsläufig das Verhältnis der Reichsfürsten zueinander. Die aus den unterschiedlichen Kriegszielen rührenden Spannungen zwischen den Bundesstaaten des Deutschen Reichs kommentierte der Gesandte von Braun, am 27. Februar 1918 mit den Worten:

»Bayern hat unter allen deutschen Bundesstaaten wohl den stärksten Appetit auf Macht- zuwachs. Preußen, Sachsen und Württemberg konstatieren das unerfreut. Bayern und Sachsen ›packeln‹ aber trotzdem miteinander gegen Preußen, und Württemberg, das nicht recht weiß, wie und wo es sich eine Kompensation holen soll, steht verdrossen bei Seite97.«

95 Vgl. Frank-Lothar Kroll, Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg, Berlin 2013 (= Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert, 1), S. 104. 96 Karl-Ludwig Ay, Die Entstehung einer Revolution. Die Volksstimmung in Bayern während des

Ersten Weltkrieges, Berlin 1968, S. 87 f. 97 Hoffmann, Die sächsische Armee (wie Anm. 30), S. 356. 26 Reiner Pommerin OLDENBOURG

Das Verhalten der Bundesstaaten des Deutschen Reichs gegen Ende des Ersten Weltkriegs lässt sich mit den Worten von Ingeborg Koch treffend zusammenfas- sen:

»Je mehr sich der Krieg seinem Ende näherte, wandten sich die Bundesstaaten ihren eigenen Interessen zu. Sie versuchten, die Belange ihrer Dynastien zu wahren und sie über den un- vermeidlich gewordenen Zusammenbruch hinweg zu retten. Eine Teilnahme an der Gesamt- politik des Reiches erfolgte nur noch in Bezug auf die Kriegsziele, an deren Verwirklichung die Bundesstaaten nicht zuletzt im Interesse ihrer Dynastien größte Teilnahme zeigten98.«

98 Koch, Die Bundesfürsten und die Reichspolitik (wie Anm. 54), S. 135.