Bad Alchemy 47 1985
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
BAD ALCHEMY 47 1985 NOW 1 2 The double wheel of the sun rolls in the sky out step the days I watch them wet & dry Bestimmte Rock-Genres abseits des Mainstreams halten sich nicht zuletzt deshalb so zäh, weil sie im Kern etwas enthalten, das süchtig macht, das alte Säcke fit hält trotz Hartz IV und inzwischen schon die dritte Generation von überqualifizierten Underachievern an- fixt. So findet auch der Art- & Prog-‚Freak‘ bei seinen Helden, bei Legenden wie Univers Zero und Geheimtipps wie Absolute Zero, Shapeshiftern wie King Crimson oder bei Neos wie Larval, Sotos, Pharaoh Overlord oder Guapo einen Kick, der nicht vom Brontosaurussaft aus der Fliege im Bernstein herrührt, sondern von der Lust auf Terra incognita und dem Spaß an überra- schenden, zwingenden Wegen dorthin. Aber wie kommt man dorthin und was ist anders dort? 21st CENTURY ART ROCK ? Der Rockstammbaum trieb Ende der 60er und im Laufe der 70er Blüten wie Pink Floyd (1965- ), Soft Machine (1966- 84), Gong (1967- ), Tangerine Dream (1967- ), Van Der Graaf Generator (1967-78), Can (1968-78), Cara- van (1968- ), Henry Cow (1968-78), Jethro Tull (1968- ), Yes (1968- ), Focus (1969- ), Genesis (1969- ), Gentle Giant (1969-80), Hawkwind (1969- ), King Crimson (1969- ), Magma (1969- ), UFO (1969- ), Ange (1970-84, 1995), PFM (1970- ), Banco (1971- ), Faust (1971- ), die jeweils selber wieder seltsame Früchte trugen. Die Adepten verständigen sich darüber mit Begriffen wie ‚Prog(ressive)‘-, ‚Jazz‘-, ‚Art‘-, ‚Symphonic‘-, ‚Psychedelic‘-, ‚Space‘- oder ‚Kraut‘-Rock und die Eingeweih- ten mit Shibboleths wie ‚Canterbury‘, ‚Zeuhl‘ oder ‚RIO‘ (Rock in Opposition). Fällt heute ein solcher Name, dann kann man, wie böse Zungen sticheln, sicher sein, dass ein Mitglied des Forums 55 versucht, sich die Zeit vor dem Bierbauch schön zu reden. Das Methusalem- syndrom in full effect? Wer selbst nur auf der Dacapoweide mit den Hufen scharrt, sollte wissen, dass Infantilität und Senilität sich gern die Hand geben. Wie sollte sich ausgerechnet die Popgeschichte dem Zahn der Zeit und den Dilemmata der Postmoderne entziehen kön- nen? Die Wegwerfmentalität der Popkultur, angestoßen vom Zwang, ewig jung und immer neu erscheinen zu sollen, wird seit einem Vier- teljahrhundert verfolgt von Historisierung und Recycling und immer öfter rechts überholt. King Crimson haben das Paradox schon vor Jahren erfasst – der ‚21st Century Schizoid Man‘ ist ein ‚Dinosaur‘. Wem der Begriff Evolution als zu biologisch nicht schmeckt oder wer darauf beharrt, dass der Mensch kein Vogel ist, der kann den Drang zu Innovation und Variation gern auch materialistisch aus den Gesetzen von Angebot & Nachfrage ableiten. Chris Cutler, Henry-Cow-Trommler und ReR Megacorpmacher, hat allerdings darauf hingewiesen, dass das Stichwort ‚progressive‘ aus durchsichtigen Gründen gerade dann ins Spiel kam, als die Rasanz der Popentwicklung als Bündnis des Populären mit dem Materialfortschritt Ende der 60er ins Stocken kam. Dabei ist Pop als Soundtrack des eigenen Jungseins, das sich gleichzeitig als Teil sozialer Bewegtheit erlebt, ein Schatz, dessen Fundort sich immer nur als Kerbe im Bootsrand markieren lässt. Aber gerade die Abenteuerlustigen stechen mit jeder Nussschale in See. Horizont- & Bewusstseinserweiterung post ’68 hieß musikalisch, die Wurzeln im Blues & Rock‘n’Roll zu lockern und statt dessen Exkursionen durch Anderland zu unternehmen. Es hieß, die Anregungen durch Ästhetiken, die an sich adult-orientiert waren, durch Miles Davis, durch ‚Weltmusik‘, durch Orff, Varese, Stockhausen, aber auch durch Science Fiction & Fantasy als dem Genre, das sich dem Aufbruch über die Grenzen von Raum & Zeit, dem Durchbruch auf die andere Seite, verschrieben hat, zu nutzen für bis dato unerhör- te Brainiac-Komplexität, psychedelische Abgedrehtheit und schnittige Warpsprünge. Die dann schon mal, vor allem wenn Keyboarder Cpt. Kirk spielten, wie Kubriks 2001-Odysseus im Gelsenkirchener Barock endeten. ‚Klassikrock‘-Gruppen wie Nice, Emerson Lake & Palmer, Ekseption, Renaissance, Aphrodite’s Child, New Trolls trieben ihre bombastischen, von Spätromantik und Wagnerianischen Gesamtkunstwerkambitionen abgekupferten Kapriolen. Und ihr zweifelhaftes Erbe mitsamt nibelungentreuen Fans gurkt 30 Jahre später immer noch zwischen BaRockoko und Keyboardschwulst umher, als kurioses Relikt der 70er. Roger Behrens hat über die Ansätze, die kanonisierte Klassik rockistisch und illusionistisch zu beerben, Treffendes gesagt (Progressivrock als zeitlose Unmode in Testcard 4). www.progarchives.com führt unter den ‚50 most popular titles‘ keine einzige RIO-Formation. “Pathetic!”, kann Poes Rabe dazu nur knarren. 3 In Frankreich bildete die durch Magma angestoßene Zeuhl-Ästhetik eine eigene Ni- sche aus, von ArchaÏa bis Potemkine, Weidorje & Zao, mit einem späten Höhepunkt in Shub Niggurath. Daneben lebt der Spacerock von Heldon in Richard Pinhas fort. Albert Marcœur ist eine solitäre Kultfigur für sich. Von den Pataphysikern & Ubunauten ist nur ein Lächeln in der Luft geblieben. DDAA sind als Blaupause für alteuropäische Seltsamkeit bis heute unübertroffen. Und Magma selbst hat als Alien-Gospeltruppe mit Kultstatus seine aus Coltrane, Orff und Orkattacks gebündelte Ästhetik des Erhabenen bis heute virulent gehalten, mit Auswirkungen bis nach Japan, wo Yoshida Tatsuya mit den Ruins den Fernen Osten im Geiste von Christian Vander missioniert. In England hat Robert Fripp sich mit King Crimson über die Jahrzehnte hin- weg mehrfach gehäutet und mit der Dynamik des Materialfortschritts neu erfunden. Ähn- liches auf ganz andere Weise ist dem australischen Pothead Daevid Allen gelungen mit immer neuen Inkarnationen von Gong bis hin zu seiner University of Errors oder Guru and Zero. Aber vor allem die Canterbury-Urzelle Wilde Flowers, auf- gefächert in Soft Machine, Caravan, Egg, Hatfield and the North, Matching Mole, National Health etc., ist ein Leitfaden für Nostalgiker geblieben, die Elton Dean (*1945), Hugh Hopper (*1945), Phil Miller (*1949) Steve Miller (1943-1998), Pip Pyle (*1950) & Robert Wyatt (*1945) die Treue hielten und letzterem in tiefe Melancholie gefolgt sind, den anderen in seichtere Fusiongefilde und Arrieregarde-Abenteuer mit In Cahoot, Equip’Out, Short Wave, Bash!, Hughscore oder Bone. Manfred Bress hat in seinen Canterbury-Nachrichten getreulich alle Windungen & Irrungen protokolliert. Die hierzulande speziell bei der antideutschen und hippiephoben Pop-‘Linken‘ lange verpönten Kraut-Schandtaten wurden erst mit den Blicken durch englische Brillen rehabilitiert. Standen Chris Cutler mit seinem Faible für Faust und Steven Stapleton mit seinem krautophilen Spleen lange isoliert, haben die Freeman-Brüder mit Audion & The Crack in the Cosmic Egg und vor allem Julian Copes eu- phorischer Krautrocksampler zu einer Neubewertung der deutschen Rock-Weirdness von Agitation Free, Amon Düül, Anima & Ash Ra Tempel bis Tangerine Dream und Xhol geführt. Inzwischen wird nicht nur im Underground der semilegendäre Ohr- & Pilz-Stoff wiederveröffentlicht. Auch Can und vor allem Neu sind als Anfixdrogen für Punk (speziell PIL) & Postrock (von Sonic Youth über Jim O‘Rourke bis Stereolab) anerkannt. Japanische Psychedeliker, finnische Neoschamanen & Dröhnfreaks wie Avarus und Circle, schwarze Rapper wie Dälek, die kanadische Constellation-Kommune und unamerikanische Weirdness-Kids wie Animal Collective, Black Dice, Jackie O’Motherfucker oder Urdog, sie alle zehren inspiriert von den Beständen altdeutscher Hippie- & Left-Field-Trips. Und mit Faust gibt es eine Urformation, die ihre entartete, von Suhrkamp-Poppern & dergl. Schmockkonsorten gern als “schrecklich” apostro- phierte Musik mit stalingradscher Ausdauer ins Heute transferiert hat, während die ebenfalls überlebenden Embryo ihr Multikulti- hippietum als nomadische Lebenskunst praktizieren. Am I Ezekial, sleeping Do I dream this wheel revolving - a wheel within a wheel? Or is it Real? Aber was mich hier interessiert, ist das bad alchemystische 5. Element, die Henry Cow-Tradition und der RIO-Substream als Legat eines wenn nicht progressiven so doch emanzipatorischen Way of Life: Chris Cutler (*1947), mit ReR Megacorp seit 1978 unverdrossener Sachwalter der File-under-popular-Utopie, verfolgte nach News From Babel und Cassiber seine Interessen an Recommended-Beats, Liveelektronik und Studiowizardry weiter, solo (Solo, 2002, Twice Around The Earth, 2004), mit Greaves im Peter Blegvad Trio, mit Zeena Parkins, mit David Thomas in Pere Ubu und dem Mirror-Man-Projekt, mit Jon Rose, Thomas Dimuzio, Lutz Glandien, Steve MacLean, Jean Marc Montera, Jean Francois Pavros, Tony Buck, Jim Menenses & Projekten wie p 53, The Science Group, Vril, dem Palinckx Project oder dem Drum En- semble. Zusammen mit Stevan Tickmayer schrieb er das Musiktheaterstück Signe de Trois, zusammen mit dem Ensemble d'Im- provisateurs Européen führte er Cornelius Cardew's Treatise auf und er wirkte mit an Live-Filmsoundtrackperformances zu Carl Theodore Dryers Vampyr, Chaplins The Goldrush und Roger Cormans X, the Man With X-Ray Eyes. Über seinen Mailorderkatalog 4 zeigt er sich wie eh und je als unermüdlicher und eloquenter Propagandist metamodischer und aufgeklärter Musiken, die das Gütesiegel ‚Recommended‘ verdienen, weil sie die Agenda eines Progress of Humanity ästhetisch maximalistisch verfolgen. 1999 auf einer Japan- tour mit dem Hugh Hopper & Daevid Allen Trio (Gong International Family 30th birthday) demonstrierte Cutler sogar den direkten Schulterschluss mit Fellow Travelers der frühen ‚Prog‘-Jahre. Fred Frith (*1949) hat mit seinen Steps