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Jean Metzinger und die ‘Königin der Klassiker’; eine Cyclopädie des Kubismus

von Sonya Schmid und Erasmus Weddigen (mit Änderungen vom Herbst 2010)

„Das Bild nahm den Raum in Besitz und so herrscht es auch in der Zeit.“ August 19111.

Jean Metzingers2 unlängst aufgetauchte Ölstudie eines Coureur Cycliste3 bzw. Radrennfahrers von 1912 zeitigte in der Folge ihrer Restaurierung eine ikonologische und ikonographische Untersuchung mit überraschenden Ergebnissen. (Abb.1) Dies umso mehr, als es sich um einen Maler des Kubismus handelt, den die Historie und Kritik dank der heute notorischen Fokalisierung auf die Protagonisten Braque und Picasso allzusehr in den Hintergrund zu drängen pflegt. Das kleine Gemälde ist in mehrfacher Weise ein erster Versuch, die Theorien des futuristischen Bewegungsbildes, die neuen Ideen der Bildsimultaneität und Darstellung der ‘vierten Dimension’ mit den kubistischen Prinzipien der Flächengestaltung, der Verhältnismäßigkeit von Ordnung, Volumen und Farbvaleurs zu verbinden.

Das Bild und seine Varianten Vor einem steilen, durch gelbe, weiße, orange und rote geometrische Farbfelder unterteilten Hintergrund, ist ein Radrennfahrer (als solcher durch einen Helm, horizontal vornehmlich blau und rot breitgestreiftem Trikot und die Startnummer ‘4’ auf seinem Rücken gekennzeichnet) im Halbprofil auf einem nur zur Hälfte sichtbaren Fahrrad mit leicht eingeschwungenem Lenker dargestellt. Vermutlich wandte der Künstler für seine vertikale Flächenaufteilung die Prinzipien des Goldenen Schnittes an, was in Anbetracht seiner Interessen für Mathematik4 und Geometrie, seiner früheren Versuche als Pointillist und letzlich als Mitglied der Gruppe ‘Section d’Or’ naheliegt. Eine links nach oben steigende, schwarz nachgezogene Diagonale, sowie zwei Fahnen mit den französischen Nationalfarben könnten an die Existenz einer Tribüne erinnern, die sich im bekannten großen Gemälde Au Vélodrome5 der Sammlung Guggenheim in Venedig (Abb.2), dort aber in räumlicher Naturtreue, wiederfinden. Ein weiteres topographisches Indiz ist jene weiße, durch Sandbeimischung akzentuierte Hintergrundsfläche, die buchstäblich die Sandpiste eines Stadiums, bzw. einer Arena6 anklingen lässt. Während Metzinger die Innenflächen der Rennfahrerfigur in kubistischer Manier facettiert, behält die Kontur realistische Formen und das Fahrrad ist gar detailgetreu (mit angedeuteten Radspeichen) konterfeit. Obwohl der Champion im prüfenden Blick zurück, das dramatische Verfolgungsmotiv eines Radrennens auszudrücken scheint, verharrt er in einer eher statischen, ja fast eingefrorenen Position. Nur die gestrichelten Speichen vermögen Geschwindigkeit und der vorgebeugte Körper die Anstrengung gegen den in den wehenden zwei Trikoloren zu spürenden Gegenwind auszudrücken. Erst im angesprochenen Guggenheim'schen Gemälde Au Vélodrome wird die Absicht, Endspurt und Sieg des Sportlers unmittelbar erlebbar zu machen, verständlicher: im Sinne der Futuristen wird der Beschauer dort „nel centro del quadro“ geführt; in der Tat fühlt man sich regelrecht von Mann und Maschine überfahren. Die Arena ist durch ihre perspektivische Rückfluchtung vektorielles

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Mittel, den Ablauf der Fahrerbewegung zu kanalisieren, ja zu beschleunigen, wobei die Darstellungsmittel eine halb impressionistische, halb kubistische Auflösung nutzen. Eine leicht wehende Trikolore unterstreicht sowohl die Fahrtrichtung als auch ein inhaltliches Indiz: auch der Rückenwind wird dem Fahrer zum Siege verhelfen. Derweil unser Fahrer in der Ölstudie eher den Eindruck des einsamen Vorreiters erweckt, lässt uns Metzinger im endgültigen Gemälde, indem er am linken Bildrand das Hinterrad des Gegners einfügt, an einem Zweikampf teilnehmen. Der hier noch Zweite hielt sich somit bisher kräftesparend im Windschatten des Ersten, um auf den letzten Metern durch einen herkulischen Spurt den Gegner zu überwinden. Die Anstrengung dieses Finale verbildlicht Metzinger mit der schattenhaften simultanen Wiedergabe eines abgewinkelten zweiten Lenkrades und verdoppelter Umrisse der zupackenden Fäuste: ein Sprinter hebt sich bekanntlich aus dem Sattel und wirft sein Rad in Schaukelbewegungen beidseits, um seinen Körper aufrecht ohne Kräfte- und Stabilitätsverlust ganz auf die Tretarbeit konzentrieren zu können. Vom Gegner ist in Au Vélodrome lediglich das rotierende Rad und eine grüne Trikothose zu sehen; aber auch der Boden auf dem der Überholende fährt, ist ein verwischendes Fluchtbild des Terrains, abgesetzt von der dahinter sich ausbreitenden Arena mit ihrem Sandboden, dessen hartkantiges Ein- und Ausbuchten gleichsam die Überholbewegungen des Spurters in örtlich-zeitlicher Simultaneität vorwegnimmt. Die Schnelligkeit des künftigen Siegers ist so gross, dass Kopf, Hals und rechter Arm nurmehr als transparentes Schemen über die Zuschauermenge der Tribünen hinwegrast - ja die flachovale Physiognomie des Fahrers bleibt, trotz der sorgfältigen Angabe mittelgescheitelten, welligen Haars unter einer engen kalottenartigen Sturzhaube, wenig individuell. Die beispielhafte futuristische Anregung, man könne ‘durch die Wange einer Person hindurch die Hintergrundszene ausmachen’ ist geradezu wörtlich realisiert7! Auch die Wiedereinführung des deskriptiven, wie graphischen Schwarz in Rad und Fahrer zur ‘Beschreibung’ von Abläufen, zur Akzentuierung von anti-impressionistischer Kontur und als Mittel die Charakteristik des Maschinellen, Haptischen, Sperrigen, Volumenlosen herauszustellen, könnte ein versuchsweiser Schritt in futuristisches Territorium sein. In unserer Ölstudie hingegen finden wir nur ansatzweise ähnliche Transparenz und Konturierungen, die noch hauptsächlich zur Unterteilung und Abgrenzung der einzelnen Farbfacetten dient. Auch die gewisse Zaghaftigkeit, mit der die Gestalt des Fahrers angegangen wird, macht es wahrscheinlich, dass Metzinger hier zum ersten Mal einen ‘coureur cycliste’ in seinem Bewegungsschema beobachtete.

Der aufgeklebte Zeitungsausschnitt in Au Vélodrome mit der Aufschrift ’ - ROUB...’ verweist uns auf das berühmte alljährlich stattfindende Tagesrennen Paris - Roubaix. Von Paris (Start in Chatou bei Paris) führte die ca. 266km lange Strecke über St. Ouen, Beauvais, Breteuil, Amiens, Arras, Henin, Seclin zur nordfranzösischen an der Grenze zu Belgien liegenden Industriestadt Roubaix. Schon 1896 war das Rennen von den Direktoren der Winterrennbahn Roubaix (Théodore Vienne und Maurice Perez) ins Leben gerufen worden8 und avancierte seither zur ‘Königin der Klassiker’ der Berufsfahrer. Die Popularität - zum 17. Rennen von 1912 sollen 10’000 Sportbegeisterte allein das Stadion besucht haben - war nicht zuletzt auf die mörderische Strecke, die über 60km Kopfsteinpflaster und auch Naturstraßen einschloß, zurückzuführen. Zeitungsberichte aus der Vor-Osterzeit jenes Jahres nennen die berühmt-berüchtigte Fahrt (wie noch heute) die ‘Hölle des Nordens’, da viele Pannen, Ausfälle durch Stürze und Reifenschäden an der Tagesordnung waren. Ein delirantes blumenwerfendes Publikum säumte die

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Straßen, deren Staub den Augen der Fahrer zu schaffen machte; schlimmer waren die von den „bandits de la route“ namentlich bei Doulens ausgestreuten Tapeziernägel (‘les hideux clous’), die Hekatomben von Schläuchen zur Strecke brachten. Metzinger spielt auf diese ‘Schwierigkeiten’ mit einer zweiten Zeitungscollage ‘PNEUS’ auf den Tribünenschranken an. Die mit Sand strukturierte Bodenfläche, sowie die grauen Schlieren dürften an die besagten Naturwege, bzw. die in hoher Geschwindigkeit überwundene, optisch verwischte Kopfsteinpflasterung erinnern. Die in der Skizze persönliche Startnummer „4“ auf dem Rücken des Fahrers ist nun zur planen, an der Tribünenpalisade aufgerichteten Signalisierungsscheibe geworden, die vermutlich die noch zu fahrenden Endrunden anzeigt. Im ohnehin auch farblich verhalteneren und freskenhaften Au Vélodrome finden sich im Gegensatz zur Skizze auch im Himmel und im Tribünenfeld Sandeinschlüsse, so als würde die rasante Fahrt zusätzlich Sand aufwirbeln. Zum endgültigen Gemälde Au Vélodrome in Venedig existieren bis zum gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse vier ‚Entwürfe‘: ein Ölgemälde auf Leinwand 9, ein Aquarell10, eine Blei/Farbstift-Zeichnung11 und eine Kohlezeichnung12, die alle getreu den Bildaufbau vorwegnehmen. Die auffallendste ‚Studie‘ ist jenes mittelgroße Leinwandgemälde (das wir mangels Standortwissens nach seinem Verkauf 1993 in Enghien benennen wollen), zumal es über weite Bildteile verteilt ebenfalls mit Sandstrukturen gearbeitet ist, die mit ihren sorgfältig geplanten Abgrenzungen den Gegensatz von ruhenden und vektoriell- bewegten Flächen betonen. (Abb.3) Die beiden -Schriften - sie dienen in allen Varianten als ein dank der Leserichtung und der perspektivischen Wirkung dem Radelnden entgegenstrebender Vektor, der die Geschwindigkeit des Protagonisten zu erhöhen versucht - sind hier nicht auf unmittelbare Lesbarkeit ausgelegt13, hingegen ist das Spurt- und Überholmotiv hervorgehoben, indem rechts das Gefährt eines dritten Konkurrenten angeschnitten ist. Der in perspektivischem ‘Fall’ dahinstiebende Champion mit seinem nun diagonal gestreiften Trikot ist somit ein ‘Ausbrecher’ und die Idee der Lenkradverdoppelung - eines ‘neueren’ bzw. rennsportlicheren Lenkers - kündigt sich, wenn auch kaum ausgesprochen14, an (jener des Verfolgers besitzt eine Rundung wie in der Schweizer Studie), doch ist die obligate „4“ wie in Venedig an den Tribünenrand gerückt. Noch kam dem Maler nicht die Idee der dynamistischen Körpertransparenz, aber die Radscheiben erinnern an gleichzeitige Simultanversuche Delaunay's und das staccatoartige Ausfluchten der Silhouette an die Bewegungsanalytik der Futuristen, deren grosse russische Repräsentantin Natalia Gontscharowa im Leningrader Fahrradfahrer 1913 ein vergleichbares Äquivalent schuf, der Boccionis Dinamismo di un ciclista von 1913 der Sammlung Mattioli und schon gar den Ciclista Mario Sironis von 1916 an Dynamik weit hinter sich liess. Fast als Vorskizze für die ‚Version Enghien’ könnte man das ganz ähnlich ausgearbeitete, aber müde wirkende Aquarell (Abb.4) halten, würden sich nicht die Tribünenschriften „PARIS-R...“ und „PNEU...“ so eindeutig auf das Rennen Paris- Roubaix der Endfassung beziehen. Im Aquarell ist das Haar der Fahrers mittelgescheitelt, während in der Ölstudie ‘Enghien’ dieses in rechtsdiagonalen Wellen über die gesamte Stirn hinflieht. Im Aquarell ist die geometrische Bodenformation des rechten Hintergrundes und die Stilisierung der dunklen unteren Rennradteile deutlich dem venezianischen Gemälde angenähert, (wenn nicht nachempfunden!), auch der ‘fliegende’ Boden - im Ölentwurf ‘Enghien’ in diagonalen Streifenformationen ausgedrückt - mutiert zu horizontalen Schraffuren. Das Tribünenvolk scheint nun das Inkarnat des Fahrers ‘unterwandern’ zu wollen...

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Die beiden künstlerisch etwas schwachen Kohle-Zeichnungen dienten sicherlich unmittelbar der Ausarbeit der Letztfassung: jene aus der Sammlung Johnson (Abb.5) scheint mit ihrer Kohleschattierung die geometrische Anlage der Stadiumspiste in Sandauflage zu konzipieren, während die Collagen bereits feststehen („PARIS RO...“ und „PNEUM...“). Ihr Pariser Gegenstück (Abb.6), an das sich das Aquarell unmittelbar angelehnt zu haben scheint, bereitet eine überzeugendere Hochformatigkeit vor (wieder liest man „PARIS [RO..]“ und diesmal „PNEUMATIQ..“). Laut handschriftlicher Datierung unterhalb der Signatur soll dieses letztere ‘1911’ entstanden sein, was aber aus darzulegenden Gründen wenig überzeugt: Signatur und darunterstehende Datierung sind über einer radierten bzw. angeschabten Stelle am unteren rechten Bildrand angebracht und, wie vermutlich öfters in Zeichnungen Metzingers, erst später beigefügt, ja sogar die Authentizität der Schrift ist angezweifelt worden15.

Nun liegt zwischen unserem Schweizer Coureur Cycliste, und der venezianischen Endfassung gemäß jüngster Erhebungen ein weiterer großer Coureur Cycliste auf Leinwand der ob einer wohl alten Klebeetikette auf dem Chassis mit „un cycliste N° 2“ bezeichnet ist und laut Archivmaterial der Guggenheim-Sammlung in Venedig dem Sammler Jorge S. Helft, , gehörte16, dessen Vater es 1940 in New York erstand (Abb.7). Seine lebhafte Farblichkeit liegt zwischen unserer ersten Ölskizze und seiner grösseren Variante in Öl. Wieder ist der Grundierung Sand beigemischt. Der Coureur hat gegenüber der frühesten Fassung an Nahsichtigkeit und Geschwindigkeit gewonnen, die diagonale stark herangerückte Schutz- und Tribünenwand besteht aus weißen vertikalen mit zahlreichen bunten Plakaten überklebten Latten, auf denen für verschiedene Produkte geworben wird (ein Fahrradrad, das offenbar das Label der Rennradfirma La Française der Marke Diamant umschliesst, mit der Unterschrift „[…]ABLE“, ein grünes Plakat mit der durch die Sturzhaube des Fahrers fortgeführten Schrift „CY(CLES)“, und den anschliessenden Zahlen „123 über „145“ und schliesslich zuhinterst rechts „PNEU..(wohl mit[MATIQUE]“ zu ergänzen). Die wie in Venedig und allen übrigen Skizzen leicht abwärts angeschrägte Signal-„4“17 am Tribünenpfosten steht diesmal fast zweideutig auf dem rechten Oberarm des Rennfahrers. Sein Lenker hat die frühere Einbuchtung verloren und nähert sich der venezianischen Variante, auch das Tretwerk und die spätere so typische Schuhhalterung geraten ins Bild. Das Buckeln des Rückens, die steilere Arm- und Beinhaltung, die perspektivisch ‘fliehende’ Holzbodengestaltung, die Dynamisierung der Fahrtbewegung liegen etwa auf halbem Weg zwischen erster Ölskizze und Endversion. Noch fehlt die Doppelwirkung des herumgeworfenen Lenkers und die Transparenz des heranstürmenden Fahrerportraits, doch in den Schattenhalbkreisen der Räder und im etwas farbloser und kubistischer schematisierten Hinterteil, in den bodenfarbenen Streifungen auf Arm und Schenkeln und einem Ausschnitt des hier ungewohnt kollageartig feingemusterten Trikots kündet sich Durchsichtigkeit an und das Experiment, Geschwindigkeit darzustellen. Auch die Trikolore von rechts gibt dem Fahrer zusätzlichen Schub. Die Kopfhaltung des Cyclisten liegt zwischen der ersten rückwärtsgewandten und den folgenden vorausblickenden: fast ist sie ein Reportageportrait aus einer Ehrenrunde, denn von einer Verfolgung ist nichts zu spüren! Wie aus der Abbildung zu schließen ist, hat der Sand hier mehr die Aufgabe einen gesamthaft rauhen Untergrund für den Coureur zu schaffen. Bozena Nikiels Beobachtung, dass es sich in der Variante Held und in dem Rennen des Guggenheim-Museums um zwei grundsätzlich verschiedene Austragungsorte handelt, nämlich einmal um ein Indoor-Rennen im geschlossenen Vélodrome d’Hiver

5 in Paris, , und anderseits um das offene Vélodrome de Roubaix als Zielort des Tagesrennens von Paris-Roubaix, dürfte zutreffend sein. Nur so erklärt sich die grössere Nahsichtigkeit der Tribünen, der stark geneigte Bretterboden mit den sich überlagernden Schattenwürfen einer Hallenbeleuchtung und die gehäuften Reklame- Affichen im ersteren, aber auch die verschiedenen Haltungen der Radler: einmal eine eher relaxe Siegerrunde und in Venedig der Endspurt eines Siegerduos! Die Frage wäre berechtigt, ob nicht auch die Schweizer Studie einen Indoor-Renner darzustellen beabsichtigte. Die Evolution seines rechten Armes, der Lenkerform, das „Wandern“ der ominösen „4“ und der Trikoloren, ja die Zunahme des Zuschauermotivs würde diese Annahme stützen… Am 10.Februar 1916 kaufte laut Bozena Nikiel der amerikanische Sammler Au Vélodrome und zugleich auch die Variante ‘Helft’ des Coureurs, nachdem beide vom 8 März bis zum 3. April 1915 in den Carroll Galleries in New York ausgestellt gewesen waren. Dem Kauf ging eine rege Korrespondenz zwischen Quinn, der Galeristin Harriet Bryant und dem Künstler, bzw. dessen Bruder und Agent Maurice Metzinger voraus. Zeichnungen oder Vorstudien werden allerdings mit keinem Wort erwähnt; auch findet sich im Katalog der Sammlung J.Quinn kein Hinweis auf deren Existenz. Die kompositorische Nähe der Zeichnungen (und des Aquarells) zum venezianischen Gemälde (und dessen Vorlagefunktion für die Variante ‘Enghien’) sowie die morphologischen Parallelen zum argentinischen ’missing link’ lassen den Schluß zu, dass die kleine Schweizer Ölstudie des Coureur Cycliste z u e r s t entstanden sein dürfte. Diese ist nun von Metzinger vorderseitig im Entstehungsmoment signiert und rückseitig von ihm später zusätzlich auf ‘1912’ datiert worden, doch letzteres wahrscheinlich erst zu Anfang der 50er Jahre, als unser (inzwischen verstorbene) Sammler den Coureur Cycliste vermutlich im Pariser Kunsthandel erstand: Metzinger authentifizierte nämlich seinen Karton auf der Rückseite mit blauem Kugelschreiber: „Je certifie que ce tableaux / a été exécuté en 1912 / Metzinger“ (Abb.8); da jedoch das von den Gebrüdern Biro erfundene Schreibgerät stylo à bille sich erst seit den 50er Jahren verbreitete18, ist Metzingers Notiz ein Postskript. Auch das über Jahrzehnte hin stets um 1914 angesetzte Guggenheim-Gemälde Au Vélodrome lieferte bisher keinen direkten Hinweis auf seine Entstehungszeit, da es lediglich auf der Vorder- und Rückseite signiert, nicht aber datiert schien (s.u.). Vorausgesetzt man darf nun Metzingers Erinnerungsvermögen wenige Jahre vor seinem Tode 1956 glauben, so müssten mit etwas ikonomorpher Logik alle authentifizierbaren Arbeiten in relativ kurzen Abständen nacheinander 1 9 1 2 entstanden sein (Abfolge: der Schweizer Coureur Cycliste, der argentinische Un cycliste ‘N° 2’ von J.Helft, die beiden Bleistift/Kohlezeichnungen, das endgültige venezianische Au Vélodrome (die Ölskizze ‘Enghien’und das umstrittene Aquarellseien hier nicht berücksichtigt), d.h. für die ersten zwei bestenfalls nur wenig vor und für die restlichen wenig nach dem Rennen vom 7.April 191219. Nur wenn B.Nikiels Meinung, in der Variante ‚Helft‘ sei das erste Pariser 6-Tagerennen vom Januar 1913 gemeint, zuträfe, müsste diese ins Folgejahr verlegt werden. Da aber im „Vel d’Hiv“ längst auch andere Rennen stattfanden, ist die zeitliche Festlegung nicht gesichert, zumal in der ungeheizten Halle der Cycliste ‚Helft‘ eher sommerlich gekleidet zu sein scheint und ein 6- Tagerennen vornehmlich ein Zweier-Mannschaftssport ist.

Alle Varianten geben Zuschauertribünen, Schrankenaufschriften und zumindest einen latenten Zweikampf so lebensnah wieder, als hätte Metzinger Illustrationen oder Reportagen in einer der Sportillustrierten als Vorlage gedient (sofern er nicht als

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Sportbegeisterter selbst in Roubaix anwesend war20). 1912 fand nun - wie unter vielen anderen - die Sportzeitung L’Auto berichtet, tatsächlich ein Runden-Sprint zweier Fahrer um den Sieg statt. Der 25-jährige Charles Crupelandt (Startnummer 13) von Roubaix und der ‘éternel 2.me’ Gustave Garrigou (‘Lord Brummell’ genannt21), bogen am Sonntagnachmittag des 7.April in die Sandpiste(!) des Vélodrome im Parc Barbieux von Roubaix ein, um nach dem dramatischen Sturz des ursprünglich ersten Fahrers Léturgie die letzten zwei Kilometer in Angriff zu nehmen, die in sechs Runden im 300m langen Stadium zu bestreiten waren. Crupelandt, ein noch vor drei Jahren unbekannter Newcomer (er siegte 1909 in der ersten Etappe der Tour de France - just die nämliche Teilstrecke Paris-Roubaix - und meisterte 1910 gar die Tour selbst), ist einer der jüngsten Teilnehmer und gewinnt mit nur zwei Längen Abstand vor Garrigou (dieser immerhin: ‘frais comme une rose’) nach nur, um wenige Minuten rekordnahen 8 Stunden und 30 Minuten mit einem Stundenmittel von 31 Kilometern22. Octave Lapize, der dreimalige Sieger und Rekordhalter in den Jahren 1909-1911 fiel diesmal nach Léturgie auf den vierten Platz zurück. Nimmt man vergleichsweise den Fahrtverlauf des 16. Rennens vom 16.April 1911 genauer unter die Lupe, sieht man ebendiesen Lapize als einsamen Spitzenreiter vier Minuten vor dem Verfolgerfeld in das Sportstadium einbiegen. Es kam somit zu keinem Kopf-an-Kopf-Rennen; Lapize gewann damals souverän zum dritten Mal. Fotografien zeigen Lapize (1911 trug er übrigens die Startnummer eins) mit unverkennbarem Schnurrbart. In Anbetracht der minuziösen Wiedergabe der Haarsträhnen aller Fahrer des Sujets Au Vélodrome hätte Metzinger in der Schweizer Studie auf ein so markantes Erkennungszeichen kaum verzichtet. Mit Ausnahme der argentinischen Variante, wo der cycliste in der Tat einen unübersehbaren Schnauzbart trägt (und wo trotz der leichten Abwendung des Kopfes eine Verfolgung nicht ausdrücklich festzustellen ist), erscheint in den übrigen ein blondgelockter jugendlicher und unbärtiger Fahrer just vom Zeuge Crupelandts. Mit einiger Sicherheit können wir also annehmen, dass der Künstler zumindest in der Variante Venedigs und der Skizzen das spektakuläre Rennen von 1912 meinte. Die Schweizer Ölskizze23 bleibt im Vergleich zu jenen topographisch unbestimmter, obwohl die motivischen Analogien wie die Sandpiste, die ominöse Start- oder Rundennummer ‘4’, die Trikoloren, die Speichen als Bewegungschiffren und namentlich das argwöhnische Zurückblicken des Fahrers nahelegen, dass es sich um dasselbe Rennen handeln könnte. Die argentinische Variante liesse als einzige zu, im Dargestellten den französischen Publikumsliebling Octave Lapize (man nannte ihn scherzhaft „le frisé“, Kräuselkopf), zu sehen, der ungeachtet seiner Niederlage von Roubaix, ein noch lange gefeierter notorischer Sieger und Fahnenträger der Societé La Française der Marke Diamant blieb, gewann er doch zwischen 1909 und 1913 fast alle nationalen Rennen (mitunter 1912 mit Léon Georget auch das 6-Stundenrennen im Pariser Vélodrome d‘Hiver).

Dass aber Crupelandt in den der Endversion nahekommenden Varianten gemeint sein m u s s, beweist nun die genauere Prüfung der Collage-Aufschrift ‘PARIS-ROUB...’ in Venedig, unter deren schwarz überpinselter Ränderung die bisher unentdeckte Druckschrift „CRUPELANDT sur LA FRANCAISE“ durchschimmert! Der Ausschnitt stammt mit Sicherheit aus einem der zahllosen Sportinserate n a c h dem Rennen, mit dem sich die Gewinnerfirmen während Tagen lautstark dem Publikum empfahlen, in diesem Falle die auf Jahre ungeschlagene Rennrad-Herstellerfirma La Française mit ihrem Starprodukt der Marke Diamant ‘à direction t r i c o l o r e’ - letzterer

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Reklameschrei geeignet, an die wehenden nationalen Trikoloren fast aller Varianten Metzingers Coureur cycliste zu denken...24

Mit der Festlegung der Versuchsreihe des Coureur cycliste in die erste Hälfte des Jahres 1912 gälte es, die Position des Motivs im übrigen Oeuvre Metzingers einzubetten, das just im nämlichen Jahr seinen künstlerischen Zenit erreicht haben dürfte. Die Souveränität, Konsequenz, Sicherheit, Ausgewogenheit seiner Schöpfungen, zu denen Meisterwerke wie die Le goûter (auch La femme au cuiller, oder Die Teestunde genannt) in Philadelphia (noch 1911 und zeitweise als die des Kubismus bezeichnet, was amüsiert, zumal die echte am 21.8.1911 aus dem Louvre gestohlen wurde ), das Portrait von in Providence (1911), die Danseuses au café in Buffalo (1912), die gleichzeitigen La plume jaune und in Chicago, sicherlich auch die Landschaft des Harvard University Museums Cambridge MA und die Badenden der Sammlung Arensberg gehören, schliesslich sich in L’oiseau bleu von 1913 in Paris fortsetzen, bilden einen homogenen Rahmen methodologischen Fortschreitens, in dem alle theoretischen Errungenschaften (Diaphanie, Farbpurismus, Körperfrakturierung), Bildideen (Realperspektive gegen Fläche, Bewegungsvektoren), und technischen Finessen (Sandauflage, Kammzug, Collage) vorgebildet und vorexerziert sind, aus dem unser Radfahrertrupp jedoch ideologisch - fast verzweifelt auszubrechen versucht. Die Infizierung des trotz aller kubistischen Analytik-Mode eher zeitlebens statisch-synthetisierenden bzw. additiven Künstlercharakters mit dem evasiven, korrumpierenden Virus futuristischer Bewegungseuphorie ließen diese Werkgruppe zur Metapher des Standort- Zwiespaltes des sich gleichsam selbst porträtierenden, wenn nicht ironisierenden Malers geraten: waren die Ausreißer Braque/Picasso, die arroganten Convoi- Genossen Marinettis, die Einzelfahrer Duchamp oder Delaunay in diesem mörderischen Jahr 1912 zu überholen? Jeder einzelne Coureur Metzingers ist ein Etappensprint für sich, es mit einer Ideologie jener für seine künftige Karriere so gefährlichen Konkurrenten aufzunehmen: mal die Farbe, mal die Geschwindigkeit, mal die Zeitdimension, mal die Originalität. Nur 1912 im Momente höchster Beherrschung aller linguistischen Ausdrucksmöglichkeiten war es Metzinger gegeben, die ‘Königin der Klassiker’ gegen die Avantgarde zu wagen. Ähnlichen Mut, Witz und Hartnäckigkeit dem anspruchsvollen, in Wirklichkeit wohl unrealisierbaren Thema gegenüber, sollte er nie wieder aufbringen, zumal der erste Weltkrieg das Rennen für alle einschneidend unterbrechen sollte...

Die Sportthematik Sportereignisse, Rummelplätze, oder Tanzlokale galten seit den Spätimpressionisten, Toulouse-Lautrec, Caillebotte und vielen anderen im Paris der Jahrhundertwende und besonders nach dem ‘Bankrott der Motive um 1907-1910’25 als beliebte Sujets der modernen jungen Künstlerschaft. So waren auch viele Fauvisten, Kubisten und Futuristen selbst sportbegeistert: Der Bildhauer Raymond Duchamp-Villon, Braque und Picasso liebten Boxkämpfe (letztere ließen sich in Boxerpose fotografieren)26, van Dongen den Ringkampf. Die Brüder Villon, und Albert Gleizes interessierten sich für Fußball und Rugby. Gleizes malte 1913 ein Bild mit dem Titel , Boccioni gleichzeitig den Dinamismo di un footballer und Delaunay plante 1917 gar ein entsprechendes Ballett mit bunten ‘simultanen’ Trikots für die Tänzer. Er verbrachte viele Stunden im Sportstadium, wo er seine Kunsttheorien bestätigt fand: Geometrie der Bewegung und Dynamik der Farben. So entstand 1912/13 das Gemälde L’équipe de Cardiff als

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Hommage an das Rugbyspiel. Severini, Picabia, Metzinger, , und viele andere wählten den Tanz als Bildmotiv; und pilgerten regelmäßig ins beliebteste Tanzhaus von Paris, den ‘Bal Bullier’27im Quartier oder wie der Tanzanalytiker par excellence, Severini, in den ‘Bal Tabarin’ unweit Pigalle(1912) 28. Robert Delaunay, , und die Futuristen huldigten der Fliegerei, dem Auto- und Radrennen29; ähnlich wie André Derain, der einen Bugatti fuhr, erstand der Autonarr Metzinger einen weißen Renault 20 CV, der das Rallye von Marokko gewonnen hatte30. Boccioni malte 1913 den Dinamismo di un ciclista 31und Marinetti proklamierte spätestens 1914 gar: „Wir verlangen, dass der Sport als Wesenszug der Kunst gelte“! Der Sportfanatiker Maurice Vlaminck wurde erst Maler, nachdem er infolge einer Thyphus-Attacke 1896 seine Karriere als Radrennfahrer nicht mehr fortsetzen konnte. betrieb und beobachtete den Rad- und Segelsport, was sich 1912 im Gemälde Die Radfahrer in futuristischer Simultansicht niederschlug. 1913 montierte bekanntlich eine Fahrradgabel mit ihrer Radfelge auf einen Hocker und verwirklichte damit ein 'Oeuvre anartistique', das er später zu den 'ready-mades' zählte. Auch Braque war ein begeisterter Radfahrer und unternahm z.B. im Juni 1914 eine Radtour von Paris nach Sorgues (in der Nähe von Avignon). Die führenden Futuristen Marinetti, Boccioni, Russolo, Sant’Elia, Piatti und Sironi meldeten sich 1914/15 freiwillig zum Militärdienst in einem Fahrradbatallion.32 Sogar eine Frau, die Futuristin Natalia Gontscharowa verherrlichte das Gefährt in ihrem epochalen Gemälde von 1913. Selbst Dichter stimmten in den allgemeinen Kanon ein: lässt in seinem Roman Le Surmâle von 1902 den Radfahrer Marcueil ein 10’000-Meilen-Rennen gegen einen Schnellzug gewinnen. Jarry war selbst passionierter Radfahrer und schlug den Künstlern vor, statt von biblischen Geschichten sich künftig von Sportereignissen inspirieren zu lassen33. Seit dem antiken Griechenland, als Künstler Körperbewegungen an ihren Sportlern studierten, und an den olympischen Siegerstatuen den klassischen Kanon der Figur entwickelten, als Muskeln und Geist, Sportler und Künstler, Kunst und Gesellschaft noch eng verklittert waren, war wohl das Interesse der Künstlerschaft an Sport und Sportlern nicht mehr so gross gewesen. Nur H.G.Wells projizierte in diese optimistische Welt 1913 in Befreite Welt, dass dereinst ‘das unhygienische Pferd und das plebejische Fahrrad aus den Straßen verbannt würden’... Bot die Tatsache, dass im Frühling 1912 das Rennen Paris-Roubaix nicht vom damals obligaten Sieger Octave Lapize gewonnen wurde, sondern vom bis anhin fast unbekannten Franzosen Crupelandt einem ‘inconnu indépendant’, der erst in der Folge wieder das Rennen von 1914 für sich bestritt, einer sportliebenden Avantgarde genügend Stoff, sie bildnerisch zu verwerten? Metzinger und seine Künstlerkollegen trafen sich zu jener Zeit (mitunter im besagten Frühjahr 1912) regelmäßig bei in Puteaux (einem westlichen Vorort von Paris, in dessen Nähe Metzinger 1912 umzog). Der Start des alljährlichen Paris- Roubaix-Rennens fand in Chatou statt, keine sechs Kilometer entfernt (dank dem Wohnort der sportnärrischen Ateliergenossen Derain und Vlaminck Keimzelle des Fauvismus und ihrer ‘Schule von Chatou’). Man darf getrost annehmen, dass auch Metzinger und seine Freunde zu jenem Großereignis pilgerten34. Ebenfalls nur Minuten von Puteaux entfernt lag der grösste und beliebteste Sport- und Ausflugspark von Paris, der Bois de Boulogne. Dort fand sich ‘tout Paris’ ein, um im Hippodrom von Longchamp (eine Rennbahn unter freiem Himmel mit Tribünen) auf die Pferderennen zu wetten, im ‘Stade physiologique’ den Schnelläufen beizuwohnen, die spannenden Steherrennen im Vélodrome ‘Buffalo’ zu verfolgen, oder sich bei den Fahrradfans im ‘Chalet du Cycle’ zu treffen. Zudem gab es dort die

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Route des Erables (ausgehend von der Porte Maillot), die ausschließlich für Fahrradfahrer reserviert war. Offenbar war sie so beliebt, dass an Wochenenden regelrechte Velocipedisten-Staus entstanden! Dass sportbegeisterte Künstler wie Metzinger sich in diesem ‘Mekka des Sports’ inspirieren ließen, ist augenfällig. Die regelrechte Fahradeuphorie jener Zeit erklärt sich aus der bis dahin kaum vorhandenen Möglichkeit des Normalbürgers - in seiner ohnehin knapp bemessenen Freizeit - der verrußten Großstadt zu entkommen. Mit der Popularisierung des Fahrrads gewann auch der ‘kleine Mann’ unvermittelt die Mobilität und Freiheit, schnell, einfach und billig die umliegenden Banlieus, Parks und Schloßgärten zu erreichen. Aber nicht nur die frische Luft, das Familienpicknick im Freien und die Sportfreuden waren der neuen Fahrradwelle förderlich, sondern auch die Begeisterung für die Geschwindigkeit der Fortbewegung an sich und eine enthusiastische Begrüßung neuester technischer Entwicklungen. Was den Franzosen zu Anfang des Jahrhunderts ihr Fahrrad, war in den Nachkriegsjahren von 1950 an den Deutschen ihr Volkswagen. Aber das Interesse für den Radsport muss nicht hinreichender Grund allein für Metzingers so ausgefeilte Studienreihe des Coureur cycliste sein.

Jean Metzinger und sein intellektuelles Umfeld Jean Metzinger wurde 1883 in Nantes geboren und begann um 1900 mit dem Studium der Malerei. 1903 kam er nach Paris und stellte bereits erste Arbeiten, die der neoimpressionistischen Tradition um Signac und Seurat verpflichtet waren35 im Salon d’Automne und im Salon des Indépendants aus und wurde Mitglied der Société des Artistes Indépendants. Damals befreundete er sich mit Robert Delaunay und wurde 1906 Mitglied des Ausstellungskomitees des gleichnamigen Salons. Ein Jahr darauf stellte er gemeinsam mit Delaunay bei Berthe Weill36 aus. Im selben Jahr 1907 lernte er , bei diesem kennen, bewunderte - seinen Quartiernachbarn auf Montmartre - Picasso, traf Braque, und vermutlich 1909 Albert Gleizes. Eine Gemeinschaftsausstellung Wilhelm Uhdes in der Galerie Notre-Dame-des-Champs vereint Metzinger mit Picasso und Braque, Derain, Dufy, Herbin, Pascin und Sonia Terk (später Delaunay). Metzinger gehörte zu den Ersten, der die revolutionäre Bedeutung von Picassos Bildern erkannte und in Aufsätzen, wie seiner Note sur la peinture von 191037, hervorhob, was sich in der Folge, nach einer kurzen fauvistischen Phase auch in seinen eignen Bildern spiegelte. Zur selben Zeit gründete Metzinger mit Gleizes, Le Fauconnier, Léger und Delaunay eine gemeinsam auftretende Künstlergruppe. Apollinaire charakterisiert ihn in seinem Artikel Vorsicht frisch gestrichen! - Der Salon des Indépendants 1910 folgendermaßen: „Metzinger will hoch hinaus. Er nimmt sich vielleicht ein bißchen zu kaltblütig Arbeiten vor, die so mancher Meister nicht bewältigen könnte. Seine Kunstauffassung ist nie kleinlich. Dieser junge Mann verdient Aufmerksamkeit.“38 Und ebenfalls 1910 zur Eröffnung des Salon d’Automne nicht ohne Ermahnungen: „Wie zur Strafe in die Ecke gehängt wirken die Bilder von Jean Metzinger. Er hat sich selbst das Ziel gesetzt, mit allen verschiedenen Methoden zeitgenössischer Malerei zu experimentieren. Dabei verliert er vielleicht kostbare Zeit und erschöpft seine Energien [...]. Es stimmt traurig, wenn ein intelligenter Maler sein Talent in sterilen Versuchen verschwendet...“39 In der Tat interessiert sich Metzinger für modernste Tendenzen wie die vierte Dimension, die Simultaneität, den Futurismus usw. und versucht sie in seine Arbeiten einzuflechten; noch allerdings greift er auf die klassische Perspektive zurück, die andere Künstler längst überwunden zu haben glaubten. Apollinaire lobte im Folgejahr ausgerechnet die vormals gerügten Mängel (21.4.1911): „Metzingers Arbeiten sind die einzigen, die

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man hier im eigentlichen Sinne als kubistisch bezeichnen könnte. Ihre Anziehungskraft zeigt, dass der Kubismus mit der Realität nicht unvereinbar ist. Diese kinematisch zu nennende Kunst zeigt uns jede Facette der bildnerischen Wahrheit, ohne die Vorteile der Perspektive außer Acht zu lassen [...]. Diese Kunst spielt mit den bildnerischen Problemen und meistert sie auch.“40 Obwohl Metzinger gegen die Hierarchie von Meister und Schüler, bzw. ‘Schulen’ in der Malerei war, gab er seit 1912 Unterricht an der Académie de la Palette im Montparnasse-Quartier, deren Direktor Le Fauconnier war, und später an der Académie Arenius. Er beeinflußte nachhaltig die Schülerinnen Nadezda Udalçova und Ljubov’ Popova, die beide später in Rußland den Kubismus vertraten und dort auch die neuen Techniken wie Sandauflage, papier collé usw. bekannt machten. Neben Albert Gleizes zählte er die Schriftsteller Reverdy und Cendrars zu seinen Freunden. 1912, im wohl erfolgreichsten, künstlerisch gehaltvollsten Jahr, schloß er sich besagter Gruppe von Puteaux an, zu der Albert Gleizes, , Fernand Léger, sowie die jüngeren André Lhote, Marcel und Raymond Duchamp, Roger de la Fresnaye, Frank Kupka, Juan Gris, , und Jacques Villon gehörten41. Diese stellten unter dem Namen der ‘Section d’Or’ aus, den nicht zuletzt Metzinger durch sein Studium mathematischer Proportionen namentlich des ‘Goldenen Schnittes’, geprägt hatte. Seine Bilder, die mit Vorliebe dem Großstadtleben gewidmet sind, komponiert er nach ausgewogenen Farb- und Formverhältnissen und benutzt spiralartige Verschiebungen innerhalb der facettenartigen Aufsplitterung von Farbflächen. Die Gruppe der Radrennfahrer von 1912 veranschaulicht, wie sorgfältig und minutiös der Künstler an Thema und Gestaltung feilt und mit Gleizes zu sagen, ‘den Zufall zu beherrschen sucht’42. Am 3.4.1912 schrieb Apollinaire über den jüngsten Salon des Indépendants: „Metzinger möchte die Ebene großer Malerei erreichen.[...] Die Zeit, um über den Kubismus zu sprechen, ist vielleicht schon vorüber. Die Zeit der Experimente ist jedenfalls vorbei. Unsere jungen Maler wollen nun endgültige Werke schaffen“43. Dass gerade zu dieser Zeit die vielfältigsten Experimente unternommen wurden und Gleizes/Metzinger in ihrem Buch Du cubisme (1912) den Kubismus buchstäblich ‘salonfähig’ machten, erweisen die Worte Gleizes über den in zwei Fronten gespaltenen Kubismus der Vorkriegsjahre: „Einerseits das Werk eines Braque und Picasso, zu denen man noch Juan Gris rechnen muss, die für sich leben und arbeiten, die schon von den Kunsthändlern eingefangen sind, die durch die Analyse des Volumens und die des Gegenstandes hindurchgegangen sind, und die an die eigentliche Materie der Malerei herankommen: das gestalterische Wesen (nature plastique) der ebenen Fläche. Andererseits, in der Bresche, mitten im beginnenden Schlachtgetümmel, Jean Metzinger, Le Fauconnier, Fernand Léger und ich selbst; wir sind innerlich beschäftigt mit Nachforschungen über Schwere, Dichtigkeit, Volumen, Analyse des Objekts; wir studieren die Dynamik der Linien; wir erfassen endlich die Fläche in ihrem wahrhaften Wesen. Endlich Robert Delaunay; er ist zu überquellend, zu wenig Herr seiner selbst, um sich bei analytischen Nachforschungen aufzuhalten, aber er hat eine völlig klare Intuition vom Ziel des Kubismus.“ und weiter: „So entwickelt sich zwischen 1911 und 1914 der Kubismus aus dem Formbegriff ‘Körper’ (volume) zum Formbegriff ‘Beweglichkeit’ (cinématique), der endgültig die renaissancistische perspektivische Einheit vernichtet.“44 Gleizes und Metzinger sahen sich innerhalb der Gruppe von Puteaux als die eigentlichen Theoretiker des Kubismus. Metzinger feierte man als „prince du cubisme“45. Gleizes lobte seinen klaren Verstand, sein großes Wissen und seine Gründlichkeit: „...er entdeckte mit der Klarheit eines Physikers die Anfangsgründe

11 der Konstruktion....“46. Gleichzeitig schmähte er das Genie, das eine Malerei der Verantwortungslosigkeit gebäre und nichts weiter als unheilbare Faulheit verrate. Mit dem ‘Genie’ zielte Gleizes wahrscheinlich nach Picasso, der sich nicht mit Theorien über Kubismus oder andere Kunstrichtungen aufhielt, sondern in einem Tempo voranschritt, das keiner mitzuhalten verstand. Picasso und Braque vertraten beharrlich die Ansicht, dass ihre Werke für sich sprächen und nicht durch Interviews oder gar eigene Aufsätze erklärt zu werden brauchten. Dadurch entstand in breiten Kreisen die Annahme, Gleizes und Metzinger, die seit 1910 die neuen Errungenschaften ihrer Werke in den Salons zeigten und theoretische Abhandlungen veröffentlichten, seien die eigentlichen Vorreiter der Strömung. Die Gruppe um diese stellte sich im Salon des Indépendants 1911 erstmals gemeinsam und trotz aller Vielfalt geschlossen vor, nachdem ihr durch die Schriftsteller Apollinaire, Salmon und Allard gestützter Protest gegen die bisher eher willkürlichen Hängungsgewohnheiten des Salons dazu geführt hatte, Metzinger, Gleizes, Delaunay, Léger und Le Fauconnier auf der Generalversammlung der Salongesellschaft zu Mitgliedern der Gestaltungs-Kommission zu küren. Ihre Position nutzend, traten sie und ihre Anhänger im später so legendär gewordenen Saal 41 auf, was bereits am Tag nach der Eröffnung in der Presse einen Sturm der Kritik und Entrüstung entfachte. Schliesslich organisierte die Section d’Or im Herbst 1912 die erste eigenständige Zusammenschau der Bewegung in der Galerie La Boétie mit insgesamt 31 Künstlern, die mit 185 Werken vertreten waren47, worunter viele, die heute vergessen sind und auch damals nicht wirklich kubistisch malten. Braque und Picasso glänzten durch Abwesenheit. Marcel Duchamp erzählte später in einem Interview über seine erste Begegnung mit den Künstlern des Kubismus (1911): „Als der Kubismus zu einem gesellschaftlichen Phänomen wurde, sprach man vor allem von Metzinger.“48 Doch bekehrten ihn erst die Werke Braque‘s49. Gleizes bekannte: „Braque und Picasso stellten nur in der Galerie Kahnweiler aus, wo wir sie ignorierten“50. 1909 schloß sich Braque Picassos Entscheidung an, nicht mehr in den Salons auszustellen, nachdem ein Jahr zuvor die Jury des Salon d’Automne einige seiner ersten kubistischen Werke abgelehnt hatte. Folglich waren die Arbeiten der beiden Freunde nur noch sporadisch in der kleinen Galerie Kahnweilers zu sehen, zumal dieser ohnehin deren wichtigere Werke kaum öffentlich, sondern nur bevorzugten Kunden zeigte. Die offensichtliche Diskrepanz zwischen der „bande de Picasso“ (Braque, Gris und einige Schriftsteller, wie Max Jacob) und der stilistisch weit weniger kohärenten Gruppe von Puteaux entstand nicht allein durch der letzteren gezielte Publizität im Gegensatz zu einer an Verweigerung grenzenden Zurückhaltung der ersteren, sondern wurde noch durch die so gegensätzlichen Lebensumstände vertieft. Während sich der fast bürgerlich anmutende Sonntagszirkel im damals ländlichen Vorort Puteaux im Ateliergarten der Brüder Duchamp-Villon traf, um Vorträgen von Mathematikern und Schriftstellern zu lauschen und über die neuesten Tendenzen der Wissenschaft, bzw. die wissenschaftliche Fundierung des neuen Stils zu disputieren, arbeiteten Picasso und seine bohemehafte Anhängerschaft hinter den ärmlichen Bretterverschlägen des Bateau Lavoir. Ardengo Soffici, Dichter, Maler, Kritiker (und Mitherausgeber der führenden, futuristischen Zeitschrift Lacerba) unterschied 1911 das Werk Picassos und Braques rigoros von dem der ‘Salonkubisten’51 (über Léger und Delaunay änderte er später seine Meinung), von denen er nicht minder abschätzig schrieb als etwa der Kritiker Vauxcelles zum Herbstsalon von 1911: „[sie hätten] das Deformieren, Geometrisieren und ‘Kubisieren’ aufs Geratewohl [aufgegriffen] ohne Ziel oder Absicht, vielleicht in der Hoffnung, ihre Banalität und ihren Akademismus -

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angeboren, unausrottbar und fatal - hinter Dreiecken und anderen Formen zu verstecken“52. Schliesslich, auf der Kennerschaft Wilhelm Uhdes53 aufbauend, attestierte Kahnweiler Braque und Picasso 1916 - dessen apotheotischem Urteil zum kubistischen Tandem sich später die gesamte Kunstwissenschaft anschließen sollte - sie seien: „die ersten und grössten Kubisten [...]. In der Entwicklung dieser Kunst [seien] beider Verdienste eng verschlungen [und ihre Gemälde] oft kaum zu unterscheiden“54, womit die methodische Ausblendung und Abwertung der übrigen Kubisten, fortgesetzt in den Schriften Douglas Cooper’s und Alfred H.Barr’s, begann55. Indessen unbeirrbar schrieb Apollinaire in seinem 1913 erschienen Buch Les Peintres Cubistes: „Metzinger ging Picasso und Braque entgegen und gründete die Kubistische Stadt“56. Ein positives Votum, das nicht ohne weiteres übergangen werden darf, wenn man bedenkt, wie früh Metzinger Braque’s neueste Techniken wie Sandauflage57, Stanz- und Tapetenmuster (etwa in La plume jaune der Sammlung Johnson von 1912) oder papier collé in seine Radfahrerbilder und Kammzugstrukturen in sein Gemälde Le Port von 1912 übertrug. Während Gleizes wohl kaum Zugang zu Braque oder gar Picassos Atelier hatte, dürfte Metzinger über Juan Gris viel engere Beziehungen zu Braque gepflegt haben. Braque, Gris und Metzinger waren sich zudem charakterlich nicht unähnlich. Es fehlte ihnen zwar das Spielerische, das sprunghafte Schaffen eines clownhaften Picasso, doch wurden sie als ‘techniciens’, Überprüfer neuer Ideen, Methodiker und Theoretiker des Kubismus durchaus ernst genommen.

Metzingers marginale Berührung mit den Futuristen ist zwar mehr Konjektur und Hypothese als Dokument, zumal manche kubistisch malten und sich erst nach 1912 der Bewegung näherten. Sicher berührten ihn die ersten Manifeste Marinettis: weniger das erste im Figaro vom 20. Februar 190958, das lediglich theoretische Anstöße und anarchistische Anstößigkeiten bot, als das technische Manifest vom April 191059, das unseren Radfahrern direkt Pate zu stehen scheint. Noch eindrücklicher müssen die Ausstellungen der Futuristen 1912 bei Bernheim Jeune und die Boccionis in La Boétie gewesen sein60. Auch müssen zwei Gemälde jenes Felix Delmarle, beide Le port betitelt, mit Metzingers Paysage und Le port von 1912 oder der Raucherin von 1913 verglichen, zu denken geben. Der sich den Futuristen 1913 mit einem violenten Manifest gegen die ‚alternde Vettel Montmartre‘ solidarisch erklärende Kubist Delmarle verkehrte nicht nur eng mit Apollinaire, Jacob und Salmon, sondern teilte sein Atelier mit Severini, mit dem Metzinger nachweislich befreundet war. In Delmarles Bemerkungen zur Simultanität in der Malerei von 1914 gedenkt er Metzinger und Gleizes als den unumgänglichen Initianten eines Kubismus, welcher der futuristischen Ästhetik als Ausgangspunkt habe dienen können.61 Ende 1911 bis Anfang 1912 fasziniert Severinis wirbelnder Fleckenteppich Danse du Pan-Pan au Monico Delaunay und Metzinger; fast möchte man annehmen, des letzteren bunte Menge auf den Tribünen seiner Rennfahrer reflektiere das Ereignis jenes hedonistischen Farbfeuerwerks.

Aufbruch zu neuen Dimensionen Im Folgenden seien die oben gestreiften Bestrebungen der Avantgarde, neue wissenschaftliche Erkenntnisse in ihre Kunst einzubinden, kurz beleuchtet: Die Auseinandersetzung mit dem Parallelenaxiom Euklids führte nach einer Reihe von bis in die Antike zurückreichenden Beweisversuchen zur Aufstellung sogenannter nichteuklidischer Geometrien62, die unabhängig voneinander von verschiedenen Mathematikern gefunden wurden (Gauss, Lobatschewski, Bolyai,

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Riemann). Diese erschienen in vereinfachenden ja zum Teil unsachgemäßen Artikeln populärwissenschaftlicher Zeitschriften. Wenn Apollinaire 1911 die vierte Dimension, Metzinger und Gleizes 1912 in Du Cubisme auf die nichteuklidische Geometrie und die Lehren Riemanns verweisen, so waren im Publikum Begriffe und Theorien vulgärpublizistisch schon seit den ersten Jahren des Jahrhunderts im Umlauf, besonders aber in theosophischen und philosophischen Kreisen um 1911 und 191263 (Autoren etwa Revel, Hinton, Leadbeater, de Noircarme, Valin und besonders Henri Poincaré64), schliesslich in sience fiction- artigen Publikationen vom Genre Alfred Jarry’s (1873-1907, Schöpfer des skandalträchtigen von 1896). Herbert George Wells (1866-1946, seine aufsehenerregende Zeitmaschine erschien schon 1889/9965), dessen spiritistische Novelle Pyecraft Frank Kupka 1905 illustrierte, publizierte etwa im Mercure de France regelmäßig und sein Verehrer Gaston de Pawlowski (1874-1933) druckte solcherlei Thematik in langen Folgen in seiner Zeitschrift Comoedia auf der Frontseite ab. Jarry kommentierte im Februar 1899 im Mercure das Wells’sche eindeutig cyclistische Produkt und lieferte auch pseudowissenschaftliche Hinweise, wie man seine Zeitmaschine herstellen könne, mit Anleihen bei Riemann und Lobatchewski, wo auch die ‘Simultaneität’ zur Sprache kam. Jarry war passionierter Radfahrer und das sprichwörtlich gewordene ‘gyroskopische‘ ‘pataphysische’ System des ‘Dr.Faustroll’, mit dem man die Zeit überwand, wurde bezeichnenderweise auf einen Fahrradrahmen montiert.66 (Möglicherweise reflektierte Marcel Duchamp später diese pseudophysikalischen Spielereien in seinem gesockelten Fahrrad-Rad Roue de Bicyclette von 1913 oder in der Zeichnung eines entlang einer steilen Linie hinanstürmenden Cyclisten Avoir l'Apprenti dans le Soleil von 191467). Pawlowski war Journalist für verschiedene Revues und Zeitungen und gab Le Vélo und Automobilia heraus, bevor er die Theaterzeitschrift Comoedia edierte und dort (26.3.1911) Jarry’s Faustroll ausgiebig und wohlwollend rezensierte. Seine Erzählung Voyage au pays de la quatrième dimension von 1912 ist eine Hommage an Wells und enthält so manche Überlegung, ja ‘Erfahrung’ zur Überwindung von Raum und Zeit. Die Non-Euklidianer und namentlich Riemann kommen zur Sprache und am 20.März 1912 wird sogar die traditionelle Idee von Zeit durch die Simultaneität aller Existenz ersetzt68. Auch wenn Pawlowski den kubistischen Bestrebungen nicht gerade weitherzig gegenüberstand, sondern mehr deren Theorie goutierte (er besprach Du Cubisme von Metzinger/Gleizes am 5.Januar 1913) und ihre Originalität begrüßte, müssen Begegnungen und reger Gedankenaustausch stattgefunden haben: Sein Redaktor André Warnod bespricht den Salon des Indépendants 1912 auf der Frontseite von Comoedia am 20 März neben Pawlowski’s Kapitel Abstractions d’espace aus Voyage etc.; just daneben ist Jean Metzingers kubistisches Gemälde Le Port abgebildet! Spätestens damals müssen die Kubisten Gleizes und Metzinger, aber auch der theosophisch und spiritistisch angehauchte Kupka und wohl dank diesem auch Duchamp zu Lesern des Blattes geworden sein, was auch deren Texte nahezulegen scheinen. Abgesehen von Pawlowski machen zwischen 1909 und Frühjahr 1912 Charles Camoin, Max Weber, Roger de La Fresnaye und mehrfach Guillaume Apollinaire in Vorträgen (z.B. im November 191169) Briefen und Publikaten auf die vierte Dimension aufmerksam. In einer typischen Vereinfachung Apollinaires, der den Zeitbegriff aus seiner Anschauungsweise auszufiltern pflegt und deshalb anfänglich die Futuristen mißversteht, wird diese erklärt: „Ohne mich in mathematischen Spekulationen ergehen zu wollen, [...] würde ich vom Standpunkt der bildenden Künste aus [...] sagen, dass die vierte Dimension aus den drei bekannten Dimensionen hervorgegangen ist: Sie stellt die Unendlichkeit des Raumes dar, der

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sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in alle Richtungen hin verewigt. Sie stellt den Raum selbst dar, seine Dimension des Unendlichen“70. Wahrscheinlich war ihm der Ausdruck ‘vierte Dimension’ im Kreis der Puteaux-Künstler zu Ohren gekommen, die sich mit den metaphysischen, pseudo-wissenschaftlichen Ausführungen des Hobbymathematikers befaßten (André Salmon hatte am 10 Mai 1910 die „kuriose Ästhetik Princet’s“ in einer Kolumne eingeführt). In Metzingers Note sur la peinture (1910) und in den Erinnerungen Le Cubisme était né 71 ist dessen Bedeutung für die Frühzeit des Kubismus erwähnt, obwohl der Versicherungsaktuar wohl eher ein begnadeter Dilettant war. 1912 soll er mit Gris und Metzinger geometrische Studien zur Umsetzung noneuklidischer und vierdimensionaler Ideen vorgenommen haben. meinte 1918 sogar, Princet sei der eigentliche Vater des Kubismus gewesen. Gemäß Gleizes, der durch Bergson inspiriert war, sollte der neue vierdimensionale Bildraum die Widersprüche zwischen Raum und Zeit vereinen, bzw. zu Überschneidungen führen; während Carl Einstein die hierarchische Ordnung von Raum und Zeit zerstört sehen wollte. Ernst Mach (1838-1916) erklärte, dass sich das gesehene Objekt vom vorgestellten wie durch eine Koordinate der vierten Dimension unterscheide, d.h. diese beschreibe den plastischen Gegenstand in der Vorstellung. Maurice Raynal ging noch einen Schritt weiter, wenn er von der modernen Kunst forderte: „...wenn also der Maler dahin gelangt, einen Gegenstand in allen seinen Dimensionen darzustellen, so realisiert er damit ein Werk höherer Ordnung als eines, das nur in seinen sichtbaren Dimensionen gemalt ist.“72 Metzinger war einer der ersten, der seit 1910 das Zeit-Raummotiv publizistisch aufgriff, namentlich in Cubisme et tradition in Paris-Journal vom 16. August 1911: die neuen Künstler hätten erlaubt, um das Objekt herumzugehen, um unter der Kontrolle der Intelligenz eine konkrete Ansicht zu liefern, die aus mehreren sich folgenden Aspekten bestünde: früher habe sich ein Bild den Raum erobert, jetzt aber auch die Zeit (la durée). Die vierte Dimension ist somit nicht eigentlich Zeit im Sinne von Wells’ Zeitmaschine, sondern meint jenes Hilfsmittel Dauer als Möglichkeit konsekutive Zustände auszudrücken, d.h. eine simultane Mehransichtigkeit realisieren zu können, welche die idea eines Dinges in ihrer totalen Dimensionalität auszudrücken erlaube. Diese Vorstellungen sind hauptsächlich den obengenannten Schriften von Henri Bergson73, namentlich dem Essai sur les données immédiates de la conscience von 1889 verpflichtet, der zwei verschiedene Zeitbegriffe unterschied: einerseits gäbe es die meßbare objektive Zeit (temps) der Physik und anderseits die Zeit der menschlichen Erfahrung bzw. den erlebbaren subjektiven Zeitablauf (durée oder Dauer). Wenn Metzinger Picasso einräumt, eine freie Perspektive errungen zu haben74, gesteht er Braque zu, dank ihm sei das Bild nicht länger ein toter Teil von Raum, sondern seine Totalität erstrahle erst in seiner durée. Dies hieße wohl, dass Metzinger damals annahm, Braque habe in seinen Ausdrucksbestrebungen Picasso schlechthin überrundet. Gleizes beschreibt Metzingers Obsession, das image totale abzubilden im September 1911 in der Revue Indépendante unter dem dedikativen Titel Jean Metzinger, „...er wird zum Raum nun auch die Zeit (bzw. Dauer) fügen“. Daneben war für die Kubisten die neue Sinnesphysiologie des 19.Jahrhunderts maßgebend. Bereits 1889 fand in Paris der erste internationale Kongreß jener Psychologen statt, deren Schriften in Frankreich sehr verbreitet und den Kubisten bekannt gewesen waren. Es wurde hauptsächlich über Form- und Raumvorstellungen diskutiert, sowie nach der Verarbeitung der verschiedenen Sinneseindrücke im Gehirn des Menschen gefragt. Die Kubisten unterschieden zwischen Sinneseindrücken und Vorstellungen, die durch diese im Bewusstsein

15 hervorgerufen werden. Während das Farbensehen sich nur auf der Netzhaut abspiele, erfordere das Formensehen die logische Mitarbeit des Gehirns, da dies durch Vorstellungen begleitet sei. Den Impressionismus denunzierten sie demzufolge als eine Kunst, die sich nur mit Farbensehen beschäftige, wobei nur Cézanne als Vertreter eines ‘tiefen Realismus des Geistes’ vor ihren Augen bestand. Form und Raum würden erst in der Wahrnehmung durch Erfahrung erzeugt, an der sich alle Fähigkeiten (Tastsinn, Bewegungssinn) beteiligten. Aus den Gesprächen Cézannes mit Gasquet geht hervor, wie sehr ersterem dies stets gegenwärtig war: „L’oeil doit concentrer, englober, le cerveau formulera“75. Aber erst die Kubisten brachten dies radikal zum Ausdruck. Picasso und Braque machten es sich deshalb zum Prinzip, nur aus der Vorstellung oder Erinnerung zu malen. Eine der wichtigsten Aussagen in Gleizes/Metzinger’s Du cubisme von 1912 gehen auf Ideen von Poincarés La Science et l’hypothèse von 1902 (sowie jene von Helmholtz, Wundt, Ribot u.a.76) zurück, gemäß deren empiristischen Raumtheorien der Raum aus verschiedenen Elementen der Sinnesempfindungen und deren Ausdeutungen in einem Assoziationsprozess rekonstruiert werde. Der Sehsinn allein genüge nicht, da er nur ein flaches perspektivisches Bild auf der Netzhaut wiedergebe. Der Tastsinn müsse hinzukommen, wie auch der Bewegungssinn, um eine vollständige Vorstellung zu ermöglichen. Die Tatsache, dass seit 1911, bzw. 1912 von vielen Kubisten Sand aufgestreut oder in die pastose Malfarbe eingearbeitet wurde, könnte auf diese Theorien zurückgeführt werden. Da mittels Sand rauhe, klüftige Oberflächen entstanden, die sich von den umliegenden Formen reliefartig abhoben und dadurch einen tastbaren Raum schufen77. Schon 1910 führte Metzinger die taktilen Erfahrungswerte, die er bei Braque und Picasso beobachtete, ins Sichtfeld der vierten Dimension, was 1912 Salmon bestätigte. Nach kubistischer Theorie müsse die Perspektive zugunsten motorischer und taktiler Empfindungen, d.h. einer Mobilität im Raume, aufgegeben werden, wie Metzinger 1913 ausführt; man könne Dinge einer höheren Realität zuliebe gleichzeitig unter verschiedenen Aspekten auf der gleichen Leinwand darstellen (gemäß Poincarés Überzeugung, die vierte Dimension sei imaginable). Wie Jouffret in seinem Traité berichtet, habe bereits 1891 Poincaré behauptet, dass jemand, der sein Leben dieser Aufgabe opfere, vielleicht einmal fähig sein würde, die vierte Dimension bildlich darzustellen. Kubisten wie Metzinger aber auch ein Aussenseiter wie Duchamp glaubten zeitweise an eine solche Realisierung, obwohl sie im Gegensatz zu Apollinaire, der die vierte Dimension der neuen Kunst als ideale Norm von Perfektion und höherer Realität78 feierte, eine wenn auch platonische, so doch naturverhaftete transzendentale Wahrheitssicht auf die Dingwelt beibehielten. Auch Raynal (1913) meinte, die Kubisten stellten die Objekte nicht dar als was sie seien, sondern als was sie sie dächten79, also als Konzept, ein Ausdruck, der auf Picasso zurückgeht, aber eher dessen Erlebnis afrikanischer Skulpturen widerspiegelt, als die Rückkoppelung an die noneuklidische Geometrie. Gerade als 1912 die Versuche der Salonkubisten zum Höhepunkt gediehen, warfen Braque und Picasso plötzlich das Steuer um und läuteten mit den neuen Mitteln der Kollage, Schrift- und Malmedien den sogenannten synthetischen Kubismus ein. Sie interessierten malerische und erfinderische Probleme weit mehr als die Theorien der ‘Geometer’. Picasso stand der Verquickung von (Pseudo-)Wissenschaft und Kunst eher kritisch bis ablehnend gegenüber. Er las außer Detektiv- und anderen Romanen kaum Bücher, schon gar nicht anspruchsvolle (Fach-)Literatur (vom Zeuge der Bergson, Lévy-Buhl, Mauss, Riemann oder Poincaré). Durch Gespräche mit seinen Freunden waren ihm indessen wissenschaftliche Schlagworte wie ‘vierte Dimension’, ‘Simultaneität’ oder ‘nichteuklidische Geometrie’ geläufig80. Dennoch betonte er

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immer, dass Kubismus nichts mit naturwissenschaftlichen, historischen, anthropologischen oder anderen geistes- oder sozialwissenschaftlichen Ideen zu tun habe.81 Marcel Duchamp, der sehr wohl zum Kreis der Puteaux-Künstler gehörte, aber die neuen Theorien eher zur Ironisierung seiner Arbeit einsetzte, relativierte später: „Damals gab es Diskussionen über die vierte Dimension und über nichteuklidische Geometrie. Aber die meisten Ansichten darüber waren amateurhaft. Metzinger war besonders angezogen davon“82 und: „Ich habe natürlich die Werke von Riemann nie ernsthaft gelesen, weil ich dessen unfähig wäre“83 „Selbst Metzinger, der wirklich intelligent war, bediente sich seiner [Princets] Kenntnisse. Man sprach über die vierte Dimension, ohne recht zu wissen, was das heissen sollte. Übrigens ist das heute noch so.“ [...]. „Wir anderen waren keine Mathematiker und glaubten an Princet. Er verstand es, den Eindruck zu erwecken, als als wisse er ungeheuer viel“84. Metzinger selbst erklärte in einem Brief an Gleizes vom 4.Juli 1916, dass die vierte Dimension eine geistige gewesen sei, Harmonie im Sinne der Zahl, denn: „Alles ist Zahl“ und dass seine neue der Perspektive nicht die romantische eines Picasso und nicht die materialistische eines Gris gewesen sei, sondern eine metaphysische, bzw. eine mathematische Beziehung zwischen den Gedanken und der äusseren Welt: „Die Geometrie der vierten Dimension birgt für mich keine Geheimnisse mehr. Früher hegte ich nur Vermutungen, heute habe ich Gewißheit...“85. Die Summe der damals so intensiv geführten Diskussion über Dimensionen, Raum und Zeit86 im künstlerischen Bereich auf die sicherlich ernstgemeinten Studien Metzingers zurückgebracht, lässt sich an Hand der Radrennfahrer von 1912 nachweisen, dass er in der Tat versucht hat, jene für viele Kubisten damals faszinierenden, wenn nicht fundamentalen Theorien malerisch in die Tat umzusetzen. Indiz ist nicht zuletzt die rätselhafte allgegenwärtige ‘4’, die vordergründig nur eine lose Beziehung zum dargestellten Geschehen ausweist, da sie weder für die Identität der Fahrer noch die agonistischen Umstände von besonderer Wichtigkeit war. Nehmen wir sie hingegen als notorisches Schlüsselzeichen zur Erschließung der zwischen Esoterik und Wissenschaft oszillierenden ‘vierten Dimension’ werden uns die in dieser Bilderreihe so evidenten Strukturexperimente wie Transparenz, Oberflächendivergenz (Sand/Glätte), perspektivische Dissonanz zur ‘absoluten’ Fläche und farbliche Diskrepanz zwischen reinen Farben und ‘Unfarben’ erklärlicher. Seine Versuche nach der Abstraktion von Raum nun auch die Pawlowskische Abstraktion von Zeit einzuführen, gipfelten vermutlich im (verschollenen) Gemälde (4me dimension), dessen Nebentitel wörtlich ausdrückt, was im Rennfahrer die Zahl ‘4’ meinte und das spätestens im Laufe des Jahres 1912 entstanden sein muss, da es in der Ausstellung Gleizes, Metzinger, Léger bei ausgestellt war.

Simultaneität Ein weiterer, bisher kaum angesprochener Begriff ist die sogenannte Simultaneität, die dank Bergsons Evolution créatrice zwar seit 1907 im Umlauf war, sich als Reizwort unter Künstlern erst nach dem Erscheinen des Futuristen-Vorwortes zur Ausstellung bei Bernheim jeune im Februar 1912 verbreitete. Apollinaire meinte in seinem Artikel Simultanisme- Librettisme von 1914, Braque und Picasso hätten diese schon seit 1907 praktiziert, ohne sie aber dementsprechend zu etikettieren87. Offenbar kannte man die Manifeste seit dem Sommer 1910; Picasso soll sich laut Severini sogar darüber lustig gemacht haben. Ideen, wie die Durchdringung der Ebenen, Aufhebung der Kategorien, Raum und Zeit oder Bewegung wurden, wie wir sahen, damals in Paris heftig diskutiert. Auch Delaunay verwendete den Begriff seit

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1912 bezüglich der Simultankontraste von Farben88 und Bergson hatte ihn wohl mit seiner Dynamismus-Philosophie eingebürgert89. Metzingers Note sur la peinture reflektiert bereits 1910 den Gebrauch des Wortes. Der kubistische Theoretiker musste sich besonders gefordert sehen, wenn die Zöglinge der französischen Befreiungsströmung gegen ihre Väter aufstanden. Fast klingen die manifestartigen Sätze aus Du Cubisme von 1912 wie eine Antwort auf die italienischen Futuristen90, wenn vom Impressionismus akribisch Abstand genommen wird, doch den Vorgängern die Ehre belassen wird, auf Gegenwarts-Unmittelbarkeit gepocht wird, eine vision synchronique gepriesen, aber auch platonistische Absolutheit von Form als Ideal negiert wird und bisher als unausdrückbar gehandelten Phänomene wie Tiefe, Dichte und Dauer zum malerischen Sprachschatz geschlagen werden. Die Legitimation, etwa Körpergewicht, Distanz und Mehransichtigkeit in einer einzigen zeitlichen Zusammenfassung zu veranschaulichen, sei zwar eine Methode, aber nicht ein System; der Künstler gehorche letztlich seinem Geschmack91. Metzingers Beeinflussung durch die Futuristen ist beachtlich. Einerseits befolgt er den im Futuristenmanifest beschriebenen Vorschlag, dass man durch die ‘Wange einer Person hindurch die Hintergrundszene ausmachen’ könne, in Au Vélodrome und dessen Entwürfen geradezu wörtlich, andererseits versucht er Bewegung mittels des hin- und herschlenkernden Fahrradlenkers, der flimmernden Radscheiben und der verschliffenen Bodenfluchten zu simulieren. Im Vergleich mit dem gleichzeitig entstanden Bild Hund an der Leine oder Violinspieler von Balla mangeln seine Versuche allerdings - mit Ausnahme vielleicht des in der Tat rasenden Renners von ‘Enghien’ - sowohl des analytischen Schubes wie der synthetischen Kinetik und wirken somit geradezu statisch.92

Farbe Schliesslich gälte es, am Beispiele Metzingers die unterschiedliche Farbbehandlung der beiden Kubistengruppierungen zu vergleichen. Braque und Picasso reduzierten ihre Palette seit 1908 immer mehr, bis sie sich auf die Töne Grau, Braun, Beige, Schwarz und Weiß beschränkten, während die Puteaux-Gruppe niemals in diesem Ausmaß auf Farbe verzichtete. Braque rechtfertigte seine Schlichtheit: „Farbe wirkt unabhängig von der Form [...]; Farbe konnte Empfindungen auslösen, die den Raum stören, und das ist der Grund, warum ich sie aufgab [...] Die Impressionisten hatten danach gestrebt, Atmosphäre auszudrücken, die Fauvisten Licht und die Kubisten Raum [...]. Die Farbe beschäftigt uns nur in ihrem Aspekt des Lichts: Licht und Raum sind zwei Dinge, die einander berühren, und wir behandeln sie gemeinsam“93. Von Braque wurde Perspektive und klassische Raumkörperlichkeit, die es zu überwinden galt, vornehmlich durch konturiert abgesetzte Un-Farbvaleurs abgelöst, da Farbe nicht von der Form zu trennen war. Im Gegensatz zu ihm war Delaunay, der die Künstler der Puteaux-Gruppe dahingehend nachhaltig beeinflusst haben dürfte, bestrebt, gerade mittels Farbe aber möglichst ohne Form, Raum darstellen zu können. Er, der hauptsächlich die Ideen des Physikers Chevreul94 umzusetzen versuchte und Bergson’s Simultanéité mit den simultanen Farbkontrasten identifizierte, erfand eine Malerei, die allein auf Farbkomplexen basierte (von ihm ‘peinture pure’ genannt). Farbe war für Delaunay das universelle Mittel um Linie, Perspektive, Hell-Dunkel, Form und Licht zu ersetzten und Bewegung, Simultaneität von Raum und Zeit, vierte Dimension und Rhythmus zu gewinnen, wobei Farbe Darstellungsmittel und Gegenstand zugleich war95. Der Höhepunkt Delaunay’s Simultané ist Mitte 1912 erreicht, als sein Buch La Lumière erschien, und die Erfindung der Simultanbilder, der sogenannten Fenêtres voll ausgebildet war. Metzinger scheint die Lehren Delaunay’s hinsichtlich der Farbe gründlicher beherzt

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zu haben als ihn das Tandem Braque/Picasso beeinflußte. Im Gegensatz zum Endstadium seines Au Vélodrome, das unter seinem Theorieballast farblich auszubleichen droht, sind die spontaneren Ölstudien des Coureur Cycliste von lebhafterer, ja puristischer Farbigkeit; nichtsdestotrotz spürt man im Wechsel von Unfarbigkeit und Transparenz der Inkarnate oder der experimentellen Topographie seiner Inszenierungen (Sand) zum Zitat heftigster, fast reiner Farben (Trikoloren, Maillot, Tribüne usw.) das Zögern des Theoretikers, den Sinnenreizen ihren Lauf zu lassen und die Inkonsequenz des malenden Hedonisten, wenn er inhaltliche Probleme zu lösen angeht. Auch Braque und Picasso fanden schliesslich einen Weg, die Perspektive zu umgehen, ohne auf die Farbe verzichten zu müssen. Die Farbe kehrte nun als ein abstrakter Wert zurück und zwar aus eigenem Recht und nicht als etwas, das zu einem Objekt gehörte und somit das Opfer von Form und Licht wurde. Um Braque zu zitieren: „Es war notwendig, die Farbe in den Raum zurückzubringen [...]. Die Anwendung der Farbe kam mit dem papier collé [...]. Damit wurde es möglich, die Farbe ganz klar von der Form zu lösen und ihre Unabhängigkeit zur Form zu sehen. Die Farbe wirkt gleichzeitig mit der Form, hat aber nichts mit ihr zu tun“96. Laut Kahnweiler war Picasso bereits seit 1910 darum bemüht Farbe in den analytischen Kubismus wiedereinzuführen, verbannte sie aber stets erneut, da die helle, unmodulierte Farbe nicht mit der atmosphärischen lichtdurchfluteten Räumlichkeit von 1911 zu vereinbaren war. Erst im Übergangsjahr 1912 (im Frühjahr und Sommer), als er diese Art illusionistischer Raumtiefe nach und nach ausmerzte, begann die Farbe wieder voll zu wirken (z.B. in Violine, Weingläser, Pfeife und Anker, Die Jakobsmuscheln, sowie im Sommer 1912 Landschaft mit Plakaten und die beiden Gemälde Gitarre). Braque war anfangs (als er Souvenir du Havre sah) mit Picassos Wiedereinführung von Farbe nicht einverstanden. Erst mit dem papier collé Stilleben mit Gitarre erreichte Braque eine für ihn akzeptable ‘Befreiung’ der Farbe, in dem diese autonomes Zeichen wurde und nicht mehr einen Raum modulierte oder Objekte konturierte, sondern losgekoppelt von der Zeichnung auf der Bildfläche lag97.

Endrunde Zurück zu unseren Radrennfahrern: Es bleibt zu erwägen, warum die anfänglich so zelebrierte vierte Dimension von Metzinger und Gleizes in Du Cubisme - ohnehin nie direkt angesprochen - schon im Herbst 1912 aus dem Repertoire Apollinaires verschwindet98, wie auch 1913 jede Allusion an Princet. Die Hinwendung zu Delaunays Idealdimension und den Orphismus mag ein Grund sein, des weiteren vielleicht die Übermüdung des Publikums infolge Pawlowskis vulgarisierenden nicht endenwollenden ‘Siencefictions’, die die Diskussion der Kubisten letztlich ins technizistisch- theoretische wenn nicht unseriös-phantastische Abseits trieben. Wenn Metzinger in seinen Cyclistes auf Realperspektive nicht verzichten mochte und es auch sonst entgegen seiner viel konsequenteren Theorien (etwa zu seiner ‘metaphysischen Perspektive’, die er im besagten Brief von 1916 erläuterte99) nicht tat, zeichnet ihn doch die Einmaligkeit aber auch Einzigartigkeit des Versuchs, s i m u l t a n e Bewegung auszudrücken, aus: Das Motiv des ausschwenkenden Lenkers und die kinetische Überschiebung von Körper und Hintergrund. Allerdings gehen diese Bildideen nicht genügend kohärent im Bildganzen auf, bleiben anekdotisch, künstlerisch unbewältigt. Die Tribünen sind, ebenso wie ihre Collagen-Aufschriften, pure perspektivische und topographische Tradition, gerade noch als Vektoren, Beschleuniger des Ablaufs von rechts nach links und dadurch geeignet eine

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Gegenbewegung zum Fahrer zu suggerieren: die konventionellen Lehren der euklidischen Geometrie und der Perspektive blieben stärker als die neuen Forderungen nach Umwertung angelernter Werte. Letztlich dürfte ein so überaus intelligenter Maler wie Metzinger erkannt haben, dass sich sein Unterfangen, die vierte Dimension in seinen Radrennfahrern spürbar werden zu lassen, künstlerisch wie auch theoretisch als seinen Ausdrucksmitteln inadäquat, als Fehlstart zwischen den Stilen erwiesen hatte. Die wohl heimliche Einsicht von der Richtigkeit eines gesellschaftlichen und stilistischen Abdrehens der Vorreiter Braque und Picasso vom ohnehin sich ausdünnenden Kubistentross tat womöglich das ihrige, die Fortsetzung seiner cyclistischen Bemühungen abzubrechen. Da nun bereits die Orphiker und die Futuristen suchten, über den Begriff der Simultaneität und der Dynamik die Dimensionen radikal zu erweitern (jede Richtung auf ihre Art: erstere mit ihrer analytischen Diskonuität, letztere im Sinne des Konzepts einer dynamischen Kontinuität, die, wie sie recht großsprecherisch mit Boccioni 1913/14 behaupteten, als einzige und erste zu verwirklichen in der Lage seien), musste einen so schwerblütigen und methodischen Kubisten wie Metzinger abgehalten haben, ins weitere Rennen um deren spektakuläre und tumultuöse Bestrebungen einzusteigen: es war Ende 1912 für ihn verloren. Die Metapher des Radfahrers sollte sich gegen ihn selbst verwenden lassen: im venezianischen Bilde siegt er nicht, weil er den Voranfahrenden nicht überzeugend überholen kann. Die Endfassung war ebensowenig den früheren Versuchen überlegen; auch die abenteuerliche Sandpiste des Paris-Roubaix verlor sich 1912 im wieder geglätteten Ölbett des salongerechteren, repräsentativeren und statischeren Staffeleibildes...100

1 Jean Metzinger, Cubisme et Tradition, in: Paris-Journal, 16.August 1911 zit. aus: Edward Fry, Der Kubismus, Köln 1974, S.73. 2 Jean Metzinger, Nantes 1883 - 1956 Paris. Zu Bio- und Bibliographie neueren Datums s. Jean Metzinger in Retrospect, Ausstellungskatalog Univ. of Iowa Museum of Art, Iowa City, 31.8.-13.10. 1985 (fortgesetzt in Austin, Chicago, Pittsburgh) von Joann Moser und Daniel Robbins; des letzteren Beitrag, Jean Metzinger: at the Center of übersetzte und veröffentlichte Fritz Metzinger in: Die Entstehung des Kubismus, eine Neubewertung Frankfurt/M. 1990, wo auch Jean Metzinger‘s Le cubisme était né in dt. als Die Geburt des Kubismus. wiedergegeben ist (S.161-196 Üb. aus Le cubisme était né, Ed. Chambéry - St. Vincent-sur-Jambron 1972); zur vorkubistischen Phase des Künstlers; s. Fritz Metzinger Avant le Cubisme, Vor dem Kubismus, Before Cubism, Frankfurt/M. 1994. 3 Jean Metzinger, Coureur cycliste, 27,2 x 22,2cm; Privatbesitz Schweiz. Laut mdl. Mitteilung von Frau Bozena Nikiel, Bearbeiterin des Werkkataloges von Jean Metzinger (75014 Paris, 33 Av. E.Reyer), ist das vorliegende Gemälde im September 1914 von André Level (Schöpfer des „Peau de l‘Ourse“) gemäss dessen Lebenserinnerungen in der Galerie Berthe Weill unter der Bezeichnung „bicycliste“ erstanden worden. Verkauft wurde es unter Nr.107 auf Carton mit den Grössenangaben 27/21cm am 3.3.1927 bei Drouot, Paris als „Le bicycliste“ an einen Mr. Bélier. Material: Ölmalerei mit Sandverwendung auf kommerzieller Malpappe (3mm). Metzinger versuchte durch subtile Farbauftragstechnik seine Oberflächen zu beleben: neben glatt gemalten Partien (Inkarnat, ‘numéro du dossard’), erkennbarem Pinselduktus (gelber und roter Hintergrund) und leichten Pastositäten (Fahne) steigert sich der Auftrag zu grobkörnig strukturierten Sandeinschlüssen (Trikot und hellgrauer Hintergrund). Die weiße, dünn aufgetragene Grundierung reicht in den oberen Eckpartien nicht bis zum Bildrand. Die Malfarbe (sowie die Signatur) liegt dort unmittelbar auf dem Kartonträger, dessen anfänglich hellbeige Eigenfarbe Metzinger nutzt, ebenso wie dessen faserigen ungefirnißten Oberflächencharakter. Die durch Bestoßung beschädigte, etwas undeutliche schwarze Signatur „JMetzinger“ entspricht dem kinderschriftlich steilen Duktus der 10er Jahre. Auf der Rückseite finden sich folgende Aufschriften und Etiketten: 1. Ein ganzseitig mit stark gegilbtem transparentem Klebeband befestigter Zeitungsartikel [abgenommen] vom 27.2.1953 (NZZ, Morgenausg.) des Basler Kunstmuseum-Direktors Franz Meyer „Der Kubismus - eine Rückschau“. Es handelt sich um eine Kritik der ersten umfassenden Ausstellung des Kubismus Le Cubisme 1907-1914 im Musée National d’Art Moderne in Paris vom 30. Januar bis

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9.April 1953. Der Ankauf des Bildes dürfte in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Zeitungsausschnitt erfolgt sein. 2. Zuunterst links Reste einer abgerissenen Galeristen-Etikette mit blauem Rahmungs-Doppelstrich (3,5x7,7cm) mit den Anfangsbuchstaben „GAL...“[eventuell sc.: “GALERIE BERTHE WEILL“, wo Metzinger letztmals im Januar 1913 ausstellte]. 3. (Unter Zeitungsausriss 1.) weiße längsrechteckige Galeristen-Etikette mit blauem Begleitstrich, identisch wie oben , die zur Hälfte mit einer Klinge abgeschnitten und weggerissen ist, mit der handschriftlichen Tintenaufschrift: „[gedruckt:No.] 1230 Metzinger / Coureur Cycliste 3 F“ 4. Ovales, weißes, dreifach liniertes Etikett mit blauem geperltem Zierrand. Die Bleistift-Aufschrift „91“ ist mehrmals mit Bleistift durchgestrichen. 5. Vier durchgestrichene (z.T. unleserliche) Zahlen-Inschriften mit blauem Farbstift darunter „case 46“ und ev. „1230“. 6. Mit demselben blauen Farbstift darunter gross: „96 : 198“ 7. In der Kartonmitte mit blauem Kugelschreiber Signatur und Datierung von Metzinger selbst: „Je certifie que ce tableaux / a été exécuté en 1912 / Metzinger“ 8. Darunter kopfstehend drei Zahlen 85 / 55 / 40 in Kreisen mit rotem Kugelschreiber, letztere durchgestrichen. 9. Unten rechts ovaler, roter (Künstlermaterialien-)Händler-Stempel (kopfstehend): „THE PARIS AMERICAN ART Co / 125 / Bould. du Montparnasse / ... / Rue Bonaparte. 2 / PARIS“ [die Adressen zweier Geschäfte; letztere neben der Ecole des Beaux ] darüber „FO ..10“ [ev. Bez. eines Standard-Malkarton-Formates]. 10. Einzelne unlesbare gestreute Spuren von verschiedenfarbigen Buchstaben und Zahlen. Zustand: Die Pappe ist verbräunt und auf der Rückseite mehrfach beschabt. Klebstoffe von Klebebandstreifen sind in den Träger gedrungen und haben diesen verfärbt. So auch Leim einer Leinwand-Passepartout-Umklebung, die vorderseitig und an den Rändern Malschicht in kleinen Schollen abriß. Sämtliche Bildecken sind berieben. In der linken unteren Ecke Malschichtverluste. Die vorderseitige Oberfläche war bis zur Restaurierung 1997 besonders in Sandkörnung und Pinselstruktur-Rillen stark verschmutzt. Im dunkelroten Trikotstreifen fehlten einige Sandpartikel. In diesem Bereich ein feines Caquelé. Dunkle Punkte im weißlichen Hintergrund sind von Malschicht entblösste Sandkörner. Ca. 1cm oberhalb der Rückennummer des Fahrers, sowie am rechten Fuß kleinere Fehlstellen. 4 Jean Metzinger beschreibt in seinen Erinnerungen Le cubisme était né sein Interesse an Mathematik: „Diese Wissenschaft gab mir ein Gefühl für die Kunst. Es ist die Zahl, die die Töne und die Stille, das Licht und den Schatten, die Form und die Leere zum Ausdruck bringt. Michelangelo und Bach erschienen mir wie gottbegnadete Mathematiker. Ich fühlte damals schon, dass nur auf der Grundlage der Mathematik ein dauerhaftes Kunstwerk möglich sei.“ und: „Die unvergängliche Kunst stützt sich auf gewisse mathematische Grundsätze.“ zit. aus: Metzinger 1990 [Anm.2], S.167 und S.173. 5 Ölfarbe mit Sand und Collage auf Leinwand, 130,4 x 97,1cm, Collection, Venedig. Die Benennung „Au Vélodrome“ ist zwar durch eine rückseitige Galerienotiz verbürgt, aber vielleicht irreführend: Wie wir sehen werden, ist die mit geneigten Holzriemen eindeutig als Indoor- Bahn gekennzeichnete Variante „Helft“ mit „Coureur cycliste No.2“ beschriftet, aber da die beiden Bilder gemeinsam in New York ausgestellt und verkauft wurden, könnte eine Verwechslung der Etiketten geschehen sein, da ein Velodrom vornehmlich eine geschlossenen Wettkampfbahn in diesem Falle das „Vel d’Hiv“ in Paris gemeint sein könnte, auch wenn das Stadion in Roubaix bis heute „Vélodrome“ benannt wird. 6 Das Wort ‘arena’ bezeichnet seit Römerzeiten den Sanduntergrund einer Kampfbahn oder des Amphitheaters. S. hierzu: Sonya Schmid, Vom Sand in der Kunst, Diplomarbeit, Fachklasse f. Konservierung & Restaurierung, Bern 1996. (Publ. in Vorb.) In unserer Studie ist Sand von Metzinger offenbar zum ersten Mal benutzt worden und zwar in einem eigentümlich grobkörnigen, wenig homogenen, sprich wie versuchsweisen Auftrag. 7 Aus dem Manifest der Futuristen von , Carlo D.Carra, , , (dt. Übersetzung aus der von hrsg. Zeitschrift Der Sturm März 1912, 2.Jg. Nr. 103, S. 822-824; vgl. Johanna Eltz, Der italienische Futurismus in Deutschland 1912-1922. Ein Beitrag zur Analyse seiner Rezeptionsgeschichte, Bamberg 1986). 8 In den florierenden Roubaiser Manufakturen wurden die bunten Trikothemden der Radrennfahrer aller großen Tours gefertigt, deren Sponsoren sie noch heute sein dürften. 9 Le cycliste au vélodrome, Öl auf Leinwand mit Sand und Collage, 55x46cm, versteigert in Enghien, Hôtel des ventes 1989; priseurs ass. Champin, Lombrail, Gautier, zum erstaunlichen Preis von 3‘050‘000 FF (am 21.11.1993 gemäss F.Metzinger vom 20.1.1998). Gemäss Mme. B. Nikiel‘s mdl. Nachricht soll laut Aussage von Otto Schulte-Kellinghaus das Bild seit 1914 dessen Grossvater gehört

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haben; später soll es an den Galeristen Alfred Flechtheim in Düsseldorf gelangt sein. Im Herbst 2010 erhärtete sich der Verdacht, dass diese Besitzausweise gefälscht seien . 10 Le cycliste, Aquarell, 46x38cm, Privatbesitz, am 9.6.1994 bei Drouot/Montaigne in Paris angeboten (Schätzung 350-450 000 ffrs; keine Verkaufsnachricht; Mitteilung von F. Metzinger [Anm.9]); Mme B.Nikiel bekundete am 30.11.98 nachdrückliche Zweifel an einer frühen Ausführung durch Jean Metzinger. 11 Le cycliste, Bleistift und schwarzer Farbstift auf crèmefarbenes Papier, 37,5x26cm, Musée National d’Art Moderne, Centre Georges Pompidou, Paris. Die bereits eingeplanten (Collage-) Aufschriften sind noch leicht variiert („PARIS - [RO?]“ und „PNEUMATIQ..“[sc.:“UES“]). 12 Le cycliste, Kohle auf Papier, 34,5x28cm, Besitz Mr. & Mrs. R.Stanley Johnson. 13 Sie scheinen aus Titellettern einer Sportzeitung wie „MIDI...“(„-SPORT“ etc.) entnommen zu sein. 14 Wenig überzeugend verschmilzt die Lenkersilhouette mit dem Wadenmuskel desFahrers, dem Metzinger schon in der ersten Skizze Rechnung trägt. 15 S. in: Peggy Guggenheim Collection Venice, The Solomon R. Guggenheim Fondation, by Angelica Zander Rudenstike, Harry N.Abrams Inc. Publisher N.Y. 1985, S.533. 16 Dank frdl. Mitteilung und Überlassung einer Abbildung durch Konservatorin Renata Rossani. J.Held gibt in einem Brief vom 18.5.1988 an Daniel Robbins die Maße mit 100x80cm an. Am 3. Dezember 2010 berichtet Mme Bozena Nikiel: „Après l’examen de visu en juin 2010 de la toile de Monsieur HELFT représentant un coureur cycliste peinte par Jean METZINGER, je considère celle- ci comme l’une des deux toiles (avec la même thématique) achetée par le collectionneur américain John QUINN le 10 février 1916 et cela après l’exposition du 8 mars au 3 avril 1915 à la CARROLL GALLERIES de New York. Le cycliste de Monsieur HELFT représente un coureur à l’intérieur du vélodrome parisien dit « Vel d’Hiv ». La première course d’endurance d’une durée de 6 jours a eu lieu en janvier 1913. La deuxième toile avec le cycliste de la collection John QUINN, appartenant aujourd’hui à The PEGGY GUGGENHEIM COLLECTION de Venise représente un coureur dans un stade découvert. Il s’agit de la course Paris-Roubaix comme cela est indiqué dans la construction de la toile. La première course a eu lieu en 1896.» 17 Wohl eine optische Reminiszenz einer Rundenanzeige, deren es sechs gegeben haben muss, die quer zur Rennbahn ausscherten und somit perspektivisch nach unten zu kippen schienen. An dieser ‘4’ dürfte sich die Idee der Transparenz entzündet haben: sie wandert gleichsam vom Rücken des Fahrers über dessen Arm zur Palisade und führt eine Art räumliches Doppelleben. Da diese ‘4’ auf allen Varianten des cycliste erscheint, muss ihr Metzinger grösste Bedeutung, ja geradezu eine ‘pataphysische’ Funktion (im Sinne A.Jarrys, s.u.) zugemessen haben. 18 Joann Moser erwähnt mitunter unrichtige Authentifizierungen der frühen 50-er Jahre (und namentlich kurz vor seinem Tod) durch Metzinger in AK Iowa City 1985 [Anm.2], S.7f und erwähnt eine Landschaft von 1913 S.44/47, Anm.12. mit identischer Rückseitenbeschriftung „je certifie...“. Laut Mme. B. Nikiel soll Metzinger selbst und die Witwe Metzinger mehrfach irrtümliche Datierungen vorgenommen haben. 19 Daniel Robbins datiert im The Dictionary of Art; Grove 21, 1996, S.363f Au Vélodrome ebenfalls auf 1912, was er schon im AK Iowa 1985 [Anm.2], S.43 („1911/12“) aussprach, lieber noch früher sähe es Fritz Metzinger angesetzt. 20 Seit 1896 ist das Grand National-Rennen ein sporttouristischer Magnet ohnegleichen; 1998, am Sonntag des 12.April, zum 96. Mal, waren noch immer ein halbes Hundert denkmalgeschützte Kopfsteinpflasterkilometer (auf 266,5km) zu meistern; die Suche nach solchem hat die Strecke arg verwinkelt und ihren Anfang inzwischen von Compiègne, 60km nordöstlich Paris, nehmen lassen. 21 Nach dem berühmten, gleichwohl unglücklich endenden englischen Modegeck George ‘Beau’ Brummell (1778-1840); fast alle Spitzenfahrer trugen damals bezeichnende mitunter karikierende Spitznamen. 22 Zum vierten Mal ist die Firma La Française - „Marque à direction tricolore“, auf Dunlop in allen Reklameseiten der Sportzeitung tagelang großlettrig gepriesene Siegerin. Roubaix feiert ihren Sohn und dessen „lutte... qui fut tout simplement homérique“ mit der Ehrenrunde unter den Klängen der Marseillaise. Alle vier ersten Fahrer sind französische - und entsprechend bejubelte -‘Nordisten’, (den 5.Platz belegt der Belgier Odile Defraye, Tour de France-Sieger von 1912) und bleiben innerhalb derselben Markengruppe. 23 Dass Metzinger diese nur als Studie oder Skizze zu einem größeren Bild einschätzte, erweist der bescheidene Preis von lediglich drei Franc, den er auf die rückseitige Etikette verzeichnen liess; damals der Gegenwert für ein durchschnittliches Mittagsmenu. 24 Reizvoll wäre die Interpretation, dass Metzinger ursprünglich Octave Lapize, dem derzeitig grössten Champion Frankreichs ein Monument setzen wollte, doch durch den überraschenden Sieg Crupelandts in Roubaix nach der Variante ‘Helft’ die Identität des Fahrers modifizierte, diesen sogar durch Transparenz entpersonalisierte und die schicksalhafte Labilität des Siegens an sich in den

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Collagen „PNEUMA...“ andeutete; schliesslich verhalfen dem Roubaisien nicht zuletzt die Vorsehung (Pneuma~Hl.Geist, der schemenhafte Champion ist buchstäblich ‘Geisterfahrer’), eine stählerne Lunge (Pneuma~Hauch, der Brustkorb des Radlers bläht sich mächtig auf), ein wohlmeinender Rückenwind (Pneuma~Windhauch, die wehende Tricolore steht just über der Pneu-Reklame) und die Unversehrtheit seiner Schläuche (~Pneumatiques, „PNEUS“ der Endfassung) zum Lorbeer, während Lapize letztere gleich zweimal zu wechseln gezwungen war. Metzinger war bildungsmäßig Altphilologe genug und mit einem durch Bernard Dorival mit ‘ironischem Lächeln’ verbürgten gutmütigen Humor gesegnet, auch eine Portion Scherz in sein Vélodrome einzulassen, wie die notorische allusive „4“ (s. dazu w.u.) und das für ihn so ungewöhnliche Thema selbst, zu Genüge ausweisen (s. Bernard Dorival, Jean Metzinger 1883-1956, Ausstellungskatalog Atelier sur l'herbe, Ecole des Beaux-Arts, Nantes 4.- 26.Januar 1985, S.9). 25 Robbins in: Metzinger 1990 [Anm.2], S.83. 26 Berühmt die sechs monumentalen Boxszenen George Bellows seit 1909. Dunoyer de Segonzac malte 1911 das Bild Combat de boxe . Die Box- Rugby-und Massensportpsychose stammte aus den USA, wo ein James H.Daugherty Baseball-Spiele illustrierte- und Max Weber das futuristische Massenbewegungsbild einführte, nicht ohne sich publizistisch als erster über die vierte Dimension in der Kunst auszusprechen. J.Beuys siegte gar nach Punkten einer politischen Dimension im „Boxkampf für direkte Demokratie“ gegen seinen Bildhauer-Freund Abraham David Christian am letzten Tag der documenta 1972 in Kassel. 27 Marcel Duchamp erzählte Pierre Cabanne, er habe Delaunay im Bal Bullier grosse Reden halten sehen; Pierre Cabanne, Gespräche mit Marcel Duchamp, (Entretiens avec Marcel Duchamp), Köln (Paris) 1972, S.24f. 28 Zum Beispiel Gino Severinis La obsédante von 1911, Dynamisme d’une danseuse sowie Danseuse bleue (1912) und ungezählte weitere; vgl. auch Picabias Danses à la source oder Jean Metzingers La danseuse (au café) von Buffalo, alle von 1912. 29 Braque gefiel sich mit dem Spitznamen Wilbur, nach einem der Brüder Wright, der am 30. Mai 1912 an den Folgen eines Flugzeugabsturzes starb. 30 Dies vor dem 2. Weltkrieg; s. Metzinger 1990, [Anm.2], S.40. 31 1913, Gianni Mattioli Collection, ausgestellt im Herbst 1997 in der Peggy Guggenheim Collection Venedig. 32 Apollinaire spottete in seiner Kolumne „La vie anecdotique“ des Mercure de France vom 16.Oktober 1916 über Marinettis Manifest zur neuen ‘Religion der Geschwindigkeit‘: „Kein Zweifel, während ihres Aufmarsches als freiwilliger Radfahrer ist ihnen Gott, den man sich immer als Dreieck vorgestellt hat, in Form eines Fahrrads erschienen [...] Es liess die Räder mit einer solch unglaublichen Geschwindigkeit rotieren, wie es bisher nur das Los jener Klasse von Engeln war [...], die als Räder des himmlischen Wagens dienen müssen.“ zit. aus S. Hajo Düchting, Apollinaire zur Kunst, Texte und Kritiken 1905-1918, Köln 1989, S.272. 33 Das Reporterklischee, eine Sportskompetition wie einen biblischen Leidensweg zu schildern, liess Alfred Jarry sogar eine „passion Christi“ in die Form eines bergaufführenden Radrennens kleiden (1903). 34 Möglicherweise erlebten Metzinger und seine Freunde gar das Finale in Roubaix selbst; die französischen Staatsbahnen hatten eigens für Zuschauer die Fahrpreise nach Roubaix halbiert. 35 Hierzu s. Fritz Metzinger 1994 [Anm.2] und: ders., Daniel Robbins und Jean Metzinger 1990 [Anm.2]. 36 Kontakte zu ihr scheinen laut frdl. Hinweis von Fritz Metzinger (6.4.98) schon früher stattgefunden zu haben, „da sie ein Herz für die Neuankömmlinge in Paris hatte“. 37 Jean Metzinger: „Cézanne zeigte uns Formen, die in der Wirklichkeit des Lichts leben, Picasso aber liefert uns den echten Nachweis ihres wahren Lebens in unserer Gedankenwelt - er offenbart eine freie, bewegliche Perspektive...“ s. Patricia Leighten, Editors Statement: Revising Cubism in: Art Journal 1988,Vol 47, Nr.4, S.270. 38 Düchting 1989 [Anm.32], S.96. 39 Düchting 1989 [Anm.32], S.109. 40 Hervorhebungen d.Aut.; s. Düchting 1989 [Anm.32], S.120.- und zum Herbstsalon 1911, die Kubisten von Saal 8 „Die Einbildungskraft von Metzinger hat uns dieses Jahr zwei Bilder geschenkt, deren Eleganz von Farbe und Linie zumindest Zeugnis für eine hohe Malkultur ablegen. Metzinger malt seine Bilder außerdem fertig, ein heute seltenes Verdienst. Er ist jetzt im Vollbesitz seiner künstlerischen Kraft. Er hat sich von anderen Einflüssen frei gemacht und seine Palette ist reich und raffiniert.“ Düchting 1989 [Anm.32], S.128. 41 Jean Metzinger erinnert sich in Le Cubisme était né: „Gleizes brachte mich zu den Brüdern Duchamp-Villon [in Puteaux]. Einige Jahre vor dem schwarzen Tag von 1914 wurden in diesem

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friedlichen Garten, [....] die Formen entwickelt, die man fünfzig Jahre später als neu vorzustellen wagte!“ Metzinger 1990 [Anm.2], S.194. 42 Albert Gleizes, Souvenirs, Le cubisme 1908-1914, Cahiers Albert Gleizes 1, Lyon 1957 (Souvenirs 1944). 43 Düchting [Anm.32], S.161. 44 Gleizes 1957 [Anm.42], S.17 und16. 45 André Salmon am 3. Oktober 1911 in Paris Journal, s. Metzinger 1990 [Anm.2], Anm.90. und S.104. 46 Albert Gleizes, Kubismus, Neue Bauhausbücher, hrsg.v. H.M.Wingler, Mainz/Berlin 1980, S.19. 47 In René Blum’s Vorwort zum Ausstellungskatalog (Salon de la Section d’Or, Catalogue, Paris, Galerie la Boétie, 64 rue la Boétie 10.10-30.10.1912) suchten sich die Salonkubisten von der ‘bande de Picasso’ klar abzugrenzen: Blum bemerkte, dass sich in den Arbeiten keinerlei fremder Einfluß feststellen liesse, und dass „die Ausstellenden nur sich selbst verpflichtet“ seien, das heißt, gegenüber der Gruppe vom Montmartre keinen Kubismus zweiter Hand lieferten. 48 Cabanne 1972 [Anm.27], S.28. 49 Cabanne 1972 [Anm.27], S.27. 50 Gleizes 1980 [Anm.46], S.11. 51 So benannt, da die Gruppe von Puteaux in den Salons ‘des Indépendants’ und ‘d’Automne’ ausstellten. 52 , Picasso und Braque, Die Geburt des Kubismus, Ausstellungskatalog 25.2-4.6.1990, München 1990, S.38. 53 , der Picasso noch vor Kahnweiler kannte und besuchte, meinte zum bis heute weit überzeichneten Prioritätsproblem: „der Kubismus hat Braque viel zu verdanken“ und Picasso und Braque hätten: „...Hand in Hand die Welt blosser Erscheinungen hinter sich gelassen und eine andere erstürmt [....]; die beiden Freunde arbeiteten auf die Lösung der gleichen Probleme hin, wobei mal der eine, mal der andere die Mittel entdeckte, um scheinbar identische Ziele zu erreichen.“ Uhde, somnambuler Erspürer und Sammler von Qualität, sah allerdings zwischen Braques und Picassos Werk auch gewichtige Unterschiede. Ersteren schätzte er „klar, beherrscht, bourgeois“ ein, während Picasso „düster, exzessiv und revolutionär“ sei, in ihre „geistige Ehe“ brachte Braque die Sensibilität, Picasso die plastische Begabung ein; s. Wilhelm Uhde, Picasso et la tradition française, Paris 1928, S.39. 54 Rubin [Anm.52] S.39. 55 Rubin [Anm.52] S.40 und Uhde [Anm.53] S.39. 56 Guillaume Apollinaire Les peintres cubistes, Méditations esthétiques. Paris 1913 (Genf 1950) S.66. 57 Da das Bildnis Albert Gleizes in Rhodes Island, von Fritz Metzinger (in: Metzinger 1990 [Anm.2], S.124 & Abb.10) und Joan Moser dank eindeutig datierter und signierter Vorstudien (s. AK Iowa 1985 [Anm.2], S.55. Abb. 44-46) als schon seit 1911 entstanden erwiesen ist, scheint dies Gemälde die ersten Sandeinschlüsse nach deren Erfinder Braque zu enthalten (s.o.), sofern alle Ölstudien des Radfahrers erst im Jahr 1912 angesiedelt werden müssen! 58 Die Einleitung besingt emphatisch einen spektakulären Autounfall Marinettis infolge der Begegnung mit zwei Fahrradfahrern, These vier und acht rühmen die Schönheit der Geschwindigkeit; Zeit und Raum seien tot, ewige Geschwindigkeit erhebe sie ins Absolute. 59 „...Warum soll man im Schöpfen weiterfahren ohne unserer visuellen Möglichkeiten Rechnung zu tragen, die ähnliche Resultate zeitigen wie die Röntgenstrahlen?!“- „E, talvolta sulla guancia della persona con cui parliamo nella via noi vediamo il cavallo che passa lontano. I nostri corpi entrono nei divani su cui ci sediamo e i divani entrano in noi, così come il tram che passa entra nelle case...“- „Noi porremo lo spettatore nel centro del quadro.“ - „[Noi proclamiamo] che il moto e la luce distruggono la materialità dei corpi.“ Aus: Marinetti e il futurismo, hrsg. v. Luciano De Maria, Verona (Mondadori) 1973, S. 24. 60 Als Boccioni und Carrà im Oktober 1911 in Vorbereitung ihrer Ausstellung zum Februar 1912 nach Paris fuhren, machten sie auf Vermittlung Severinis auch eine Visite im Atelier Metzingers, der Boccioni besonders beeindruckt haben soll; s. Linda Dalrymple Henderson, The Fourth Dimension and Non-Euclidean Geometry in , Princeton Univ. Press 1983, S.112. 61 S. Futurismo e Futurismi, Ausstellungskatalog Palazzo Grassi, Venedig 1986, hrsg. v. Pontus Hulten, S.463f und Abb.S.279. 62 Die nichteuklidische Geometrie ist die Verallgemeinerung der euklidischen, die sich von dieser durch die Nichtanerkennung des Parallelenaxioms unterscheidet. Die Behauptung Euklids „wenn eine Gerade zwei Geraden trifft und mit ihnen auf derselben Seite innere Winkel bildet, deren Summe kleiner ist als zwei Rechte, so treffen sich die beiden Geraden, wenn man sie auf derselben Seite verlängert“, ist nicht, wie man ursprünglich annahm, abhängig von den übrigen geometrischen Axiomen. Ihre Abänderung lässt andere geometrische Axiomensysteme entstehen, die wie das des Euklid in sich widerspruchsfrei sind, jedoch durch anschauliche Vorstellungen nicht mehr voll erfaßt,

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sondern nur logisch-abstrakt durchdacht werden können. Die meisten Theorien zur Kosmologie nehmen einen nichteuklidisch beschreibbaren Weltraum an, in dem nur ‘kleine’ Dreiecke angenähert euklidische Eigenschaften haben (s. Brockhaus-Enzyklopädie, Wiesbaden 1971, 13.Bd.). 63 Vgl. Henderson [Anm.60], S.45f; die ausgezeichnete Studie kommt (S.59) zum Schlusse: „In fact, for an artist like Jean Metzinger, la quatrième dimension may well have become a guiding principle of painting.“ (s. Düchting [Anm.32] S.168 und 335, Anm.17 und 19; das. weitere Bibl.). 64 aus dessen Werk La science et l’hypothèse von 1902 Metzinger und Gleizes die Anregungen für ihr Buch Du cubisme von 1912 zu den taktilen und motorischen Empfindungen und der Möglichkeit, höhere räumliche Dimensionen wahrzunehmen, schöpften; vgl. Wolfgang Drechsler, Marcel Duchamp und die Zeit, in:, Zeit – Die vierte Dimension in der Kunst, Ausstellungskatalog Kunsthalle Mannheim, 11.7.-1.9.1985, hrsg.v. Michel Baudson, Weinheim 1985, S.187f. 65 The Time Machine, die Egon Friedell so kongenial in seiner Reise mit der Zeitmaschine (ed. 1946) weiterspann. 66 das Gesamtwerk erschien erst 1911 nach dem Tode des Autors (1907), nachdem ‘Dr.Faustroll’s Abenteuer’ in verschiedenen Zeitungen teilveröffentlicht worden waren; s.: A.Jarry, Gestes et opinions du dr. Faustroll, pataphysicien (roman néo-scientifique, suivi de Speculations), Paris 1911, S.105. 67 Auf die vorgenannten Spéculations Jarrys verweist auch Jean Clair, Marcel Duchamp, Catalogue raisonné, Bd.2 von 4, Musée Nat. d'Art Mod.,Centre Nat. d'Art et de Culture G.Pompidou, Paris 1977, Nr.89 und Abb. S.72. 68 Henderson [Anm.60],S.54. 69 Erstmaliges öffentliches Aufgreifen des Begriffs der vierten Dimension durch Apollinaire nicht erst, wie immer angenommen, publ. in: Les Soirées de Paris, April/Mai 1912; s. Henderson [Anm.60], S.44 70 Apollinaire in: Les Soirées de Paris, April/Mai 1912 zit. aus Düchting 1989 [Anm.32] S.168. 71 Metzinger: „Maurice Princet gesellte sich oft zu uns. Obwohl er noch sehr jung war, bekleidete er einen wichtigen Posten in einer Versicherungsgesellschaft, den er seinen mathematischen Kenntnissen verdankte. Aber ausserhalb seines Berufes betrachtete er die Mathematik im künstlerischen Sinn und er gestaltete die Geraden als Ästhet in n-Dimensionen.“ [...] „Er verwies uns an die nicht-euklidische Geometrie und bedrängte uns, eine Geometrie der Maler zu schaffen. Das konnten wir jedoch nicht in dem von ihm gemeinten Sinn.“ Metzinger 1990 [Anm.2], S.183 und S.196. 72 Maurice Raynal, Conception et vision, in: Gil Blas, Paris 29.August 1912 zit. aus: Fry, [Anm.1] S.103. 73 Nach Bergson ist der Raum in sich homogen und die Bewegung nur die Aufeinanderfolge der räumlichen Lage der Körper in ihm. Die durée gibt nicht die Zeit an, sondern nur die Veränderung im Raum. Die Zeit ist dagegen nicht homogen; sie ist ein einziges unteilbares Fliessen, ein Werden das von der sogenannten Zeit der Naturwissenschaft durchaus verschieden ist. Der Raum ist. Die Zeit ist nicht, sie w i r d immerzu. Dem Raum zugeordnet ist der Verstand, dessen Gegenstand das Feste, Räumliche und die Materie ist. Die wirkliche Zeit, die reine Dauer, kann der Verstand nicht begreifen. Da er seine der räumlichen Materie entsprechenden Formen auf die Zeit überträgt (Zerstückelung, Aufteilung der Zeit in Stunden, Minuten, Sekunde, usw.). Die reine Dauer kann nur durch die Intuition erfaßt werden. Es fällt dem heutigen Menschen schwer das Fließende, Fortlaufende, Organische in der Zeit zu erfühlen. Alle Wirklichkeit ist im Grunde nur Werden, Handeln, Aktion. (s. Hans Joachim Störig, Weltgesch.d.Philosophie, Stuttgart (4.Aufl.) 1985). 74 Jean Metzinger: „...er [Picasso] entwirft eine freie, mobile Perspektive, aus der der geniale Mathematiker Maurice Princet eine ganze Geometrie abgeleitet hat.“ (aus: J. Metzinger: Note sur la peinture, September 1910, erschienen in der Zeitschrift Pan ). 75 Joachim Gasquet, Paul Cézanne, Paris 1921 & dt.Üb. Berlin 1948, S.131. 76 Albert Einsteins Relativitätstheorie war kaum eine Quelle für die Kubisten, obwohl er diese schon 1905 publiziert hatte. Erst nachdem eine Sonnenfinsternis-Expedition 1919 Einsteins Theorie bestätigte, wurde sie in weiteren Kreisen bekannt (und auch ins Französische übersetzt). In den frühen 20er Jahren interessierte sie Metzinger, Gleizes, Gris und Klee. 77 Abgesehen von den Radfahrerbildern sind in Metzingers Paysage von 1911 (Collection Léonce Rosenberg) körnige Oberflächenstrukturen sichtbar und auch in sein Porträt von Albert Gleizes von 1911/12 (Mus. of Art, Rhodes Island) dürften Sandstrukturen eingearbeitet sein (s.u.), wie diese auch nach dem Krieg noch auftreten. In Du cubisme von 1912 erklären Metzinger/Gleizes: „Im skulptural ausgeprägten Reliefeindruck wollen wir jene feinen Übergänge einschalten können, die nicht definieren, sondern andeuten. Es ist nötig, daß manche Formen angedeutet bleiben, deren Konkretisierung der Geist des Betrachters zu vollziehen hat.“ zit. aus: Fry [Anm.1], S.114. 78 „Die Kunst der neuen Maler nimmt das unendliche Weltall zum Ideal. Allein die vierte Dimension stellt dem Künstler das neue Maß der Vollkommenheit zur Verfügung, das ihm erlaubt, dem Gegenstand Proportionen zu geben, wie sie dem Grad an Plastizität entspricht...“ Apollinaire, Les soirées de Paris, April/Mai 1912.

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79 Maurice Raynal, Qu’est-ce que...le ‚cubisme‘?,in: Commoedia illustré, Paris 20.12.1913, vgl. Fry [Anm. 1], S.139. 80 Picasso erinnert sich in einem Brief an Kahnweiler vom Juni 1912 an einen früheren Besuch von Matisse und Leo Stein in seinem Atelier während dessen letzterer im Scherz von einer in Arbeit befindlichen Komposition (vermutlich 1908) meinte: „Das ist die vierte Dimension!“ (s. Rubin, [Anm.52], S.346, 376 u. Anm.49) - was offenkundig macht, dass der Begriff schon lange vor 1912 die Runde machte. 81 Rubin [Anm.52] S.49, Anm.3. 82 Marcel Duchamp in: ,Mus. of Modern Art Bulletin, XIII, Nr.4/5, N.Y. 1946. Sowie Cabanne [Anm.27] S.24f und 52f, wo Duchamp mit Hinweis auf den Verleger Pawlowski und dessen populärwissenschaftliche Artikel, von seinen Experimenten und Notizen zur 4.Dimension erzählt. 83 Studio Int., Jg.171, Nr.878, London, Juni 1966. 84 Cabanne [Anm.27], S.24 und 53. 85 Metzinger 1990 [Anm.2] S.117. 86 Hierzu s. erschöpfend Baudson [Anm.64]. 87 Das Konzept der Simultaneität erscheint zum ersten Mal in einem futuristischen Vorwort zur Futuristenausstellung in Paris (ff: London, Berlin, Brüssel usw.), das unter der Verwendung von Passagen des technischen Manifestes von 1910 aus der gemeinsamen Feder von Boccioni, Carrà, Russolo, Balla und Severini stammt und im Februar 1912 selbst unter den befreundeten Kubisten (‘ i compagni di Francia’) Aufruhr stiftete, da sie des „accademismo larvato“ bezichtigt wurden, der Versteinerung und Immobilität, des Traditionalismus, des Impressionismus usw.; „noi cerchiamo uno stile del movimento, il che non fu mai tentato prima di noi“, rufen sie aus und fordern „simultaneità d’ambiente, e quindi dislocazione e smembramento degli oggetti, sparpagliamento e fusione dei dettagli, liberati dalla logica comune e indipendenti gli uni dagli altri.“[...] „bisogna che il quadro sia la sintesi di quello che si ricorda e di quello che si vede.“. Die sensazione dinamica des trascendenzialismo fisico (Boccioni) und die Kraftlineaturen -forze hätten die neue pittura degli stati d’animo zu bilden, auch wenn caos e urto di ritmi assolutamente opposti nötig seien, die armonia nuova zu errichten (s. De Maria [Anm.59], S.59-63) Apollinaire pflegt den Zeitbegriff aus seiner Anschauungsweise auszuklammern und mißversteht deshalb anfänglich die Futuristen. Sein Nationalismus, seine abschätzige Wertung der Italiener in L’Intransigeant und in Le petit Bleu vom 7. und 9.Februar 1912 anläßlich der klamorosen Futuristenaustellung in Paris ist für das animose Klima jener Jahre bezeichnend: „Der originellste Aspekt der futuristischen Malerschule ist die Suche nach einer Bewegungsdarstellung in der Malerei. Das ist ein vollkommen legitimes Anliegen. Soweit dieses Problem überhaupt mit bildnerischen Mitteln lösbar ist, haben es jedoch bereits die französischen Maler gelöst.“(Apollinaire, Le petit Bleu, 9.2.1912). 88 In der Polemik zwischen Boccioni und Delaunay beanspruchte jeder das Primat der Simultaneität für sich. Boccioni beschreibt die Entstehung des Simultaneitätsbegriffs in der futuristischen Kunst in den aufeinanderfolgenden Manifesten 1910-12; ja Simultaneität soll die eigentliche Quintessenz des Futuristischen Programms sein. Bei der ersten Futuristen-Ausstellung am 5.2.1912 in der Galerie Bernheim-Jeune, Paris, verlas Marinetti den von Boccioni 1911 gehaltenen Vortrag über die futuristische Malerei in Gegenwart vieler französischer Maler, wobei Gleizes und Metzinger bei einer zu Handgreiflichkeiten ausartenden Diskussion eigens für die Futuristen Partei ergriffen. 89 Namentlich in seinem Essai sur les donnés immédiates de la conscience von 1889 (De la multiplicité des états de conscience: L’Idee de durée). Hierzu: Gabriele Hoffmann, Intuition, durée, simultanéité, Drei Begriffe der Philosophie Henri Bergsons und ihre Analogien im Kubismus von Braque und Picasso von 1910 bis 1912 in: Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft, hrsg.v. Hannelore Paflik, Acta humaniora, Weinheim 1987, S.39-64. 90 „...wir verfolgen einen anderen Weg, der in mancher Hinsicht dem der Spätimpressionisten, Synthetisten und Kubisten gleicht, an deren Spitze die Meister Picasso, Braque, Derain, Metzinger, Le Fauconnier, Gleizes, Léger, Lhote und andere standen. Wir bewundern den Heroismus dieser bedeutenden Maler, die eine lobenswerte Verachtung des artistischen Merkantilismus und einen gewaltigen Haß gegen den Akademismus gezeitigt haben, aber wir fühlen und erklären, dass unsere Kunst der ihren entgegengesetzt ist. Immer wieder malen sie das Unbewegliche, Erstarrte und alle statischen Zustände der Natur; sie verehren den Traditionalismus Poussins, Ingres und Corots, der ihre Kunst alt macht, sie versteinert mit der Hartnäckigkeit des Passeistischen, die uns unverständlich ist. [...] Nach einem Modell malen, das posiert, ist Absurdität und geistige Feigheit, selbst wenn das Modell in linearen, sphärischen oder kubischen Formen auf die Leinwand übersetzt wird. [...] Die Gleichzeitigkeit der Seelenzustände in unserem Kunstwerk: das ist der berauschende Zweck unserer Kunst. [...] Gleichzeitigkeit der Atmosphäre, folglich Ortsveränderung und Zergliederung der Gegenstände, Zerstreuung und Ineinanderübergehen der Einzelheiten, die von der Laufenden Logik

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befreit, eine von der anderen unabhängig sind. [...] Wir haben nicht nur radikal das nach seinem festen Gleichgewicht ausgebildete, also künstliche Motiv verlassen, sondern wir zerschneiden willkürlich und plötzlich jedes Motiv durch ein oder mehrere Motive, deren ganze Entwicklung wir niemals geben, sondern nur ihre Einleitung, ihre Mitte und ihren Schluß. [...] So haben wir unsere Behauptung verwirklicht, von dem laufenden Pferd, das nicht vier, sondern zwanzig Füße hat.“ U.Boccioni, C.Carra, L.Russolo, G.Balla, G.Severini „Die Aussteller an das Publikum“ in der dt. Übersetzung aus: Der Sturm, Berlin 1912, 3.Jg. Nr. 105 S. 3f. 91 Beispiele für Simultanbilder sind etwa: Henri le Fauconnier Le chasseur 1911; Umberto Boccioni Visioni simultanee 1911 und die Stati d‘animo, Gli addii 1911; Gino Severini La danseuse obsédante 1911, Danzatrice in blu und Geroglifico dinamico del Bal Tabarin 1912; Marcel Duchamp Nu descendant un escalier I 1911 (Entwurf) und II 1912; Giacomo Balla Dinamismo di un cane al guinzaglio und Le mani del violinista 1912; Kasimir Malewitsch Scherenschleifer 1912; Lyonel Feininger Die Radfahrer 1912; Jean Metzinger Danseuse (au café) 1912. 92 Hierzu s. Baudson [Anm. 64] S.164f. und daselbst: Marietta Mautner Markof, Umberto Boccioni und die Zeitbegriffe in der futuristischen Kunst 1910-1914, S.169-193. 93 Dora Vallier, Braque, la peinture et nous, in: Cahiers d’Art, Paris Okt. 1954, S.16. 94 Michel Eugène Chevreul, Von den Gesetzen des Simultankontrastes und den Farben, Paris 1839. 95 Das Bild hat Vermittlungsfunktion (Verbindung von Natur und Kultur), ist als Bildtiefe zugleich Farbtiefe und die Bewegung der Farben in ihr, steht als Entsprechung der Tiefe des Weltraumes, den das Licht bis zu unseren Augen zu durchmessen hat. Über die Farbwahrnehmung soll der Betrachter an der dynamischen Realität des Lichts als Lebensenergie teilnehmen. Mensch und Universum sind durch die Bewegung des Lichts miteinander verbunden, in Kommunikation. Farbe als Simultankontrast angewandt, steht nicht für Licht, sondern i s t Licht selbst. Die Simultankonstraste sollen Bewegung sichtbar machen, die aus der Bildfläche heraus in die Tiefe des Bildraums führt. Diese Bewegung der Farben ist nicht „mechanisch“ konstruiert im Sinne der Futuristen mittels Bewegungsabläufen oder der Kubisten durch ein Facettensystem aufgebrochener Gegenstände, sondern direkt erfahrbar in der Wirkung der Interaktionen der vibrierenden Farben auf das Auge. (s. Hajo Düchting, Robert Delaunays 'Fenêtres': peinture pure et simultané. Paradigma einer modernen Wahrnehmungsform, München 1982). 96 Vallier [Anm.93] S.16. 97 Rubin [Anm.52] s. Anm. 84, S. 33 u. 53. 98 Apollinaire [Anm.56] S.10 nurmehr: „Il faut pour cela [se donnant le spectacle de sa propre divinité...] embrasser d’un coup d’oeil: le passé, le présent et l’avenir.“ 99 Robbins 1985, [Anm.2] S.21 & Anm.65 verweist auf Peter Brook in Cubism 8 (Belfast, Frühjahr 1985). 100 Desungeachtet hatte er mit seinen 30 Jahren ein ungeahntes internationales Ansehen erlangt und stellte 1912/13 in Barcelona, Amsterdam, Budapest, Milwaukee und Berlin aus, sowie kurz vor Kriegsbeginn in Prag, Brüssel und New York. Fast gleichzeitig zur Gruppenausstellung bei Berthe Weill beschickte er St.Petersburg und Riga mit Exponaten. Seine Gemälde handelten sich zum doppelten Wert derjenigen etwa eines Braque. 1914 endete mit dem Beginn des Weltkrieges die fruchtbare Zeit der Erneuerung der Künste. Die Künstler wurden eingezogen und mußten ihre Arbeit für Jahre liegenlassen. Freundschaften brachen auseinander, jugendliche Begeisterung wurde durch die Grauen den Krieges gedämpft und einst vehement vertretene Überzeugungen erblassten unter neuem Lichte. Metzinger war zwar Soldat, brachte es aber immerhin 1915 zu einer Ausstellung in New York und durfte sich bereits 1916 wieder der Malerei widmen. Gegenüber anderen Künstlern scheint der Krieg im Repertoire Metzingers, keinen tieferen Eindruck hinterlassen zu haben – an ihn erinnert außer dem Gemälde Soldat am Schachbrett (1916) kein weiteres. Obwohl er sich in den frühen 20er Jahren noch dem Kubismus widmete und in den wiedereingeführten Ausstellungen und Salons vertreten blieb, war doch der Erfindergeist, der Enthusiasmus einer lebendigen Künstlerszene der frühen 10er Jahre nicht mehr wiederzubeleben. Merklich glitt er vom Vorbilde eines Gris dem eines Léger zu. Später hing er der in Deutschland vertretenen ‘Neuen Sachlichkeit’ an. Während des zweiten Weltkrieges zog er sich in das Mittelmeerstädtchen Bandol zurück, wo er neben seiner Malerei Aufsätze für die Zeitschriften Profil Littéraire de la France und Les Facettes schrieb sowie Gedichte verfaßte, deren Veröffentlichung (über jene Ecluses von 1947 hinaus), man gern entgegensähe. 1950 berief man ihn für einen dreijährigen Lehrauftrag an die Académie Frochot in Paris und ehrte ihn drei Jahre später mit der Wahl zum Vizepräsidenten der „Société des Artistes Indépendants“. 1956 starb er in Paris.