Kersting-Meuleman|Wißmann /

1 Siegfried Gmeinwieser: Die Musikhandschriften in der The- von Friedrich Wilhelm Riedel, Sinzig 2006 (Kirchenmusikali- atinerkirche St. Kajetan in München. Thematischer Katalog, sche Studien. 10), S. 144. München 1979 (Kataloge Bayerischer Musiksammlungen. 4). 8 Siegfried Gmeinwieser: Die altklassische Vokalpolyphonie 2 Ebd., Einleitung, S. XVII. Roms in ihrer Bedeutung für den kirchenmusikalischen Stil in 3 Ebd., Einleitung, S. XII. München. Eine Untersuchung über die Bestände des Musik­ 4 Hierzu ausführlich ebd., Einleitung, S. X–XVII. archivs der Theatinerkirche St. Kajetan in München, in: Studien 5 Nach Siegfried Gmeinwieser: Glanzvolles Zeremoniell zur italienisch-deutschen Musikgeschichte VIII, hrsg. von Fried- im Ritusbuch der Königskrönung 1745. Zur Geschichte des rich Lippmann, Köln 1973 (Analecta Musicologica. 12), S. 120. Musik­archivs der Theatinerkirche in München, in: Colloquium 9 Hierzu ausführlich: Siegfried Gmeinwieser: Die Caecilien- collegarum: Festschrift für David Hiley zum 65. Geburtstag, bruderschaft von St. Kajetan (Theatinerkirche) in München. Tutzing 2013 (Regensburger Studien zur Musikgeschichte. 10), Eine Institution nach römischem Vorbild, in: „Et facciam dolçi S. 121–132, hier S. 121 f. canti“. Studi in onore di Agostiono Ziino in occasione del suo 6 Klaus P. Richter: Fehlende Wertschätzung. Musikarchiv in 65. compleanno, Bd. 2, hrsg. von Bianca Maria Antolini u. a., der Theatinerkirche gefährdet, in: Süddeutsche Zeitung vom Lucca 2003, S. 827–839. 4. Januar 2013. 10 Zit. n. Siegfried Gmeinwieser: Zur Geschichte der Vokalka- 7 Siegfried Gmeinwieser: Vom Kurfürstentum zum König- pelle von St. Kajetan (ehemalige Hofkapelle), hrsg. von der Ka- reich. Wandel im Repertoire der Münchener Hofkapelle, in: tholischen Kirchenstiftung St. Kajetan, München 2003, S. 1. Kirchenmusik zwischen Säkularisation und Restauration, hrsg. 11 Richter: Fehlende Wertschätzung. 12 Ebd.

Ann Kersting-Meuleman und Es wird weniger darum gehen, dem Komponisten Friederike Wißmann im Jubiläumsjahr ein weiteres Denkmal zu setzen. Vielmehr sollen die Widersprüche im Werk und im Richard Strauss – (K)ein Heldenleben? Leben von Strauss in den Blick genommen werden. Der Frage nach den Ursachen für die Diskrepanz Warum gibt es in der Rezeption des Komponisten zwischen extremer Verehrung und massiver Ab- Richard Strauss so viele Widersprüche? Welcher lehnung des Strauss’schen Schaffens wird ebenso philosophische Standpunkt interessierte Strauss nachgegangen wie der spannungsreichen Relation als Komponist? Welches Menschenbild inspirierte zwischen seinem Selbstbild und seiner Wahrneh- ihn? Wie ließen sich die Furien in seinen Opern mung durch andere. mit seinem fast biederen Privatleben vereinbaren? Warum war er in puncto Urheberrecht ganz und gar hellsichtig, nicht aber in Bezug auf sein poli- Thematische Schwerpunkte tisches Umfeld? Wie erklärt sich sein politisches Verhalten, wie sein Selbstverständnis als Kompo- Im Fokus steht dabei einerseits die Beziehung Ri- nist? Was ist für ihn ein „Heldenleben“ – und was chard Strauss’ zur Stadt Frankfurt. Dort leitete er bedeutet es uns heute? Und wie steht es mit den am 3. März 1899 mit dem Frankfurter Opernhaus- Heldinnen in seinen Opern? und Museumsorchester die Uraufführung seiner Diese Fragen stellte sich eine Gruppe Musikwis- Sinfonischen Dichtung Ein Heldenleben op. 40. senschaftlerInnen aus Frankfurt am Main bei der Andererseits stehen Frauen im Umfeld und in den Vorbereitung einer Ausstellung zum 150. Geburts- Werken des Komponisten im Blickpunkt: Die Frau- tagsjubiläum des Komponisten. Die Ausstellung enfiguren in den OpernSalome, Elektra, Rosen­ wird vom 15. Juni bis 13. Juli 2014 im Holzfoyer kavalier und Daphne werden in soziologischer und der zu sehen sein, präsentiert auf psychologischer Hinsicht untersucht sowie in aus- 20 großen Tafeln (DIN A0) und in zwei Vitrinen. gewählten Inszenierungen der Werke betrachtet.

26 Jahrgang 35 Heft 1 / März 2014 Forum Musikbibliothek Spektrum Initiiert wurde die Ausstellung von der Musik- wissenschaftlerin Prof. Dr. Friederike Wißmann (Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main; jetzt Konservatorium Wien Privatuni- versität) gemeinsam mit aktuellen und ehemaligen Studierenden des Musikwissenschaftlichen Insti- tuts in Kooperation mit der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main (Dr. Ann Kersting-Meuleman).

Symposium

Zur Eröffnung der Ausstellung ist am 15. Juni 2014 ein musikalisch umrahmtes eintägiges Symposium geplant. Zu den Referenten gehören Norbert Abels (Frankfurt), Salome Reiser (München), Melanie Wald-Fuhrmann (Frankfurt) und Friederike Wiß- mann (Wien).

Zur Geschichte der Strauss-Sammlung in der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main

Der Frankfurter Weinhändler und Betreiber eines Musikhistorischen Museums Friedrich Nicolas Manskopf knüpfte um 1900 herum die ersten Be- Richard Strauss ziehungen zu Richard Strauss. Er bot ihm „unbe- Foto: UB Frankfurt/M., Atelier Hertel, Nachlass kannte Dokumente über Beethoven, Liszt etc.“ an E. Humperdinck, P 251 b und bat im Gegenzug um Dokumente aus dem Be- sitz von Richard Strauss für sein Museum. Mans- Richard Strauss im Bild: Selbstdarstellung kopf machte zu Strauss’ 50. Geburtstag sogar und Werke Pläne für ein eigenes Richard-Strauss-Museum in Frankfurt, die allerdings von der Stadt nicht unter- Im Rahmen der geplanten Ausstellung wird das stützt wurden. Neben den Briefen beinhaltet die teilweise noch unbekannte Bildmaterial aus den Strauss-Sammlung der UB Frankfurt zahlreiche Sammlungen der Universitätsbibliothek Frankfurt Inszenierungspostkarten, Plakate sowie einschlä- präsentiert. Der Fokus liegt auf den beeindrucken- gige Strauss-Karikaturen, welche die Charakte- den Formen der Strauss’schen Selbstdarstellung ristika und Eigenheiten des Künstlers besonders und -vermarktung, die mit der Sichtweise von Au- anschaulich vor Augen führen. Daneben sind im ßenstehenden und der Rezeption seiner Werke in Nachlass Engelbert Humperdinck Briefe und Fotos Beziehung gesetzt werden. Einen besonderen Ak- von Richard Strauss überliefert. zent der Gegenüberstellung von Außen- und In- In der Ausstellung wird das reiche Material für nenwelt bildet der Blick anderer Komponisten und das Publikum einsehbar. Die in der Universitäts- Intellektueller auf Richard Strauss und sein Œuvre. bibliothek vorhandenen Sammlungen umfassen Äußerst attraktiv sind die Karikaturen, welche die ca. 100 Einzelbildnisse, 15 Doppelporträts, 60 Ka- theoretischen Ausstellungsinhalte um eine anspre- rikaturen, über 550 Szenenfotos, 76 Plakate sowie Bühnenbild- und Kostümentwürfe.

Forum Musikbibliothek Jahrgang 35 Heft 1 / März 2014 27 Kersting-Meuleman|Wißmann / Richard Strauss chende graphische Ebene bereichern. Die Karikatu- und bis Ende 1879 Kontakte zu zahlreichen Musi- ren sind nicht nur humorvoll, sie verschaffen auch kern geknüpft. Humperdinck und Strauss lernten einen unmittelbaren Eindruck vom Strauss’schen einander 1885 in Köln bei den Proben für Strauss’ Werk und seiner Rezeption: Wie kaum ein anderer f-Moll-Sinfonie kennen und freundeten sich an. Komponist polarisierte Strauss bereits zu seinen Nach einigen Monaten als Hilfskapellmeister in Lebzeiten stark. Dies gilt in besonderem Maß für Köln, konnte Humperdinck 1885 durch Vermitt- die beiden Skandalopern Salome und Elektra, die lung von Richard Strauss eine Stelle als musika- in der Sammlung mehrfach durch Karikaturen und lischer Gesellschafter bei dem Industriellen Alfred Inszenierungsfotos vertreten sind. Krupp in Essen bekommen. In seiner Frankfurter Zeit (1890–1897) kom- ponierte Humperdinck u. a. die Oper Hänsel und Die Korrespondenz von Richard Strauss in der Gretel, mit der er innerhalb weniger Monate welt- Universitätsbibliothek Frankfurt am Main berühmt wurde. Richard Strauss war der Dirigent der Uraufführung in Weimar 1893. Aus dieser Zeit Für die geplante Ausstellung ist die Strauss-Kor- sind Briefe mit Absprachen zur Einstudierung von respondenz deshalb eine Bereicherung, weil durch Hänsel und Gretel sowie für weitere Werke Hum- die Briefe die Persönlichkeit von Richard Strauss perdincks überliefert (Wallfahrt nach Kevlaar beim besonders konturiert hervortritt. Die Briefe ex- Tonkünstlerfest in Eisenach und Humperdincks ponieren sehr persönliche Sichtweisen auf den Bearbeitung von Aubers Le cheval de bronze). durchaus streitbaren Komponisten. Interessant In hohem Maße aufschlussreich sind außerdem sind die Briefe auch, weil das in der Ausstellung die Briefe, in denen Strauss sich nach den Mög- thematisierte Spannungsfeld von Innen- und Au- lichkeiten der Übernahme einer Kapellmeisterstelle ßenansicht hier insofern durchlässig ist, als der am Frankfurter Opernhaus erkundigt (28. Juni professionelle Musiker und der Privatmann Strauss 1892, 29. Oktober 1892). Er wollte das kleine Hof- hier kaum zu unterscheiden sind. theater in Weimar verlassen, fürchtete aber auch Die in der Universitätsbibliothek überlieferten festgefahrene Strukturen an größeren Bühnen wie Briefe von Richard Strauss stammen überwiegend die am Münchner Hoftheater. Humperdinck hatte aus zwei Sammlungen: einerseits aus dem Nach- ihm zuvor Frankfurt empfohlen. lass Engelbert Humperdinck (29 Briefe und Karten), andererseits aus dem Manskopf’schen Musik- und München, 28. Juni 1892, Neuhauserstr. 11/3 Theaterhistorischen Museum (26 Briefe und Kar- Lieber Freund! ten). Im Zentrum steht bei der einen die Freund- Für heute nur eine kurze Mitteilung aus der Kran- schaft und Kooperation der beiden Musiker, bei der kenstube! anderen Strauss’ Beziehung zu Frankfurt und den Du schriebst mir s. Z. ob ich nicht Lust hätte, in Institutionen der Stadt (Museums-/Opernorches- Frankfurt zu Kapellmeistern – damals schrieb ich ter, Manskopf’sches Musikhistorisches Museum). dir nein! Unter Discretion (ich bitte, niemand da- von Mitteilung zu machen) die Nachricht, daß es für mich Zeit wird, allmählich den Weimarer Tra- Richard Strauss, Engelbert Humperdinck und ditionsstaub von meinen Füßen zu schütteln, u. an Frankfurt am Main dich, lieber Freund, die Anfrage ob du nicht glaubst, ob in Frankfurt für mich [etwas] zu tun ist; Du hast Engelbert Humperdinck (1854–1921) hatte das ja, glaube ich , mit Claar /1/ über die Angelegenheit in Köln begonnene Musikstudium ab 1877 an der gesprochen! Mit Dessoff /2/ zusammen hätte ich königlichen Musikschule in München fortgesetzt allerdings wenig Lust, da mir diese Zunftcollegen-

28 Jahrgang 35 Heft 1 / März 2014 Forum Musikbibliothek Spektrum schaften Levi, Lassen eigentlich zum Halse heraus- Elektra, Der Rosenkavalier, Daphne wachsen; ist keine Aussicht, daß Dessoff geht /3/ oder daß Claar mir allenfalls den Posten eines Im Zentrum des umfangreichsten Ausstellungs- Operndirektors, eines Kapellmeisters und Regis- teils stehen vier ausgewählte Strauss-Opern: Sa- seurs übergibt? Dann würde ich mich verpflichten, lome, Elektra, Der Rosenkavalier und Daphne, de- in Frankfurt eine ordentliche Oper herzurichten! ren Inszenierungsstile im Wandel der Zeit beleuch- Bitte schreib mir bald ein paar Zeilen, was Du über tet werden. Verglichen werden Inszenierungen der die Sache denkst! Aber Discretion, bitte dringend! Uraufführungen in Dresden mit Inszenierungen Ich sitze hier, mit einer greulichen Bronchitis be- der Frankfurter Oper – von der Erstaufführung bis haftet u. warte bis mein Husten sich etwas gebes- zur aktuellen Saison. Zu jedem dieser Werke er- sert hat, daß ich meine Cur in Reichenhall antreten halten die Ausstellungsbesucher steckbriefartige kann. Ich fern von Bayreuth! Du Glücklicher! Hintergrundinformationen gemäß den inhaltlichen Nebenbei bemerkt habe ich gestern den ersten Schwerpunkten „Psychologie“, „Medien/Rezensio- Akt meiner Oper „“ fertig componiert! Al- nen“ und „Weibsbilder“. Die theatralen Konzepte, les aus Langweile! Adieu für heute, lieber Freund! die den Intentionen des Librettisten und des Kom- Erfreue Dich des herrlichen Bayreuth u. der wun- ponisten für das jeweilige Werk zugrunde liegen, dervollen Proben und bemitleide etwas Deinen werden herausgearbeitet und mit den jeweiligen Dich herzlich grüßenden inszenatorischen Diskursen konfrontiert. Mit Fo- Richard Strauss tos, Programmheften, Noten, Rezensionen, Zitaten zum Werk und anderen Dokumenten wird sowohl die ursprüngliche Idee der Dresdner Uraufführung Inszenierungen im Wandel der Zeit: Salome, als auch die Neuinterpretation der Frankfurter Strauss-Inszenierung anschaulich gemacht.

Hier als Beispiel der Text zum Rosenkavalier: Die 1911 in Dresden uraufgeführte Oper Der Ro- senkavalier spielt zur Zeit der Regentschaft Maria Theresias in Wien. Zum festen Inventar der Oper zählt ein Rokokointerieur, das die prächtige Welt der Marschallin widerspiegelt. Seit der Urauffüh- rung bestimmen opulente Kostüme die Inszenie- rungen. Für eine vieldeutige Inszenierung gibt es in der Partitur von Strauss verschiedenste Hinweise. Der Komponist arbeitet in dieser Oper mit unter- schiedlichen Spannungsfeldern, die sich zwischen den Protagonisten, aber auch zwischen den Zeiten aufbauen. Seltsam mutet schon der Zusammen- hang an zwischen der inszenierten Welt des Ro- koko und einer Musik, die ganz deutlich aus dem 19. Jahrhundert stammt. Ist es der Blick in die Ver- gangenheit, welcher der Feldmarschallin zu eigen ist und der innerhalb der Oper aufgegriffen wird? Ruth Berghaus greift in ihrer Frankfurter Insze- nierung von 1992 das zeitliche Vexierspiel auf und

Brief Richard Strauss an E. Humperdinck (Anfang) Brieffaksimile: UB Frankfurt/M., Mus. Autogr. R. Strauss, A 20

Forum Musikbibliothek Jahrgang 35 Heft 1 / März 2014 29 Kersting-Meuleman|Wißmann / Richard Strauss überträgt es auf die Ästhetik des Bühnenbilds. In vielen Inszenierungen sind Oktavian und Sophie in helle Gewänder gekleidet, wodurch die Unschuld des Paares zum Ausdruck kommt. Im Augenblick der Rosenübergabe verliebt sich Oktavian in So- phie, was – z. B. in den ausgestellten Szenenfotos von 1963 – durch die Inszenierung von Innigkeit dargestellt ist. Berghaus greift die tradierte Sym- bolsprache des Rosenkavaliers auf, um eine andere Sichtweise hinzuzufügen: In ihrer Fassung tritt So- phie in einem schwarzen Kleid auf – im Gegensatz zu Oktavian, der einen weißen Anzug trägt. Den Augenblick der Rosenübergabe bricht Berghaus, indem sie der Innigkeit räumliche Distanz entge- gensetzt. Berghaus lenkt in ihrer Konzentration den Blick auf das Liebespaar – jenseits von Pomp und Zierrat. Die Szene der Rosenübergabe wird in einem Filmausschnitt gezeigt.

Psychologie in den Opern von Richard Strauss

Die Opern von Richard Strauss handeln von ext- remen Charakteren. Zu nennen sind hier in erster Linie die Werke Elektra, Daphne und Salome. Die Anni Krull als Elektra, Dresden 1909 Hauptcharaktere durchlaufen – beeinflusst durch Foto: UB Frankfurt/M., S36_F05054 ihr Umfeld und durch Erlebtes – psychologische Prozesse, die sie am Ende in den Wahnsinn oder „Weibsbilder“ bei Richard Strauss sogar in den Tod treiben. Obwohl die Psychologie zur Zeit Strauss’ in ihrer Forschung bereits fortge- In den Opern von Richard Strauss begegnen uns schritten war, stellte die theatrale Auseinanderset- schauerliche Opernheroinen: Frauen werden zu zung mit diesen Prozessen ein Novum dar. Strauss Mörderinnen (Salome, die das Haupt des Joch- vertonte die Abgründe der menschlichen Psyche anaan einfordert) oder sterben wie Elektra im und provozierte im bürgerlichen Milieu damit Wahn, weil sie eine geplante Blutrache nicht aus- Protest und Ablehnung. Als Schauplatz zur Dar- führen können. Die weiblichen Rollen der Opern stellung innerpsychischer Prozesse dienten ihm von Richard Strauss zählen bis heute zu den an- mythische Orte der griechischen Antike und der spruchsvollsten Partien, sängerisch wie in der antiken Tragödie. Die Darstellung von Wahnsinn Interpretation der hochkomplexen Charaktere. lässt sich an Gestik und Mimik der Bühnenkünstler Musik und Bühnengeschehen lassen Zustände sowie am Bühnenbild plastisch nachvollziehen. In zwischen Hysterie und Psychose assoziieren. Die der Ausstellung wird dies durch Inszenierungsfo- Opern von Strauss überforderten in ihrer psycho- tografien einzelner Opern veranschaulicht. Inter- logischen Konzeption das zeitgenössische Publi- essant ist hier die Gegenüberstellung von histori- kum der Jahrhundertwende – und erschüttern die schen und zeitgenössischen Inszenierungen. Zuhörer bis heute.

30 Jahrgang 35 Heft 1 / März 2014 Forum Musikbibliothek Spektrum Zwischen den Furien auf der Opernbühne und gender Komponist. Auf dem Gebiet der sinfoni- dem Frauenbild, welches das Privatleben des schen Dichtung setzte er Maßstäbe. Seine Opern Komponisten dominiert, liegen Welten: Die Be- hatten es schwerer. Die Kritik verortet ihn in der kanntschaft mit Pauline de Ahna, seiner späteren Nachfolge Richard Wagners und formuliert die Er- Ehefrau, machte Strauss anlässlich einer Bühnen- wartung, eben die Richtung weiterzuverfolgen, die produktion. De Ahna war zu diesem Zeitpunkt eine Wagner in seinem Opernschaffen eingeschlagen aufstrebende Opernsängerin, doch sie entschied hatte. sich für die Rolle als Hausfrau. Die Hochzeit be- Die großen Erfolge feierte Richard Strauss mit deutete für sie das Ende ihrer Künstlerkarriere – ein seinen Orchesterwerken – und lange Zeit haftet Schicksal, das sie mit vielen begabten Frauen ihrer ihm das Stigma an, für Singstimmen könne er Generation teilte. Sie wusste es schon zum Zeit- nicht komponieren. Für die Bewältigung der unge- punkt ihrer Verlobung. Nach ihrer Hochzeit wurde heuren Schwierigkeiten von Strauss’ Opern findet sie Frau Direktor Richard Strauss. Noch 1947 kon- die Leistung der Interpreten immer großen Beifall, statierte Strauss selbst: „Schade, dass sie sich zu während dem Komponisten seine hochanspruchs- früh dem schönen Beruf einer vorbildlich ausge- vollen Partien eher verübelt werden. Unverant- zeichneten Hausfrau und Mutter zugewandt hat“. wortlich schwer seien sie, und mancher Kritiker Das Verhältnis des Komponisten Richard Strauss stellt die Frage, ob denn der enorme Probenauf- zu seinen Frauenfiguren auf der Bühne steht in wand eigentlich gerechtfertigt sei. denkbar scharfem Kontrast zu seinem Privatleben: Bei der Frankfurter Erstaufführung der Salome Ebenso wie in der Strauss-Oper Ariadne auf Na- am 6. Februar 1907 ist der Skandal um die Dresd- xos die seriöse Oper als eine Art Parallelwelt zur ner Uraufführung von 1905 bereits abgeebbt, aber buffonesken Sphäre der Spielleute und Gaukler noch nicht vergessen. Die Kritiker bemühen sich inszeniert ist, so begegnet in der Biographie von bei der Beurteilung des Gesamtwerks demonst- Richard Strauss eine biedermeierlich anmutende rativ um einen sachlichen Ton. Dennoch fällt das Privatwelt der wilden und blutrünstigen Sphäre Fazit überwiegend negativ aus. Die Orchestrati- der Fin-de-Siècle-Opern. onen werden zwar ausdrücklich gelobt, kritische Stimmen vermissen jedoch lyrisch-melodische Passagen. Strauss gilt noch lange nicht als der be- Wer stellt den Helden auf den Sockel? deutendste Opernkomponist des 20. Jahrhunderts, Richard Strauss in den Medien wie wir ihn heute sehen. Elektra wird von den Frankfurter Kritikern deut- Rezensionen und Besprechungen spielten im Pro- lich kühler aufgenommen als Salome. Mehr oder zess der Meinungsbildung am Beginn des 20. Jahr- minder offen vermuten sie in der Wahl des düs- hunderts eine entscheidende Rolle. Richard teren Stoffes den Versuch, die Sensationsoper Strauss war bereits am Anfang seiner Karriere in Salome im Skandal wie im Bühnenerfolg noch zu den Feuilletons präsent. Seine Musik bot Anlass zu überbieten. Die Musik, so die fast einhellige Kri- Superlativen, aber auch zu Parodien und anderen tik, sei jenseits des Bühnenzaubers äußerst dürftig kreativen Adaptionen. Die Frankfurter Tageszei- und erschöpfe sich in Tonmalereien. Strauss selbst tungen feierten die Premieren der Strauss’schen erscheint als Zauberkünstler, als Meister aufwen- Werke als Großereignisse der jeweiligen musikali- diger, aber letztlich wenig gehaltvoller musikali- schen Saison. scher Tricks. Noch stärker als in Salome vermis- Spätestens seitdem Richard Strauss mit Don sen die zeitgenössischen Kritiker Melodien, die zu Juan und Till Eulenspiegel in ganz Deutschland dieser Zeit noch immer als Ausweis von genialem Erfolge hatte, galt er den Kritikern als herausra- Schöpfertum gelten.

Forum Musikbibliothek Jahrgang 35 Heft 1 / März 2014 31 Talkner / Musiknachlasserschließung im Netz(werk) In der überregionalen Fachpresse wird neben Moderne konnte Strauss sein Publikum aber nicht Stoffwahl und Musik auch Strauss selbst in den wirklich überzeugen. Es herrscht das Urteil, dass Blick genommen. Elektra wird bestenfalls als Irr- die Verschmelzung der drei Elemente deshalb nicht weg eines vielversprechenden Talents eingeordnet. gelinge, weil sie einen Mangel an dramatischer Die mit Salome eingeschlagene Richtung weiter- Geschlossenheit bedeute. Die Kritiker messen aber zuverfolgen, sei, so ist es den Kritiken zu entneh- Strauss an seinem Anspruch, die musikalische Ko- men, der falsche Weg. Allenthalben wird eine Neu- mödie der Moderne zu schreiben, was ihm offen- orientierung hin zu einem heiteren Stoff gefordert. sichtlich in Abrede gestellt wird. Umso verwunderlicher scheint es, dass auch der Rosenkavalier nicht nur auf positive Reaktionen Dr. Friederike Wißmann ist Professorin an stößt und dies, obwohl viele Kritiker den Rich- der Konservatorium Wien Privatuniversität tungswechsel Strauss’ ja geradezu ersehnen. Der (KONSuni). radikale Stilwechsel, den Strauss von der Elektra Dr. Ann Kersting-Meuleman ist Leiterin der zum Rosenkavalier unternimmt, findet nur par- Abteilung Musik, Theater, Film an der Univer- tiellen Zuspruch. Immerhin, die zuvor vermisste sitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg melodische Qualität der Oper lässt viele aufhor- in Frankfurt am Main und Fachreferentin für chen. Mit der Stilsynthese aus Rokoko, Walzer und Musik, Theater, Film und Romanistik.

1 Emil Claar (1842–1930) war von 1879 bis 1900 Generalin- 3 Als Dessoff wenige Monate später (im Oktober 1892) un- tendant der Frankfurter Bühnen, von 1900 bis 1912 Intendant erwartet nach kurzer Krankheit verstarb, wurde als sein Nach- des Schauspielhauses. folger nicht Strauss, sondern Ludwig Rottenberg ausgewählt, 2 (1835–1892) war von 1880 bis zu sei- der diese Stelle dann über dreißig Jahre innehatte. nem Tod Erster Kapellmeister an der Oper Frankfurt. rechte Seite: Ernst Stern: Die lebensgefährliche Oper (Elektra, Lustige Blätter 1909, Nr. 12) UB Frankfurt/M., Mus S 34_RSM 041

Katharina Talkner müssen Prioritäten gesetzt werden: /3/ Sollen im Musiknachlasserschließung im gleichen Zeitraum wenige Nachlässe fein erschlos- sen werden oder viele Nachlässe grob? Netz(werk)

„Durch die Übernahme eines Nachlasses erwächst Sonderfall Musik? Die Erschließung von jeder Institution zugleich Verantwortung. Von ih- Musiknachlässen rer Fähigkeit, den Nachlass zu erschließen, hängt es vor allem ab, ob er öffentlich bekannt wird oder „Als Werk gelten alle privat oder beruflich ver- im Magazin verstaubt. Die Art und Weise, in der fassten oder geschaffenen Aufzeichnungen, Skiz- ein Nachlass erschlossen wird, hat Auswirkungen zen, Entwürfe und Ausarbeitungen, seien sie z. B. auf seine Benutzbarkeit. Jeder nicht erschlossene künstlerischen, wissenschaftlichen, journalisti- Nachlass ist sozusagen ‚totes Kapital‘.“ /1/ schen und politischen Inhalts, unabhängig von der Wie erweckt man mit zeitgemäßen und effizi- Form, in der sie überliefert sind und davon, ob sie enten Mitteln (musikalische) Nachlässe /2/ zum abgeschlossen oder unvollendet sind.“ /4/ Leben? Angesichts umfangreicher Erschließungs- Musikalische Werke sind zwar in dieser Defini- rückstände bei gleichzeitig geringer Personaldecke tion des Werkbegriffes der Regeln zur Erschlie-

32 Jahrgang 35 Heft 1 / März 2014 Forum Musikbibliothek