Judenräte: Opfer oder Täter?

Neuere Debatten über ihre Rolle im Zweiten Weltkrieg

Diplomarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades einer Magistra der Philosophie

an der Karl-Franzens-Universität Graz

vorgelegt von

Sabine Adametz

am Institut für: Geschichte

Begutachter: Univ.- Dozent Dr. Martin Moll

Graz, Februar 2019 1Vorwort ...... 3 2Einleitung ...... 3 3Historischer Überblick und Hintergrund ...... 6 3.1Begriffsdefinition ...... 6 3.2Begriffsdefinition Ghetto ...... 7 3.3Die Entstehung der Judenräte ...... 9 3.4Die Aufgaben der Judenräte ...... 15 3.5Die Entstehung der Ghettos ...... 22 3.5.1Ghetto in Lodz ...... 22 3.5.2Ghetto in Warschau ...... 29 3.5.3Ghetto in Theresienstadt ...... 37 4 Biografische Auseinandersetzung mit wichtigen Personen ...... 46 4.1 Mordechaj ...... 46 4.1.1Werdegang – Sein Leben, bis er Judenältester wurde ...... 46 4.1.2Judenrat – Sein Verhalten als Judenältester ...... 50 4.2 Adam Czerniakow ...... 60 4.2.1Werdegang – Sein Leben, bis er Judenältester wurde ...... 60 4.2.2Judenrat – Sein Verhalten als Judenältester ...... 63 4.3Benjamin Murmelstein ...... 71 4.3.1Werdegang – Sein Leben, bis er Judenältester wurde ...... 71 4.3.2Judenrat – Sein Verhalten als Judenältester ...... 79 4.3.3Neustart – Sein Leben nach dem Krieg ...... 82 5Ein Versuch der Beantwortung der Frage: Judenräte – Täter oder Opfer? ...... 84 5.11945-1955 – Die Überlebenden urteilen selbst über jüdische Kollaborateure ...... 84 5.21960er Jahre: Hannah Arendt und Raul Hilberg prägen das Bild der Judenräte ...... 86 5.3Ab 1970: Zahlreiche Historiker setzen sich genauer mit dem Thema auseinander ...... 89 5.4Spezifische Auseinandersetzung mit einzelnen Judenältesten ...... 94 6Schlussteil ...... 97 7Bibliografie ...... 102 1 Vorwort

Der Auslöser für meine Diplomarbeit war das Seminar „Fotografie aus den Lagern des NS- Regimes: Praxis, Funktion und Erinnerung“, das ich bei Frau Dr. Hildegard Frübis besuchte. Eine Präsentation zu den Ghettos in Polen und der unterschiedliche Umgang mit der Verantwortung der Judenräte haben mein Interesse für dieses Thema geweckt.

2 Einleitung

Lange Zeit hindurch wurden die NS-Ghettos in Polen nur als eine Art Zwischenstation oder Vorhölle gesehen. Insbesondere die von den Deutschen aufgezwungene jüdische „Selbstverwaltung“ durch die Institution Judenrat wurde nach dem Krieg weitgehend tabuisiert und verschwiegen.

Ab Herbst 1939 übertrugen die deutschen Behörden schrittweise den jüdischen Institutionen die scheinbare Verwaltung der Ghettos. Mit der Einrichtung eines Judenrates in jedem Ghetto distanzierte sich die SS scheinbar von der Vollstreckung ihrer Politik und verurteilte somit die Judenräte mittels der ihnen aufgezwungenen Zusammenarbeit zu einer unmoralischen Form der Kollaboration. 1 Dan Diner definiert die schwierige Situation der Judenräte sehr treffend dahingehend, dass die jüdische Selbstverwaltung und ihre Instrumentalisierung im Vernichtungsprozess dazu beitrugen, die sonst sehr klare Linie zwischen Tätern und Opfern scheinbar zu verwischen und die Opfer in den Tatzusammenhang zu verstricken. 2 Das große moralische Dilemma lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Juden des wurden zum Mitmachen gezwungen, sie klammerten sich an die Hoffnung, ihren Mitmenschen zu helfen, um sich dann in den Augen der anderen mitschuldig zu machen. Dieser perfide Plan der Nationalsozialisten ging auf, denn nach dem Krieg gerieten die Judenräte massiv in Kritik; sie wurden der bereitwilligen Mittäterschaft bezichtigt und mussten sich in Ehrengerichtsverfahren rechtfertigen.

Eines der Hauptwerke, das sich mit der Institution Judenrat beschäftigt, ist Isaiah Trunks Judenrat, The Jewish Councils in Eastern Europe under Nazi Occupation . Seine Ausführungen zu den verschiedenen Judenräten in Osteuropa geben einen detailreichen

1Vgl. Kiesel et al., Leben, S. 7. 2Vgl. ebda., S. 11.

3 Überblick. Zum Thema Judenräte gibt es mittlerweile einige Publikationen, die ich zur Recherche für diese Arbeit herangezogen habe.

Die zentrale Frage dieser Diplomarbeit lautet, ob sich die Judenräte mitschuldig machten oder ob sie selbst nur Opfer des Nationalsozialismus waren. Viele Überlebende verurteilen das Handeln der Judenräte und sehen in ihnen Kollaborateure, die ihre Macht ausnutzten und das Leben der Juden aufs Spiel setzen. Besonders die Judenältesten erfuhren heftige Kritik. Am Beispiel verschiedener Historiker, die sich dieser Thematik annahmen, wird versucht, die Schuldfrage zu klären.

Damit diese Frage wissenschaftlich beantwortet werden kann, müssen zuerst einige Begriffe geklärt werden. In dieser Arbeit wird oft der Begriff Judenrat fallen, darum ist es als Einstieg wichtig, ihn genauer zu beleuchten. Ist er ein von den Nazis eingeführter Begriff oder gaben sich Judenvereinigungen selbst den Titel eines Judenrats? Des Weiteren wird der Begriff Ghetto definiert. Woher stammt er und bezeichnete er bereits vor dem Nationalsozialismus ein abgetrenntes Wohngebiet für Juden? Erstaunlicherweise überdauerte der Begriff Ghetto den Zweiten Weltkrieg und wird heute noch verwendet.

Es gab in nahezu allen von den Deutschen besetzten Gebieten Ghettos und Judenräte. Diese Arbeit konzentriert sich auf drei auswählte Ghettos und die dazugehörigen Judenältesten. Es handelt sich um Warschau, das größte Ghetto in Polen; Lodz, das Ghetto, das am längsten von den Deutschen betrieben wurde, und Theresienstadt, da Benjamin Murmelstein, der letzte Judenälteste, einer der wenigen in dieser Position war, der den Krieg überlebte. Somit wurde diese Auswahl an Forschungsobjekten getroffen, da sie am aussagekräftigsten und interessantesten erschienen.

Chronologisch wird die Entstehung dieser drei Ghettos beleuchtet. Welche Personen waren involviert und verlief alles nach Plan? Dieses Kapitel beleuchtet auch die Spannungen auf deutscher Seite; es kam in der Führungsriege oftmals zu Uneindeutigkeiten und Planänderungen.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit den wichtigen Führungspersonen der jeweiligen Ghettos. Dabei handelt es sich um Mordechai Chaim Rumkowski, Adam Czerniakow und Benjamin Murmelstein. Sie waren es schließlich, die sich mit der Anschuldigung der Mittäterschaft auseinandersetzen mussten. Wie kamen diese drei Männer zu ihrer Position? Aus welchem politischen und religiösen Umfeld kamen sie? Eine wichtige Frage lautet: Wie haben sie sich

4 in ihrer Position als Judenältester verhalten? Nutzten sie das Amt und die Macht aus oder agierten sie stets zum Wohl der jüdischen Bevölkerung?

Im dritten und letzten Teil beschäftigt sich die Arbeit mit der historischen Aufarbeitung der Judenräte und damit, wie die Situation von Historikern nach dem Krieg betrachtet und beurteilt wurde. Gibt es Unterschiede im Umgang mit den Judenräten im Lauf der Zeit?

Der Schlussteil versucht, die Ausgangsfrage anhand der Ausführungen der Diplomarbeit zu beantworten.

5 Erster Teil

3 Historischer Überblick und Hintergrund

3.1 Begriffsdefinition Judenrat

Der Begriff Judenrat beschreibt eine Zwangsinstitution für Juden während der Zeit des Nationalsozialismus in den vom Dritten Reich kontrollierten Gebieten. In manchen Quellen wird auch der Begriff jüdischer Ältestenrat verwendet. Er beschreibt dieselbe Zwangskörperschaft wie der oben genannte Judenrat. An der Spitze des Judenrates stand ein Judenältester, auch bezeichnet als Obmann oder Oberjude. 3

Der Begriff Judenrat wurde das erste Mal kurz nach Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933 in einem Generalplan für eine antijüdische Gesetzgebung verwendet. Dieser wurde von einer staatlichen Kommission erarbeitet und im April 1933 fertiggestellt. Dieses Dokument sah vor, einen amtlich anerkannten Verband der Juden Deutschlands zu etablieren, dem alle Juden zwangsweise beitreten mussten. Dieser Verband sollte von einem sogenannten Judenrat geleitet werden, der vierteljährlich von seinen Zwangsmitgliedern gewählt werden sollte. Der Rat sollte nicht mehr als 25 Mitglieder zählen. Der gesamte Verband, wie auch der Judenrat, stand unter der Aufsicht eines deutschen „ Volkswartes “, der persönlich von Reichskanzler Hitler ernannt und diesem direkt unterstellt war. Das Hauptziel dieses Entwurfs bestand darin, die Juden verwaltungstechnisch und organisatorisch von den Deutschen zu trennen sowie Erstere innerhalb Deutschlands zu isolieren. 4

Der genaue Ursprung des Begriffs Judenrat ist nicht geklärt. Der Inhalt dieses Beschlusses erweckt den Anschein, dass sich die Nationalsozialisten mit der Geschichte der Rechtsbeziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts auseinandergesetzt haben. Man wollte zur mittelalterlichen, vor-emanzipatorischen Phase der jüdischen Geschichte zurückkehren, denn im Deutschland des Mittelalters wurden jüdische Gemeinden von den Kommunalbehörden teilweise als Juden- oder Ältestenrat bezeichnet. Ein

3Vgl. Laqueur, Holocaust Encyclopedia, S. 370. 4Vgl. Michman, „Judenräte“, S. 295.

6 Beispiel dafür bietet Nürnberg. Daraus lässt sich schließen, dass sich in den mittelalterlichen Quellen der Ursprung des Begriffs Judenrat findet. 5

Noch im Jahr 1933 wurde dieser Gesetzesvorschlag von mehreren Seiten abgelehnt, insbesondere der Sicherheitsdienst der SS (SD) äußerte sich gegen den Plan. Dieser vermutete, dass ein gesetzlich verankerter jüdischer Verband zu einem längerfristigen Verbleiben der Juden in Deutschland führen könnte. Der SD plädierte eher für eine umfassende Emigration der jüdischen Bevölkerung, hatte allerdings zu diesem Zeitpunkt noch nicht die notwendige Machtbasis, eine derart umfassende Vertreibungsaktion vollständig zu bewerkstelligen. Somit verfiel der Generalplan eines Verbands der Juden in Deutschland . Die Einrichtung der Judenräte wurde aber nur aufgeschoben. 6

In dieser Arbeit werden zur Vereinheitlichung die Begriffe Judenrat und Judenältester verwendet. In den Quellen ab 1933 findet sich eine Vielzahl von Begriffen, die alle auf dieselbe Zwangsinstitution verweisen. So schrieb SD-Chef Reinhard Heydrich in einem Schnellbrief 1939 von einem Ältestenrat. 7 Hans Frank verwendete nur einen knappen Monat später den Begriff Judenrat. Dieser Terminus wurde dann für die Mehrzahl der kontrollierten und besetzten Gebiete übernommen, jedoch gibt es – wie so oft – auch hier Ausnahmen. In Bedzin wurde der Judenrat zuerst Interessenvertretung der jüdischen Kultusgemeinde in Bendsburg oder Vorstand der jüdischen Interessenvertretung genannt und 1940 in Ältestenrat der jüdischen Kultusgemeinde in Bendsburg umbenannt. Ende 1942 finden sich Briefe aus Bedzin, gezeichnet nur mehr mit Ältestenrat Bendsburg. In einigen Ghettos im Generalgouvernement findet man die Bezeichnung Der Ältestenrat der jüdischen Kultusgemeinde … , zum Beispiel in Lublin. 8

Der offizielle Titel des Vorsitzenden des Judenrates lautete Obmann des Judenrates . Im Generalgouvernement nannte man ihn allerdings Ältester der Juden , Judenältester oder kurz Ältester.

5Vgl. Laqueur, Holocaust Encyclopedia, S. 370 ff.; Michman, „Judenräte“, S. 296. 6Vgl. Michman, „Judenräte“, S. 296. 7Vgl. Schnellbrief Heydrich Internetquelle, http://die-quellen-sprechen.de/04-012.html (aufgerufen am 20.6.2018). 8Vgl. Trunk, Judenrat, S. 10 f.

7 3.2 Begriffsdefinition Ghetto

Der Begriff Ghetto entsprang nicht der Feder der Nationalsozialisten, sondern wurde aus dem jüdischen Diskurs übernommen und erfuhr dadurch eine dramatische bzw. semantische Veränderung. Das Wort Ghetto verlor durch die NS-Herrschaft seine mittelalterliche Bedeutung und wurde komplett mit nationalsozialistischen Inhalten gefüllt. 9 Die Herkunft des Begriffs ist bis heute nicht genau geklärt. Er könnte seinen Ursprung im italienischen Wort „borghetto“ haben, das so viel wie Stadtteil bedeutet. In anderen Quellen wird auf das hebräische Wort „get“ verwiesen, das auf eine Scheidungserklärung hinweist. 10

Der Begriff Ghetto als Bezeichnung für einen abgegrenzten Siedlungs- bzw. Wohnbereich lässt sich ins Venedig der frühen Neuzeit zurückverfolgen. 1516 wurde es Juden gestattet, sich im „Ghetto Nuovo“ und im „Ghetto Vecchio“ niederzulassen, also im neuen bzw. alten Ghetto. Im Venedig des 16. Jahrhunderts steht das Wort „ghèto“ für eine Schmiede oder eine Eisenhütte. Es handelte sich um ein rautenförmiges Gebiet, das sich fernab vom Zentrum befand, umringt von Wasser und nur durch zwei Brücken mit dem Rest der Stadt verbunden. Diese natürlichen Gegebenheiten unterstrichen die fundamentalen Eigenschaften eines Ghettos: Isolation und Abgeschlossenheit von der Umwelt. 11

Drei Jahrzehnte später begann Papst Paul IV. mit der Errichtung eines jüdischen Ghettos in Rom. Dabei stand der Begriff für die jüdische Pflichtwohnsiedlung. In diesem Zusammenhang würde auch die hebräische Definition Sinn machen. Der Papst verordnete, dass Juden nur mehr in dem für sie bestimmten Bereich leben durften. Er ließ sich quasi von der jüdischen Bevölkerung „scheiden“. Danach finden sich jüdische Ghettos in ganz Italien. Man kann zwischen den beiden genannten Ghettos markante Unterschiede feststellen: Das Ghetto in Venedig diente als physischer Schutz vor den „schmutzigen Körpern der Juden“, während das Ghetto in Rom mit der Intention der Konversion der Juden zum Christentum eingerichtet wurde. Es sollte ein Ort sein, an dem alle Juden gesammelt wurden und wo somit ihre Missionierung leichter vollzogen werden konnte. Allerdings darf man bei dieser historischen Betrachtung des Begriffs nicht vergessen, dass die Ghettos oder Wohnsiedlungen der Juden im 16. Jahrhundert von vielen Juden auch freiwillig als ihr Rückzugsort bzw. als

9Vgl. Michman, Judenräte, Ghettos, Endlösung, S. 175. 10 Vgl. Hermand, Geschichten aus dem Ghetto, S. 7. 11 Vgl. Engelking/Leociak, Warsaw Ghetto, S. 24.

8 geeigneter Ort angesehen wurden, um frei ihre Religion und Kultur leben zu können. Sie waren zwar vielerorts gezwungen, im Ghetto zu leben und mussten sich dort nachts wieder einfinden, sie durften das Gebiet allerdings jederzeit tagsüber verlassen und sich mit Christen treffen und interagieren. 12

Es gab zu dieser Zeit in fast allen Ländern Europas Stadtviertel, in denen die Juden lebten. Der Begriff Ghetto setzte sich allerdings nur zum Teil durch. So sprach man im französischen und portugiesischen Raum schlichtweg vom Judenviertel und im deutsch-österreichischen Raum von der Judengasse. Meist waren diese Viertel die einzigen Orte, an denen Juden leben durften und wo sie sich als im jüdischen Glauben lebende Menschen sicher fühlten. Die Situation verschärfte sich allerdings immer mehr. Außerhalb dieser Siedlungen fühlten sich Juden, wenn sie dort noch leben durften, nicht sicher und fürchteten Pogrome gegen sich. Allerdings wurde für weniger religiöse Juden der Druck, der von streng orthodoxen Juden ausgeübt wurde, die religiösen Reinheitsgebote und Familientraditionen einzuhalten, immer größer. 13

Über die Jahrzehnte hinweg verschwand das Phänomen Ghetto aus den italienischen Städten. Einzig das Ghetto in Rom bestand tatsächlich bis zum Jahr 1870. Interessanterweise fand allerdings der Begriff Ghetto Eingang in den Sprachgebrauch des 19. und 20. Jahrhunderts. Er war allerdings bei Antisemiten und Zionisten negativ konnotiert. Für jene Juden, die der Assimilierung kritisch gegenüberstanden, hatte dieser Begriff freilich eine nostalgische Bedeutung. Man kann daher zwei unterschiedliche Denkansätze erkennen. Einige verstanden den Begriff Ghetto als eine Metapher für eine soziale Abgrenzung von Nichtjuden. Andere sahen dabei die wirkliche physische Abbildung enger, abgetrennter, armer und dreckiger Judenviertel vor sich. 14

Die Wiedereinführung des Begriffs „Ghetto“ erfolgte nicht von einem Tag auf den anderen. Als sich im Herbst 1939 die Entwicklung und die Einrichtung der Ghettos in Polen abzeichneten, wurden sie nicht von allen Deutschen sofort als Ghetto bezeichnet. Oft wurden die abgegrenzten Gebiete, in denen die Juden leben mussten, als „Seuchensperrgebiet“ oder

12 Vgl. ebd., S. 24 f.; Michman, Ghetto Phänomen, S. 462. 13 Vgl. Hermand, Geschichten aus dem Ghetto, S. 8. 14 Vgl. Michman, Ghetto Phänomen, S. 462.

9 „Quarantänelager“ bezeichnet. 15

3.3 Die Entstehung der Judenräte

Nachdem der Begriff Judenrat schon seit 1933 im Vokabular und in der Vorstellung der Deutschen herumgeschwirrt war, setzte man die zuerst verworfene Idee im Jahr 1939 in die Realität um. Am 21. September 1939 erging an alle Einsatzgruppenchefs der Sicherheitspolizei in Polen ein geheimer Schnellbrief – unterzeichnet vom damaligen Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes des Reichsführers-SS (SD), SS- Gruppenführer Reinhard Heydrich. Darin regelte er mit knappen Anweisungen den künftigen Umgang mit den polnischen Juden. Im ersten Teil seiner Anordnung wies er darauf hin, dass, um das Endziel zu erreichen, zunächst die Konzentrierung der Juden in größeren Städten erfolgen müsse. In dem Schreiben gibt es keine genaueren Ausführungen darüber, welche Pläne und Vorstellungen hinter dem Endziel standen. Der Begriff fiel aber bereits im ersten Abschnitt.

Es gibt auch erste Hinweise darauf, dass es zur Ghettoisierung in einigen polnischen Städten kommen solle. Sie wurden in diesem Schreiben allerdings als Konzentrierungsstädte oder -punkte bezeichnet. Wichtig für diese war, dass sie an Eisenbahnknotenpunkten oder zumindest an Eisenbahnstrecken lagen, um die späteren Maßnahmen zu erleichtern. Das Ziel, auf das hingearbeitet werden sollte, bestand darin, dass einige Gebiete Polens „von Juden freigemacht werden“. 16 Der zweite Punkt des insgesamt sechs Punkte beinhaltenden Schreibens ist auf die Einrichtung von jüdischen Ältestenräten fokussiert:

„Jüdische Ältestenräte. 1.) In jeder jüdischen Gemeinde ist ein jüdischer Ältestenrat aufzustellen, der, soweit möglich, aus den zurückgebliebenen maßgebenden Persönlichkeiten und Rabbinern zu bilden ist. Dem Ältestenrat haben bis zu 24 männliche Juden (je nach Größe der jüdischen Gemeinde) anzugehören. Er ist im Sinne des Wortes voll verantwortlich zu machen für die exakte und termingemäße Durchführung aller ergangenen oder noch ergehenden Weisungen. 2.) Im Falle der Sabotage solcher Weisungen sind den Räten die schärfsten Maßnahmen anzukündigen. 3.) Die Judenräte haben eine behelfsmäßige Zählung der Juden – möglichst gegliedert nach Geschlecht (Altersklassen) a) bis 16 Jahren, b) von 16 bis 20 Jahren und c) darüber, und nach den hauptsächlichsten Berufsschichten – in ihren örtlichen Bereichen vorzunehmen und das

15 Vgl. Friedman, Roads to Extinction, S. 63. 16 Vgl. Heydrichs Schnellbrief, http://die-quellen-sprechen.de/04-012.html (aufgerufen am 22.6.2018).

10 Ergebnis in kürzester Frist zu melden. 4.) Den Ältestenräten sind Termine und Fristen des Abzuges, die Abzugsmöglichkeiten und schließlich die Abzugsstraßen bekanntzugeben. Sie sind sodann persönlich verantwortlich zu machen für den Abzug der Juden vom Lande. Als Begründung für die Konzentrierung der Juden in die Städte hat zu gelten, daß sich Juden maßgeblichst an den Franktireurüberfällen und Plünderungsaktionen beteiligt haben. 5.) Die Ältestenräte in den Konzentrierungsstädten sind verantwortlich zu machen für die geeignete Unterbringung der aus dem Lande zuziehenden Juden. Die Konzentrierung der Juden in Städten wird wahrscheinlich aus allgemein sicherheitspolizeilichen Gründen Anordnungen in diesen Städten bedingen, daß den Juden bestimmte Stadtviertel überhaupt verboten werden, daß sie – stets jedoch unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Notwendigkeiten – z.B. das Ghetto nicht verlassen, zu einer bestimmten Abendstunde nicht mehr ausgehen dürfen usw. 6.) Die Ältestenräte sind auch verantwortlich zu machen für die entsprechende Verpflegung der Juden auf dem Transport in die Städte. Es sind keine Bedenken geltend zu machen, wenn die abwandernden Juden ihr bewegliches Gut, soweit technisch überhaupt möglich, mitnehmen. 7.) Juden, welche dem Befehl, in die Städte umzusiedeln, nicht nachkommen, ist in begründeten Fällen eine kurz bemessene Nachfrist zu gewähren. Es ist ihnen strengste Bestrafung anzukündigen, wenn sie auch dieser Frist nicht nachkommen. “17

In dieser ersten Anordnung Heydrichs wurden die Grundpfeiler für die jüdische Selbstverwaltung durch die Judenräte in den Ghettos geschaffen. Sie legte die Größe des Rates auf maximal 24 Mitglieder fest. Zu Mitgliedern des Ältestenrats sollten die einflussreichen Juden und Rabbiner der Orte werden, damit eine reibungslose Ausführung der weiteren Pläne gewährleistet werden konnte. Man erhoffte sich dadurch, die Kontrolle über die jüdischen Gebiete zu sichern und die Umsiedelung schneller voranzutreiben. Heydrich ordnete auch schon die ersten Aufgaben an, die unverzüglich durchgeführt werden sollten. Die zweite Anordnung, die sich mit der Bildung der Judenräte beschäftigte, wurde von Hans Frank erlassen und bezog sich nur auf das Generalgouvernement. Hans Frank war seit Oktober 1939 Generalgouverneur des besetzten Polens. Das von den Deutschen besetzte Gebiet umfasste die Distrikte Warschau, Lublin, Radom und Krakau. In seinem Schreiben, datiert auf den 28. November 1939, ordnete Frank die Gründung von Judenräten an. Im Einzelnen legte er fest: Jede jüdische Gemeinde muss einen Judenrat bilden; bei Gemeinschaften mit über 10.000 Einwohnern soll der Rat aus 24 Mitgliedern bestehen. Der Rat soll von den jüdischen Gemeinden selbst gewählt werden. Dieser Judenrat soll dann wiederum seinen Obmann wählen. Die Wahlen sollten spätestens am 31. Dezember 1939 stattfinden. Die Ergebnisse sollten dem jeweiligen deutschen Kreis- oder Stadthauptmann gemeldet werden. Diese hatten danach die Aufgabe, den Judenrat zu genehmigen. Sollten sie

17 Zitat Heydrichs Schnellbrief, http://die-quellen-sprechen.de/04-012.html (aufgerufen am 22.6.2018).

11 mit einem Mitglied oder dem Obmann nicht einverstanden sein, hatten sie das Recht, diesen auszutauschen. Der Judenrat bekam seine Anweisungen von offizieller deutscher Seite. Diese Anweisungen mussten vollständig und aufs Sorgfältigste ausgeführt werden. Alle Juden hatten sich daran zu halten. 18 Als Konsequenz dieser zwei Anordnungen lebte Mitte November 1939 mehr als die Hälfte aller Juden im von Deutschland besetzten Polen unter der Führung eines Judenrates. 19

Diese zwei offiziellen Anordnungen bildeten die Basis für die Einrichtung der Judenräte. Franks Erlass war deutlich allgemeiner formuliert als Heydrichs Schnellbrief, in dem er dezidiert auf die ersten wichtigen Aufgaben der Judenräte einging, wie die Durchführung einer Volkszählung und die Umsiedelung in die Konzentrierungsstädte. Frank gab erst während einer Regierungssitzung im Mai 1940 in Krakau nähere Einzelheiten zu den Aufgabenbereichen der Judenräte bekannt: Sie waren für die Bereitstellung von Zwangsarbeitern mithilfe der Aussiedelung der Juden verantwortlich. Darüber hinaus mussten sie sich um die Nahrungsmittelverteilung kümmern. 20

Für die Bildung der Judenräte im Gebiet der Reichskommissariate Ostland und Ukraine ab der zweiten Jahreshälfte 1941 lassen sich keine spezifischen Verordnungen oder Anweisungen finden. Die einzigen Begriffe zu diesem Thema, die man in den allgemeinen Verordnungen für dieses Gebiet findet, sind Jüdische Selbstverwaltung und Jüdischer Ordnungsdienst . Man verfolgte damit die gleichen Ziele. Allerdings formulierte niemand so detaillierte Pläne wie für die deutlich größere jüdische Bevölkerung in Polen. Die Juden im Ostland und in der Ukraine sollten interne Angelegenheiten selbst klären und sie durften zur Bewahrung der Ordnung und der Sicherheit einen jüdischen Ordnungsdienst bilden. Dieser sollte allerdings nur mit Gummiknüppeln bewaffnet werden. 21

Vorweg muss gesagt werden, dass die Eroberung durch Deutschland der Auslöser für die Entstehung der Judenräte und der Ghettos war und dass der jüdischen und der polnischen Bevölkerung nichts anderes übrigblieb, als in der für sie besten Art und Weise auf die Veränderungen – diktiert von deutscher Seite – zu reagieren und entsprechend zu handeln.

18 Vgl. Trunk, Judenrat, S. 3 ff. 19 Vgl. Laqueur, Holocaust Encyclopedia, S. 372. 20 Vgl. Trunk, Judenrat, S. 4 ff. 21 Vgl. ebd., S. 6.

12 Isaiah Trunks umfassendes Werk „Judenrat“ beschreibt, dass das Zusammenspiel dreier Faktoren die Entstehung der Judenräte maßgeblich beeinflusst hat: die Juden selbst, die deutschen Machthaber und in manchen Gebieten die einheimischen Behörden. Nahezu alle jüdischen Gemeinden in Osteuropa besaßen vor dem Krieg eine jüdische Gemeindevertretung oder Kultusgemeinde. Diese waren zwar nach dem Ausbruch des Krieges meist nicht mehr als Institution tätig, jedoch befanden sich fast alle einflussreichen Personen noch immer in ihren Heimatstädten oder in jenen Gebieten, für die sie verantwortlich waren. Dieser Umstand war für die Deutschen durchaus nützlich: Nach dem Einmarsch in Polen engagierten sich viele dieser einflussreichen Juden freiwillig dafür, die Situation der unterdrückten Juden und ihrer Gemeinden zu verbessern. Monate, bevor noch die ersten Judenräte offiziell gegründet oder bloß angedacht wurden, schlossen sich einzelne Juden zu Hilfskomitees zusammen. Diese Personen, die es als ihre Pflicht ansahen, sich für das Wohl ihrer Gemeinden einzusetzen, waren dann auch diejenigen, die den Kern der später gegründeten Judenräte ausmachten. So war zum Beispiel in Warschau die Mehrheit des Judenrates seit den ersten Tagen der deutschen Belagerung in einem jüdischen Bürgerkomitee und auch schon vor dem Krieg in der Gmina engagiert. Die Gmina ist eine polnische Verwaltungseinheit. Eine ähnliche Entwicklung kann man in vielen anderen polnischen Städten beobachten. Juden, die sich in den ersten Kriegstagen freiwillig und selbstständig zu Hilfskomitees zusammenschlossen, waren zumeist die Ansprechpersonen der Deutschen, wenn es um die Gründung der Judenräte ging. 22

Schon vor Heydrichs geheimem Schnellbrief wählten die deutschen Einsatzgruppen willkürlich Juden aus, machten diese zur jüdischen Vertretung und gaben ihnen spezifische Aufgaben, die sie zu erledigen hatten. Bereits in der ersten Kriegswoche wurden Juden dazu aufgefordert, Personen- und Eigentumslisten anzufertigen. Mit diesem Vorgehen wollten die Deutschen ihre Macht gegenüber den polnischen Juden zum Ausdruck bringen. Oftmals war die Ernennung dieser ersten inoffiziellen Vertreter von Demütigungen, Einschüchterungen bis hin zu brutalen Massakern in verschiedenen Städten begleitet.

Bei der Errichtung des Judenrates in Tarnopol zeigten die deutschen Besatzer ihre Macht auf eine besonders brutale und perfide Weise. Mark Gotfried wurde damit beauftragt, einen Judenrat zu bilden. Dafür sollte er 60 Juden – hauptsächlich aus der gebildeten Oberschicht – auswählen, die sich der Wahl stellen sollten. Er und 63 ausgewählte Persönlichkeiten machten

22 Vgl. ebd., S. 14-17.

13 sich, wie angeordnet, auf den Weg zum Verwaltungsgebäude, das sie allerdings nie betreten haben. Vor Ort angekommen, wurden sie unter grölenden Rufen brutal auf Lastwägen verfrachtet und aus der Stadt gebracht. Ihre Fahrt endete am Hundefänger-Hügel. Sie wurden alle – bis auf Gotfried und zwei sehr alte Männer – von den Deutschen umgebracht. Dies war kein Ausnahmefall und soll nur als Beispiel dienen.23

Ganz im Gegensatz zur eigentlichen Forderung Franks in seiner Anordnung wurde nirgendwo im Generalgouvernement eine legitime Wahl zur Bildung eines Judenrates durchgeführt. In der Mehrzahl der besetzten Gebiete wurde ein Mann – des Öfteren ein bedeutender Rabbi der Gemeinde – auserkoren, den Judenrat zu bilden. Beispiele dafür gab es in Warschau, Lodz, Lublin, Radom, Grodno, Brody, Lenczyca, Stolin, Plock, Konskie und in anderen Städten. Es gab aber auch Ausnahmefälle, etwa Biala Podlaska. Dort versammelten die Deutschen die zuvor bestehende jüdische Gemeindevertretung und befahlen ihr, gemeinsam einen Judenrat zu formen. Die Deutschen wollten ihre gesamte Macht über die jüdische Bevölkerung nutzen und selbst bestimmen, wer das „Sprachrohr“ zwischen den Deutschen und den Juden sein sollte. Der auserkorene Älteste der Juden wählte vielerorts bereits erfahrene Juden aus der Vorkriegsgemeindevertretung aus, um den neuen Rat zu bilden. Neuernennungen gab es hauptsächlich dann, wenn es darum ging, auf die erforderlichen 24 Mitglieder zu kommen. Hinsichtlich der Neuernennungen hatten die deutschen Stadthauptmänner ganz klare Vorstellungen davon, wie der Judenrat im Idealfall aussehen sollte. Am beliebtesten waren jene Juden, die der deutschen Sprache mächtig waren, nicht orthodoxe Juden, die eine auffällige und für die Deutschen provozierende Kleidung trugen sowie eine starke sozialistische Prägung aufwiesen, die von den Deutschen als Gefährdung wahrgenommen werden konnte. 24

Dass auf einflussreiche und bekannte Persönlichkeiten aus den jüdischen Gemeinden zurückgegriffen wurde, trifft nicht auf alle Fälle zu. In einzelnen Gebieten wurden wahllos Personen beauftragt, einen Judenrat zu bilden: Einzelpersonen, die auf der Straße aufgegriffen und mit dieser verantwortungsvollen Aufgabe betraut wurden. Und das einfach nur, weil sie Deutsch sprechen konnten. Somit zeigt sich bereits anhand dieses Beispiels die Vielschichtigkeit dieser Thematik und wie vorsichtig man mit Generalisierungen sein muss. Ein weiterer Punkt Franks, den man im Nachhinein als sehr willkürlich beschreiben kann,

23 Vgl. ebd., S. 21 f. 24 Vgl. Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, S. 157 f.

14 betraf die Ratsgröße. In seiner Anordnung legte er fest, dass Gemeinden mit mehr als 10.000 Einwohnern einen Judenrat mit 24 Mitgliedern haben sollen. Aus Aufzeichnungen geht hervor, dass die Judenratsgröße vielerorts in keinerlei Relation zur Einwohnerzahl stand. Somit kann man den Schluss ziehen, dass Franks Anordnung nie wirklich in die Tat umgesetzt wurde. Zu viele der von ihm angeführten Punkte wurden befolgt. Deshalb bleibt Heydrichs Schnellbrief ein grundlegendes Dokument zur Einführung der Judenräte. 25 Als dritten Faktor nennt Trunk die einheimischen Behörden. Nach dem Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 zeigten sich viele nichtjüdische Bewohner bereit zur Kooperation mit den Deutschen. In einigen Städten wandten sich die Kreishauptmänner an die Stadtverwaltung, die den Deutschen bei der Ernennung der Judenräte helfen oder sogar einen Judenältesten bestimmen mussten. Der Einfluss der lokalen Stadtverwaltungen war allerdings nur ein temporäres Phänomen – vor allem in der Anfangszeit der Besatzung. Den einheimischen Behörden wurde immer mehr Einfluss entzogen und sie wurden in der deutschen Ostpolitik nicht mehr gebraucht: Mit einer Ausnahme, wenn es um die „Endlösung der Judenfrage“ ging. Beim Vernichtungsprozess der jüdischen Bevölkerung wurde oftmals die sich vor Ort befindende Hilfspolizei eingeteilt. 26

3.4 Die Aufgaben der Judenräte

Jedes Judenratsmitglied hat seine Arbeit sehr ernst genommen und versucht, die aussichtslose Lage der Juden in den Ghettos zu erleichtern und das Überleben der Menschen dort zu sichern. Sie sahen sich im Ghetto verantwortlich für die Verwaltung. Betrachtet man die Institution Judenrat jedoch von deutscher Seite, stellt man fest, dass für die deutschen Machthaber der Judenrat kein Verwaltungsorgan zur Organisation und Strukturierung im Ghetto war, sondern sie sahen den Judenrat als ein geeignetes Instrument, um an ihr eigentliches Endziel zu gelangen: Gezielt eingesetzt von den Nationalsozialisten, um ihnen bei der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung behilflich zu sein.

Diese Taktik der Deutschen kann nur als perfide und hinterlistig bezeichnet werden. Man zwang nämlich die Opfer, Assistenten bei ihrer eigenen Hinrichtung zu sein. Für Heydrich wie auch für Frank war es eindeutig, dass die jüdische Selbstverwaltung nur eine

25 Vgl. Trunk, Judenrat, S. 24 ff.; vgl. Laqueur, Holocaust Encyclopedia, S. 373. 26 Vgl. Trunk, Judenrat, S. 24 ff.

15 Scheinautonomie war. Die wichtigste Aufgabe – so beschrieben in beiden Anordnungen – bestand darin, deutsche Befehle auszuführen, denn zum einen wäre es aufgrund der niedrigen Zahl deutscher Verwaltungsbeamter gar nicht möglich gewesen, die Gebiete im Osten nur mit ihnen zu verwalten und Millionen von Menschen zu kontrollieren. Zum anderen weigerten sich auch viele Deutsche, die stark vom Antisemitismus geprägt waren, mit Juden näheren Kontakt aufzunehmen und mit ihnen zu arbeiten. 27

Alle anderen Aufgabenbereiche, denen sich der Judenrat annahm, wie das Gesundheitswesen, soziale Fürsorge und kulturelle Angebote, lagen außerhalb der von den Nazis erlassenen Vorschriften und wurden mehr oder weniger von den deutschen Machthabern geduldet. In gewisser Weise spielte dies auch in die Hände der Nazis, da man durch diese Scheinautonomie – je länger die einzelnen Ghettos bestehen blieben – die Ghettobewohner fälschlich in Sicherheit wog und das ultimatives Ziel so länger geheim und unvorstellbar blieb. 28 Mit dem ersten Tag der Besetzung Polens verlor die jüdische Bevölkerung alle Hilfsleistungen wie Pensionen und Krankengeld. Ebenso wurden die Bankkonten der Juden gesperrt und es wurde damit begonnen, ihr Eigentum zu beschlagnahmen. Dringende Hilfe und Aufmerksamkeit benötigten auch die vielen Juden, die von den Besatzern aus kleinen ländlichen Dörfern in den Konzentrierungsstädten, wie Warschau, Lodz, Lublin etc., zusammengetrieben wurden. Sie kamen in diese großen Städte mit ihren Familien, mit wenig Geld und ohne Unterkünfte. Die Straßen waren überfüllt von umherirrenden obdachlosen Familien, für die eine Unterbringung gefunden werden musste. Um diese Erstversorgung kümmerten sich, wie im vorangegangenen Abschnitt beschrieben, freiwillige jüdische Ersthelfer – meist Rabbiner oder Männer, die bereits vor dem Krieg in der jüdischen Gemeindevertretung tätig gewesen waren und die dann oftmals wenige Tage später ihre Aufgabe im Judenrat übernahmen.

Mit der offiziellen Einrichtung der Judenräte bekamen die Judenältesten von den Deutschen ihre ersten Aufgaben und Befehle. In der Anfangsphase legten die Deutschen großen Wert auf die Registrierung der jüdischen Personen. Wie in Heydrichs Schnellbrief vermerkt, bildeten sich in nahezu allen polnischen Städten, in denen die Juden konzentriert wurden, Statistikbehörden. Ende Oktober 1939 wurde ein solches Büro in Warschau eingerichtet und

27 Vgl. Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941-1944, S. 106. 28 Vgl. Trunk, Judenrat, S. 43.

16 es begann damit, eine Volkszählung durchzuführen. Das Ergebnis lautete auf annähernd 360.000 Juden. In Lodz wurde die Dienststelle, die sich um die Zählung der Bewohner kümmern sollte, am 9. Mai 1940 eröffnet – kurze Zeit, nachdem die Juden im Ghetto eingesperrt worden waren. 29

Eine weitere Aufgabe, die bereits vor der Ghettoisierung vom Judenrat ausgeführt wurde, war die Bereitstellung von Zwangsarbeitern, die in den umliegenden Arbeitslagern unter widrigsten Bedingungen für die deutsche Industrie arbeiten mussten. 30 Die Judenräte erhofften sich durch die korrekte Ausführung der Befehle, die brutale Willkür der deutschen Machthaber zu beenden. So war die Bereitstellung von Zwangsarbeitern nicht von Anfang an eine Aufgabe der Judenräte. In Warschau zum Beispiel verhafteten die Deutschen willkürlich Juden auf den Straßen und zwangen sie zu verschiedenen Arbeiten. Diese waren hauptsächlich: Trümmer von den Straßen entfernen, Straßenreinigung oder deutsche Privatwohnungen putzen. Diese Zwangsarbeiten gingen immer mit Schlägen und Erniedrigungen einher. Für die Juden bedeutete diese Vorgehensweise pure Angst und sie sorgte dafür, dass sie versuchten, ihre Häuser nicht zu verlassen und die Straßen zu meiden. Um dem Chaos und Terror ein Ende zu setzen, einigte sich der Judenrat mit den Deutschen darauf, jeden Tag eine bestimmte Zahl an Arbeitern für die Zwangsarbeit zur Verfügung zu stellen. 31

Binnen kürzester Zeit wurde in den Ghettos ein komplexer Verwaltungsapparat durch die Judenältesten aufgebaut. Die ersten Behörden, die eingerichtet und die am dringendsten gebraucht wurden, waren die allgemeine Fürsorge, Gesundheitsfürsorge und Nahrungsmittelversorgung. Hinzu kam die vorher beschriebene Zwangsarbeitsvermittlung. Beraubt von jeglichen Gütern, eigenen Wohnungen und dem gewohnten Tagesablauf, musste im Ghetto alles neu aufgebaut werden. Die Judenräte versuchten, so schnell wie möglich wieder eine Routine ins Leben der Ghettobewohner zu bringen. Dafür wurden zahlreiche Arbeitsressorts und Verwaltungsinstanzen eingerichtet. Diese mussten sich um die Lebensmittelverteilung kümmern, neue Arbeitsplätze schaffen sowie Schulen einrichten und die Post verteilen.

29 Vgl. Trunk, Judenrat, S. 45 ff. 30 Vgl. Bethke, Tanz auf Messers Schneide, S. 78 ff. 31 Vgl. Engelking/Leociak, Warsaw Ghetto, S. 143; vgl. Browning, Judenmord, S. 95.

17 Die administrative Struktur, die die Judenräte aufbauten, veränderte sich im Kriegsverlauf. Die Ämter wurden immer weiter ausgebaut, um allen Bedürfnissen der Ghettobewohner nachzukommen. 32 Ein weiterer Grund, warum es in manchen Ghettos zum Aufbau großer und komplexer Verwaltungsbehörden kam, lag darin, dass die Judenräte so versuchten, ihr Leben zu retten. Oftmals waren Angestellte bei einer Behörde von den Zwangsarbeiten und den späteren Deportationen ausgenommen. 33

Mit vielen tausenden von Menschen eingepfercht auf wenigen Quadratmetern, musste sich der Judenrat bald auch um die Verbesserung der Hygienebedingungen kümmern, was sich allerdings als unlösbares Problem herausstellte. Die Ghettos wurden von den Deutschen bewusst immer in den Armenvierteln, die schon vor dem Krieg in einem schlechten Zustand gewesen waren, eingerichtet. Deshalb verfügten die wenigsten Ghettos über ein ausgebautes Kanalisationssystem und fließendes Wasser. Dieser Faktor und die rasch ansteigenden Bevölkerungszahlen in den Ghettos begünstigten den Ausbruch von Krankheiten und Epidemien. So starben die ersten Juden in den Ghettos bereits seit dem Winter 1940/41. Es traf vor allem die Schwächsten der Gesellschaft: Kinder und alte Personen. In Zahlen ausgedrückt, starben bis Herbst 1942 im Warschauer Ghetto fast 100.000, in Lodz ca. 25.000 Menschen aufgrund von Seuchen, Epidemien und anderen Krankheiten. 34 Dies wurde von den Deutschen in Kauf genommen und es ist nicht auszuschließen, dass sie bewusst unhygienische Wohnbedingungen für die jüdische Bevölkerung schufen, um die Population von Anfang zu verringern. Die Judenräte, unter anderem in Warschau und Kutno, forderten von den Deutschen die Lieferung von Antityphus-Serum, das dringend benötigt wurde. Diese sowie weitere Forderungen nach medizinischer Hilfe für die Ghettobewohner wurden von den deutschen Behörden abgelehnt.

Die gesamte medizinische Versorgung war in den Ghettos miserabel. Vielerorts lagen die Krankenhäuser außerhalb der Ghettomauern und selbst dann, wenn sich Krankenhäuser innerhalb derselben befanden, waren diese mangelhaft ausgestattet. Es war kaum medizinisches Fachpersonal wie Ärzte und Krankenschwestern vorhanden. Dieser unzumutbare Zustand ging sogar so weit, dass der Judenrat aus Kutno einen dringenden Brief an den Lodzer Oberbürgermeister schrieb und darum bat, man möge doch zwei jüdische Ärzte

32 Vgl. Bethke, Tanz auf Messers Schneide, S. 79; Vgl. Trunk, Judenrat, S. 48 ff. 33 Vgl. Löw, Warschauer Ghetto, S. 27. 34 Vgl. Pohl, Verfolgung und Massenmord, S. 67 ff.

18 aus dem Lodzer Ghetto zu ihnen transferieren, da sich im dortigen Ghetto kein medizinisches Personal befände. Aus Lodz bekam der Judenrat eine Absage mit der Begründung, es fehle auch in Lodz medizinisches Personal. Es wurden aber zwei Ärzte – einer aus Warschau und einer aus einem Nachbardorf – nach Kutno geschickt, nachdem sich die Typhusepidemie beträchtlich ausgebreitet hatte. 35

Eine der häufigsten Krankheiten, die im Ghetto ausbrachen und irgendwie unter Kontrolle gebracht werden mussten, war Fleckfieber – ausgelöst durch den Mangel an Kohle und Seife im Ghetto, die Überbelegung von Wohnraum sowie die unzureichende Ernährung, die das allgemeine Immunsystem der Menschen schwächte. Um die Krankheit einzudämmen, verhängte der Judenrat Häusersperren und errichtete Quarantänestationen, um die Kranken von den Gesunden strikt zu trennen. Aufgrund der konstanten Unterernährung konnten die Bewohner ihre geringen Lebensmittelrationen nicht mehr vollständig verdauen, woraufhin Herz, Niere, Leber und Milz schrumpften und es zu einem rapiden Gewichtsverlust kam. 36 Ein Ghettoarzt beschrieb die Lage wie folgt:

„Der Übergang vom Leben zum Tod vollzieht sich langsam und unmerklich, wie der Tod durch physiologisches Altern. Es gibt nichts Abruptes, keine Atemnot, keinen Schmerz, keine sichtbare Veränderung der Atmung oder Blutzirkulation die Lebensfunktionen lassen gleichmäßig nach, Puls und Atmung werden langsamer, […] bis das Leben schließlich verlöscht. “37

Seit der Etablierung der Judenräte war die Lebensmittelversorgung ein dauerhaftes Problem. Der Judenrat hatte die Aufgabe, die Lebensmittelrationen zu verteilen. Diese waren viel zu gering, um eine gesunde Ernährung für die Bewohner sicherzustellen. Die Lieferungen fanden in allen Ghettos am sogenannten Umschlagplatz statt. Dort wurden auch alle Ghettoerzeugnisse ausgeführt. Es war ein Platz, der für die Deutschen gut überschaubar war. Jede Lieferung wurde von ihnen streng kontrolliert.38

In Lodz errichtete Rumkowski im Sommer 1940 bereits eine Verpflegungsabteilung, die sich um die Verteilung der Lebensmittel kümmern sollte. Ghettobewohner konnten in der

35 Vgl. Trunk, Judenrat, S. 143, 155. 36 Vgl. Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, S. 191 ff. 37 Zitat: ebd., S. 193. 38 Vgl. ebd., S. 187.

19 Verpflegungsabteilung Rationenberechtigungen erwerben und mit dieser Lebensmittelkarte – der sogenannten Talone – sich Lebensmittel bei den offiziell zugelassenen Stellen kaufen. Auch im Warschauer Ghetto kam es ab Januar 1941 zur Verteilung von Lebensmittelkarten, für die eine Steuer zu entrichten war. Damit konnte man sich in autorisierten Läden Lebensmittel kaufen. 39

„Im Mai 1941 beschrieb die Wehrmacht die Lage im Ghetto (Warschau) als ‚katastrophal‘. Juden brachen auf offener Straße zusammen. Ihre ganze Ration bestand aus 1,5 Pfund Brot pro Woche. “40 Die Suppenküche, die im Ghetto Kaunas/Kowno im April 1942 eröffnet wurde, verteilte bis zu 800 Mahlzeiten pro Tag an arme Arbeiter und bedürftige Ghettobewohner umsonst oder für einen kleinen Unkostenbeitrag. Die Anzahl an Menschen, die die Versorgung durch Suppenküchen fürs tägliche Überleben benötigten und auch in Anspruch nahmen, wuchs überall während der gesamten Bestandszeit der einzelnen Ghettos. 41 Die katastrophalen Zustände in den Ghettos sorgten dafür, dass es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den Ghettobewohnern kam: Es wurde Schwarzhandel getrieben, Essensrationen wurden gestohlen oder man weigerte sich, zur Zwangsarbeit anzutreten. Um für Ruhe und Ordnung im Ghetto zu sorgen, wurde den Judenräten befohlen, eine jüdische Polizei – genannt jüdischer Ordnungsdienst – einzurichten. 42 Diese Form jüdischer Polizeigewalt war etwas völlig Neues. In keiner Art und Weise gab es in den jüdischen Gemeinden vor dem Krieg eine vergleichbare Institution. 43

Im Gegensatz zu Heydrichs Schnellbrief liegen keine offiziellen Anordnungen der Deutschen zur Bildung des Ordnungsdienstes vor. Es wird vermutet, dass der Befehl vom lokalen deutschen Aufsichtspersonal direkt an die Judenräte übermittelt wurde. 44 Angedacht war der Ordnungsdienst als ein Verwaltungszweig des Judenrats. Dieser sollte die Regeln und das Verhalten festlegen. In vielen Ghettos war ein Mitglied des Judenrates gleichzeitig Obmann des Ordnungsdienstes. Dieser versuchte, anständige und nicht korrumpierbare Männer für den Ordnungsdienst einzustellen. Auch in Warschau plante der Judenälteste Adam Czerniakow

39 Vgl. Bethke, Tanz auf Messers Schneide, S. 72, 80. 40 Zitat: Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, S. 189. 41 Vgl. Trunk, Judenrat, S. 125. 42 Vgl. Loewy/Schoenberner, Unser einziger Weg ist Arbeit, S. 21. 43 Vgl. Yad Vashem Homepage; Shoah Resource Center. http://www.yadvashem.org/odot_pdf/Microsoft %20Word%20-%203224.pdf (aufgerufen am 18.7.2018 ). 44 Vgl. Trunk, Judenrat, S. 475.

20 den Ordnungsdienst als eine Abteilung des Judenrates.

Die Realität sah allerdings anders aus. Schon bald arbeitete der Ordnungsdienst als eigene Instanz im Ghetto – ohne die strenge Aufsicht des Judenrates. In manchen Fällen hatte der jüdische Ordnungsdienst sogar die Kontrolle über den Judenrat inne. Diese Entwicklung wurde von den Deutschen unterstützt, wobei die Situation für ihre Zwecke ausgenutzt wurde: Man wollte dadurch die Stellung des Judenrates schwächen. In Otwock wurde der Judenälteste, der bis dahin um das Wohlbefinden der Bewohner besorgt war, am 18. August 1942 während einer Umsiedelungsaktion beseitigt. An seine Stelle wurde der Polizeichef Bernard Kroenberg gesetzt. Dieser arbeitete eng mit den Deutschen zusammen und folgte allen ihren Anweisungen.

In mehreren Ghettos versuchten die Obmänner des Ordnungsdienstes, die Integrität des Judenältesten zu untergraben und die Macht über den gesamten Judenrat zu erlangen. Beispiele dafür sind: Radom, Kielce, Tomaszow, Maazowiecki, Lemberg/Lwow, Boryslaw und Tarnopol. 45 Die Aufgaben des Ordnungsdienstes zu Beginn seiner Tätigkeit waren: Die Straßen patrouillieren und Menschenansammlungen auf den Straßen verhindern, Sorge dafür zu tragen, dass Straßen, Hinterhöfe und Stiegenhäuser sauber waren, Verbrechensbekämpfung und Bewachung der Räumlichkeiten des Judenrates. Dazu kamen noch die Bewachung der Ghettomauern und -zäune, die Bestrafung von Menschen, die den Befehlen und den Anordnungen des Judenrates nicht Folge leisteten, zum Beispiel Steuern nicht zu zahlen oder zur Zwangsarbeit nicht zu erscheinen. Im Verlauf des Krieges kam dann noch die Mithilfe bei den Deportationen zu ihrem Aufgabenbereich hinzu. 46

Als ob die Aufgaben der Judenräte nicht schon ausgedehnt genug gewesen wären, wurde ihnen zu verschiedenen Zeiten, Ende 1941 und 1942, ein weiterer Bereich anvertraut, der für die Deutschen höchste Priorität hatte: Die Judenräte mussten Juden auswählen, die zur „Umsiedelung“ bestimmt waren. Inwieweit die verantwortlichen Judenräte wussten oder ahnten, wohin die Auserwählten „umgesiedelt“ wurden und was mit ihnen geschah, ist ungewiss. 47

45 Vgl. Yad Vashem Homepage; Shoah Resource Center. http://www.yadvashem.org/odot_pdf/Microsoft %20Word%20-%203224.pdf (aufgerufen am 18.7.2018). 46 Vgl. Trunk, Judenrat, S. 478. 47 Vgl. Loewy/Schoenberner, Unser einziger Weg ist Arbeit, S. 29.

21 Somit standen die Judenräte vor ihrem größten Dilemma: Sie waren diejenigen, die die gesamte Vorarbeit zu den Deportationen verrichten mussten. Sie mussten die Listen schreiben, auf denen sich geeignete Kandidaten befanden. Sie hatten dafür Sorge zu tragen, dass sich diese Personen zur richtigen Zeit am richtigen Ort, meistens auf dem Umschlagplatz des Ghettos, einfanden. Falls sich ausgewählte Juden versteckten, musste sie der Judenrat entweder selbst suchen oder den Ordnungsdienst damit beauftragen.

Nach den ersten „Umsiedelungen“ und nach den nicht aufhörenden Forderungen nach mehr Menschen musste es den Judenräten langsam klar werden, dass es unmöglich war, alle Ghettobewohner vor der Deportation zu bewahren. 48 Mit diesem schweren Schicksal gingen viele Judenälteste unterschiedlich um. Die Reaktionen auf die Selbstselektion äußerten sich teilweise in offener Weigerung der Judenräte, der geforderten Aufgabe nachzukommen. Dieses Verhalten wurde mit der sofortigen Tötung der Verantwortlichen durch die Deutschen bestraft. Für eine andere Form der Widersetzlichkeit entschloss sich Warschaus Judenältester Adam Czerniakow, indem er sich das Leben nahm. Es gab auch Judenälteste, die von ihrem Posten zurücktraten, wie beispielsweise Weiler aus Wladzimierz, der sich mit folgenden Worten verabschiedete: „Ich bin nicht Gott und ich werde nicht über andere zu Gericht sitzen, um zu bestimmen wer Leben darf und wer nicht.“ Ebenso unterstützten Judenräte den aktiven Widerstand mit Geld, Material und Informationen. Eine letzte Gruppe von Judenältesten – allen voran Mordechaj Chaim Rumkowski – vertrat die Einstellung: „Unser einziger Weg ist Arbeit“. Damit versuchten sie, das Ghetto als produktive und attraktive Institution den Deutschen zu verkaufen und sein Bestehen so lange wie möglich zu sichern. Mit dieser Einstellung nahm man allerdings in Kauf, dass man einen Teil der Ghettobewohner für den Rest opferte. 49

3.5 Die Entstehung der Ghettos

3.5.1 Ghetto in Lodz

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Stadt Lodz zur zweitgrößten Industriestadt im Zarenreich und zum Zentrum der Textilindustrie Osteuropas. Die aufstrebende Industriestadt zog immer mehr Einwohner an: So verzehnfachte sich die Bevölkerung von 1864 bis 1908. Die Stadt musste nach Kriegshandlungen im Ersten

48 Vgl. Trunk Judenrat, S. 420. 49 Vgl. Loewy/Schoenberner, Unser einziger Weg ist Arbeit, S. 35.

22 Weltkrieg, welche die Stadt nahezu dem Erdboden gleichgemacht hatten, völlig neu aufgebaut werden. Der erneute industrielle Aufschwung zog auch vermehrt Juden in die polnische Stadt: So stieg der Anteil jüdischer Bewohner zwischen 1908 und 1931 von 22,5% auf 33,5%, bis dieser seinen Höhepunkt 1939 bei fast 40% erreichte, was ungefähr 233.000 Menschen bedeutete. 50

Am 8. September 1939 wurde Lodz von deutschen Truppen besetzt und im November dem Deutschen Reich, als Teil des Reichsgaus „Wartheland“, einverleibt. Von einem Moment auf den anderen war das Leben der jüdischen Bewohner nicht mehr so wie früher. Ihnen wurde mit sofortiger Wirkung verboten, mit Textilien und Leder zu handeln, was für die Mehrheit der Juden ihren wirtschaftlichen Ruin bedeutete. Des Weiteren wurde ihnen die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel untersagt. Es galten Ausgangssperren und eine Kennzeichnungspflicht. Ab 14. November mussten alle Juden gut sichtbar auf der rechten Brust- und Rückenseite einen 10 cm hohen, gelben Davidstern tragen; dieser diente als Erkennungsmerkmal und vereinfachte es den Deutschen, bei wilden Razzien Juden zur Zwangsarbeit zu verschleppen. 51

Aufgrund ihrer geografischen Lage fiel Lodz in jenes Gebiet, das annektiert und dem Deutschen Reich einverleibt wurde. Somit begann die deutsche Verwaltung mit der „Eindeutschung“ der Stadt. Das Ziel bestand darin, alle dem Reich eingegliederten Gebiete „judenfrei“ zu machen und einen „volksdeutschen“, neuen Lebensraum im Osten zu schaffen. Dazu musste allerdings die gesamte nicht-deutsche Bevölkerung ins Generalgouvernement abgeschoben und dorthin deportiert werden. 52 So lautete die Anweisung Heinrich Himmlers: Bis Februar 1940 sollten zunächst 200.000 Polen und 100.000 Juden aus dem Warthegau ins Generalgouvernement, genauer gesagt in Gebiete südlich von Warschau und Lublin, ausgesiedelt werden. Die spätere Planung sprach von rund 500.000 Personen, die deportiert werden sollten.

Von Heydrichs Endziel, sieben Millionen Menschen gewaltsam zu vertreiben, blieb man jedoch weit entfernt. Diese Pläne stießen bei Generalgouverneur Frank auf Widerstand, der entschlossen dagegen war, so viele Menschen in sein Herrschaftsgebiet auszusiedeln. Denn

50 Vgl. ebd., S. 17; vgl. http://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/das-deutsche-ghetto-litzmannstadt-im- polnischen-lodz/ (aufgerufen am 20.7.2018). 51 Vgl. Rosenfeld, Wozu noch Welt, S. 19. 52 Vgl. ebd.; vgl. Loewy/Schoenberner, Unser einziger Weg ist Arbeit, S. 17 ff.

23 auch Frank wollte das Generalgouvernement „judenfrei“ machen. Zeitnah erkannte Hermann Göring die Vorteile von billigen Arbeitskräften, die man noch eine gewisse Zeit ausbeuten konnte. Somit durften die Juden vorerst in Lodz bleiben. 53 Die internen Rivalitäten im NS- Führungsapparat führten dazu, dass Friedrich Uebelhoer, der im Oktober 1939 als kommissarischer Regierungspräsident nach Polen beordert worden war, mit den Vorbereitungen zur Bildung eines Ghettos in Lodz begann. Im Zuge dieser Planungen war es allen klar, dass das Ghetto nur eine Übergangslösung darstellen konnte. So formulierte Uebelhoer in einem Rundschreiben:

„Die Erstellung des Gettos ist selbstverständlich nur eine Übergangsmaßnahme. Zu welchem Zeitpunkt und mit welchen Mitteln das Getto und damit die Stadt Lodsch von Juden gesäubert wird, behalte ich mir vor. Endziel muss jedenfalls sein, daß wir diese Pestbeule restlos ausbrennen. “54

Ein Arbeitsstab beschloss, die Altstadt, das Elendsviertel Baluty und die Vorstadt Marysin mit dem jüdischen Friedhof zum Ghettogebiet zu machen. Einerseits lebten dort bereits 62.000 Juden, andererseits sind die Lebensbedingungen dort erwartungsgemäß katastrophal gewesen. Von 30.000 Wohnungen in Baluty hatten nur 725 fließendes Wasser und es gab keine Kanalisation. Die Nichtjuden, die noch im Ghettogebiet wohnhaft waren, mussten bis zum 29. Februar 1940 ihre Wohnungen verlassen. Die restliche jüdische Bevölkerung wurde von Lodz in mehreren Schüben ins Ghetto getrieben. Alle paar Tage wurden Umzugspläne veröffentlicht. Anhand dieser wussten die Juden, wann welches Viertel den Umzug ins Ghetto antreten musste. Die letzten Juden betraten am 30. April das vier Quadratkilometer große Ghetto, bevor es von den Deutschen hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt wurde. 55 Somit lebten nun 164.000 Menschen auf engstem Raum zusammen. Aufgeteilt auf 48.000 Wohnräume des Armenviertels, lebten nun durchschnittlich 3,5 Personen pro Zimmer. 56 Es war das erste Ghetto in Polen, das von der Außenwelt völlig getrennt war. Die Isolierung der Juden in Lodz wurde in keinem anderen Ghetto in dieser Form wiederholt. Es kam während der gesamten Ghettogeschichte zu keinem nennenswerten Kontakt zwischen den Insassen und der Außenwelt. Somit entstand kein Kontakt zu polnischen Widerstandsgruppen. Es wurden weder erwähnenswerte Mengen von Waffen noch Lebensmittel ins Ghetto

53 Vgl. Loewy/Schoenberner, Unser einziger Weg ist Arbeit, S. 12 ff.; Vgl. Das Ghetto Lodz – Im Spiegel der Ghettochronik, http://www.hagalil.com/or/200xxxxx4/07/lodz.htm (aufgerufen am 25.7.2018 ). 54 Zitat: Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, S. 161. 55 Vgl. Loewy/Schoenberner, Unser einziger Weg ist Arbeit, S. 19. 56 Vgl. Cesarani, Endlösung, S. 340.

24 geschmuggelt. Der Drahtzaun und das zusätzliche engmaschige Netz, das von Schutzpolizisten ständig bewacht wurde, verhinderten den Austausch über die Grenze. 57 Noch vor der Ghettoschließung am 11. April 1940 wurde der Name der Stadt eingedeutscht. Der Reichsstatthalter des Warthegaues, Arthur Greiser, verkündete den neuen Namen von Lodz: Litzmannstadt. Dieser Name wurde nicht zufällig gewählt. Karl Litzmann war ein wichtiger deutscher General des Ersten Weltkriegs, der aufgrund seines strategischen Geschicks aus der Kesselschlacht bei Lodz siegreich hervorging und damit den russischen Vormarsch einbremsen konnte. Des Weiteren war er ein aktives NSDAP-Mitglied bis zu seinem Tod 1936. 58 Zusätzlich zur Umbenennung der Stadt wurden zahlreiche Straßen und Plätze eingedeutscht. Namensgeber für diese waren germanische Helden und wichtige NS- Größen – sowohl lebende als auch verstorbene. Ferner waren es nicht nur politische Persönlichkeiten, sondern auch geschätzte und beliebte Komponisten, zum Beispiel Händel, Haydn, Mozart, Schubert, Schumann, Johann Strauß und Wagner. Man tat alles, um aus Lodz eine deutsche Stadt zu machen und die Juden immer mehr zu verdrängen. 59

Ab der Abriegelung des Ghettos übernahm der Bremer Kaufmann Hans Biebow die Leitung der deutschen Ghettoverwaltung. Mit seiner Übernahme der Leitung der „Ernährungs- und Wirtschaftsstelle Ghetto“ veränderte sich das Arbeitsaufkommen drastisch. Er versuchte, die Wirtschaft im Ghetto durch die Annahme neuer Aufträge anzukurbeln. Während er Leiter der Ghettoverwaltung war, baute er die Dienststelle zu einer 400 Mann starken Einrichtung aus. 60 Sein jüdischer „Partner“ war Chaim Rumkowski, Vorsitzender des Lodzer Judenrates. Dieses Amt bekleidete er bereits seit Oktober 1939. Ihm wurde sofort nach seiner Ernennung klargemacht, dass das korrekte Ausführen deutscher Befehle die oberste Priorität seiner Arbeit sei. 61 Auf seine Person wird in einem späteren Kapitel näher eingegangen, weshalb seine Rolle im Ghetto an dieser Stelle nur kurz erwähnt wird.

Als feststand, dass das Ghetto nicht so schnell wieder aufgelöst werden würde, begann Biebow damit, die Arbeitsorganisation drastisch auszubauen. Das Ghetto wurde zu einem Arbeitsghetto, das einen wesentlichen Teil zur Gesamtwirtschaft beitrug. Die Kombination

57 Vgl. Rosenfeld, Warum noch Welt, S. 20; vgl. Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, S. 161. 58 Vgl. Loewy/Schoenberner, Unser einziger Weg ist Arbeit, S. 17; vgl. Biografie Karl Litzmann, https://www.lexikon-erster-weltkrieg.de/Karl_Litzmann (aufgerufen am 26.7.2018). 59 Vgl. Horwitz, Ghettostadt, S. 53. 60 Vgl. Cesarani, Endlösung, S. 341 f. 61 Vgl. Rosenfeld, Warum noch Welt, S. 21.

25 aus Großkaufmann Biebow und Rumkowskis Motto „Unser einziger Weg ist Arbeit“ sorgte dafür, dass das Lodzer Ghetto länger als alle anderen Ghettos bestehen blieb und erst mit Ende August 1944 die Liquidierung beendet wurde. 62 Die erste Forderung Biebows an Rumkowski war die Durchführung des Zensus – und das so schnell wie möglich. Rumkowski ordnete für den 16. Juni eine Volkszählung im Ghetto an. An diesem Tag durfte niemand sein Haus verlassen, damit die Hausverwalter eine akkurate Zählung durchführen konnten. Das Ergebnis belief sich auf insgesamt 157.955 Personen. 63

Die Juden im Ghetto waren den Deutschen komplett ausgeliefert. Die Eingesperrten mussten noch dazu selbst für ihre Verpflegung aufkommen. Oberstes Gebot der deutschen Machthaber war es, dass das Ghetto sich selbst erhalten musste und die Deutschen nichts kosten durfte. Somit waren die Juden gezwungen, ihr letztes Hab und Gut zu verkaufen. Dafür wurden im Sommer 1940 Banken und Ankaufstellen eingerichtet. Dort konnten die Ghettobewohner ihre Wertgegenstände gegen geringe Bezahlung abgeben. Um die Ausbeutung der jüdischen Arbeiter noch deutlicher zu machen, wurde eine interne Ghettowährung eingeführt. Die jüdischen Arbeiter wurden nicht mehr in Reichsmark, sondern in einer eigenen Währung bezahlt. Somit garantierten die Deutschen, dass es nicht zu illegalen Geschäften mit der Außenwelt kam, weil die Ghettowährung für alle anderen absolut nutz- und wertlos war. Die Scheine waren nicht mehr wert als eine Art Quittung. Die Inhaber konnten – sollte das Ghetto eines Tages aufgelöst werden – keine Rechtsansprüche gegen das Deutsche Reich stellen. 64 Die wirtschaftliche Ausbeutung von Juden zum Vorteil des Deutschen Reiches begann mit der Invasion Polens im September 1939. Nach der Ghettoschließung und der Erkenntnis, dass das Ghetto länger bestehen bleiben würde, als zuerst gedacht, musste der Zwangsarbeitereinsatz ausgeweitet und besser organisiert werden. Ab August 1940 wurden immer mehr Werkstätten und Arbeitsplätze im Ghetto eingerichtet. Vorrangig waren die Juden in der Textilindustrie tätig, da der Bedarf der Wehrmacht vom Deutschen Reich allein nicht zu decken war. Auch weil in dem einstigen Textilzentrum Lodz über 15.000 gelernte Schneider lebten, konnte man in diesem Sektor die größten Umsätze verbuchen. Des Weiteren fertigten die Arbeiter Patronenhülsen für die Rüstungsindustrie. Rumkowski richtete im Ghetto einige Textilwerkstätten, Tischlereien sowie eine Schuhmacherei und eine Polsterei ein.

62 Vgl. Ghetto Litzmannstadt im polnischen Lodz, http://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/das-deutsche- ghetto-litzmannstadt-im-polnischen-lodz/ (aufgerufen am 26.7.2018). 63 Vgl. Klein, Ghettoverwaltung Litzmannstadt, S. 100 ff. 64 Vgl. Loewy/Schoenberner, Unser einziger Weg ist Arbeit, S. 22 ff.; vgl. Bethke, Tanz auf Messers Schneide, S. 79 ff.

26 Mit dieser hohen Zahl an Facharbeitskräften konnte allerdings die Lebensmittelversorgung für das gesamte Ghetto noch nicht bezahlt werden. Deshalb sollten alle Ungelernten als Bauarbeiter eingesetzt werden. 65 Der Judenrat tat alles in seiner Macht Stehende, um die Wirtschaftsleistung des Ghettos zu steigern: Es wurden unzählige Arbeitsressorts sowie ein Zentralbüro eingerichtet, das für die Zuteilung der Beschäftigten verantwortlich war. Es wurde in den Werkstätten sechs Tage pro Woche gearbeitet, zehn Stunden ohne Pause – ohne angemessene Verpflegung. 66 Die Produktion stieg bis 1943 rasant an: Fast 85% der Ghettobevölkerung arbeiteten verteilt auf 93 Ressorts. 67

Die feindselige Einstellung der deutschen Besatzer gegenüber dem Judentum als Religion machte es dem Judenrat schwer, den religiösen Bedürfnissen seiner Gemeinde nachzugehen, ohne Strafen zu bekommen. Rumkowski versuchte, die großen Feste wie Rosch ha-Schana und Jom Kippur als arbeitsfreie Feiertage weiterzuführen. Dies wurde von den deutschen Machthabern unterbunden. Auch der religiöse Ruhetag des Judentums, der Sabbat, wurde von Samstag auf Sonntag verschoben, um die religiösen Bräuche der Juden und der christlichen Deutschen nicht zu vermischen und um Dominanz und Überlegenheit zu signalisieren. Das religiöse Leben im Ghetto wurde von einem Rabbinergremium reguliert, in dem 15 Rabbiner tätig waren. Das Gremium war dem Judenrat unterstellt. Die Rabbiner durften nur eine begrenzte Zahl von Menschen verheiraten, bei allen anderen religiösen Tätigkeiten waren sie autonom – bis zur „September Aktion“ 1942.

Im Zuge dieser Deportationswelle wurde die Mehrzahl der Rabbiner deportiert. Von nun an übernahm Rumkowski persönlich die verantwortungsvolle Aufgabe der Trauung. Das Ghetto blieb auch nicht von der besonders starken Diskriminierung streng orthodoxer Juden verschont, die mit ihren Gewändern, Kaftanen, Bärten und Backenlocken aus der Masse hervorstachen. Vermehrt wurden sie auf den Straßen zur Zwangsarbeit verschleppt. Darum gab Rumkowski in einer Rede am 1. Juni 1942 bekannt: Alle Bärte müssen innerhalb der nächsten Woche abrasiert werden. Dieser Aufforderung wurde dann auch mit Nachdruck und mit Hilfe des Ordnungsdienstes nachgekommen. 68

65 Vgl. Klein, Die Ghettoverwaltung Litzmannstadt, S. 153, 176 ff. 66 Vgl. Bethke, Auf Messers Schneide, S. 79 ff. 67 Vgl. Das Ghetto Lodz – Im Spiegel der Ghettochronik, http://www.hagalil.com/or/200xxxxx4/07/lodz.htm (aufgerufen am 1.8.2018). 68 Vgl. Trunk, Judenrat, S. 188 f., 192 ff.

27 Der Judenälteste versuchte, die ausweglos erscheinende Situation für die Ghettobewohner doch so erträglich wie möglich zu gestalten. Er war bestrebt, mit der Macht, die er von den Deutschen bekommen hatte, eine Art Normalität im Ghetto einzuführen. Um dieses Ziel zu erreichen, richtete er Schulen, Kindergärten und ein Kulturhaus ein. Dieses Vorgehen sollte hauptsächlich dem physischen Überleben dienen und den Kampfgeist und den Überlebenswillen der Ghettobewohner festigen. 69 Die deutsche Ghettoverwaltung sprach sich nicht offiziell gegen die Errichtung von Schulen und anderen Unterhaltungsangeboten aus, wahrscheinlich weil sie wusste: Die kurzzeitige physische Aufheiterung und Ablenkung vom trüben Ghettoalltag würden nichts an dem großen Endziel der Deutschen ändern. Das Gestatten von kulturellen Einrichtungen täuschte eine Art Stabilität und Sicherheit vor. 70 So gab es im Ghetto Lodz immer wieder Symphoniekonzerte und Opernaufführungen in einem eigens dafür eingerichteten Kulturhaus. 71 Die im Ghetto eingerichteten Schulen mussten ihren Vorkriegslehrplan ändern. Auf Rumkowskis Wunsch hin befasste man sich in den Schulen intensiv mit dem Judentum. Er führte die Fächer Jiddisch, Hebräisch, Bibelkunde und Jüdische Geschichte ein. Seinen Vorstellungen nach sollte der Unterricht komplett in jiddischer Sprache abgehalten werden. Dafür mussten allerdings eigene Kurse für das Lehrpersonal eingeführt werden, weil dieses meist nur Polnisch sprach. 72 Zusätzlich zum schulischen Angebot richtete Rumkowski für die Sommermonate eigene Kindercamps ein, in denen Kinder ausreichend versorgt, gebadet wurden, Haarschnitte und neue Kleidung bekommen sollten. Das Wohl der Kinder lag ihm stets sehr am Herzen. 73

Die Lebenssituation war ab der Ghettoschließung 1940 für alle ca. 160.000 Bewohner katastrophal. Sie verschlechterte sich mit jeder weiteren Deportationswelle und jeder Zufuhr neuer Ghettobewohner. Die von Beginn an engen und unhygienischen Bedingungen verschärften sich das erste Mal im Spätherbst 1941, als ungefähr 20.000 Juden aus Österreich, dem Protektorat Böhmen und Mähren, Luxemburg und Deutschland nach Lodz kamen. Zusätzliche 5.000 Sinti und Roma aus dem Burgenland wurden in einem separaten „Zigeunerlager im Ghetto untergebracht“. 74 Diese Deportationen ins Ghetto fanden zu einem

69 Vgl. Rosenfeld, Wozu noch Welt, S. 21. 70 Vgl. Trunk, Judenrat, S. 216. 71 Vgl. Horwitz, Ghettostadt, S. 188 ff. 72 Vgl. Trunk, Judenrat, S. 207 ff. 73 Vgl. Horwitz, Ghettostadt, S. 82 f. 74 Vgl. Ebd., S.134; vgl. Ghetto Lodz, https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite- weltkrieg/voelkermord/ghetto-lodz.html (aufgerufen am 1.8.2018).

28 entscheidenden Zeitpunkt statt, als die NS-Spitze feststellen musste, dass die Massenerschießungen in der Sowjetunion an ihre Grenzen stießen. Im September 1941 begann in Berlin die Diskussion über künftige Vernichtungsmethoden der Juden. Dies sollte dazu führen, dass im Oktober/November 1941 die Vorbereitungen zur Massenvergasung in Chelmno (zu Deutsch Kulmhof), ein Ort etwa 60 Kilometer westlich von Lodz, beginnen sollten. Im Dezember waren die Aufbauarbeiten für das Vernichtungslager beendet und es konnte begonnen werden, die „unproduktiven Juden“ aus dem Ghetto zu ermorden. 75 Nach Abschluss der Vorbereitungen in Chelmno wurde Rumkowski im Dezember darüber informiert, er müsse 20.000 Juden zur Umsiedelung auswählen. Er richtete eine Umsiedlungskommission ein, bestehend aus den Chefs der Statistischen Abteilung, der Polizei, der Kriminalbehörde, dem Vorsitzenden des Gerichtshofes und dem Kommandanten des Gefängnisses. 76 Mit deren Hilfe wurden in vier großen Deportationswellen im Jahr 1942 insgesamt 70.849 Menschen aus dem Ghetto ins Vernichtungslager deportiert und dort sofort ermordet. 77 Deportiert wurden vorrangig Alte, Kranke und Kinder unter 10 Jahren, was dazu führte, dass das Ghetto Lodz allmählich zu einem reinen Arbeitsghetto wurde. Erst im August 1944 kam der endgültige Liquidierungsbefehl und die letzten 60.000 Juden, einschließlich des Judenältesten Rumkowski, wurden nach Auschwitz deportiert. Im Ghetto zurück blieb ein Aufräumkommando von rund 700 Männern und Frauen, bis das Ghetto im Januar 1945 von der Roten Armee befreit wurde.

3.5.2 Ghetto in Warschau

In Warschau lebten vor Beginn des Zweiten Weltkrieges mindestens 350.000 Juden. Sie machten Warschau zur größten jüdischen Gemeinde in Europa, weltweit nur noch von New York übertroffen. Machte die jüdische Bevölkerung auch 30% der gesamten Warschauer Einwohner aus, so wurden die Juden dennoch nicht gleichberechtigt behandelt. Ihr Leben in Warschau war auch vor dem Krieg nicht immer einfach und sicher gewesen. Seit dem 13. Jahrhundert, als Juden begannen, sich in Warschau niederzulassen, mussten sie mit anti- jüdischen Pogromen, Arbeitsverboten und Handelsbeschränkungen rechnen. Seit der polnischen Unabhängigkeit 1919 hatten die Juden – zumindest auf dem Papier – die gleichen Rechten wie Nicht-Juden. Ab diesem Zeitpunkt entstanden viele jüdische Zeitungen, Schulen

75 Loewy/Schoenberner, Unser einziger Weg ist Arbeit, S. 22 f.; vgl. Bethke, Tanz auf Messers Schneide, S. 15 f. 76 Vgl. Loewy/Schoenberner, Unser einziger Weg ist Arbeit, S. 28 ff. 77 Vgl. ebd., S. 16.

29 oder jüdische Theater. 78 Die Behauptung vom „reichen Juden“ lässt sich am Beispiel Warschaus ganz einfach als Lüge und Vorurteil enttarnen. Den Juden war der Zugang zu Berufen im Staats- und Militärwesen verboten, was dazu führte, dass die Mehrheit der Juden in Handwerksberufen tätig war. Das einzige Amt, das von Juden bekleidet werden durfte, war das des Lehrers. 79 In Warschau bildeten sich, wie in vielen Städten mit großem Anteil jüdischer Bevölkerung, sogenannte Judenstraßen oder Judenviertel. Diese Entwicklung war eine logische Folge davon, dass den Juden durch Verbote gewisse Teile der Stadt als Wohnraum verwehrt blieben. Darum suchten sich die Juden jene Teile der Stadt, in denen es nicht verboten war zu leben, und richteten sich dort ihren eigenen Mikrokosmos ein. 80 Mit 1. September 1939 begann der Krieg durch den Einmarsch deutscher Truppen in Polen. Die deutsche Wehrmacht bombardierte die Großstädte Polens und es kam auf polnischer Seite angesicht des Krieges zu einer polnisch-jüdischen Annäherung, wie es sie schon lange nicht mehr gegeben hatte. Die jüdische Bevölkerung engagierte sich enthusiastisch beim Ausheben von Schützengräben. Gemeinsam wurden Barrikaden gebaut, um Warschau zu verteidigen. Trotz des spontanen Zusammenhalts und der gemeinsamen Anstrengungen konnte man die deutsche Besetzung nur ein paar Tage hinauszögern; es kam am 29. September zur vollständigen Kapitulation Polens. Am 1. Oktober zogen die ersten deutschen Soldaten in Warschau ein und der Antisemitismus wurde in Polens Hauptstadt getragen. 81

Wie im vorangegangenen Kapitel erwähnt, teilten die Deutschen nach der Besetzung Polens das Land in mehrere Teile auf. Der östliche Teil fiel, durch den Ende August 1939 abgeschlossenen Hitler-Stalin-Pakt, an die Sowjetunion. Der Westteil, welcher zur „Eindeutschung“ bestimmt war, wurde als die Reichsgaue Wartheland und Danzig- Westpreußen formell ins Reich eingegliedert. Der übriggebliebene Teil wurde Generalgouvernement genannt und sollte den Deutschen als Abschiebegebiet für Nicht- Deutsche und Juden dienen. 82 Hitler übertrug dem Spitzenanwalt der NSDAP, Hans Frank, die Verantwortung für das Generalgouvernement. Damit war er allein für das ehemals polnische Gebiet verantwortlich, das letzten Endes aus fünf Verwaltungseinheiten mit jeweils einem

78 Vgl. Roth/Löw, Warschauer Getto, S. 7ff. 79 Vgl. Warschau war die größte jüdische Gemeinde in Europa: Die Situation der polnischen Juden vor dem Zweiten Weltkrieg, http://www.schoah.org/ghetto/anielewicz-1.htm (aufgerufen 1.8.2018). 80 Vgl. Engelking/Leociak, Warsaw Ghetto, S. 21, 24 ff. 81 Vgl. Ringelblum, Ghetto Warschau, S. 38 ff. Roth/Löw, Warschauer Ghetto, S. 14 ff. 82 Vgl. Loewy/Schoenberner, Unser einziger Weg ist Arbeit, S. 17; vgl. Ghetto Lodz, https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/kriegsverlauf/besatzungsregime-in-polen.html (aufgerufen am 3.8.2018).

30 Gouverneur bestand (Krakau, Lublin, Radom, Warschau und Galizien). Frank war offiziell nur Hitler unterstellt, herrschte in der Hauptstadt Krakau diktatorisch und wies die unterstellten Beamten gern darauf hin, wie viel Macht er besaß. 83 Seinen Wunsch, das Generalgouvernement „judenfrei“ zu machen, musste er immer wieder verteidigen und er machte sich somit nicht nur Freunde bei der SS. Himmlers ursprünglicher Plan, alle Juden ins Generalgouvernement abzuschieben, lehnte Frank vehement ab. Es wurde allen Seiten klar, dass die Abschiebung und Vertreibung der Juden nicht so schnell und einfach vonstattengehen konnten, weshalb man über die Errichtung von Ghettos nachdachte. 84

Mit Oktober 1939 begann die Festigung der NS-Besatzung in Warschau. Die Okkupanten richteten gleich in der ersten Woche den Judenrat unter der Leitung von Adam Czerniakow ein. Die ersten Befehle und Verbote für Warschau wurden sogleich verkündet: Die Konten der jüdischen Bewohner wurden gesperrt und es durften nur maximal 250 Zloty pro Woche abgehoben werden. Des Weiteren wurde das religiöse Schlachten, das Schächten, verboten und die ersten männlichen Juden zwischen 14 und 60 Jahren wurden zum Arbeitsdienst eingezogen. 85 Die Zwangsarbeit fand in Werkstätten außerhalb der Stadt statt. Ebenso wurden Juden zu Aufräumarbeiten in bombardierten Häusern herangezogen. In der Anfangszeit der Besatzung konnte es jeden treffen: Es wurden Menschen schlichtweg von der Straße weggezerrt. Die deutschen Besatzer schreckten vor nichts zurück. So wurden auch bis zu 150 Gläubige aus einer Synagoge gezerrt und zur Zwangsarbeit verpflichtet. Die Vorbereitungen für eine spätere Ghettoisierung begannen schon im Spätherbst 1939. Es wurden Maschendrahtzäune aufgestellt und die Zufahrten zum Judenviertel mit Schildern gekennzeichnet, auf denen „Seuchensperrgebiet“ stand. Ab Dezember 1939 galt die offizielle Kennzeichnungspflicht für alle Juden über zwölf Jahren. Es musste ab sofort eine weiße Armbinde mit einem blauen Davidstern getragen werden. 86 Mit der Kennzeichnungspflicht wurde die Bewegungsfreiheit der Juden eingeschränkt. Es galt nun eine Ausgangssperre für Juden ab 21 Uhr. Auch die Nutzung der Parkanlagen war verboten. Das Jahr 1940 begann mit weiteren Einschränkungen des Lebens der Juden von Warschau. Wohnungen durften nur mehr mit ausdrücklicher Genehmigung gewechselt werden, die Versorgung mit Lebensmitteln

83 Vgl. Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, S. 143 ff.; vgl. Biografie Hans Frank, http://www.zukunft- braucht-erinnerung.de/hans-frank/ (aufgerufen am 3.8.2018). 84 Vgl. Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, S. 152 ff.; vgl. Pohl, Verfolgung und Massenmord, S. 65. 85 Vgl. Engelking/Leociak, Warsaw Ghetto, S. 36 ff. 86 Vgl. ebd. S. 36ff.

31 wurde reduziert und die Preise stiegen dadurch an. 87

Das erste große Ghetto schloss im April 1940 in Lodz seine Tore. Bis es zur endgültigen Abriegelung in Warschau kam, sollten noch einige Monate vergehen. Die führenden Männer des Generalgouvernements studierten den Aufbau und die Organisation des Lodzer Ghettos bis ins kleinste Detail und nahmen diese Erkenntnisse als Vorbild, bevor sie in Warschau das Ghetto einrichteten. 88 Im April 1940 veranlasste der Judenrat, dass mit dem Bau einer Mauer begonnen wurde. Sie sollte das bereits im November 1939 umzäunte „Seuchensperrgebiet“ umfassen. Es gab während des Ghettoisierungsprozesses in Warschau mehr Abzweigungen als in Lodz. Bevor mit dem Mauerbau begonnen wurde, überlegte man, zwei separate Ghettos zu errichten oder die Juden vielleicht doch von Warschau nach Lublin zu verlegen. Ebenso kam der Madagaskar-Plan zur Sprache. Dieser sah vor, alle Juden auf die Insel Madagaskar abzuschieben. Es war eine Idee, die von französischen Antisemiten stammte und von den Deutschen wieder aufgegriffen und diskutiert wurde.89

Im Juni 1940 wurde die Mauer fertiggestellt und die Gerüchte über die vollständige Abriegelung des Ghettos wurden wieder lauter. Mitte September 1940 gab Frank grünes Licht für die endgültige Ghettobildung. Das Gebiet lag im Nordwesten der Stadt, im Zentrum des ehemaligen jüdischen Viertels. Es wurde damit begonnen, einzelne Straßen zu „entjuden“: Dabei stürmten deutsche Polizisten und die SS die Wohnungen; die Bewohner hatten nur wenige Minuten Zeit, ihr Hab und Gut zusammenzupacken und in das „Seuchensperrgebiet“ überzusiedeln. Am 16. Oktober 1940 erging dann die offizielle Anordnung, dass alle 80.000 Polen, die noch im Ghettogebiet wohnhaft waren, es binnen zwei Wochen verlassen sollten und die rund 160.000 Juden, die noch außerhalb lebten, ins Ghetto umsiedeln mussten. Abgeriegelt wurde das Warschauer Ghetto am 16. November 1940. Somit lebten nun mehr als 350.000 Menschen in einem Gebiet von 3,07 Quadratkilometern. 90

Nach Abriegelung des Ghettos musste sich der Judenrat unverzüglich um die Unterbringung der Tausenden von Menschen kümmern. Ebenso musste die Gesundheitsfürsorge organisiert werden, um den Ausbruch von Epidemien zu verhindern. Der Judenrat richtete für diese

87 Vgl. Roth/Löw, Warschauer Getto, S. 40 ff.; vgl. Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, S. 157 ff. 88 Vgl. Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, S. 170. 89 Vgl. Pohl, Vernichtung und Massenmord, S. 66; vgl. Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, S. 162 ff. 90 Vgl. Engelking/Leociak, Warsaw Ghetto, S. 39 ff.; vgl. Reitlinger, Endlösung, S. 65 ff.

32 organisatorischen Arbeiten viele neue Kommissionen ein. Um die wirtschaftliche Lage nicht zu verschlechtern, mussten auch die Arbeitsleistung, der Warenaustausch mit den Deutschen und die Möglichkeit der Ghettobewohner, ihrer Arbeit nachzugehen, gewährleistet sein. Viele Juden arbeiteten in Betrieben oder Unternehmen, die außerhalb der Ghetto-Mauern lagen. 91 Das Verlassen des Ghettos war ausschließlich mit bestimmten Passierscheinen möglich. Das gesamte Leben der Ghettobewohner stand unter deutscher Kontrolle. Um den Warenaustausch zu garantieren, wurden alle Handelsgeschäfte mit der deutschen Ghettoverwaltung am sogenannten Umschlagplatz vollzogen. Nichts durfte ohne Genehmigung das Ghetto verlassen sowie ins Ghetto gebracht werden. 92 Die Meldung zur Arbeit außerhalb des Ghettos, auf „arischer“ Seite, verlief lange Zeit ohne großen Druck und Arbeiter meldeten sich freiwillig. Sie versprachen sich vom Verlassen des Ghettos die Möglichkeit, Kontakt mit alten Bekannten aufzunehmen, Informationen auszutauschen und, wenn möglich, sogar die Flucht aus dem Ghetto vorzubereiten. Diese Möglichkeit wollte die SS natürlich um alles in der Welt verhindern, weshalb ab Frühjahr 1942 immer mehr darauf hingearbeitet wurde, die Produktion und Werkstätten ins Ghetto zu verlegen. Die Juden arbeiteten dann in sogenannten Shops für die deutsche Kriegswirtschaft. 93

Die Lebensbedingungen im Warschauer Ghetto waren – wie auch in Lodz – katastrophal und menschenunwürdig. Durch die Ghettoisierung wurden viel zu viele Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht. Lebten im November 1940 rund 360.000 Menschen im Ghetto, erhöhte sich die Bewohnerzahl bis Mai 1941, bedingt durch Deportationen aus anderen Orten des Warschauer Distrikts, auf etwa 450.000 Personen. Dieser Zuwachs hatte zur Folge, dass sich ca. sieben bis acht Menschen ein Zimmer teilen mussten. 94 Ein Informationsbulletin (Biuletyn Informacyjny) vom 23. Mai 1941 beschreibt die Lage im Ghetto wie folgt:

„Es herrscht eine unbeschreibliche Enge. Auf ein Zimmer entfallen durchschnittlich 6 Personen, und manchmal sind es sogar 20. (…) Die Bevölkerungszahl wuchs auf nahezu 500.000. Infolge dieser zusätzlichen Verdichtung sind unbeschreibliche sanitäre Verhältnisse entstanden, Hunger und Not sind furchtbar. Durch die überbevölkerten Straßen zieht untätig ein Strom meist blasser, ausgemergelter Menschen dahin. “95

91 Vgl. Roth/Löw, Warschauer Getto, S. 44 ff. 92 Vgl. Bethke, Tanz auf Messers Schneide, S. 69; vgl. Roth/Löw, Warschauer Getto, S. 44-46. 93 Vgl. Roth/Löw, Warschauer Getto, S. 68. 94 Ebd., S. 73. 95 Zitat: Bartoszewski, Uns eint vergossenes Blut, S. 39 ff.

33 Diese menschenverachtenden Bedingungen sorgten regelmäßig für Krankheitsausbrüche und die rasche Ausbreitung von Epidemien, beispielsweise im September 1941, als eine Typhus- Epidemie das erste Mal ihren Höhepunkt erreichte. Der Judenrat, im Speziellen dessen Gesundheitsabteilung, versuchte alles in seiner Macht Stehende, um die Krankheit zum einen einzudämmen und zum anderen die Betroffenen zu heilen. Ebenso wurde Sorge getragen, dass keine anderen Krankheiten ausbrachen. Es wurden beispielsweise gewisse Bereiche im Ghetto abgesperrt, um gereinigt zu werden. Da die medizinische Versorgung sowie die Ärzte in ihrem Handeln sehr eingeschränkt waren, versuchten sie durch Aufklärung die Menschen vor dem Ausbruch weiterer Krankheiten zu bewahren. Sie klärten die Bewohner über Hygienemaßnahmen auf und halfen ihnen, die Läuseplage in den Griff zu bekommen. 96 Die Krankenhäuser im Ghetto waren nur minimal ausgestattet und mussten sich über die Ghettoinsassen selbst finanzieren, was bei der katastrophalen wirtschaftlichen Lage des Ghettos nahezu unmöglich war. Immer wieder schrieb Judenältester Adam Czerniakow in sein Tagebuch, dass die gesamten Gelder des Judenrates an die Krankenhäuser gehen. Die Situation in den Krankenhäusern verschlimmerte sich derart, dass Menschen ihre Krankheiten lieber verbargen als in ein Krankenhaus eingeliefert zu werden, da die Bedingungen dort so schlecht waren. 97

Mit dem Eintreffen der deutschen Wehrmacht in Polen konnten die Juden ihre Religion nicht mehr in Frieden und in aller Öffentlichkeit ausleben. Sie waren konfrontiert mit zerstörten Synagogen, Entweihungen der Torah und orthodoxen Juden war das Tragen ihrer auffälligen Bärte verboten. Sie wurden gezwungen, diese abzurasieren und sie mussten auch noch dafür zahlen. Noch bevor das Ghetto geschlossen wurde, gab es immer mehr Verbote für gläubige Juden, die das Einhalten von religiösen Vorschriften und Glaubenssätzen unmöglich machten. Der jüdische Ruhetag, der Sabbat, wurde aufgehoben und die Einfuhr von koscherem Fleisch stark eingeschränkt, da man nur in wenigen Orten Polens noch schächten durfte. Am 5. Januar 1940 schrieb Adam Czerniakow in sein Tagebuch, dass von nun an alle Synagogen, Gebetshäuser und Badeanstalten geschlossen seien. Es hielten sich nicht alle an das Verbot und manche beteten in illegalen Gebetshäusern. Dies blieb von der SS nicht unentdeckt; Czerniakow wurde zur Gestapo beordert und erhielt eine Verwarnung. 98

96 Vgl. Engelking/Leociak, Warsaw Ghetto, S. 235 ff. 97 Vgl. Roth/Löw, Warschauer Getto, S. 106 ff. 98 Vgl. Engelking/Leociak, Warsaw Ghetto, S. 641 ff.; Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, S. 191.

34 „I was summoned to the Gestapo and sternly informed that I, the whole Council, those who get together for prayer, and organizers of these prayers will be held accountable. “99

Trotz aller Verbote und Warnungen beteten viele Gläubige weiter selbst in gefährlichen Situationen, zum Beispiel während des Warschauer Aufstands in versteckten Bunkern. 100

Bereits vor dem Krieg gab es in Warschau zahlreiche jüdische Schulen unterschiedlichster Art, geführt von diversen jüdischen Parteien. Diese Vielzahl an Ausbildungsstätten wurde von den Nationalsozialisten am 15. November 1939 geschlossen. Trotz mehrfacher Ansuchen des Judenrats durften die jüdischen Schulen nicht wieder geöffnet werden. Erst im August gab es die Genehmigung, Kurse zur Berufsausbildung einzurichten. Die Grundschulen öffneten erst am 5. September 1941 wieder ihre Türen. 101 Da eine allgemeine Schulbildung den Kindern im Ghetto immer noch verwehrt blieb, legte der Judenrat umso mehr Augenmerk auf die Berufsausbildung, denn nur ein arbeitender Jude hatte im Ghetto eine Überlebenschance. 102 Höhere Schulbildung gab es im Ghetto nur im Geheimen und in von Privatlehrern organisierten Gruppen von maximal 20 Schülerinnen und Schülern. Es gab um die 100 geheime Lerngruppen verteilt auf zahlreiche Privatwohnungen. 103 In den geheimen Schulen sollten den Jugendlichen Werte und Wissen beigebracht werden, die es im Ghetto nicht gab, aber die wichtig für ein Leben nach dem Krieg waren. Es gab keine schlechten Noten. Ein weiterer positiver Anreiz, am Unterricht teilzunehmen, waren zusätzliche Mahlzeiten, was als Motivation ausreichte. 104

Es befanden sich unter den tausenden von Ghettobewohnern auch zahlreiche Musiker, Schauspieler, Tänzer oder andere Künstler, da Warschau vor dem Krieg ein Zentrum jüdischer Kultur gewesen war. 105 Das kulturelle Angebot entwickelte sich in zwei Richtungen: die offiziellen Einrichtungen, die eine Bewilligung hatten, und eine inoffizielle Strömung, die spontan auf der Straße oder in Häusern die Menschen unterhielt. Vor allem die spontanen Veranstaltungen gab es von Beginn der NS-Besatzung an. Aufgrund der frühen

99 Zitat. Engelking/Leociak, Warsaw Ghetto, S. 642. 100 Vgl. ebd., S. 643. 101 Vgl. ebd., S. 343 ff. 102 Vgl. Roth/Löw, Warschauer Getto, S. 120. 103 Vgl. Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, S. 200. 104 Vgl. Roth/Löw, Warschauer Getto, S. 122. 105 Vgl. ebd., S. 130.

35 Ausgangssperre für Juden versammelte man sich abends in den Häusern und veranstaltete Lesungen, hörte zusammen Musik, spielte Karten oder beteiligte sich an spirituellen Sitzungen. 106 Auf offizieller Ebene entstanden fünf Theatergruppen, von denen zwei in jiddischer Sprache auftraten, die übrigen drei in polnischer Sprache. Auch auf der Straße war man von Kultur umgeben: Es gab ein offizielles Straßenorchester, das für die Bewohner musizierte. 107 Die literarische Szene blühte ebenfalls auf, sofern man das im Angesicht der Schrecken, die die Menschen im Ghetto durchlebten, überhaupt sagen kann, da sich viele dazu veranlasst sahen, ihre Gedanken und Erlebnisse niederzuschreiben. Zu den literarischen Gattungen, die man im Ghetto fand, zählten nicht nur die Ghetto-Chronik und diverse Tagebucheinträge, sondern auch Gedichte, Kurzgeschichten und Essays über einzelne Geschehnisse, was den Menschen dabei half, die Situation reflektiert zu betrachten und ein Zeugnis für die Nachwelt abzulegen. 108

Das Warschauer Ghetto war – im Gegensatz zu jenem in Lodz – nicht total von der Außenwelt abgeschottet, da es mehrere Schnittstellen zwischen dem Ghetto und der sogenannten arischen Seite gab, zum Beispiel den jüdischen Friedhof. Das Gerichtsgebäude hatte zwei separate Eingänge. Zum Waffen- und Informationsaustausch kam es auch in den Abwasserkanälen und die deutschen und polnischen Polizisten, die das Haupttor bewachten, konnten bestochen werden, so dass sie beim Warenaustausch manchmal nicht ganz genau hinschauten. 109 Deshalb kam es zu einem regen Austausch mit der polnischen Untergrundarmee. Aus der Untergrundpresse erfuhren die Ghettobewohner ab Februar 1942 von den deutschen Massakern im Vernichtungslager Kulmhof. Die Befürchtungen und Gerüchte über die systematische Vernichtung der Juden kursierten ab April 1942. Adam Czerniakow glaubte noch nicht daran und holte sich bei der deutschen Führung die Bestätigung, dass es zu keinen großen Deportationen kommen werde. Dass dies eine Lüge war, merkte der Judenälteste bereits einen Tag später: Am 21. Juli 1942 wurden die Judenratsmitglieder als Geiseln genommen. 110 Czerniakow erhielt genaue Anweisungen, er sollte Listen für die Deportation „nach dem Osten“ zusammenstellen – mit Ausnahme lediger Juden, die in deutschen Firmen arbeiteten, generell alle arbeitsfähigen Juden, die Ratsangestellten, die Mitglieder des

106 Vgl. Engelking/Leociak, Warsaw Ghetto, S. 533. 107 Vgl. Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, S. 223. 108 Vgl. Engelking/Leociak, Warsaw Ghetto, S. 542. 109 Vgl. Roth/Löw, Warschauer Getto, S. 91 ff. 110 Vgl. Bethke, Tanz auf Messers Schneide, S. 75 ff.

36 Ordnungsdienstes und das Krankenhauspersonal sowie alle reiseunfähigen Patienten. Alle anderen Ghetto-Bewohner, unabhängig von Alter und Geschlecht, waren somit zur Deportation vorgesehen. 111 Am 22. Juli wurden die ersten 60.000 Juden ins Vernichtungslager Treblinka deportiert und vergast. Einen Tag danach beging Czerniakow Selbstmord, weil er im Zuge der Deportationen nicht für die Selektion von Kindern verantwortlich sein wollte. Nach seinem Tod übernahm Marek Lichtenbaum seinen Posten und arbeitete an den weiteren Vorbereitungen der deutschen Deportationen mit. Zunächst sicherten die Arbeitsstellen den Juden ihr Überleben und das Ghetto wurde zu einem reinen Arbeitsghetto. Nach der großen Deportation, die zwischen dem 6. und dem 12. September 1942 stattfand, wurden ca. 90% der Ghettobevölkerung nach Treblinka deportiert. Insgesamt starben ca. 265.000 Warschauer Juden im Vernichtungslager. Im Ghetto zurück blieben 35.000 Bewohner und ungefähr 20.000 versteckte Personen. 112

3.5.3 Ghetto in Theresienstadt

Das letzte Ghetto, das in dieser Arbeit untersucht wird, ist jenes in Theresienstadt. Es lassen sich zu den vorher besprochenen Ghettos deutliche Unterschiede erkennen. Der erste Unterschied besteht darin, dass das Ghetto Theresienstadt nicht in Polen lag, sondern im heutigen Tschechien. Des Weiteren steckt hinter Theresienstadt keine Stadt im klassischen Sinn, sondern eine Festung, die zum Gefängnis/Ghetto umfunktioniert wurde. Bei den ersten beiden Ghettos wurden gewisse Teile der Stadt abgeriegelt und zum Ghetto erklärt, in Theresienstadt bediente man sich der habsburgischen Festung und sperrte dort Juden ein. Entstanden ist diese Festung aufgrund von drei verlorenen Kriegen gegen Preußen. So wollte man sich vor weiteren Niederlagen im Königreich Böhmen schützen. Auf der Straße von Dresden nach Prag, unweit der Elbe, plante Kaiser Joseph II. deswegen eine Festungsanlage. Der Bau begann im Todesjahr seiner Mutter Maria Theresia, 1780. Ihr zu Ehren benannte man das imposante Bauwerk nach ihr. Knapp zehn Jahre später waren alle dazugehörenden Gebäude, wie Kasernen, Zeughaus, Kommandantenhaus, Schul- und Priesterhaus, fertiggestellt. Das Ergebnis glich aufgrund der vollkommenen Symmetrie einer spätbarocken Idealstadt. Gegliedert war die Festung in drei Zonen: die „Große Festung“, die „Kleine Festung“ und das Retanchment (Verschanzung). Zuerst wurden alle militärisch nutzbaren Bauwerke fertiggestellt und die zivilen Bauwerke kamen nach und nach bis zum Beginn des

111 Vgl. Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, S. 351. 112 Vgl. Bethke, Tanz auf Messers Schneide, S. 75 ff.

37 19. Jahrhunderts hinzu. 113 Theresienstadt wurde nie als Festung verwendet, sondern blieb seit seiner Errichtung von kriegerischen Auseinandersetzungen verschont. Im Ersten Weltkrieg wurde dort Erzherzog Franz Ferdinands Mörder, Gavrilo Princip, bis zu seinem Tod 1918 inhaftiert. 114

Aufzeichnungen über Juden, die in Prag lebten, lassen sich bis ins 10. Jahrhundert zurückverfolgen. 1076 lebten beispielsweise 5.250 Juden in Prag. Doch wie überall in der Geschichte des Judentums gab es auch in Prag immer wieder Pogrome gegen sie. So erzwangen die deutschen Kreuzritter 1096, dass die jüdischen Bewohner sich taufen lassen mussten. Ein zweites Mal durchquerten deutsche Kreuzfahrer Prag und lösten eine Judenverfolgung in Böhmen aus. Man kann sagen: Die deutschen Kaufleute, die davon profitierten, wenn weniger Juden in einer Stadt waren, um besser und ungestört Handel zu treiben, brachten den Antisemitismus nach Prag. Der Anstieg jüdischer Bewohner konnte allerdings auch nicht vom aufkeimenden Antisemitismus gestoppt werden. Die Zahl der Juden in Böhmen und Mähren stieg von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Ihren Höhepunkt hatte die Bewohnerzahl 1890 mit 149.846 Menschen, die sich zur jüdischen Religion bekannten. Auch bekamen sie immer mehr Rechte. Die endgültige Gleichstellung erlangten sie aber bereits 1860. Seit etwa 1900 hat die Zahl der Juden abgenommen, aufgrund von Auswanderung und Wechsel des Glaubensbekenntnisses. Somit lebten laut der Volkszählung von 1930 insgesamt 117.551 Juden in Böhmen und Mähren. 115

Die Annexion und Eingliederung in das Deutsche Reich erfolgte in Böhmen und Mähren früher als in Polen. Das Münchner Abkommen vom 30. September 1938 besiegelte die Annexion des Sudetengebietes und ebnete Hitlers Weg in Richtung „Zerschlagung der Rest- Tschechei“. Hitler nutzte die Interessenkonflikte zwischen Tschechen und Slowaken aus, um den tschechoslowakischen Staatspräsidenten Emil Hacha und Außenminister František Chvalkovsky dazu zu bewegen, einen Protektoratsvertrag zu unterschreiben, um die Bombardierung Prags zu verhindern und das „Schicksal des tschechischen Volkes und Landes vertrauensvoll in die Hände des Führers des Deutschen Reiches“ zu legen. Am frühen Morgen des 15. März 1939 marschierte die deutsche Wehrmacht in der CSR ein. 116 Eine Woche später

113 Vgl. Benz, Theresienstadt, S. 15 ff. 114 Vgl. Steinhauser, Totenbuch Theresienstadt, S. 1.10. 115 Vgl. Hacker, Theresienstadt, S. 13 ff. 116 Vgl. Zerschlagung der Rest-Tschechei, https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/aussenpolitik/tschechei (aufgerufen am 9.8.2018).

38 wurde eine Zweigstelle für jüdische Auswanderung unter der Leitung Adolf Eichmanns eingerichtet. Er verlangte von der Israelitischen Kultusgemeinde in Prag eine Tagesquote an jüdischen Auswanderern, die daraufhin abgeschoben wurden. Ohne genaue Planung wurden sie auf Schiffe verfrachtet, um nach Lateinamerika oder Palästina zu fahren, was dazu führte, dass viele Schiffe wochenlang auf See hin und her fuhren, weil keine Einreiseerlaubnis vorlag. 117

Die Festung Theresienstadt wurde das erste Mal im Juni 1940 von den Deutschen ins Kriegsgeschehen eingebunden. So wurde die „Kleine Festung“ als Haftanstalt unter der Bezeichnung „Geheime Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle Prag, Polizeigefängnis Theresienstadt“ eröffnet. Die Häftlinge in Theresienstadt waren mehrheitlich tschechische Widerstandskämpfer. Ebenso festgehalten wurden tschechische Politiker und die ehemals politisch aktive Prominenz der CSR, die sich öffentlich gegen die deutsche Okkupation geäußert hatte. Neben widerständigen Nicht-Juden waren mindestens 1.216 Juden in der „Kleinen Festung“ inhaftiert. Für Juden war die „Kleine Festung“ oftmals bloß ein Durchgangslager auf dem Weg zu Konzentrationslagern. Die meisten Juden aus Theresienstadt wurden in die KZs Mauthausen und Auschwitz gebracht. Das Gefängnis wurde mehr als ein Jahr vor Errichtung des Ghettos in Theresienstadt in Betrieb genommen und blieb länger als das Ghetto als Haft- und Internierungsstätte erhalten. 118

Verantwortlich für die Errichtung des Ghettos in Theresienstadt war Reinhard Heydrich. Er war ab September 1941 der amtsführende Reichsprotektor von Böhmen und Mähren. Wie in Polen, sollten im Protektorat Zentren zur Konzentrierung von Juden eingerichtet werden. Heydrich urteilte nach einer Besprechung mit SS-Offizieren, dass sich Theresienstadt als Ort für die Konzentrierung der 88.000 Juden des Protektorats hervorragend eigne. Die Aufenthaltsdauer der Juden war – ähnlich wie in den Ghettos in Polen – von vornherein begrenzt. Man würde das Ghetto nur so lange brauchen, bis alle Juden aus dem Protektorat entfernt seien. Projektiert als Abschiebungsorte für 50.000 Juden waren Minsk und Riga. 119 Der erste Transport erreichte Theresienstadt am 24. November 1941, er umfasste 342 junge Männer, die als sogenanntes Aufbaukommando für die Errichtung der Unterkünfte verantwortlich waren. Zwischen 30. November und 4. Dezember trafen die nächsten 2.000

117 Vgl. Reitlinger, Endlösung, S. 26 ff. 118 Vgl. Benz, Theresienstadt, S. 22 ff. 119 Vgl. ebd., S. 28.

39 Juden ein. Der „Alltag“ im Ghetto begann mit der Ernennung des ersten Judenältesten, Jakob Edelstein, und des 23 Personen umfassenden Judenrates. 120

Seine weiteren Vorhaben teilte Heydrich am 20. Januar 1942 den Teilnehmern der Wannseekonferenz mit. Theresienstadt sollte Altersghetto für alle reichsdeutschen Juden über 65 Jahren werden, ferner für Kriegsveteranen, die entweder schwer kriegsbeschädigt waren oder eine Kriegsauszeichnung erhalten hatten. Als dritte und kleinste Gruppe sollten noch prominente Juden nach Theresienstadt gebracht werden, bei denen ein Verschwinden in einem Vernichtungslager aufgefallen wäre und die Alliierten zu Nachforschungen bewogen hätte. 121 Man verkaufte sowohl den Juden als auch dem Ausland Theresienstadt als „Muster-Ghetto“ bzw. als ein Privileg für Juden, dort wohnen zu dürfen. Um Gerüchte von Gaskammern und Massenvernichtung zu unterbinden, lud man diplomatische Besucher ein, wie den Vertreter des Jüdischen Weltkongresses, Dr. Norbert Masur. 122 Auch Heinrich Himmler schwärmte bei einem Staatsbesuch bei Benito Mussolini von der Effektivität der NS-Judenpolitik und dem einzigen richtigen Weg, wie man mit den Juden umgehen könne. Zum Ghetto in Theresienstadt sagte er:

„Die sonstigen alten Juden wären in dem Städtchen Theresienstadt, als Altersghetto der Juden, untergebracht worden, bekämen dort ihre Pension und ihre Bezüge und könnten sich dort ihr Leben völlig nach eigenem Geschmack einrichten, allerdings stritten sie dort in lebhaftester Form miteinander. “123

An der Spitze der Ghettoverwaltung stand ein eigenes SS-Kommando, geleitet von Hauptsturmführer Dr. Siegfried Seidl, Anton Burger und Karl Rahm: Alle drei waren treue österreichische Gefolgsleute Eichmanns. 124

Das Theresienstädter Privileg entpuppte sich schnell als Albtraum für die Bewohner. Viele deutsche Juden glaubten an den versprochenen Badeort als Pensionsstätte und unterschrieben sogenannte Heimeinkaufsverträge, mit denen sie zugunsten des Auswanderungsfonds auf ihre Konten, möblierten Wohnungen und sonstige Ansprüche verzichteten. Hinzu kam, dass sich einige auch ihre Fahrkarte selber kaufen mussten. Das Geld, das durch diese

120 Vgl. Hacker, Theresienstadt, S. 25. 121 Vgl. Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, S. 302 ff. 122 Vgl. Reitlinger, Endlösung, S. 187. 123 Zitat: Benz, Theresienstadt, S. 38 ff. 124 Vgl. Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, S. 307.

40 Betrugsmaschinerie hereinkam, wurde zur Finanzierung des Ghettos verwendet. 125 Die Juden merkten schnell: Wer die Festung in Theresienstadt einmal betreten hat, kommt nicht mehr so schnell wieder heraus. Vom versprochenen privilegierten Wohnen fand man nichts vor. Die Realität sah anders aus. Das Leben im Ghetto war von Regeln und Verboten bestimmt. Männer und Frauen wurden getrennt, der Briefverkehr zur Heimat eingestellt und der Schmuggel von Briefen mit der Todesstrafe geahndet. Täglich gab der Judenrat neue Verbote an die Bewohner weiter: Das Benützen der Gehsteige wurde verboten, ebenso das Rauchen und das Pflücken von Feldblumen. Ähnlich wie in den anderen Ghettos, gab es in Theresienstadt eine Ausgangssperre und das Verbot, seine Arbeitskolonne zu verlassen. Mehr an ein Konzentrationslager erinnerte der Befehl, dass alle Bewohner sich die Haare abschneiden mussten. 126 Mit Juni 1942 begann der Abtransport der österreichischen und deutschen Juden. Damit stiegen die Spannungen im Ghetto, unter anderem aufgrund des Anstiegs der Ghettobewohner von 29.000 bis zum Höchststand im September 1942 mit 53.004. Der zuvor schon begrenzte Wohnraum wurde noch enger und die sprachlichen Barrieren sorgten ebenfalls für Spannungen. 127 Es lebten im Durchschnitt 30.000 Menschen im Ghetto, dies entsprach ca. 3,5 Quadratmeter pro Person. Die psychologischen und hygienischen Bedingungen litten hierunter besonders. 128 Hinzu kam der unausweichliche Generationenkonflikt der Häftlinge: Die zuvor im Ghetto einquartierten Tschechen waren deutlich jünger als die neu eintreffenden deutschen Juden, die fast alle über 65 Jahre alt waren; viele von ihnen waren darüber hinaus pflegebedürftig. Mit dem gestiegenen Platz- und Wassermangel kam es vermehrt zu Ungezieferplagen. Es gab eine kaum ausreichende Wasserversorgung und daraus resultierend ergaben sich unhygienische Lebensbedingungen, die immer wieder zu einem Läuse- und Wanzenbefall führten. Um dem Problem entgegenzuwirken, wurden Entlausungsstationen und Badeanstalten geschaffen, doch ganz los wurde man die Plage nie. 129

Da die deutschen Juden in Theresienstadt mehrheitlich über 65 Jahre alt waren, wurden zur Zwangsarbeit in den Außenlagern überwiegend die tschechischen Juden verpflichtet. Im Gegensatz zu Lodz, wo die Ghettobewohner überwiegend in der Textilindustrie eingesetzt

125 Vgl. Steinhauser, Totenbuch Theresienstadt, S. 1.15; vgl. Reitlinger, Endlösung, S. 186. 126 Vgl. Hacker, Theresienstadt, S. 26. 127 Vgl. Steinhauser, Totenbuch Theresienstadt, 1.16-1.17; vgl. Benz, Theresienstadt, S. 38. 128 Vgl. Hacker, Theresienstadt, S. 84. 129 Vgl. Steinhauser, Totenbuch Theresienstadt, S. 1.16-1.17; vgl. Benz, Theresienstadt, S. 38.

41 waren, arbeiteten die tschechischen Juden in fünf Gruppen in Kohlebergwerken. Viele meldeten sich freiwillig für die Arbeit in den Bergwerken, da es zwar eine schwere körperliche Arbeit war, die Arbeiter aber etwas freier als im Ghetto waren und nicht permanent von der SS bewacht wurden. Zum anderen glaubten die Männer, der Arbeitseinsatz würde vor der Deportation schützen. Dies war allerdings ein Trugschluss. Die jüdischen Arbeiter der Bergwerke wurden jeweils nach zwei oder drei Monaten auf die Deportationslisten gesetzt. Frauen waren für eine völlig andere Arbeit bestimmt. Ab März 1942 wurden 1.000 ausgewählt, um in den Wäldern von Krivoklat (Pürglitz) Bäume zu pflanzen und das Gelände vom Gestrüpp zu befreien. Das Arbeitsgebiet lag nicht in der näheren Umgebung von Theresienstadt. Die Frauen wurden sieben Stunden mit dem Zug und noch fünf Stunden zu Fuß durch den Wald geführt, bis sie ihr Ziel erreichten. Angekommen mussten sie täglich zehn Stunden arbeiten – bei geringer Verpflegung. Ins Ghetto zurück kamen sie erst wieder im Juni. 130

Anders als in den Ghettos von Lodz und Warschau, waren Gottesdienste in Theresienstadt nicht dezidiert verboten. Deshalb entstanden mehrere Gebetshäuser in unterschiedlichen Kasernen. Da sich unter den Bewohnern viele prominente jüdische Persönlichkeiten befanden, kamen auch bekannte Rabbiner und Kantoren nach Theresienstadt. Einer der berühmtesten war Dr. Leo Baeck, Präsident der Reichsvertretung der deutschen Juden. Die Gottesdienste wurden, wenn machbar, so formell wie möglich durchgeführt. Die notwendigen religiösen Gegenstände wurden von den Juden ins Ghetto mitgebracht. Es gab aus mehreren jüdischen Gemeinden Thorarollen, Megilla, Schofar, Pokale und Leuchter. So konnte jeder Rabbiner, der einem Gebetshaus zugeteilt war, den Gottesdienst fast wie gewohnt abhalten. Das Einzige, das in der Regel nicht vorhanden war, war der Wein für den Kiddush. Es war ausgeschlossen, dass die Ghettobewohner Wein erhalten konnten. Jüdische Feiertage mussten oftmals versteckt vor der SS praktiziert werden, da auf die Bedeutung jüdischer Feste in den Arbeitsdiensten keine Rücksicht genommen wurde. 131 Der Ältestenrat beantragte bei der Lagerkommandantur die Genehmigung, das Passahfest nach alter jüdischer Tradition zu feiern. Jeder, der sich dafür meldete, bekam selbstgebackenes Matzen-Brot. Es wurden 10.000 Kilogramm hergestellt, woraus man schließen kann, wie groß der Wunsch nach religiösen Traditionen auch im Ghetto war. 132 Den schwersten Dienst taten die Rabbiner bei den

130 Vgl. Benz, Theresienstadt, S. 84 ff. 131 Vgl. ebd., S. 148 ff.; vgl. Hacker, Theresienstadt, S. 59 ff. 132 Vgl. Benz, Theresienstadt, S. 148 ff.; vgl. Hacker, Theresienstadt, S. 59 ff.

42 Beerdigungen. Bis August 1942 erhielt jeder Verstorbene ein Einzelgrab, in das er in Papierhemden gekleidet gelegt wurde, da die Beigabe von Textilien seitens der SS strengstens verboten war. Danach wurden nur noch Massengräber ausgehoben. Letztendlich wurden die Leichen in den Krematorien verbrannt und die Urnen in einem eigenen Kolumbarium aufbewahrt. Im November 1944 begann die SS damit, ihre grauenhaften Spuren zu verwischen, sie lud die 20.000 Urnen in einen LKW und streute die Asche in die Eger. Diese Aufgabe wurde von speziellen Sonderkommandos ausgeführt, oft bestehend aus älteren Frauen. 133

Die Kinder im Ghetto Theresienstadt machten einen beträchtlichen Teil der Gesamtzahl aus: 15.000 Kinder, vom Säugling bis 15 Jahre, lebten im Ghetto, und nur wenige überlebten. Sie waren getrennt von ihren Eltern in sogenannten Jugendheimen untergebracht. In diesen wurden sie noch einmal nach Alter und Geschlecht getrennt beherbergt. 134 Der Ältestenrat versuchte sein Möglichstes, den Kindern das Leben im Ghetto zu erleichtern – sei es in Form von Zusatzrationen von Lebensmitteln oder mit dem Versuch, ihnen Bildung zu verschaffen. Dieses Bemühen widersprach den Plänen der deutsche Machthaber. Sie wollten die Kinder in den Heimen – soweit es ging – sich selbst überlassen und ihnen jeglichen Zugang zu Bildung verwehren, bis sie alt genug waren, um für das Deutsche Reich zu arbeiten. Das Unterrichtsverbot führte lediglich dazu, dass viele Erwachsene die Kinder illegal unterrichteten und ihnen wichtige Lektionen für ein Leben im Geheimen gaben. Das Verbot erhöhte bloß den Anreiz und stärkte das Verlangen nach Bildung. Das Gefühl von Illegalität und das damit verbundenen Gefühl von Abenteuer verstärkten vor allem bei den älteren Schülerinnen und Schülern ihren Wissensdrang. Lehrer und Universitätsprofessoren taten sich zusammen. Der Drang der Kinder, etwas zu lernen, wurde immer größer – allerdings auch die Gefahr bei einer Kontrolle ertappt zu werden. 135 Die Lehrer mussten mit unzureichenden Lehrmitteln und Unterrichtsräumen umgehen. Als ebenso schwierig erwies sich die durch das ständige Eintreffen und Abgehen von Transporten bedingte Fluktuation der Schüler. Trotz dieser einschränkenden Faktoren gab es für alle 14- und 15Jährigen regelmäßigen Unterricht im Ghetto. 136

133 Vgl. Benz, Theresienstadt, S. 148 ff.; vgl. Hacker, Theresienstadt, S. 59 ff. 134 Vgl. Benz, Theresienstadt, S. 173. 135 Vgl. ebd., S. 176. 136 Vgl. Hacker, Theresienstadt, S. 87.

43 Mithilfe von Kunst und Kultur versuchten die Menschen in Theresienstadt ihr Leben erträglicher zu gestalten. Man lebte inmitten des Krieges und der täglichen Bedrohung, in ein Konzentrationslager deportiert zu werden; trotzdem fanden jeden Tag Theateraufführungen, Konzerte und Vorträge statt. Wie in den anderen Ghettos, waren die Deutschen nicht abgeneigt, den Ghettobewohnern gewisse kulturelle Vergnügungen zu gestatten oder diese sogar zu verlangen. Ab Mitte 1942 wurde immer mehr darauf hingearbeitet, Theresienstadt als gewöhnliche Stadt nach außen wirken zu lassen; vor allem in den Augen der Kriegsgegner sollten alle Vermutungen betreffend Konzentrationslager und Massenvernichtung entkräftet werden. So richtete man eine Bibliothek ein, eröffnete ein Kaffeehaus und die Anzahl der Theateraufführungen und Vorträge nahm zu. 137 Aufgrund der hohen Dichte von Künstlern, Schriftstellern, Malern und Musikern in Theresienstadt prägten Kunst und Kultur das Ghetto wie kein anderes. So war vor allem die Kinderoper „Brundibar“ ein Meilenstein der Ghettogeschichte. Die Oper wurde mit Kindern aus dem Waisenhaus einstudiert. Unterbrochen von mehreren Deportationswellen, wurde sie am 22. September 1943 das erste Mal aufgeführt. Insgesamt wurde das Stück 55 Mal auf die Bühne des Ghettos gebracht, unter anderem für die Kommission des Roten Kreuzes, die das Ghetto inspizierte, bis das gesamte Ensemble mit dem ersten großen Transport 1944 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde. 138

In Theresienstadt wurden die Täuschung und die Propaganda der NS-Regierung regelrecht auf die Spitze getrieben. So erlebte das Ghetto zweimal eine „Verschönerungsaktion“, bevor Vertreter des Roten Kreuzes das Ghetto besuchten. Ebenfalls herzeigbar und lebenswert muss Theresienstadt ausgesehen haben, als man im Spätsommer 1944 einen Film mit dem Titel „Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet“ drehte. 139 So wurden im Februar 1944 Familien ausgesucht, die das Ghetto vor der Internationalen Kommission des Roten Kreuzes repräsentieren durften oder mussten. Ihnen wurden neue Wohnungen zugewiesen, in die in einer nächtlichen Aktion Vorhänge, Bilder und Teppiche gebracht wurden, um diese gemütlicher einzurichten. Die Juden bekamen noch den unmissverständlichen Hinweis, nicht zu erwähnen, dass diese Verschönerungen erst seit letzter Nacht hier wären. Der gesamte

137 Vgl. Steinhauser, Totenbuch Theresienstadt, S. 1.16. 138 Vgl. Benz, Theresienstadt, S. 109 ff. 139 Vgl. https://www.deutschlandfunkkultur.de/vor-75-jahren-kz-theresienstadt-errichtet-die.932.de.html? dram:article_id=372203 (aufgerufen am 18.8.2018); vgl. http://www.erinnern.at/bundeslaender/oesterreich/lernmaterial-unterricht/abschlussarbeiten/kurt-kamhuber- kinder-in-theresienstadt.-zeichnungen-und-texte-von-kindern-aus-dem-kz-theresienstadt (aufgerufen am 18.8.2018).

44 Alltag der Ghettobewohner wurde wie anhand eines Drehbuchs während der Inspektion nachgespielt. Es gab größere Essensrationen mit abwechslungsreichen Lebensmitteln und an verschiedenen Stellen im Ghetto wurden Menschen instruiert, bestimmte Dinge zu sagen oder zu tun. Die deutsche Ghettoverwaltung hatte Glück, dass der naive 27jährige Arzt Maurice Rossel, der als Delegierter ins Ghetto kam, sich von der Fassade blenden ließ und alles glaubte, was er in Theresienstadt sah, weil er es glauben wollte. Er fertigte einen sehr positiven Bericht über die Zustände in Theresienstadt an, in dem er zum Beispiel feststellte: 140

„Seit unserem Eintritt ins Ghetto können wir uns davon überzeugen, daß die Bevölkerung nicht an Unterernährung leidet […]. Der Zustand der Instrumente und medizinisch- chirurgischen Apparaturen ist allem Anschein nach zufriedenstellend. Es gibt sicher kaum eine Bevölkerung, die so gut versorgt wird, wie die von Theresienstadt. “141

Theresienstadt war in mehrfacher Weise anders als andere Ghettos, doch unter dem Strich diente auch dieses Ghetto nur der Konzentrierung der Juden, um deren spätere Vernichtung zu erleichtern. Die Deutschen hatten nie im Sinn, Theresienstadt als Altersghetto weiterzuführen, in dem die Juden in Ruhe ihren Lebensabend genießen können. Man pferchte 1942 fast 80.000 Menschen in die Festung, die sonst nur von 7.000 Zivilisten bewohnt wurde. Um die katastrophale Überbevölkerung zu verringern, begann man Menschen in den Osten zu deportieren. Die ersten Transporte fuhren nach Riga, dann zu den Sammelstellen für die Todeslager in Polen und die mobilen Gaskammern in Minsk. Im Oktober 1942 begannen die ersten Transporte nach Treblinka und Auschwitz. 142 Insgesamt gab es vier große Deportationswellen, die die Ghettobewohner zum Arbeitseinsatz in den Osten bringen sollten, doch die Gerüchte und Vermutungen der Angehörigen, ihre Liebsten nie mehr zu sehen, verhärteten sich. Im August 1943 schaffte es ein Jude, aus Auschwitz zu flüchten und nach Theresienstadt zurückzukehren; er berichtete von der ausweglosen Lage der Deportierten, der Selektion für die Gaskammern. Dies erzählte er aber nur dem Rabbiner Leo Baeck. Ende 1943 lebten noch 35.000 Juden im Ghetto. Da diese Zahl für die Deutschen immer noch zu hoch war, gingen die Auschwitz-Transporte laufend weiter. Der letzte erreichte Birkenau am 30. Oktober 1944. Übriggeblieben waren im Ghetto knapp 18.000 Menschen, von denen sich ein Drittel nicht zur jüdischen Religion bekannte. 143 Kurzum, bevor das Ghetto von der Roten Armee befreit wurde, kam es noch zu mysteriösen Bauarbeiten, die die Errichtung von 140 Vgl. Benz, Theresienstadt, S. 186 ff. 141 Zitat: ebd., 189 f. 142 Vgl. Reitlinger, Die Endlösung, S. 186 f. 143 Vgl. ebd., S. 190 f., 194.

45 Gaskammern in Theresienstadt vermuten ließen. Am 6. April 1945 kam es zu einer weiteren Visitation seitens des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, die bewirkte, dass die dänischen Juden das Ghetto verlassen durften. Nachdem 15.000 Personen aus verschiedenen Konzentrationslagern nach Theresienstadt gekommen waren, übergab die SS die Leitung des Ghettos an das Rote Kreuz. Am 8. Mai 1945 marschierten Truppen der Roten Armee ein. 144

Zweiter Teil

4 Biografische Auseinandersetzung mit wichtigen Personen

Es folgt eine biografische Auseinandersetzung mit den Judenältesten aus den zuvor besprochenen Ghettos: Mordechai Chaim Rumkowski, Adam Czerniakow und Benjamin Murmelstein.

4.1 Mordechaj Chaim Rumkowski

„Um das Getto zu retten muss ich schnell handeln, wie ein Chirurg, der Gliedmaßen amputiert, damit das Herz nicht stehenbleibt. “145

4.1.1 Werdegang – Sein Leben, bis er Judenältester wurde

Mordechai Chaim Rumkowski bleibt bis heute eine kontroverse Figur der Geschichte des Holocausts und des Lodzer Ghettos. Er regierte regelrecht autokratisch. Wenn man zu den biografischen Daten Rumkowskis Nachforschungen anstellt, finden sich unterschiedliche Angaben. Ich stütze mich in meiner Arbeit auf die Angaben Monika Polits, da sie als Quelle das Staatsarchiv in Lodz angibt. Demnach wurde Mordechai Chaim Rumkowski am 27. Februar 1877 in der Kleinstadt Illino in Belarus, dass damals ein Teil Russlands war, geboren. Die Region, in der Rumkowski aufwuchs, liegt im jüdischen Litauen, das sich nicht auf ein geografisches Gebiet eingrenzen lässt. Es umfasst die baltischen Republiken Litauen und Lettland sowie Belarus, den südöstlichen Teil Polens, die Nord-Ukraine bis zu einem

144 Vgl. Benz, Theresienstadt, S. 198 ff. 145 Zitat: Polit, Mordechaj Chaim Rumkowski, S. 116.

46 kleinen Teil von West-Russland. Die jüdischen Bewohner dieser Region wurden Litwaken genannt. Sie unterschieden sich von anderen Juden durch einen eigenen Dialekt, das Hoch- Jiddisch, durch eigene Bräuche sowie durch ihre Mentalität. 146

Laut eigenen Angaben lebte Rumkowski in einer sehr liebevollen „ahavedischen“ Familie. Diese Aussage findet man in seiner Kurzbiografie 1938 im „Almanach der Lodzer Gesellschaftlichkeit“. Die meisten anderen Personen dieses Jahrbuchs charakterisierten ihre Familien entweder als khasidish (gläubig), soykherish (kaufmännisch) oder farmeglekh (vermögend). Rumkowskis Wortwahl lässt darauf schließen, dass er in einer ärmeren, dafür umso fürsorglicheren und liebevolleren Familie aufgewachsen ist. Er hatte drei Geschwister und besonders zu seinem Bruder Josef hatte er eine sehr enge Bindung. Sie lebten beide im gleichen Haus und waren ihre Leben lang unzertrennlich. Auch mit den beiden Schwestern, Roza und Berta, sollen sie eine gute Beziehung gehabt haben, diese wurde allerdings zwangsweise beendet, da beide mit russischen Männern verheiratet waren und nach dem Polnisch-Sowjetischen Krieg 1920 jeder Kontakt, selbst ein telefonischer, zwischen Polen und Russland untersagt war. 147 Die schulische Ausbildung Rumkowskis beschränkte sich auf den religiösen Unterricht des Cheders, des Weiteren erhielt er privaten Unterricht von einem traditionellen jüdischen Lehrer. Seine Verbundenheit zur jüdischen Religion brachte er mit regelmäßigen Besuchen der Synagoge zum Ausdruck. 148

Die wachsende Textilmetropole Lodz zog viele aufstrebende junge Männer an. So auch Rumkowski, der seine Heimatgemeinde mit 15 Jahren verließ, um fünf Jahre später seine eigene Plüschweberei GmbH aufzubauen. Ein Hauptmerkmal seiner Person war der eiserne Glaube an sich selbst, er ließ sich von der großen Konkurrenz in Lodz nicht aufhalten und dank seinem unglaublichen Selbstvertrauen konnte er sich einen Namen in der Textilindustrie machen. Mit seinem wachsenden Erfolg begann Rumkowski sich gleichzeitig für jüdische Einrichtungen einzusetzen. 149 Zur Zeit des Ersten Weltkrieges lebte Rumkowski mit seiner Frau in Moskau, wohin er auch seine Textilfabrik übersiedelt hatte. Mit seiner Hilfe wurde das Allgemeine Hilfskomitee für polnische Juden gegründet, in dem er aktives Mitglied war. Das Komitee setzte sich für Opfer des Krieges in Lodz, Warschau, Bialystok und anderen

146 Vgl. ebd., S. 44, 46 f. 147 Vgl. ebd., S. 50 f. 148 Vgl. ebd., S. 52. 149 Vgl. Tushnet, Pavement of Hell, S. 5.

47 polnischen Gebieten ein, die von den Deutschen besetzt waren. 150 Er kehrte nach dem Krieg nach Lodz zurück und vollzog einen Berufswechsel. Da er mit seiner Plüschfabrik in Konkurs gegangen war, versuchte er sich nun im Versicherungswesen und war auch damit erfolgreich. Von nun an setzte Rumkowski sich noch mehr für die jüdische Gemeinde ein, mit besonderem Augenmerk auf Waisenkinder. Politisch war er seit 1919 in der Zionistischen Organisation in Lodz engagiert. Bis 1938 war er in der lokalen Parteiführung tätig und saß im Parteirat der Organisation. Neben seinen Tätigkeiten für die Waisenhäuser war er anderen zionistischen philanthropischen Institutionen zugewandt, wie einem Kinderhort, einer hebräischsprachigen Schule und einem Kindergarten. Ebenso setzten er und seine Ehefrau Ida sich für die jüdische Hilfsvereinigung für Gebärende und Säuglinge ein, von der Ida 1924 in den Vorstand gewählt wurde. Rumkowski war Zeit seines Erwachsenenlebens ein fixer Bestandteil der jüdisch- zionistischen Szene in Lodz; dies zeigt sich auch in seiner Tätigkeit als Vorsitzender der Lodzer Abteilung des Amerikanisch-jüdischen Hilfskomitees. 151 Seine launische, zynische und leicht narzisstische Persönlichkeit trat auch in seiner Vorkriegspolitikerlaufbahn zutage. Rumkowski war als überzeugter Zionist nicht begeistert, als die Kehilla dominiert wurde von einer jüdisch-orthodoxen Mehrheit, welche die Ziele und Ansichten der Zionistischen Partei immer mehr ignorierte. Dieses Ungleichgewicht der politischen Meinungen hatte zur Folge, dass die Zionistische Partei aus der Kehilla austrat. Dieser Entscheidung wollte sich Rumkowski nicht beugen und weigerte sich seinen Posten aufzugeben. 152

Rumkowski blieb sein Leben lang kinderlos, jedoch investierte er unendlich viel Hingabe und Liebe in seine Waisenhäuser und Projekte, die sich um Waisenkinder in Lodz drehten. Bekannt wurde er als der „Vater der Waisen“, da er seiner Aufgabe aufopferungsvoll nachging. Sein Engagement ging so weit, dass er der Verantwortliche für einige Waisenhäuser in Lodz wurde. 153 Durch seinen Ehrgeiz verpflichtete er viele seiner alten Geschäftspartner dazu, das Waisensystem zu unterstützen. In einem Lodzer Vorort errichtete Rumkowski ein völlig neues Waisenhaus, das drei Häuser umfasste und den Ruf genoss, eine der besten Einrichtungen der ganzen Stadt zu sein. Dieses Waisenhaus befand sich in Helenowek und Rumkowski wurde der Leiter dieser Einrichtung. 154 Das Waisenhaus bekam den Namen

150 Vgl. Polit, Mordechaj Chaim Rumkowski, S. 56. 151 Vgl. ebd., S. 56 f. 152 Vgl. Friedman, Roads to extinction, S. 335. 153 Vgl. Tushnet, Pavement of Hell, S. 6. 154 Vgl. Unger, Reassessment of the image of Mordechai Chaim Rumkowski, S. 13.

48 „Internat und Farm für Jüdische Kinder in Helenowek“. Laut Rumkowski verzichtete man bewusst darauf, das Wort „Waisenhaus“ zu verwenden, um den Kindern die negative Konnotation des Wortes zu ersparen und um anderen Kindern, die nicht Vollwaisen waren, aber das Internat aus anderen Gründen ebenfalls nutzen wollten, den Zugang nicht zu verwehren. Die Ziele der Einrichtung bestanden darin, den Kinder eine religiös-zionistische Ausbildung zu ermöglichen und nicht der Assimilierung nachzugeben; daher wurde im Haus koscher gekocht. Ebenso Teil des Programms war die landwirtschaftliche Arbeit. Es wurden Gemüse und Obst angebaut und Tiere gehalten; alle Aufgaben wurden in Zusammenarbeit mit den Kindern erledigt. 155

Wie bereits erwähnt, war Mordechai Chaim Rumkowski schon vor dem Zweiten Weltkrieg eine kontroverse Persönlichkeit; sein Charakter wurde als aggressiv, dominant, gierig nach Macht und Anerkennung beschrieben. Man sagte ihm nach, impulsiv zu handeln, ungeduldig und intolerant zu sein. Auf der anderen Seite wurde er als zielstrebig und willensstark beschrieben. Gelobt wurde er ferner für sein außergewöhnliches organisatorisches Talent und seine energische Art, mit der er an Projekten arbeitete, die er sich in den Kopf gesetzt hatte. 156 Auch zu seinem vielgelobten Waisenhaus in Helenowek wurden kritische Stimmen laut. In den Einrichtungen sollen körperliche Gewalt dominiert und die Erzieher barbarische Methoden angewendet haben; Kinder berichteten von Ohrfeigen und brutalen Schlägen zur Züchtigung. Die Aussagen über körperliche Misshandlungen stammen aus einer Broschüre über das Waisenhaus, verfasst von Jechiel Kac. Er war im Waisenhaus tätig und publizierte die Broschüre 1930. Ob alle seine Aussagen der Wahrheit entsprechen, lässt sich heute nicht mehr nachprüfen; man findet keine weiteren Quellen von anderen Erziehern oder Kindern, die seine Vorwürfe bestätigen. Ebenso darf man nicht vergessen, dass die körperliche Bestrafung von Kindern zu dieser Zeit ein alltägliches Mittel der Erziehung war. In den vorliegenden Quellen lassen sich keine Bestätigungen für Kacs Anschuldigungen finden. Die im Waisenhaus arbeitenden Menschen hatten alle eine entsprechenden Ausbildung; folglich darf man davon ausgehen, dass sie sich gemäß der damaligen Pädagogik verhalten haben. 157

4.1.2 Judenrat – Sein Verhalten als Judenältester

155 Vgl. Polit, Mordechaj Chaim Rumkowski, S. 60 ff. 156 Vgl. Unger, Reassessment of the image of Mordechai Chaim Rumkowski, S. 13. 157 Vgl. Polit, Mordechaj Chaim Rumkowski, S. 66 ff.

49 Mordechai Chaim Rumkowski, ein zionistischer Politiker und energischer Redner, war einer der wenigen einflussreichen Juden, die Lodz nach der deutschen Besetzung Polens nicht verließen. Der bisherige Gemeindevorsteher, Lejb Mincberg, hatte Lodz bereits vor dem Einmarsch der deutschen Truppen verlassen, sein Stellvertreter folgte ihm kurz danach. 158 Somit waren am 8. September 1939 nur mehr wenige Gemeindemitglieder vor Ort, um einen Judenrat zu bilden und den Judenältesten zu stellen. Dieser wurde am 12. September Leizer Plywacki; Rumkowski wurde sein Stellvertreter. Die Ernennung dieses ersten Judenältesten geschah noch vor dem erwähnten Schnellbrief Heydrichs, der am 21. September erging. Allerdings verließ auch Plywacki bis zu diesem Zeitpunkt die Stadt, was dazu führte, dass Mordechaj Chaim Rumkowski der Judenälteste der Stadt Lodz wurde. 159 Die offizielle Autorisierung Rumkowskis erfolgte am 13. Oktober 1939 durch einen schriftlichen Bescheid, unterzeichnet vom Lodzer Stadtkommissar Albert Leister.

„The Elder of the Jews in the City of Lodz, Rumkowski, has been commissioned to carry out all measures concerning the members of the Jewish race [ordered] by the German Civilian Administration of the City of Lodz.

He is personally responsible to me. In order to perform his duties, he is authorized

1) to move about freely in the streets at any time of day or night; 2) to have access to the agencies of the German administration; 3) to select a group of associates (Council of Elders) and meet with them; 4) to make his decisions public through wall posters; 5) to inspect the Jewish labor assembly points. Every member of the Jewish race is required to obey unconditionally all instructions given by Elder Rumkowski. Any opposition to him will be punished by me. “160

Über die genauen Gründe, weshalb ausgerechnet Rumkowski für diese verantwortungsvolle Position ausgewählt wurde, gibt es nur Spekulationen; sie reichen von reinem Zufall bis dazu, Rumkowski habe sich selbst den deutschen Machthabern angeboten, der Richtige für dieses Amt zu sein. Berichten zufolge soll sein stattliches Aussehen, strahlend weißes Haar, frisch rasiert und nobel gekleidet, den deutschen Beamten suggeriert haben, er sei der älteste der übriggebliebenen jüdischen Repräsentanten. 161 Sein Verhalten gegenüber dem respektierten Rabbi Treistman, der ebenfalls von den deutschen Behörden aufgefordert wurde, die jüdische

158 Vgl. ebd., S. 85. 159 Vgl. Unger, Reassessment of the Image of Mordechai Chaim Rumkowski, S. 14. 160 Zitat: Trunk, Judenrat, S. 8. 161 Vgl. Löw, Juden im Getto Litzmannstadt, S. 74.

50 Leitung und die Aufsicht über die Arbeitsdienste zu übernehmen, zeugt davon, dass viel Eigeninitiative hinter Rumkowskis aufopfernder Tätigkeit steckte. Auf den Umstand, dass nicht nur er Verantwortung für die jüdische Bevölkerung haben sollte, soll Rumkowski empört und gleichzeitig genervt reagiert haben. Er ging so weit, sämtliche Vorschläge des Rabbis zu ignorieren und ihm miserable Lebensbedingungen zu bescheren. Sein unkollegiales Verhalten führte dazu, dass Rabbi Treistmann aus dem Ghetto Lodz flüchtete und sich bis nach Warschau durchschlagen konnte. 162

Rumkowskis erste Tätigkeit bestand darin, einen Judenrat zu bilden. Wie bei den Nazis üblich, wurde der Rat ohne demokratische Wahlen einberufen. Die Mitglieder wurden persönlich von Rumkowski zu ihrer Arbeit beordert. Am 16. Oktober 1939 sandte er einen Rundbrief an 31 Männer, die er für seinen Judenrat ausgewählt hatte. Die Adressaten entnahmen dem Brief, dass die Wahl für jeden verpflichtend war und sie nur beratende Tätigkeiten ausüben sollten; die endgültige Entscheidung läge allein bei Rumkowski. 163 Der Judenrat bestand aus Mitgliedern der Vorkriegsgemeindevertretung und begann mit seiner Arbeit bereits am folgenden Tag. Rumkowski versuchte den normalen Alltag der Kehilla wiederherzustellen und begann mit der Wiederingangsetzung der Fürsorgeeinrichtungen, zum Beispiel Küchen für Bedürftige. Im ersten Monat täuschten die deutschen Machthaber Rumkowski vor, eigenständig und ungestört seiner Politik nachgehen zu können; jedoch bereits einen Monat später wurde er deutlich in seine Schranken gewiesen. Die Deutschen zeigten explizit ihre Überlegenheit über die Juden, sie zerstörten Denkmäler und gingen brutal gegen die jüdische sowie die polnische Intelligenz vor.

Ihren ersten Höhepunkt erreichte diese Machtdemonstration am 11. November 1939, als der gesamte Judenrat zur Gestapo beordert wurde und nur drei Personen, darunter Rumkowski, dieses Treffen überlebten. Damit zeigten die Deutschen noch einmal, wer die Macht im neuen Reich hatte, und dass Rumkowski sich auf dünnem Eis bewegte. 164 Danach musste er einen neuen Judenrat zusammenstellen; die Auswahl qualifizierter Männer war deutlich begrenzt. Die am besten dafür geeigneten Juden wurden gerade von der Gestapo erschossen und unzählige weitere Vertreter der Intelligenz verließen Lodz nach den ersten Ausschreitungen

162 Vgl. Tushnet, Pavement of Hell, S. 10 ff. 163 Vgl. Friedman, Roads to Extinction, S. 336. 164 Vgl. Löw, Juden im Getto Litzmannstadt, S. 75 ff.

51 gegen die Juden. 165 Somit waren die Männer des zweiten Rates weniger bekannte Gesichter der jüdischen Gemeindevertretung; sie hatten nicht den Rückhalt der Bewohner und waren somit abhängig von Rumkowskis Willen. Es waren einige Juden darunter, die vor dem Krieg assimiliert oder sogar konvertiert und nur aufgrund der NS-Rassengesetze im Ghetto gelandet waren und sich nicht zum jüdischen Glauben bekannten. 166

Rumkowskis Person ist so umstritten, dass man ihm selbst für dieses schreckliche Ereignis, die Ermordung des ersten Judenrates, die Schuld geben will. So äußerten sich Historiker wie Philip Friedman zu dem Vorfall. Rumkowski hätte sich bei den Deutschen über Meinungsverschiedenheiten mit den Rastmitgliedern beschwert und somit für deren Exekution gesorgt. Für diese ernsten Anschuldigungen gibt es allerdings keinerlei Beweise, dies muss auch Friedman zugeben. Im Gegenteil, es gibt Quellen, denen zufolge Rumkowski aufopfernd um die Leben der Ratsmitglieder gefleht hätte; bis dahin, dass auch er eingesperrt und massiv misshandelt wurde. 167

Sein eigentlicher Arbeitsalltag begann für den Judenrat erst mit der Abriegelung des Ghettos am 30. April 1940. An diesem Tag wurde ihm die gesamte Verantwortung für das Leben im Ghetto übertragen. Rumkowski und die meisten Mitglieder des Judenrates widersetzten sich nicht der Errichtung des Ghettos, sie erhofften sich durch die Abriegelung mehr Sicherheit und Schutz vor den deutschen Razzien und den willkürlichen Übergriffen gegen Juden. Rumkowski wurde somit zum Sprachrohr und einzigen Vermittler zwischen den Deutschen und den Juden. Zu diesem Zeitpunkt glaubte er noch an die versprochene Autonomie des Ghettos. 168 In einem Bescheid, ausgefertigt vom Lodzer Oberbürgermeister Schiffer, wurden alle Lebensbereiche erläutert, um die sich Rumkowski mithilfe des Judenrates kümmern musste:

„Ferner beauftrage ich Sie aufgrund der mir von dem Herrn Regierungspräsidenten von Litzmannstadt am 27. April 1940 erteilten Vollmacht mit der Durchführung aller Massnahmen, die zur Aufrechterhaltung eines geordneten Gemeinschaftslebens im Wohngebiet der Juden erforderlich sind und noch erforderlich werden. Insbesondere haben Sie die Ordnung des Wirtschaftslebens und der Fürsorge sicher zu stellen. Sie sind dazu

165 Vgl. Cesarani, Endlösung, S. 340. 166 Vgl. Friedman, Roads to Extinction, S. 336. 167 Vgl. Unger, Reassessment of the Image of Mordechai Chaim Rumkowski, S. 19; vgl. Trunk, Lodz: ghetto city, S. xxxiii. 168 Vgl. Tushnet, Pavement of Hell, S. 16.

52 berechtigt, alle hierfür erforderlichen Massnahmen und Anordnungen zu treffen und diese mit Hilfe des Ihnen unterstellten Ordnungsdienstes durchzusetzen. Zur Sicherstellung der Ernährung der Bevölkerung sind Sie berechtigt, alle gesammelten Vorräte zu beschlagnahmen und zur Verteilung zu bringen. Da das gesamte jüdische Vermögen nach reichsgesetzlicher Regelung als beschlagnahmt gilt, haben sie sämtliche Vermögenswerte der Juden soweit sie nicht zur unmittelbaren Lebensnotwendigkeit gehören (z. B. Bekleidung, Ernährung und Wohnung) listenmäßig zu erfassen und sicherzustellen. Sie sind ferner berechtigt alle Juden zu unentgeltlichen Arbeitsleistung zu verpflichten. Alle Massnahmen grundsätzlicher Art bedürfen vor ihrer Ausführung meiner vorherigen schriftlichen Zustimmung. “169

Diese Quelle zeigt das gesamte Ausmaß an Macht, die Rumkowski von nun an hatte; man darf dabei aber nicht den letzten Satz außer Acht lassen. Jede scheinbare Autorität, die Rumkowski als Judenältester innehatte, musste mit den deutschen Machthabern vorab besprochen und von ihnen abgesegnet werden. Diese Tatsache muss immer bedacht werden. Rumkowski hatte nur so viel Macht, wie die Deutschen, genauer gesagt Hans Biebow als Leiter der Ghettoverwaltung, ihm zugestanden.

In den ersten Monaten nach der Schließung des Ghettos konnte Rumkowski sehr selbstständig und eigenmächtig handeln. Biebow gewährte ihm sehr viele Freiheiten, da die Arbeit des Judenrates im Sinne der Deutschen war. Es ging hauptsächlich um die Bewahrung der Ruhe und Ordnung im Ghetto. Dieser Eindruck von Selbstverwaltung und Selbstverwirklichung war von Biebow genauso geplant, er wollte Rumkowski erst einmal positiv stimmen, um sein Vertrauen in den späteren Kriegsjahren ausnutzen zu können. Rumkowski andererseits glaubte, er könne, wenn er sich mit den Deutschen gutstellte, für ein besseres Leben im Ghetto sorgen und somit das Überleben der Juden gewährleisten. 170

Das vorrangigste Ziel der deutschen Ghettoverwaltung war es, das Ghetto so zu führen, dass es sich selbst finanzieren und erhalten könne. Darum wurde alles Mögliche versucht, um an die Vermögenswerte und die Geldreserven der Ghettobewohner zu gelangen; zuerst häufig durch Razzien und Beschlagnahmungen, aber nach der Ghettoschließung ging man gezielter vor. Karl Marder, Bürgermeister von Litzmannstadt, schlug vor, eine ghettointerne Währung einzuführen, die das einzige legale Zahlungsmittel im Ghetto sein sollte. Es war daraufhin Rumkowskis Aufgabe, die Geldscheine und Münzen der Bewohner durch die neue Währung

169 Zitat: file:///E:/Diplomarbeit/RG-63.02.58,%20Empowerment%20and%20restriction%20of%20Chaim %20Rumkowski%20in%20his%20function%20as%20head%20of%20the%20Judenrat%20(Jewish%20Council) %20in%20L%20(1).pdf (aufgerufen am 30.8.2018). 170 Vgl. Unger, Reassessment of the Image of Mordechai Chaim Rumkowski, S. 22 ff.

53 oder, besser gesagt, durch diese Berechtigungsscheine zu ersetzen. 171

Die Macht, die Rumkowski auf einmal hatte, tat seinen zuvor schon egomanischen und narzisstischen Eigenschaften keinen Abbruch und er entwickelte sich in dieser Zeit zu einer Art Ghetto-Diktator, der von seiner Unfehlbarkeit vollkommen überzeugt und sich sicher war, er könne als Einziger die Juden retten. Er baute das Ghetto zu einer eigenen kleinen Stadt mit ausgeprägter Stadtverwaltung um. 172 Sein autokratisches Auftreten führte dazu, dass die Ghettobewohner ihn inoffiziell „King Chaim“ nannten. Emanuel Ringelblum besuchte das Lodzer Ghetto und berichtete davon, dass man Rumkowski wegen seiner aggressiven Art auch „Chaim den Schrecklichen“ nannte. Da er von seinen Führerqualitäten überzeugt war, beriet er sich in den wenigsten Fällen mit dem gesamten Judenrat und übernahm für viele Sektoren selbst die Verantwortung. Er fungierte im Ghetto als Stimme der Justiz und wollte sogar die Todesstrafe einführen, doch er konnte von der Mehrheit der Ratsmitglieder, die dagegen waren, vom Gegenteil überzeugt werden. Ein weiterer Sektor, der ihm oblag, war das Schließen von Ehen; Rumkowski war der Einzige im Ghetto, der Juden verheiraten durfte. Auf unzähligen Fotografien sieht man die Freude Rumkowskis, Eheschließungen medial zu inszenieren anstatt die Feier religiös zu untermalen. 173

Rumkowski verfolgte seit seiner Berufung zum Judenältesten einen Weg der Kooperation mit den Deutschen. Er sah in der bereitwilligen Zusammenarbeit den einzigen Weg, seine jüdischen Schützlinge zu retten. Motto und Leitsatz für die Arbeit im Ghetto waren stets: „Unser einziger Weg ist Arbeit.“ Er versuchte mit aller Kraft sein Ghetto für die Deutschen unentbehrlich zu machen. So lange das Ghetto produktiv sei, werde es nicht liquidiert, so sein Gedanke. 174 Um dieses Ziel eines gewinnbringenden Ghettos zu erreichen, war es seine oberste Priorität Arbeitsplätze zu schaffen. Der erste Industriezweig, der seine Tätigkeit im Ghetto aufnahm, war die Textilindustrie. Lodz war vor dem Krieg ein Zentrum der Textilindustrie gewesen, darüber hinaus hatte Rumkowski Erfahrung mit der Leitung von Textilwerkstätten und so fanden bereits nach vier Monaten 164.000 Menschen im Ghetto Arbeit. Mit der Übernahme der Ghettoverwaltung durch Biebow wurden die Betriebe noch weiter ausgebaut, verbessert und er akquirierte sämtliche Aufträge für unzählige im Ghetto

171 Vgl. Horwitz, Ghettostadt, S. 63 ff. 172 Vgl. Cesarani, Endlösung, S. 340. 173 Vgl. Friedman, Roads to Extinction, S. 337 ff. 174 Vgl. Unger, Reassessment of the Image of Mordechai Chaim Rumkowski, S. 28 ff.

54 ansässige Betriebe. 175 Das Arbeitspensum stieg von Jahr zu Jahr; was im Mai 1940 ein paar Schneiderwerkstätten gewesen waren, wurde 1942 zu mehr als 90 verschiedenen Fabriken ausgebaut. Ende 1943 arbeiteten rund 85% der Ghettobevölkerung für die deutsche Kriegswirtschaft. 176 Rumkowskis Ziel, das Lodzer Ghetto in ein Arbeitsghetto umzugestalten, kann man als erreicht bezeichnen. Er versuchte Arbeit für jeden zu finden, selbst für Kinder, um sie vor der Deportation zu bewahren. 177 Sein Slogan „Unser einziger Weg ist Arbeit“ schien für einige Zeit der Wahrheit zu entsprechen; Rumkowski war stolz auf seine Entscheidung. Er glaubte fest daran, dass die Deutschen die Nützlichkeit der jüdischen Arbeitskraft erkennen würden und ihr Ziel, den Warthegau „judenrein“ zu machen, sich nicht bewahrheiten würde. 178

Allen seinen Bemühungen zum Trotz waren die Lebensmittelrationen für die Ghettobewohner mager und oftmals zu gering, dies führte des Öfteren zu Streiks der Arbeiter. Dieses Verhalten konnte und wollte Rumkowski nicht dulden und er bestrafte alle Streikenden, indem er die sowieso mageren Essensrationen noch einmal kürzte, bis sie ihre Arbeit wiederaufnahmen. Er spielte seine Macht auch gegen die einzelnen Fabriken aus; so kam es zu einem Streik in der Möbelwerkstatt. Um die Gefahr zu minimieren, dass andere Betrieben ebenfalls streiken würden, vergab er höhere Rationen an alle Betriebe außer den Möbelwerkstätten, um Letztere so in die Knie zu zwingen. 179 Eine weitere Initiative Rumkowskis, um die Arbeitsleistung zu fördern und gleichzeitig seine Härte und seine strategische Herangehensweise an seine Arbeit zu zeigen, war die Errichtung eigener Kräftigungsküchen nur für die arbeitenden Bewohner des Ghettos. Sie wurden dort abgeschieden von ihren Frauen, Kindern oder etwaigen anderen Verwandten mit Lebensmitteln versorgt, die sie für die körperlich schwere Arbeit stärken sollten. Rumkowski sorgte mit eigenem Wachpersonal dafür, dass niemand Lebensmittel aus den Küchen schmuggeln konnte. Die Bitte, Lebensmittel für erkrankte Ehemänner mit nach Hause nehmen zu dürfen, lehnte er rigoros ab. Er musste streng sein, damit die Ordnung bestehen blieb und es nicht zu täglichen Ausnahmen kam. 180

175 Vgl. Cesarani, Endlösung, S. 341 ff. 176 Vgl. Loewy/Schoenberner, Unser einziger Weg ist Arbeit, S. 25. 177 Vgl. Horwitz, Ghettostadt, S. 199. 178 Vgl. Tushnet, Pavement of Hell, S. 22 ff. 179 Vgl. ebd., S. 27. 180 Vgl. Horwitz, Ghettostadt, S. 253 ff.

55 Eine Form von Widerstand, die es im Lodzer Ghetto kaum gab, war der Schmuggel von Lebensmitteln oder anderen Gütern. Zum einen wurde dies dadurch verhindert, dass alle Arbeiter in Fabriken und Werkstätten innerhalb der Ghettomauern arbeiteten und somit der Kontakt zur Außenwelt massiv eingeschränkt war, und zum anderen, weil Rumkowski vehement gegen die Schmuggelei vorging. In seinem Ghetto wollte er die Preise für Waren bestimmen und er war besorgt darüber, dass illegaler Schmuggel die Preise in die Höhe treiben könnte und er nicht mehr die Kontrolle innehatte. Ebenso dienlich dafür war das Einführen der ghettointernen Währung, die von den Bewohnern auch liebevoll „Rumki“ genannt wurde. Die Zahlscheine waren nämlich außerhalb des Ghettos absolut wertlos; ohne Bezahlung ging kaum jemand das Risiko des Schmuggelns ein. Die Tatsache, dass Rumkowskis Emblem und seine Unterschrift die wertlose Währung des Ghettos zierten, zeigt seine narzisstische und machtbesessene Veranlagung.181

Rumkowski war in vielen Belangen streng, kalt und diktatorisch, doch etwas war ihm immer ein großes Anliegen: das Wohlergehen der Kinder und besonders der Waisenkinder, die ihm schon vor dem Krieg am Herzen lagen. Er versuchte, so lange es irgendwie möglich war, die Schulen für alle Kinder offenzuhalten und ihnen sowohl Bildung als auch eine kostenlose Mahlzeit pro Tag zu servieren. Es gab, dank ihm, im Ghetto nicht weniger als 35 Volksschulen, eine Sonderschule und zwei Religionsschulen. Die Kinder sollten sowohl Jiddisch als auch Hebräisch lernen und die religiöse Kultur und Geschichte ihres Volkes vermittelt bekommen. Neben den Schulen organisierte er auch Sommercamps für Kinder. 182 Die scheinbar aussichtslose Situation, in der sich Rumkowski befand, wurde zu einem noch größeren Dilemma, als die Deutschen ihm seine letzte große Aufgabe übertrugen: Menschen, Ghettobewohner, für die Deportation zu selektieren. Als im Herbst 1941 die Errichtung des Vernichtungslagers in Chelmno abgeschlossen war, erhielt Rumkowski den Auftrag, 20.000 Juden zur Umsiedlung auszusuchen. 183 Er wurde regelrecht vor vollendete Tatsachen gestellt mit dem Hinweis: Wenn er die Deportationsliste nicht selbst erstelle, würde die Gestapo diese Aufgabe mit voller Gewalt für ihn übernehmen. In seiner Rede vom 21. Dezember 1941 sagte er:

„If I don’t do it, someone else will … In accordance with the authority vested in me as part of

181 Vgl. Tushnet, Pavement of Hell, S. 29; vgl. Unger, Reassessment of the Image of Mordechai Chaim Rumkowski, S. 28. 182 Vgl. Cesarani, Endlösung, S. 404 ff. 183 Vgl. Loewy/Schoenberner, Unser einziger Weg ist Arbeit, S. 29.

56 the ghetto autonomy, I have been given the right to choose the candidates for deportation... “184

In Verhandlungen mit den Deutschen konnte Rumkowski die geforderte Zahl an Personen von 20.000 auf 10.000 herunterhandeln – rückblickend ein minimaler Sieg für Rumkowski und die jüdische Bevölkerung im Ghetto. 185 Die ersten von den insgesamt drei ersten Deportationswellen betroffenen Personen waren die 5.000 österreichischen Zigeuner, die sich erst seit einigen Wochen im Lodzer Ghetto befanden.186 Des Weiteren wählte Rumkowski Personen und ihre Angehörigen aus, die bereits für etwaige Vergehen eine Strafe erwartete; Personen, die in den Außenlagern zur Zwangsarbeit eingeteilt waren, Prostituierte und alle jene, die nicht in Rumkowskis Idealbild passten. Um die Quote von 10.000 zu erreichen, wählte er auch rund 2.000 Kinder zwischen sieben und elf Jahren aus. Die Zusammensetzung der weiteren Deportationslisten sah ähnlich aus wie die erste. Rumkowski versuchte jene Menschen auszuwählen, die sich im Ghetto nicht mehr produktiv zeigten, die Alten und Kranken, Kriminelle, die gegen seine Gesetze verstoßen hatten, und Kinder, die noch nicht zur Arbeit eingesetzt werden konnten. 187 Ob Rumkowski zu dieser Zeit wusste, worum es sich bei den Umsiedlungsaktionen handelte, ist ungewiss. Die Gestapo ging mit ihren Informationen über die „Endlösung der Judenfrage“ sehr vorsichtig um und größte Geheimhaltung war geboten.

Es ist davon auszugehen, dass auch Rumkowski von den deutschen Machthabern keine detaillierten Informationen über die Zukunft der deportierten Juden erhielt. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Ghettobewohner ruhig zu halten und keine Panik entstehen zu lassen. 188 Dank seinem autoritären Auftreten und der Versicherung, die Ausgewählten würden nur für landwirtschaftliche Arbeiten umgesiedelt werden, verliefen die Deportationen reibungslos, ohne Widerstand und Aufstände wie zum Beispiel im Warschauer Ghetto. 189 Den traurigen Höhepunkt erreichten die Deportationen im Februar 1942, als Rumkowski von den Deutschen befohlen wurde, alle Kinder unter zehn Jahren und alle Erwachsenen, die älter

184 Zitat: Unger, Reassessment of the Image of Mordechai Chaim Rumkowski, S. 39 ff. 185 Vgl. Tushnet, Pavement of Hell, S. 45. 186 Vgl. Unger, Reassessment of the Image of Mordechai Chaim Rumkowski, S. 40. 187 Vgl. Kiesel, Wer zum Leben, wer zum Tod, S. 68 ff. 188 Vgl. Loewy/Schoenberner, Unser einziger Weg ist Arbeit, S. 29. 189 Vgl. Tushnet, Pavement of Hell, S. 48.

57 als 65 Jahre waren, aus dem Ghetto umzusiedeln. Die geforderte Zahl lag bei 20.000 Personen. In einer sehr emotionalen Rede trat Rumkowski vor „seine Juden“ und übermittelte ihnen die grauenvolle Nachricht. Vor allem das Leben der Kinder war für ihn immer besonders schützenswert gewesen; sehr viel Zeit in seinem erwachsenen Leben widmete sich Rumkowski Kindern und nun musste er sie in den sicheren Tod schicken. 190 Zu diesem Zeitpunkt waren sich die Bewohner des Ghettos sicher: Jene, die einmal mit der Bahn in Richtung Osten fahren, kommen nie wieder zurück und fahren in den Tod. Überlieferungen, dass die Deportierten, noch bevor sie in den Zug stiegen, ihres mitgenommenen Gepäcks entledigt wurden und man ab April 1942 gar kein Gepäck mehr mitführen durfte, bestätigten die Vermutungen. 191 Unter diesen Voraussetzungen fiel es Rumkowski sichtlich schwer, vor die Menschen zu treten und zu ihnen zu sprechen. In einer offenen und ehrlichen Rede trat er vor die Eltern, um ihnen in ihrem Schmerz beizustehen. Ebenso versuchte er jedoch, ein bisschen Verständnis zu erhalten und den Menschen seine weiteren Pläne für die Zukunft des Ghettos mitzuteilen. 192

„I stand before you a broken-down Jew. Don’t envy me. This is the worst task I’ve ever undertaken. I stretch out my weak, trembling hands to you, and I plead – give me those victims to forestall their demand for more victims, to save a hundred thousand Jews … That’s what they told me – give up the victims yourselves and all will be peaceful once more. […] I appeal to your understanding and common sense. I’ve done everything and I’ll do everything to prevent guns from being used in the ghetto and to keep blood from being spilled. “193

Nach dem Grauen, den der September 1942 über das Ghetto gebracht hatte, konzentrierte sich Rumkowski im folgenden Jahr weiter darauf, die Produktivität des Ghettos zu erhalten – in der Hoffnung, der Übergang zum reinen Arbeitsghetto würde das Überleben der Bewohner sichern. Die Ghettobewohner unterstützten nun immer mehr Rumkowskis Leitsatz „Unser einziger Weg ist Arbeit“, denn es kursierten Gerüchte, Lodz sei das letzte verbliebene Ghetto in Polen. Rumkowski spielte auf Zeit. Die Nachrichten, die über geheime Radios ins Ghetto kamen, betreffend die Niederlage der Deutschen in Stalingrad, gaben Grund zur Hoffnung. 194 Rumkowski machte sich mit einigen Entscheidungen, die er traf, nicht gerade beliebt beim deutschen Ghettoleiter Biebow. Nach der Deportation der Kinder im September 1942 beließ

190 Vgl. Horwitz, Ghettostadt, S. 210. 191 Vgl. Kiesel, Wer zum Leben, wer zum Tod, S. 69. 192 Vgl. Horwitz, Ghettostadt, S. 210 ff. 193 Zitat: Tushnet, Pavement of Hell, S. 55. 194 Vgl. Horwitz, Ghettostadt, S. 234 ff.; vgl. Unger, Reassessment of the Image of Mordechai Chaim Rumkowski, S. 49.

58 Rumkowski deren Namen auf den Lebensmittellisten und bekam somit 3.000 Portionen mehr, als Ghettobewohner vorhanden waren. Die Rationen der 3.000 „Engel“ teilte er sich mit Biebow. Ein deutscher Offizier, der auf diesen Betrug aufmerksam wurde, gab die Information an die Gestapo weiter und Rumkowski wurde verhaftet. Im Verhör erteilte er viele Auskünfte über einige geheime Abkommen, die er mit Biebow getroffen hatte. Diese Enthüllungen erzürnten wiederum Biebow und er ließ seinen Unmut brutal an Rumkowski aus. Diese Ereignisse hatten prägende Auswirkungen auf die zukünftige Zusammenarbeit zwischen Biebow und Rumkowski. 195 Da die Produktion trotz höherer Zahl der Arbeiter immer weiter abnahm, musste Biebow handeln. Er schrieb einen Bericht, in dem er festhielt, zum einen leide die Warenproduktion an der Unterernährung der Arbeiter, zum anderen darunter, dass Rumkowski seine Macht ausnütze und die Produktion selbst sabotiere. Rumkowski setzte an immer mehr Arbeitsplätze Kinder, die nicht die Leistung und Produktivität von Erwachsenen erreichten. In einigen Fabriken würden sogar nur noch Kinder arbeiten. Diese Widersetzlichkeit gegen seine Ziele konnte sich Biebow nicht gefallen lassen und er entzog Rumkowski seine Rechte und Ämter. Quellen zufolge wollte Biebow Rumkowski auch als Judenältesten absetzen und durch David Gertler ersetzen, doch aus nicht bekannten Gründen geschah dies nicht. Rumkowski blieb Judenältester bis zur völligen Liquidierung, jedoch verlor er bis dahin fast seine komplette Macht und Autorität im Ghetto. 196

Ende 1943 lebten noch 79.648 Juden im Ghetto, von denen 85% für die deutsche Rüstungsindustrie arbeiteten. Mit dem beginnenden Jahr 1944 setzten auch wieder Deportationen von Juden ein. Rumkowski versuchte Menschen zu finden, die sich freiwillig zur Deportation meldeten; die Versuche reichten von Versicherungen, dass die Deportation nicht den unausweichlichen Tod bedeute, bis hin zur plumpen Bestechung mit Brot. Ebenso schürte er in der schon traumatischen Situation noch die Angst vor der russischen Armee, die bald in Lodz eintreffen könnte. Er lockte die Bewohner damit, doch lieber das Ghetto zu verlassen, da die Sowjets bestimmt nicht milde mit den Juden umgehen würden, hatten sie doch die deutsche Kriegswirtschaft all die Jahre über unterstützt. Im Frühling 1944 wurde das Ghetto in seiner Fläche halbiert und der gesamte Rat geschlossen, ausgenommen Rumkowskis Büro. Es wurden weitere Deportationen durchgeführt, denen die Juden durch Verstecken ausweichen wollten; dies führte allerdings nur zu vermehrten Polizeieinsätzen bei

195 Vgl. Friedman, Roads to Extinction, S. 347. 196 Vgl. Unger, Reassessment of the Image of Mordechai Chaim Rumkowski, S. 49 ff.

59 den Deportationen. Als es zu immer mehr Demonstrationen und Streiks kam, stellte sich Rumkowski vor die Massen und fragte sie, gegen wen sie protestieren würden. Er sei auch nur ein Diener der Autorität und müsse den Kopf neigen und gehorsam sein. Doch die Juden hörten nicht mehr auf, genauso, wie die Deutschen ihn nicht mehr ernst nahmen. Er war nur noch ein alter Mann, eine Repräsentationsfigur der gescheiterten jüdischen Selbstverwaltung. 197

Im August 1944 erging der endgültige Befehl zur Liquidierung des Ghettos; vom 2. bis zum 30. August wurden über 60.000 Juden deportiert. Da die Tötungsanlagen in Kulmhof nicht für eine so große Zahl an Menschen ausgelegt waren, wurden die Juden von Lodz nach Auschwitz deportiert. Rumkowski und seine Familie bestiegen einen der letzten Züge ins Vernichtungslager. 198

4.2 Adam Czerniakow

„Sie verlangen von mir, mit eigenen Händen die Kinder meines Volkes umzubringen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als zu sterben. “199

4.2.1 Werdegang – Sein Leben, bis er Judenältester wurde

Adam Czerniakow wurde am 30. November 1880 in Warschau geboren. Seine Eltern waren gutbürgerliche assimilierte Juden, die ihrem Sohn eine moderne Schulbildung ermöglichten. 200 Er beendete sein Studium des Chemieingenieurswesens an der Technischen Hochschule von Warschau 1908. Danach studierte er Wirtschaftsingenieurwesen in Dresden. Während seiner Zeit in Deutschland erlernte Czerniakow nicht nur die deutsche Sprache, sondern machte sich auch mit der deutschen Kultur vertraut. Somit sprach er neben Polnisch, seiner Muttersprache, auch Deutsch fließend. Nach seiner Universitätsausbildung unterrichtete er in der jüdischen

197 Vgl. Tushnet, Pavement of Hell, S. 57 ff. 198 Vgl. Loewy/Schoenberner, Unser einziger Weg ist Arbeit, S. 31; vgl. Unger, Reassessment of the Image of Mordechai Chaim Rumkowski, S. 5. 199 Zitat: Czerniakow, Tagebuch, S. 285. 200 Tushnet, Pavement of Hell, S. 77.

60 Berufsschule in Warschau. 201 Adam Czerniakow heiratete Felicja Zwayer; zusammen hatten sie einen Sohn, Jan. Seine Ehefrau, genannt Niunia, studierte Pädagogik und machte ihren Doktor in Philosophie. Genauso wie ihr Mann Adam war sie in der schulischen Erziehung tätig, sie war sogar Teilbesitzerin einer eigenen Mittelschule. 202

Während seiner Ausbildung blieb Czerniakow politisch unauffällig, erst mit Beginn des Ersten Weltkrieges trat er im öffentlichen jüdischen Leben in Erscheinung. Ab 1914 war er aktiv in der Zentrale für jüdische Handwerker in Polen tätig, in der er bis zum Obmann aufstieg. 1921 wurde er vom American Jewish Joint Distribution Committee (Joint), der amerikanischen Hilfsorganisation für jüdische Glaubensgenossen, eingeladen, eine leitende Position einzunehmen. Seine Abteilung kümmerte sich um den Wiederaufbau von jüdischen Wohnhäusern, die im Krieg zerstört worden waren. Während dieser Tätigkeit blieb Czerniakow stets aktiv in der Handwerker Union tätig. Sein großes Anliegen war es, der polnischen Regierung zu zeigen, dass die jüdischen Handwerker nicht nur Juden, sondern auch patriotische Polen waren. 203 Czerniakow stand ganz im Zeichen der Assimilierung, er war davon überzeugt, dass die Juden in Polen genauso wie die Christen vollwertige polnische Staatsbürger waren und die gleichen Rechte, aber auch Pflichten haben und sie erfüllen sollten. Das Thema Assimilation war heiß diskutiert, denn die polnische Regierung war nicht bereit, die Juden als Bürger erster Klasse wahrzunehmen. Sie gab nämlich die Schuld an der Wirtschaftskrise den jüdischen Bürgern. Somit war der Weg zu diskriminierenden Gesetzen gegen Juden geebnet. Es wurde ein Numerus clausus an polnischen Universitäten eingeführt, der die Zahl der jüdischen Studierenden beschränken sollte. 1927 wurden Gesetze erlassen, die dafür sorgten, dass jüdische Handwerker komplizierte Prüfungen bestehen mussten, um ihre Lizenz zu erhalten. Obendrein durften sie erst mit 30 Jahren zu arbeiten beginnen. Czerniakow versuchte, um die Autorität bei den jüdischen Handwerkern nicht zu verlieren, diese Gesetze zu verhindern. Seine Kampagnen gegen diese Einschränkungen machten ihn allerdings bei den assimilierten Juden unbeliebt. Sein Zugang zum Judentum war unklar und für viele wirkte es verschwommen. 204

201 Vgl. Biografie Adam Czerniakow, https://www.jewishvirtuallibrary.org/adam-czerniakow (aufgerufen 4.10.2018). 202 Vgl. Walter/Pridmore, The suicide of Adam Czerniakow, S. 514. 203 Vgl. Tushnet, Pavement of Hell, S. 78. 204 Vgl. ebd., S. 79 ff.

61 Einen weiteren Schritt seiner politischen Karriere markierte das Jahr 1927. Czerniakow vertrat die Interessen der jüdischen Handwerker im Warschauer Stadtrat. Bis 1934 setzte er sich für die jüdischen Handwerker ein und kämpfte gegen das diskriminierende Verhalten der Regierung gegenüber der jüdischen Bevölkerung. 1931 wurde Czerniakow in den Senat gewählt, jedoch konnte er diese Tätigkeit nie ausüben, da das gesamte Parlament und die Nationalversammlung von der diktatorischen Pilsudski-Regierung aufgelöst wurden. 205

Noch vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs übernahm Czerniakow eine weitere einflussreiche Position in der jüdischen Stadtpolitik Warschaus. Ab 1936 war er Vizeobmann des neuen Vorstands der Warschauer Jüdischen Gemeinde . Dort widmete er sich weiterhin besonders den Interessen der jüdischen Handwerker und trat für eine verbesserte Fachausbildung der jüdischen Jugend ein. Trotz seiner vielen Tätigkeiten in der Warschauer Stadtpolitik blieb Adam Czerniakow im jüdischen Sektor relativ unbekannt. 206 Als der Obmann Maurycy Mayzel aus Warschau flüchtete, wurde Czerniakow automatisch der neue Obmann des Vorstandes. 207

Zu Czerniakows charakterlichen Eigenschaften finden sich kaum Quellen und Beschreibungen. Sein Hauptmerkmal war, dass er zum assimilierten Judentum gehörte; allein diesen Umstand sahen viele Juden in Warschau kritisch und negativ. Ansonsten wird Czerniakow als sehr ruhige und zurückhaltende Person beschrieben, der es schon vor dem Krieg schwerfiel, sich anderen Menschen zu öffnen. Er war oft in seine eigenen Gedanken versunken und es fiel ihm nicht leicht, seine Gedanken anderen Menschen mitzuteilen. 208

4.2.2 Judenrat – Sein Verhalten als Judenältester

Am 23. September 1939 schrieb Adam Czerniakow in sein Tagebuch:

„Ich bin von Präs[ident] Starzynski zum Vorsitzenden der Jüdischen Kult[us]-Gemeinde ernannt worden. Eine historische Rolle im belagerten Warschau. Ich werde mich bemühen, ihr gerecht zu werden. “209

205 Vgl. http://www.holocaustresearchproject.org/ghettos/acdiary.html (aufgerufen am 5.10.2018). 206 Vgl. Czerniakow, Tagebuch, S. XI-XII. 207 Vgl. Tushnet, Pavement of Hell, S. 80. 208 Vgl. Czerniakow, Tagebuch, S. XIII. 209 Zitat: ebd., S. 4.

62 Beim Angriff der Deutschen auf Warschau in den ersten Septembertagen schloss sich Czerniakow dem neugebildeten Jüdischen Bürgerkomitee an. Dieses Komitee machte es sich zur Aufgabe, sich um die jüdische Bevölkerung im Angesicht der feindlichen Bombardierung zu kümmern. Es wurde versucht, Lebensmittel zu verteilen, Unterkünfte für plötzlich Obdachlose zu organisieren und ein Notfallkrankenhaus einzurichten. In dieser Übergangsorganisation der Juden befand sich Czerniakow nicht in einer leitenden Position. Er wartete auf die offizielle Nominierung durch den Stadtpräsidenten Starzynski. Sein Wissen über die deutsche Gesellschaft und ihren Hang zu Recht und Ordnung ließ ihn vermuten, die Deutschen würden auf die Vorkriegsgemeindevertretung zurückgreifen und deshalb ihm den Posten des Ratsvorsitzenden geben. 210 Seine Hoffnung, die Deutschen würden ihren bürokratischen Pflichten ordnungsgemäß nachgehen, wurde schnell zerstört. Als die Gestapo erfuhr, dass der Vorstand der jüdischen Gemeindevertretung, Maurycy Mayzel, die Stadt bereits verlassen hatte, wurde Czerniakow als sein Stellvertreter ins Büro der Gestapo beordert. Dort wurde er zwei Tage gefangen gehalten, misshandelt und über die wichtigsten Umstände der reichen Juden in Warschau ausgefragt, bevor man ihn am 23. September zum Vorsitzenden des Judenrates ernannte. Somit war seine Laufbahn als Judenältester bereits vor seinem ersten offiziellen Arbeitstag geprägt von deutscher Gewalt und dem Wissen, nur da zu sein, um Befehle auszuführen. Alle Macht, die Czerniakow hatte, war abhängig vom Wohlwollen und der Zustimmung der Deutschen. 211 Nach seiner Ernennung musste er nun einen Judenrat bilden. Er wählte dafür 24 angesehene Vertreter aus unterschiedlichsten Bereichen der jüdischen Gemeinde und der Wohlfahrtsarbeit aus. Zum Bedauern Czerniakows verließen einige der von ihm ausgewählten Männer in den nächsten Wochen und Monaten Warschau. Die Nachnominierung neuer Mitglieder wurde deshalb deutlich schwerer und er musste auf unbekannte Männer zurückgreifen, was zur Folge hatte, dass der gesamte Judenrat in den Augen der jüdischen Bevölkerung an Autorität verlor. 212 Es waren mehrheitlich assimilierte Juden im Judenrat vertreten, die kaum bis gar nicht Jiddisch sprachen. Dadurch fühlte sich die Masse der orthodoxen Juden in Warschau nicht ausreichend repräsentiert und es fiel ihnen sehr schwer, Vertrauen zum neuen Judenrat aufzubauen. Die Männer, die Czerniakow auswählte, kamen überwiegend, so wie er, aus Wirtschaftsverbänden und aus

210 Vgl. Tushnet, Pavement of Hell, S. 81. 211 Vgl. Trunk, Judenrat, S. 22 ff. 212 Vgl. Cesarani, Endlösung, S. 335.

63 dem Finanzwesen. 213 Diese assimilierten sowie zum Christentum konvertierten Juden wurden von Czerniakow bevorzugt behandelt. Sie wurden nicht nur vermehrt in Czerniakows Judenrat als Mitglieder aufgenommen, sondern auch bei der Lebensmittelverteilung vorgereiht und bekamen die besseren Unterkünfte zugeteilt. 214 Diese unfaire Behandlung war ein stetiger Kritikpunk an Czerniakows Führungsstil. Kritiker wie der polnische Pädagoge Chaim Kaplan, der ein Tagebuch im Warschauer Ghetto führte, äußerten immer wieder ihren Unmut. 215 So beklagte sich Kaplan über Czerniakow und die Auswahl seiner Judenratsmitglieder wie folgt:

„Die meisten von ihnen sind geistige Nullen, die in normalen Zeiten niemand kannte. Sie sind niemals gewählt worden und hätten nicht davon zu träumen gewagt, dass man sie als jüdische Repräsentanten wählen würde... “216

Die erste Aufgabe, die die deutschen Machthaber Czerniakow übertrugen, war eine großangelegte „Judenzählung“. Hier zeigte sich bereits die Macht, die die Deutschen hatten. Sie nannten Czerniakow keine Gründe für diese Zählung, allerdings eine klare Deadline. Immer mehr Menschen hinterfragten Sinn und Zweck dieser Zählung; Czerniakow blieb nichts anderes übrig, als den Fragenden aus dem Weg zu gehen. Gerüchte und Spekulationen wurden daraufhin laut, dass diese Zählung sicher nicht zum Wohl der Juden erfolge. 217

Auch die endgültige Errichtung des Ghettos war geprägt von Chaos und Verwirrung. Bis November 1940 gab es ein ständiges Hin und Her; Czerniakow wurde mit immer neuen Informationen abgespeist. Es wurde im Sommer schon an der Absperrung eines jüdischen Wohnbezirks gearbeitet, doch dann erhielt Czerniakow die Mitteilung, der Krieg sei demnächst vorbei und die Juden würden bald nach Madagaskar umsiedeln müssen. 14 Tage später kam die Nachricht an Czerniakow, die Deutschen hätten die Ghettoidee zur Gänze fallengelassen. Diese Verwirrung spiegelte sich auch in seinen Tagebucheinträgen wider. So notierte er noch im September: „Ein Ghetto außerhalb von Warschau ist nicht aktuell“. Somit kam die Anweisung der unverzüglichen Umsiedelung aller Juden in den jüdischen Wohnbezirk bis zum Ende des Monats für Czerniakow sehr überraschend und wirkte

213 Vgl. Roth/Löw, Das Warschauer Getto, S. 20. 214 Vgl. Tushnet, Pavement of Hell, S. 104. 215 Vgl. https://www.jewishvirtuallibrary.org/kaplan-chaim-aron (aufgerufen am 9.10.2018). 216 Zitat: Cesarani, Endlösung, S. 416. 217 Vgl. Tushnet, Pavement of Hell, S. 24.

64 stressend. Er musste innerhalb vier Wochen 138.000 Juden aus ihren alten Wohnungen bekommen und ihnen neue zuweisen. Dieses Chaos mussten auch die Deutschen erkennen und sie räumten Czerniakow eine Umzugsfrist von zwei Wochen ein. Am 16. November 1940 wurde das Ghetto in Warschau abgeriegelt. 218

Der Warschauer Judenrat unter der Leitung Czerniakows scheute sich nicht, den deutschen Behörden seine Beschwerden mitzuteilen. So verfasste Czerniakow in den ersten drei Wochen nach Abriegelung des Ghettos bereits unzählige Petitionen, die auf 40 verschiedene Probleme im Ghetto hinwiesen. Vor allem die mageren Essensrationen waren ein Anliegen Czerniakows. So beschrieb er detailliert die katastrophale Nahrungsmittelversorgung im Ghetto und warnte, wenn sich nichts ändern würde, würde die Mehrheit der Juden verhungern. Diese, so wie fast alle eingereichten Gesuche, blieben erfolglos. 219 Czerniakow musste sich den harten Lebensbedingungen im Ghetto hingeben und es blieb ihm keine andere Wahl, als sich auf das Ausführen von Befehlen zu konzentrieren. Indem er allen von den Deutschen getroffenen Anordnungen penibel Folge leistete, erhoffte er sich eine Besserung der Situation. Czerniakow sah sich, anders als Rumkowski, nicht als König oder Diktator im Ghetto. Er versuchte den Juden im Ghetto im Rahmen seiner Möglichkeiten zu helfen und war nicht stolz auf den Titel, den er trug. Seine Politik im Ghetto verfolgte er mehr von einem Wirtschaftsstandpunkt aus. Er sah sich als leitender Angestellter im Ghetto und agierte dort wie in einer Firma. Die katastrophalen Bedingungen, etwa willkürliche Misshandlungen und Gefängnisstrafen, wirkten sich negativ auf die Produktivität und den reibungslosen Ablauf im Ghetto aus. Czerniakow versuchte dagegen vorzugehen. 220

Czerniakow war für die verantwortungsvolle Aufgabe des Judenältesten nicht die beste Wahl. Er konnte gegen die Korruption und die Zunahme illegaler Machenschaften nichts ausrichten. Der Ordnungsdienst (OD), den Czerniakow auf Geheiß der Deutschen gründen musste, hatte bald zu viel Macht und Einfluss auf das gesamte Ghettogeschehen. Er übergab die Führung und die Kontrolle des OD dem zum Katholizismus konvertierten Josef Andrej Szerynski. Der Ordnungsdienst zog viele Männer an, die Arbeit suchten, und wuchs bis zum Juni 1942 auf 2.500 Männer an. Die Hauptaufgabe war die Kontrolle der Arbeitskolonnen auf ihrem Weg hin und retour zu den Arbeitslagern, sowie Streifgänge durchs Ghetto, auf denen sie für

218 Vgl. Cesarani, Endlösung, S. 410 ff. 219 Vgl. Trunk, Judenrat, S. 391. 220 Vgl. Tushnet, Pavement of Hell, S. 98 ff.

65 Ordnung und Sauberkeit zu sorgen hatten. Eine Abordnung betrieb ein ghettointernes Gefängnis. Da die OD-Männer die Ghettotore bewachten und für ihre Arbeit nicht finanziell entlohnt wurden, war es offensichtlich, dass sie sich aktiv am Schmuggel beteiligten, den sie eigentlich verhindern sollten. Doch Czerniakow tat nichts dagegen und ließ den OD walten, wie er wollte. 221 Noch eingeschüchterter und in seiner Autorität geschwächt wurde Czerniakow, als sich im Herbst 1940 eine zusätzliche Dienststelle bildete, die im Ghetto nur „Die Dreizehn“ genannt wurde. Offiziell war es die Überwachungsstelle zur Bekämpfung des Schmuggels , de facto waren die 300 bis 400 Männer Informanten, die direkt mit der deutschen Sicherheitspolizei zusammenarbeiteten. An ihrer Spitze stand Abraham Gancwajch, ein Zionist und Hebräischlehrer, der auf einen Sieg der Deutschen hoffte, gleichzeitig aber an eine jüdische Zukunft in Übersee glaubte. Deshalb wollte er sich gut mit den deutschen Machthabern stellen und verfolgte den Plan, eines Tages Czerniakows Posten zu erhalten. Er versuchte den Einfluss des Judenrates zu minimieren, indem er mit den Bestechungsgeldern und den Erlösen aus dem Schmuggel Fürsorgeeinrichtungen aufbaute und Kulturaktivitäten förderte. Gancwajch versuchte mit allen Fähigkeiten, an denen es Czerniakow mangelte, aufzutrumpfen. Er wollte sich als starker Mann mit Führungskompetenz darstellen. Czerniakow ging auf diese Machtspiele allerdings nicht ein und konnte auf den Rückhalt des Ghettokommissars Auerswald hoffen. Gemeinsam mit ihm wurden die Dreizehn offiziell im August 1941 aufgelöst. 222 Ein weiterer Unterschied der Führungsstile von Czerniakow und Rumkowski war ihr Umgang mit dem Schmuggel. Rumkowski äußerte sich sehr kritisch gegen das Schmuggeln und versuchte es in jeglicher Form zu unterbinden. Czerniakow stand der Angelegenheit nicht ganz so kritisch gegenüber. Nachdem das Ghetto abgeriegelt worden war und sich seine Befürchtung, dass die Lebensmittelpreise in die Höhe schnellen würden, bewahrheitet hatte, wurde Schmuggel fast zu einem eigenen Wirtschaftszweig im Warschauer Ghetto. Czerniakow verurteilte die Schmuggler nicht so rigoros, da er wusste, dass ihre Arbeit gegen den Hunger der Menschen ankämpfte. Allein mit den Rationen, ausgehändigt von den Deutschen, würde die Ghettobevölkerung verhungern. Er bestrafte jene Menschen nicht persönlich, die der Schmuggelei beschuldigt wurden, sondern überließ diese Aufgabe der Gestapo. 223 In vielen Fällen teilte er den deutschen Behörden gar nicht mit, wenn ein

221 Vgl. Cesarani, Endlösung, S. 417 ff. 222 Vgl. Roth/Löw, Warschauer Getto, S. 50 ff. 223 Vgl. Tushnet, Pavement of Hell, S. 100 ff.

66 Schmuggler festgenommen wurde, und er verschonte so die Schuldigen. 224 Sein Plan war es, so viel wie möglich im Ghetto eigenhändig zu klären und die deutschen Machthaber so gut es ging aus den internen Ghettoangelegenheiten herauszuhalten. 225

Czerniakow war Vertreter eines gemäßigten Liberalismus; die persönliche und wirtschaftliche Freiheit jedes Einzelnen waren ihm sehr wichtig. 226 Denjenigen im Ghetto, die entweder mit Schmuggel reich wurden oder noch Geld aus Vorkriegszeiten hatten, ermöglichte Czerniakow, sich von der Zwangsarbeit freizukaufen und einen Stellvertreter für sich arbeiten zu lassen. 227

Andere Quellen sprechen mit Blick auf Czerniakows politischen Führungsstil eher von einer Laissez-faire-Einstellung. Er wählte oftmals den Weg des geringsten Widerstandes gegenüber der wohlhabenden Ghettobevölkerung, anstatt eine Steuererhöhung nur für die Reichen im Ghetto einzuführen. Um den Ärmsten zu helfen, verkündete er das Motto: „Wir sind alle gleich“. Jedoch erkennt man schnell, welche Personen bei dieser Einstellung definitiv benachteiligt wurden: die Ärmsten. Die Steuern waren für alle Ghettobewohner gleich hoch. Es gab unter anderem die monatliche Personalsteuer, Steuern auf Brot, zur Desinfektion des Ghettos, für die Müllabfuhr. Dazu kamen noch 49 weitere Steuern aus unterschiedlichen Anlässen. Adam Czerniakow und der Judenrat mussten Steuern eintreiben, denn nur so konnten soziale Einrichtungen wie das Krankenhaus erhalten werden. Allerdings lasteten die Steuern sehr schwer auf den Ärmsten der Armen im Ghetto. 228 Die Ärmsten würde Czerniakow ihrem ungewissen Schicksal überlassen. Die Lebensmittelpreise waren sowieso sehr hoch im Ghetto; jetzt kam des Öfteren hinzu, dass die Läden ihre Lebensmittel nur mehr gegen einen Aufpreis unter der Ladentheke verkauften. 229

Nicht nur die Armen äußerten Kritik, sondern auch viele Vertreter des öffentlichen Lebens, wie der Historiker Emanuel Ringelblum, verweigerten die Zusammenarbeit mit dem Judenrat und zogen sich vermehrt in den politischen Untergrund zurück. Diese Kritiker warfen Czerniakow vor, sich als Judenältester nicht behaupten zu können und sich von den

224 Vgl. Shoah Resource Center, Adam Czerniakow, S. 1. 225 Vgl. Biografie Adam Czerniakow, https://www.holocausthistoricalsociety.org.uk/contents/jewishbiographies.html (aufgerufen am 8.10.2018). 226 Vgl. Czerniakow, Tagebuch, S. XVIII. 227 Vgl. Cesarani, Endlösung, S. 417. 228 Vgl. Tushnet, Pavement of Hell, S. 101 ff. 229 Vgl. ebd. S.102.

67 einflussreichen und reichen Juden manipulieren und ausnutzen zu lassen. 230 Emanuel Ringelblum äußerte sich zu Czerniakow im April 1941 folgendermaßen:

„Der Judenrat hat das alte zaristische Motto übernommen: Still! Kein Widerspruch! Auf seinen Sitzungen ist keine Diskussion erlaubt, und schon gar keine Frage. “231

Czerniakow versuchte allerdings auch nicht die negativen Meinungen über ihn zu ändern oder sein Verhalten anzupassen. Es bestand eine Zweiklassengesellschaft, in der sogar an einem so grauenhaften Ort Menschen zu Reichtum gelangen konnten. Wer Geld hatte, konnte im Ghetto ein gutes Leben führen. So bemerkte Ringelblum, wie eine Reihe von Kaviarläden im Ghetto öffnete. Czerniakow verkehrte zwar nicht ausschließlich in diesen Delikatessengeschäften, er setzte sich aber für die Öffnung von Tabakläden ein. Des Weiteren machte er sich dadurch unbeliebt, dass er einen Hund hatte, der gefüttert werden musste, obwohl zur gleichen Zeit viele Kinder auf den Straßen des Ghettos verhungerten. 232 Die Lebensmittelversorgung sowie die medizinische Versorgung waren immer eine Hauptaufgabe in Czerniakows Tagesablauf. Die Lebensmittelrationen waren stets zu knapp und auch mit erhöhten Steuereinnahmen konnte das Problem nicht gelöst werden. Neben den zu niedrigen Rationen musste Czerniakow mit deren ungenügender Qualität umgehen. Die meisten Lebensmittel waren schon verschimmelt oder die Suppen mussten so weit verdünnt werden, dass sie kaum mehr Nährstoffe hatten. Sein zweites Sorgenkind war die medizinische Versorgung. Immer wieder vermerkte er in seinem Tagebuch, dass die meisten Gelder des Judenrats in die Krankenhäuser fließen. Doch die Zahl der Kranken stieg immer weiter an. 233

Die Untergrundpresse im Ghetto, aber auch Adam Czerniakow selbst erfuhren von beunruhigenden Gerüchten bezüglich Vertreibungen und gewaltsamen Umsiedelungsaktionen aus verschiedenen Gebieten. Ebenso bemerkte er gefährliche Vorzeichen im Verhalten der deutschen Machthaber. So notierte er in seinem Tagebuch am 19. Januar 1942, einen Tag vor der berüchtigten Wannseekonferenz, auf der die „Endlösung der Judenfrage“ besprochen wurde: 234

230 Vgl. Czerniakow, Tagebuch, S. XIX. 231 Zitat: Cesarani, Endlösung, S. 416. 232 Vgl. ebd., S. 427 ff.; vgl. Tushnet, Pavement of Hell, S. 108. 233 Vgl. Roth/Löw, Warschauer Getto, S. 104 ff. 234 Bethke, Auf Messers Schneide, S. 73.

68 „Mir kam zu Ohren, daß A[uerswald] nach Berlin gerufen wurde. Ständig hege ich Befürchtung, daß den Juden aus Warschau möglicherweise eine massenhafte Aussiedelung droht. “235

Mit großer Wahrscheinlichkeit stand Auerswalds Reise nach Berlin im Zusammenhang mit der dort stattfindenden Konferenz, an der er selbst jedoch nicht teilnahm. Immer mehr Informationen über Massaker an Juden und Massenvernichtungslager verbreiteten sich im Ghetto. 236 Adam Czerniakow hatte, obwohl er nie genaue Details zu anstehenden Deportationen erfuhr, ein gutes Gespür für die veränderte Situation und die Kleinigkeiten, die in ihm Unbehagen auslösten. Er machte sich dazu Notizen in seinem Tagebuch. Er erwähnte am 18. März Deportationen aus Lemberg und Lublin. Am 1. April notierte er die Deportationswelle, die 90% der Juden aus Lublin betraf. Auch die angeforderte Aufstellung über die Zahl der Personen im Ghetto und wo diese wohnhaft waren, machte keinen guten Eindruck auf ihn; er vermutete, dass dies auf eine kommende Umsiedelung hindeuten könnte. 237 Das Untergrundarchiv rund um Emanuel Ringelblum setzte nun alles daran, sämtliche Einzelheiten über den Massenmord in Erfahrung zu bringen und nach außen zu tragen. Berichte erreichten am 2. Juni Großbritannien. Ebenso wollte man die Ghettobevölkerung darüber aufklären. Diese Handlungen trugen maßgeblich zum Aufbau des bewaffneten Widerstands bei. Von nun an verging kein Tag ohne blutige Auseinandersetzungen mit den Deutschen. Die Gerüchte verdichteten sich. Czerniakow bat einige Male Auerswald um Aufklärung und genaue Antworten. 238 Er bekam sie weder vom Ghettokommissar noch von der Gestapo; alles, was ihm gesagt wurde, waren Beschwichtigungen und Lügen. So entgegneten ihm noch am 20. Juni 1942 sämtliche Gestapo-Männer, sie wüssten von nichts, oder dass alle Gerüchte, die im Ghetto kursierten, Quatsch und Unsinn seien. 239 Doch schon am nächsten Tag wurden einige Mitglieder des Judenrates verhaftet und als Geiseln genommen. Czerniakow bekam die Mitteilung, dass von nun an jeden Tag 6.000 Menschen zur Umsiedelung um 16 Uhr bereitstehen müssten. Der erste Transport sollte aus der Gesamtbevölkerung zusammengestellt werden; an den folgenden Tagen würde er genauere Informationen über die angeforderten Personen erhalten. Bis auf eine Ausnahme nach bestimmten Kategorien sollten alle Juden unabhängig von

235 Zitat: Czerniakow, Tagebuch, S. 219. 236 Bethke, Auf Messers Schneide, S. 72 ff. 237 Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, S. 350 ff. 238 Vgl. Roth/Löw, Warschauer Getto, S. 152 ff. 239 Vgl. Czerniakow, Tagebuch, S. 282.

69 Geschlecht und Alter in Richtung Osten deportiert werden. 240 Diese Anweisungen erhielten Czerniakow und ausgewählte Anwesende von Hermann Höfle, der schon die „Aktion Reinhardt“ in Lublin koordiniert hatte. Die Wichtigkeit seiner Befehle unterstrich Höfle gegenüber Czerniakow durch die Drohung, man würde seine Frau erschießen, wenn die Deportationen nicht ordnungsgemäß verlaufen würden. Die erste Deportation am 22. Juli 1942 ging reibungslos vonstatten. Viele Menschen meldeten sich freiwillig, da sie nicht an die Ermordung der Ausgesiedelten glaubten; insbesondere die Alten und Schwachen begaben sich an diesem Tag zum Umschlagplatz. 241 Mithilfe des jüdischen Ordnungsdienstes wurde die geforderte Zahl zusammengetrieben und in Züge verfrachtet. Die Hoffnungsvollen glaubten an eine Reise in den Osten, in Wahrheit waren sie auf dem Weg ins Vernichtungslager Treblinka. Czerniakow verbrachte den nächsten Tag in seinem Büro im Judenratsgebäude. Er erkundigte sich, wie lange die Umsiedelung dauern würde. Zur Antwort bekam er: die nächsten sieben Tage. 242 Vor allem um die Waisenkinder, die besonders schutzlos waren, machte er sich Gedanken, er vermerkte in seinem Tagebuch, dass er seine Bedenken betreffend die Kinder geäußert hatte und es sich vielleicht vermeiden ließe, sie zu deportieren. Die letzte Hoffnung zerbrach, als er tags darauf den Auftrag der Gestapo erhielt, für den folgenden Tag einen Kindertransport zusammenzustellen. Es war 15 Uhr, als Czerniakow den letzten offiziellen Eintrag in sein Tagebuch schrieb. Eine Stunde später ließ er sich von seiner Sekretärin ein Glas Wasser bringen, bedankte sich bei ihr und schickte sie für den Rest des Tages nach Hause. Als er kurz darauf nicht mehr sein Telefon abnahm, wurde er von einem Judenratsmitglied zusammengekauert in einem Sessel gefunden. Er nahm sich das Leben mit einer Zyankalitablette, die er immer in seinem Schreibtisch aufbewahrte. 243

„Damit ist mein bitterer Kelch bis zum Rand gefüllt, denn ich kann doch nicht wehrlose Kinder dem Tod ausliefern. Ich habe beschlossen abzutreten. Betrachtet dies nicht als einen Akt der Feigheit oder eine Flucht. “244

Dies sind die Worte, die Adam Czerniakow seinen Kollegen im Judenrat hinterließ. Man sieht, wie machtlos er war; er wusste, dass er weder die Kinder noch die Erwachsenen aus dem Ghetto retten konnte und er wollte nicht derjenige sein, der diese furchtbare Tat überwachen

240 Vgl. Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, S. 351. 241 Vgl. Roth/Löw, Warschauer Getto, S. 160. 242 Vgl. Tushnet, Pavement of Hell, S. 127. 243 Vgl. ebd., S. 127 ff.; Roth/Löw, Warschauer Getto, S. 161. 244 Zitat: Czerniakow, Tagebuch, S. 285.

70 und in gewisser Weise ausführen musste. Er nahm sich das Leben, um nicht das Blut von tausenden Unschuldigen an den Händen zu haben. 245

4.3 Benjamin Murmelstein

„Ich habe überlebt, weil ich ein Märchen erzählen sollte. Ich habe erzählen sollen das Märchen von dem Judenparadies Theresienstadt. “246

4.3.1 Werdegang – Sein Leben, bis er Judenältester wurde

Benjamin Murmelstein wurde am 9. Juni 1905 in Lemberg in Galizien geboren. Er wuchs in einer orthodoxen, zionistisch geprägten Familie auf. Sein Vater, Wolf, war ein Industrieller, der sein eigenes kaufmännisches Unternehmen gegründet hatte; seine Mutter Deborah war Hausfrau. 247 Er sprach Jiddisch, Ukrainisch und Polnisch fließend. Deutsch und Hebräisch wurden gelernt. Nach seinem Abschluss des Gymnasiums verließ er Lemberg, um nach Wien zu gehen. Dort widmete er sich ab 1923 dem Studium der Philosophie und der semitischen Sprachen. Neben diesen Studien besuchte Murmelstein die Israelitisch-Theologische Lehranstalt und schloss dieses Studium 1927 mit dem zweitbesten Zeugnis in der Geschichte der Lehranstalt ab. Ein Höhepunkt seiner Ausbildung war seine Dissertation „Adam. Ein Beitrag zur Messiaslehre“, die im selben Jahr erschien. 248 1930 begann Murmelstein an verschiedenen Wiener Mittelschulen als Religionslehrer zu arbeiten. Außerdem hielt er ab 1931 Vorträge an der Israelitisch-Theologischen Lehranstalt und wurde der Vereinsrabbiner der Synagoge Kluckygasse im Wiener Bezirk Brigittenau. Benjamin Murmelstein wurde in seiner Arbeit als Pädagoge als klug, charismatisch, engagiert und mutig beschrieben. Auch als Gemeinderabbiner wurde er als überaus engagiert und mitreißend beschrieben, obwohl damals schon sein barsches und verletzendes Verhalten kritisiert wurde.

245 Vgl. Walter/Pridmore, suicide of Adam Czerniakow, S. 516. 246 Zitat: Lanzmann, Der letzte der Ungerechten, S. 30. 247 Vgl. Hauff, Zur politischen Rolle, S. 23. 248 Vgl. Rabinovici, Benjamin Murmelstein, S. 41.

71 Weitere wichtige Ereignisse in Murmelsteins Leben waren die Hochzeit mit Margarete Geyer 1933 und die Geburt seines einzigen Sohnes Wolf 1936, der nach Murmelsteins Vater benannt wurde. Seinen Mut sieht man anhand einiger Publikationen, mit denen er ein klares Zeichen gegen den Antisemitismus setzte. Er veröffentlichte 1935 eine Streitschrift mit dem Titel Fragen an Prof. Dr. P. Severin Grill, der antisemitischen Mustern folgend fälschlich den Talmud zitiert hatte, um das Judentum zu diskreditieren. 249 Darüber hinaus arbeitete Murmelstein an einer historischen Darstellung der jüdischen Geschichte Wiens. Dieses umfassende Werk erschien noch im Frühjahr 1938. 250

Nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 wurde die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) in Wien am 18. März vorübergehend gesperrt und ihre Vorsitzenden kurzzeitig festgenommen – so auch Josef Löwenherz, der zufällig im gleichen Haus wie Benjamin Murmelstein lebte. Dieser erkundigte sich daraufhin bei Sophie Löwenherz, ob er für sie oder die Gemeinde etwas tun könne, da er immer noch sein Gehalt von der Gemeinde bekam, ohne bei ihr offiziell angestellt zu sein. Dieses ehrenvolle Verhalten imponierte Sophie Löwenherz und sie lobte Murmelsteins organisatorisches Können gegenüber ihrem Ehemann, als dieser wieder freigelassen wurde. Die Intervention durch Sophie Löwenherz kann als Startschuss der Zusammenarbeit Murmelsteins mit Löwenherz gelten. 251

Unter dem Namen Jüdische Gemeinde Wien wurde die IKG im Mai 1938 wiedereröffnet. SS- Untersturmführer Adolf Eichmann begann damit, die Kultusgemeinde umzustrukturieren und nach seinen Vorstellungen umzugestalten. Die neue jüdische Administration sollte zu einem Prototyp der späteren Judenräte werden. Eichmann setzte Josef Löwenherz erneut als Leiter der IKG ein und machte Benjamin Murmelstein zum Verantwortlichen für jüdische Auswanderung. Des Weiteren errichtete Eichmann eine eigene SS-Dienststelle, die sogenannte Zentralstelle für jüdische Auswanderung , die sich mit der jüdischen Auswanderung beschäftigen sollte. Diese Dienststelle war für Eichmann die ideale Verbindung zwischen der SS und der IKG. Er arbeitete eng mit Benjamin Murmelstein und der IKG zusammen; so konnte er die Kontrolle über die Kultusgemeinde erlangen und sie als

249 Vgl. Hauff, Zur politischen Rolle, S. 24 ff. 250 Vgl. Rabinovici, Benjamin Murmelstein, S. 41. 251 Vgl. Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 160 ff.

72 Instrument der Vertreibung missbrauchen. 252

In den Jahren 1936 bis 1941 versuchte Benjamin Murmelstein mehrere Male eine Anstellung irgendwo außerhalb des Deutschen Reiches zu bekommen, doch seine Bewerbungen wurden nie angenommen. Es scheint so, als wäre eine feste Anstellung eine Voraussetzung für seine Auswanderung gewesen. Da ihm nie eine berufliche Zusage erteilt wurde, blieb er in Wien. 253 Laut eigenen Aussagen im Interview mit Claude Lanzmann hatte Murmelstein mehrere Male die Gelegenheit gehabt, auszuwandern, doch er hatte das Gefühl, er müsse noch etwas in Wien erledigen. Bei jeder geglückten Auswanderung überkam ihn ein Gefühl der Genugtuung. 254

Doron Rabinovici beschreibt die Veränderung in Murmelsteins Leben sehr treffend mit „aus dem Gelehrten wurde ein Administrator, aus dem Intellektuellen ein Bürokrat; aus dem Gottesmann ein Manager im Elend “.255 Nach der Wiedereröffnung der IKG wurde Murmelstein aufgrund seiner stilistischen und organisatorischen Fähigkeiten immer wieder beauftragt, Appelle für die Gemeinde zu verfassen. Diese dienten zur Information der Gemeindemitglieder über die neuesten Veränderungen. Als Gegenleistung für seine Dienste wurde Murmelstein mit nur 33 Jahren Rabbiner der größten Wiener Synagoge in der Tempelgasse. 256 Murmelsteins Beziehung zu Adolf Eichmann begann im Sommer 1938. Er sollte für Eichmann einige Berichte über jüdische Religion und Geschichte sowie allgemein über Auswanderung und die jüdische „Wanderbewegung“ verfassen. 257

Murmelsteins erste große Aufgabe in der Auswanderungsabteilung der Kultusgemeinde war die Kolumbien-Aktion. Bei ihr sollten 450 Juden in einem Gruppentransport Wien verlassen. Hierbei konnte er sein Organisationstalent beweisen. Innerhalb von drei Tagen sollten die Auswanderer fertig sein. Murmelstein setzte alles daran, diese Frist einzuhalten. Wertgegenstände wurden verkauft, Wohnungen aufgelöst und Pässe organisiert. Die Enttäuschung war groß, als diese große Auswanderungsaktion aufgrund von fehlenden

252 Vgl. ebd., S. 82 ff.; vgl. Hauff, Zur politischen Rolle, S. 107 ff. 253 Vgl. ebd., S. 29; vgl. Rabinovici, Benjamin Murmelstein, S. 44. 254 Vgl. Lanzmann, Der letzte der Ungerechten, S. 54 ff. 255 Zitat: Rabinovici, Benjamin Murmelstein, S. 44. 256 Vgl. Hauff, Zur politischen Rolle, S. 99 ff. 257 Vgl. ebd., S. 28.

73 Einreise-Visa nicht abgeschlossen werden konnte. Kolumbien erließ nämlich am 1. Oktober 1938 ein neues Einwanderungsgesetz, das die Einreise von Juden aus Europa fast unmöglich machte. 258

Durch die aufopfernde Arbeit vieler Mitarbeiter und ehrenamtlicher Helfer konnten seit dem „Anschluss“ Österreichs bis Kriegsbeginn circa 100.000 österreichische Juden das Land verlassen. Mit Vorrang durften Kinder und Waisen ausreisen, in speziell für sie arrangierten Kindertransporten zum Beispiel nach Großbritannien. Viele Eltern dieser Kinder waren die Ersten, die in Konzentrationslagern interniert wurden. 259 Die Besprechungen für diese Kindertransporte wurden von Murmelstein geführt, er war als zuverlässiger Mitarbeiter immer wieder als Repräsentant der IKG Wien im Ausland unterwegs. Um diese Auslandsreisen zu ermöglichen, mussten mindestens zwei weitere IKG-Mitarbeiter mit ihren Unterschriften für seine Rückkehr bürgen. Diese Bedrohung und Erpressung, die von Adolf Eichmann ausgingen, erleichterten die Arbeit kaum und erinnerten die gesamte IKG Wien daran, dass sie vom Wohlwollen der Gestapo abhängig war und keine eigene Macht besaß. 260 Benjamin Murmelstein tat zu dieser Zeit alles, die Auswanderung der Juden zu vereinfachen und in die Wege zu leiten. Immer wieder geriet er in schwierige Situationen. Er beschwerte sich bei der Zentralstelle, dass Juden die Ausreise untersagt wurde, da sie noch Schulden von Verwandten oder namensgleichen Juden zu bezahlen hätten. Je größer die Not der Juden war, desto geldgieriger und komplizierter waren die zuständigen Ämter. 261

Am 10. Oktober 1939 wurden Benjamin Murmelstein und weitere Vertreter der IKG nach Mährisch-Ostrau zu einem Treffen mit Adolf Eichmann beordert. Mit ihnen machten sich etwa 1.200 arbeitsfähige gesunde Männer auf den Weg nach Nisko. Es wurde ihnen ein Judenreservat versprochen, in dem sie Arbeit finden und in Sicherheit das Kriegsende abwarten könnten. Viele Männer meldeten sich freiwillig, da das Unbekannte in Nisko einladender klang als der Terror im nationalsozialistischen Wien. Amtsdirektor Josef Löwenherz verfasste eine lange Bittschrift mit einigen Argumenten, weshalb Murmelstein dringend in Wien gebraucht werde und statt ihm ein anderer Funktionär ausgewählt werden solle. Er argumentierte damit, dass keiner die Kultusgemeinde und die gesamte Geschichte

258 Vgl. ebd., S. 137 ff. 259 Vgl. Cesarani, Endlösung, S. 208. 260 Vgl. Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 147. 261 Vgl. ebd., S. 134.

74 der Juden und der jüdischen Auswanderung so gut kenne wie Murmelstein. Doch das Gesuch hatte keinen Erfolg, Eichmanns Antwort enthielt bloß den Hinweis, Murmelstein solle Kleidung für mindestens vier Wochen mitnehmen. 262 Murmelstein beschrieb die ersten Schritte in Nisko wie folgt: „ Ein verlassenes Dorf, ein trostloser Hügel, eine Wiese, die ein einziger Sumpf ist – wir sind an unserem Ziel angekommen. “ Eichmann hielt am nächsten Tag eine Rede, in der er die Aufgaben der folgenden Tage erläuterte. Es mussten Baracken und eine Sanitäranlage gebaut und eine Verwaltung gegründet werden. Die Baumaterialien befanden sich auf Güterzügen, die circa 12 Kilometer entfernt waren. „ Am Ende der Rede blickte er uns mit spöttischem Blick an und fügte leise hinzu: Sonst heißt es eben sterben. Die Worte waren eisig der Ton jedoch weich, fast freundschaftlich. “263 Murmelstein verbrachte etwa drei Wochen vor Ort, bevor er nach Wien zurückkehren konnte. 264 Diese „Probedeportation“ war wegweisend für die Zukunft der Wiener Juden. Sie war eine klare Ankündigung, welche Pläne die Nazis verfolgten. So war es Hermann Görings erklärtes Ziel, Wien bis zum Jahr 1942 „judenfrei“ zu machen. 265

1940 wurde Murmelstein zum Stellvertreter der Wiener Kultusgemeinde ernannt und maßgeblich an der Auswanderung tausender österreichischer Juden beteiligt. 266 Bis Mitte November 1941 konnten durch die Mithilfe Murmelsteins etwa 128.000 österreichische Juden fliehen. 267 Die Arbeit der Zentralstelle verlief wie am Fließband. Menschen wurden im Akkordtakt abgefertigt. Die Juden verkauften ihr gesamtes Hab und Gut, um alle erforderlichen Papiere rechtzeitig zu erhalten, so dass die Auswanderung binnen 14 Tagen stattfinden konnte. 268 Allerdings war Murmelstein in seiner Funktion als Leiter der Zentralstelle bereits in einem moralischen Dilemma gefangen. Seine Aufgabe war es, Juden die Ausreise aus Österreich zu ermöglichen. Dies erfüllte das Ziel der Nationalsozialisten, die Juden aus dem Reich zu vertreiben, aber auf der anderen Seite war es für die österreichischen Juden die einzige Rettung vor den immer gefährlicher werdenden antisemitischen Zuständen

262 Vgl. ebd., S. 197 ff. 263 Zitat: Murmelstein, Eichmanns Vorzeige Ghetto, S. 22. 264 Vgl. Hauff, Zur politischen Rolle, S. 29. 265 Vgl. Niklas, „... die schönste Stadt der Welt“, S. 31. 266 Vgl. ebd., S. 70. 267 Vgl. Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 170. 268 Vgl. ebd., S. 113.

75 in Österreich. 269 Murmelsteins Verhalten wurde als kalt und abgebrüht beschrieben. Er befolgte alle Regeln der Gestapo ohne Mitgefühl und Ausnahmen. Diese Eigenschaften wurden ihm bereits während des Krieges als negativ angekreidet. Rosa Schwarz, die Leiterin der Jugendfürsorge, beschrieb ihn als „ kleinlich, pedantisch, und in keiner Weise Menschen gegenüber hilfsbereit “. Murmelstein selbst sah sein Verhalten als notwendig an; er wusste, dass er mit den Nazis kooperieren musste, um so vielen Juden wie möglich die Ausreise zu ermöglichen. Er stand hinter seinen Entscheidungen, die jüdische Gemeinde musste selbst für Disziplin und Ordnung sorgen. 270

Die Organisation der Auswanderung der Juden wurde von Monat zu Monat schwieriger. Ab November 1940 durften Personen nur mehr mit einer persönlich von Murmelstein unterschriebenen Bestätigung eine Schiffs- oder Bahnkarte erhalten. Mit seiner Unterschrift garantierte Murmelstein, dass alle erforderlichen Zahlungen und Abgaben an die Israelitische Kultusgemeinde Wien geleistet worden waren. Diese Zahlungen einer sogenannten Kultussteuer waren notwendig, da ohne sie die Arbeit der Auswanderungsabteilung nicht mehr gewährleistet gewesen wäre. Alle Beteiligten standen unter großem Druck, alle erforderlichen Zahlungsnachweise und Dokumente zu erhalten. Eine Wiedergenehmigung nach Ablauf der Frist war sehr schwierig, wenn nicht unmöglich. Trotz vieler negativer Stimmen zur Person Murmelsteins wurde er stets für sein korrektes Ausführen der Auswanderungsangelegenheiten gelobt. Es kam im Zusammenhang mit ihm nie zu Korruptionsskandalen, die der IKG immer wieder vorgeworfen wurden. 271

Ab dem Frühjahr 1941 änderte sich Murmelsteins Arbeitsalltag. Seine Abteilung musste von nun an nicht mehr die Auswanderungsangelegenheiten der Wiener Juden bearbeiten, sondern bei der Vorbereitung der Deportationen mithelfen. 272 Im Februar dieses Jahres starteten die ersten großen Deportationen ins Generalgouvernement; im Oktober sollten sie zu regelmäßigen Transporten werden. Damit war eine legale Auswanderung nahezu unmöglich geworden, da es zu reichsweiten Auswanderungsverboten kam. 273 Die Auswahl der zur Deportation vorgesehenen Juden übernahm Eichmanns Zentralstelle für Jüdische

269 Vgl. Hauff, Zur politischen Rolle, S. 109. 270 Vgl. Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 166 ff. 271 Vgl. Hauff, Zur politischen Rolle, S. 168 ff. 272 Vgl. Rabinovici, Benjamin Murmelstein, S. 45. 273 Vgl. Hauff, Zur politischen Rolle, S. 187.

76 Auswanderung. Im zweiten Wiener Gemeindebezirk wurde ein Sammellager eingerichtet, in dem sich die Juden samt ihrem Gepäck an einem bestimmten Datum einfinden mussten. Da sich die negativen Erfahrungen der aus Nisko Zurückgekehrten herumsprachen, ignorierten immer mehr Juden ihre Einberufung, flüchteten aus Wien oder gingen in den Untergrund. 274 Darum machte Eichmann Murmelstein zum Leiter der „Ausheber“, „Rechercheure“ und „Ordner“ des „Erhebungsdienstes“. In dieser Position war Murmelstein dafür verantwortlich, Juden zu beauftragen, dass alle, die sich auf den Deportationslisten befanden, auch in den Sammellagern ankamen und sie nicht mehr verließen. Es waren also stets Juden vor den Sammellagern postiert, die diese überwachen mussten. 275

Die Aufgabe der IKG Wien und Benjamin Murmelsteins während der Deportationen war die generelle Unterstützung der Zentralstelle beim reibungslosen Ablauf besagter Deportationen. Im Zimmer 8 der IKG Wien hatten Murmelstein und seine Mitarbeiter ihr Büro, in dem er die Deportationslisten von der Zentralstelle erhielt, diese alphabetisierte, kopierte und umschrieb. Im Oktober 1941 berichtete Murmelstein dem Leiter des Verbandes jüdischer Kriegsopfer, es würden sechs Kategorien von Juden aufgenommen, die zur Enthebung freigegeben seien, somit nicht deportiert werden durften: 276

„Angestellte und ehrenamtliche Mitarbeiter des jüdischen Verwaltungsapparates und deren im gemeinsamen Haushalt lebende Eltern, Kinder und Geschwister. Personen, die bereits Vorkehrungen für die Auswanderung nach Südamerika getroffen haben. Bewohner von Altersheimen. Blinde, Vollinvalide und Schwerkranke. Zwangsarbeiter. Kriegsversehrte und hochdekorierte Kriegsveteranen.“277

Die Gestapo stimmte diesen Forderungen nur bedingt zu. Sie hatte für ältere Juden und Kriegsveteranen ein eigenes „Vorzeige-Ghetto“ geplant, doch zu diesem Zeitpunkt war die Festung Theresienstadt noch nicht fertiggestellt, weswegen die Deutschen diese Juden für die Deportation noch nicht vorgesehen hatten. 278 Die Arbeit lief immer nach dem gleichen Muster ab: Murmelstein erhielt die aktuelle Deportationsliste, danach beratschlagte er mit den übrigen jüdischen Einrichtungen, ob es anhand der zuvor genannten Kategorien mögliche

274 Vgl. Niklas, „... die schönste Stadt der Welt“, S. 33. 275 Vgl. ebd., S. 71. 276 Vgl. Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 265 ff. 277 Zitat: ebd., S. 268. 278 Vgl. ebd.

77 „Enthebungen“ gab. Falls sie sich für die Rettung einer oder mehrerer Personen entschieden, mussten sie einen Ersatz stellen. Danach wurden die ausgewählten Juden informiert und in die Sammellager gebracht. Die Ausräumung der Wohnungen gehörte ebenfalls zum Aufgabenbereich der IKG. 279 Neben den laufenden Deportationen musste die IKG bei den verschärften Maßnahmen der Ausgrenzung der Juden mithelfen, die parallel dazu abliefen. Sie musste ab Herbst 1941 dafür sorgen, dass alle noch nicht vertriebenen Juden mit dem gelben Stern gekennzeichnet wurden. Alle verbliebenen Juden mussten sich als Jude erkennbar zeigen und sich den gelben Stoff selber kaufen. Die IKG zahlte pro Stern 5 Pfennig und verkaufte sie an die jüdische Bevölkerung für 10 Pfennig, um die Verwaltungsausgaben zu decken. Wie so oft mussten die „Juden die Kosten ihrer eigenen Diskriminierung selber tragen.“ 280

1942 lud Adolf Eichmann Josef Löwenherz und Benjamin Murmelstein zweimal nach Berlin ein, um sie über die neuen Pläne für die geplanten Deportationen aus dem Altreich zu informieren. Zu dieser Zeit stand fest, dass von nun an alle Juden über 65 Jahre von Wien nach Theresienstadt deportiert werden sollten. Laut Löwenstein betraf dies 12.000 Personen. Eichmann geizte bei diesen Treffen mit jüdischen Vertretern nicht mit all den Vorzügen, die dieses „Muster-Ghetto“ für seine Bewohner angeblich bereithielt. Der erste Transport mit 1.000 österreichischen Juden verließ Wien am 20. Juni 1942. 281

Sein Pflichtbewusstsein und seine langjährige organisatorische Tätigkeit in der Kultusgemeinde Wien bewahrten Benjamin Murmelstein jedoch nicht vor der gefürchteten Deportation. Er war einer von neun wichtigen Funktionären aus Berlin und Wien, die am 29. Jänner 1943 nach Theresienstadt deportiert wurden. Mit ihm verließen Wien seine Ehefrau und sein Sohn sowie seine Hausangestellte. Die übrigen Mitreisenden waren Heinrich Dessauer, Mitglied des Wiener Judenrates, dessen Frau Marietta sowie Julius Boschan, der in der IKG Wien tätig war, und dessen Mutter Sofie. Der Letzte im Transport 46b war Dr. Maurycy Moses Grün, er leitete das Wiener Palästina Amt. 282

Bereits kurz nach Murmelsteins Ankunft, am 31. Januar 1943, wurden die

279 Vgl. Hauff, Zur politischen Rolle, S. 215 ff. 280 Zitat: Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 244. 281 Vgl. Niklas, „... die schönste Stadt der Welt“, S. 42 ff. 282 Vgl. Hauff, Zur politischen Rolle, S. 282.

78 Personaländerungen im Judenrat bekanntgeben. Neuer Judenältester wurde Dr. Paul Eppstein, der aus Berlin kam und zuvor als Vorstandsmitglied der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland tätig gewesen war. Seine beiden Stellvertreter wurden der vorherige Judenälteste Jacob Edelstein und der neu eingetroffene Benjamin Murmelstein. Die drei Männer sollten eine Einheit bilden und die Interessen aller Juden im Ghetto ausgewogen vertreten. Sie wurden ausgewählt, um die größten Herkunftsgruppen im Ghetto zu repräsentieren. Allerdings wurden die drei Männer von Hans Georg Adler als feindseliges, uneiniges Triumvirat beschrieben. 283 Abgesehen von diesem Posten, wurde Murmelstein auch Leiter des Gesundheitswesens. Sein außerordentliches Organisationstalent kam ihm auch bei seiner neuen Tätigkeit zugute; er fand sich schnell im Verwaltungsapparat des Ghettos zurecht. Es blieb nicht bei dem einen Ressort; ihm wurde bald auch die technische Leitung des Ghettos übertragen. 284

Murmelstein erhielt im Frühjahr 1944 eine weitere organisatorische Aufgabe. Die Deutschen planten, für den Besuch eines Vertreters des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz das Ghetto von seiner „schönsten“ Seite zu zeigen. Um dieses Trugbild glaubwürdig zu inszenieren, wurden keine Kosten und Mühen gescheut. Alle Straßen wurden hergerichtet und gesäubert, ein prächtiger Rasen verlegt und an die 1.200 Rosenstöcke gepflanzt. Es wurden mehrere Pavillons errichtet, zum Beispiel ein Musikpavillon und ein bunter, mit Tierbildern verzierter Tierpavillon. Auch die Innenausstattung wurde generalsaniert. Vor allem wurde darauf geachtet, das Krankenhaus vorzeigbar aussehen zu lassen. 285 Laut Aussage Murmelsteins hatte er sich beim Lagerkommandanten Karl Rahm für diese „Verschönerungsaktion“ eingesetzt, von der daraus resultierenden Öffentlichkeitswirkung erhoffte sich Murmelstein den Schutz des Ghettos. Deshalb tat er alles in seiner Macht Stehende, die Renovierungen voranzutreiben. 286

4.3.2 Judenrat – Sein Verhalten als Judenältester

Murmelsteins Aufstieg zum Judenältesten wurde im September 1944 von den Geschehnissen rund um den amtierenden Judenältesten Paul Eppstein eingeleitet. Er hielt am 19. September

283 Adler, Theresienstadt, S. 115 ff. 284 Vgl. Hajkova, Der Judenälteste und seine SS-Männer, S. 77. 285 Vgl. Adler, Theresienstadt, S. 166. 286 Vgl. Hauff, Zur politischen Rolle, S. 286.

79 eine emotionale Rede zum jüdischen Neujahrsfest. Nach den positiven Kriegsentwicklungen, wie der alliierten Invasion in Frankreich, übertrug sich eine immer euphorischer werdende Stimmung auf das Ghetto. Dies verunsicherte Eppstein; er wollte mit seiner Ansprache die Juden vor Leichtsinn bewahren und sie daran erinnern, dass die Juden im Ghetto noch nicht in Sicherheit waren. Er schloss seine Rede „Neujahrsgedanken 7505“ mit mahnenden Worten, die vielleicht sein persönliches Schicksal besiegelten.

„Es darf nicht geredet, sondern es muß gearbeitet werden. Auf irgendwelche Möglichkeiten darf man nicht spekulieren. Wir sind gleichsam auf einem Schiff, das vor einem Hafen liegt, aber nicht einfahren kann, weil eine dichte Minensperre das verhindert. Nur die Schiffsleitung kennt den schmalen Weg, der zum sicheren Lande führt. Das Schiff hat draußen zu bleiben und Weisungen abzuwarten. Man muß das Vertrauen haben, daß sie das Menschenmögliche tut, um die Sicherheit unserer Existenz zu gewährleisten. So wollen wir ernst und zuversichtlich in das neue Jahr schreiten, mit dem festen Willen zum Durchhalten und zur Pflichterfüllung “.287

Mit diesen Worten sprach Eppstein zu mehr als 1.200 begeisterten Zuhörern. Man kann herauslesen, dass die Ghettobewohner eine Ahnung vom Scheitern der deutschen Truppen hatten und sie das Ende des Krieges erwarteten. Eppstein versuchte ganz klar den Fokus auf das Jetzt zu legen. In diesem Augenblick waren die Juden noch Gefangene und es konnte jederzeit eine Katastrophe, wie eine erneute Deportationswelle, einsetzen. Als ob er sein immanentes Schicksal in dieser Rede gespürt hätte, wurde Eppstein am 27. September ohne Vorwarnung festgenommen und in die „kleine Festung“ gebracht, von wo er nie wieder zurückkommen sollte. 288 Murmelstein beschreibt die Situation in seinem Buch über das Ghetto dahingehend, dass er sich vorstellen könne, der fatale Text sei von der deutschen Führung nicht nur gebilligt, sondern angeregt worden. „ Nur so lässt sich Eppsteins Kühnheit erklären, der glaubte Rückendeckung zu haben, und Opfer der eigenen Naivität wurde. “289 Nach der Festnahme Eppsteins übernahm Murmelstein die Leitung des Ghettos, offiziell wurde er am 4. Dezember 1944 als Judenältester eingesetzt. Der neue Judenälteste war im Ghetto gleich unbeliebt wie die deutschen Machthaber. Sein negativer Ruf aus Wien eilte ihm voraus. Er galt als kalt, herrisch und grob. Die meisten Gespräche führte er brüllend und er genoss seine Machtposition. 290 Sein Jähzorn war gefürchtet und die Juden im Ghetto sahen in ihm die personifizierte Zusammenarbeit mit dem Feind. Auch die Tatsache, dass Murmelstein

287 Zitat: Adler, Theresienstadt, S. 191. 288 Vgl. ebd., S. 191 ff. 289 Zitat: Murmelstein, Theresienstadt, S. 163. 290 Vgl. Benz, Theresienstadt, S. 57.

80 korpulent war und blieb in Zeiten, in denen die Mehrzahl der Ghettobewohner an Hunger litt, sorgte für Aufregung und für einen weiteren Grund, den Judenältesten mitsamt seinen Privilegien zu hassen. 291 Es kursierten Gerüchte von Murmelsteins Übermut bei den Deportationen. So soll er auf die Frage, ob 1.000 Menschen transportfähig seien, eifrig erwidert haben, er habe 2.000 Juden gestellt. Viele der negativen Aussagen von Zeitgenossen lassen sich aber nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen. Murmelstein traf pflichtbewusst die Entscheidung, mit den Deutschen zu kooperieren, um das Überleben der Juden zu sichern. Feststeht, das Murmelstein keine eigenen Entscheidungen treffen konnte, zum Beispiel die Zahl der zu deportierenden Juden betreffend. Ob und in welchem Zusammenhang diese Aussage getroffen wurde, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Der Umstand, dass solche Gerüchte umliefen, zeigt allerdings klar, welches Bild die jüdischen Zeitgenossen von Murmelstein hatten. 292

Benjamin Murmelstein musste sofort nach seinem Amtsantritt mit den berüchtigten Herbsttransporten nach Auschwitz beginnen, bei denen über 18.000 Menschen deportiert wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte Murmelstein die Verantwortung für die Deportationslisten noch seinen Vorgängern überlassen, doch ab Ende September lag die Aufgabe bei ihm. So sehr dem Judenältesten von vielen Seiten die Hauptschuld an den Deportationslisten gegeben wird, so beharrte Murmelstein bis zu seinem Tod darauf, sich geweigert zu haben, Listen zu schreiben und Transporte zusammenzustellen. Ebenso gab er im Judenrat bekannt: Wenn man eine Person von den Listen reklamiere, müsse man selbst als Ersatz gehen. Somit verwehrte er sich gegen das Recht des Judenältesten, Personen von den Listen zu nehmen. Dieses Verhalten wurde als kalt und herzlos ausgelegt. Murmelstein rechtfertigte diesen Schritt aber damit, er wolle nicht in das Dilemma geraten, eine neue Person auf die Liste setzen zu müssen. Die Zahlen der zur Deportation bereitzustellenden Personen wurden von der SS vorgegeben und mussten eingehalten werden. Somit lag das Schicksal der Gettobewohner in der Hand von Eichmanns Hauptsturmführer Möhs, der die Transporte zusammenstellte. 293 Diese Aussage bestätigt Zdenek Lederer in seinem Werk über das Ghetto Theresienstadt, in dem er die Aufgabe des Judenrates zu dieser Zeit auf das Vorladen der zu Deportierenden reduziert. Das aktive Zusammenstellen der Transporte

291 Vgl. ebd. S. 58. 292 Vgl. Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 361 ff. 293 Vgl. Hauff, Zur politischen Rolle, S. 287 ff.

81 vermerkte er für die Zeit vor Oktober 1944. 294

Am 28. Oktober kam die Deportationswelle zum Erliegen; sie hinterließ etwa 11.000 Personen, vor allem Frauen, Alte und Kinder. In einem privaten Gespräch versicherte Eichmann Murmelstein, solange das Kolumbarium mit den Urnen in Theresienstadt bestehe, habe er nichts zu befürchten. Mit dieser Information im Hinterkopf machte Murmelstein sich Gedanken zur Umstrukturierung des Ghettos, als am 31. Oktober begonnen wurde, die Urnen aus dem Lager zu bringen. Er führte in Eigeninitiative die 70-Stunde-Woche ein und ließ Frauen und Alte, soweit es möglich war, Schwerstarbeit leisten, um den Bestand des Ghettos zu garantieren. Er entwickelte sich zum unerbittlichen Antreiber der Ghettobewohner; um jeden Preis wollte er erreichen, dass sich die SS nicht einmischte. Es lag an Murmelstein, die Ordnung und die Arbeitsdisziplin aufrechtzuerhalten. 295 Adler vermerkt, dass es unter der Leitung Murmelsteins zu Verbesserungen kam, zum Beispiel bei der Ernährung. Da jene Personen, die zuvor die Essensausgabe kontrolliert und korrumpiert hatten, allesamt deportiert wurden, gab es nun gleiche Rationen für alle. 296

In den letzten Kriegsmonaten fanden noch zwei weitere Besichtigungen von Delegierten des Roten Kreuzes statt. Am 6. April 1945 besichtigten Paul Dunant und Otto Lehner das Lager. An ihrer Seite waren SS-Führer wie Adolf Eichmann, der die Gäste davon zu überzeugen versuchte, Theresienstadt sei der beste Lebensort für Juden. Im Zuge dieser Besichtigung versicherte Eichmann Dunant, dass kein Jude mehr aus Theresienstadt deportiert werde. Zuerst würden am 15. April die restlichen dänischen Juden das Ghetto verlassen. 297 Er besuchte Theresienstadt am 30. April noch einmal und konnte die SS-Führung davon überzeugen, die Kontrolle des Ghettos an das Rote Kreuz zu übergeben. Dies geschah am 5. Mai 1945. An diesem Tag hatte Benjamin Murmelstein seine letzte Audienz beim Kommandanten Rahm, der noch am gleichen Tag Theresienstadt verließ. Bis die Rote Armee am 8. Mai einmarschierte, wehte die Flagge des Roten Kreuzes über Theresienstadt. 298

4.3.3 Neustart – Sein Leben nach dem Krieg

294 Vgl. Lederer, Theresienstadt, S. 166. 295 Vgl. Murmelstein, Ende von Theresienstadt, S. 19 ff.; vgl. Hauff, Zur politischen Rolle, S. 295. 296 Vgl. Adler, Theresienstadt, S. 195. 297 Vgl. Reitlinger, Endlösung, S. 536. 298 Vgl. Benz, Theresienstadt, S. 200.

82 Obwohl Hans Frank ihm eine persönliche Erlaubnis übermitteln ließ, das Ghetto unter dem Geleit des Internationalen Roten Kreuzes zu verlassen, entschied sich Murmelstein dafür, bis zum Kriegsende in Theresienstadt zu bleiben. 299 Nach seiner Gefangenschaft in Theresienstadt wurde er im Juni 1945 vom tschechoslowakischen Innenministerium wegen des Verdachts der Kollaboration festgenommen. Er verbrachte 18 Monate in Haft, bis die Ermittlungen eingestellt wurden, da sich keine stichhaltigen Beweise finden ließen. 300 Das Verfahren gegen Murmelstein in Leitmeritz wurde eingestellt; im Prozess gegen den letzten Kommandanten von Theresienstadt, Karl Rahm, spielte er noch eine entscheidenden Rolle als Zeuge. Rahm wurde am Tag seiner Verurteilung, am 30. April 1947, hingerichtet. Ein Teil der Urteilsverkündung war Murmelstein gewidmet, um ihn in diesem offiziellen Rahmen nochmals von Schuld freizusprechen. Er wurde als vollständig rehabilitiert bezeichnet und man bedankte sich für seine wichtigen Aussagen als Zeuge in diesem Verfahren. Dieser juristische Freispruch bedeutete allerdings keine vollkommene moralische Rehabilitierung. Die Nachkriegszeit war für Murmelstein geprägt von negativen Kommentaren über seine Person, Anschuldigungen und Verurteilungen seitens der Bevölkerung. Aufmunternde Worte schrieb ihm in einen Brief Erna Patak, eine langjährige Bekannte Murmelsteins, die nach dem Krieg von London nach Israel emigrieren konnte: 301

„Was immer geschehen ist darf Sie nicht bitter werden lassen – und kleiner und muerbe. […] Ich frage Sie? Haben Sie je auf Dankbarkeit gerechnet? Freundschaftliche Wallungen fuer Dauer gehalten? Ihr momentanes Los ist schwer – aber werden Sie mir nicht kleinmuetig und straffen Sie sich. In Ihnen ist nach wie vor viel Reichtum und der darf nicht verloren gehen. Schreiben Sie sich alles von der Seele weg – ich bin sicher – manches Standardwerk werden sie noch schaffen. “302

Der nahe Vertraute Eichmanns wurde 1961 aus unerklärlichen Gründen nicht nach Israel geladen, um gegen ihn im Prozess auszusagen oder das Verfahren der Wiener Kultusgemeinde zu schildern. Murmelsteins früherer Vorgesetzter Josef Löwenherz hätte in Jerusalem aussagen sollen, allerdings verstarb er im November 1960. Warum man Murmelstein nicht als Ersatz vorlud, ist unklar. Somit wurden die Rolle Eichmanns und Murmelsteins Zusammenarbeit mit der Zentralstelle für jüdische Auswanderung Wien von jüdischen Funktionären aus Berlin geschildert. 303

299 Murmelstein, Ende von Theresienstadt, S. 23. 300 Vgl. Hajkova, Murmelstein und seine SS-Männer, S. 81. 301 Vgl. Hauff, Zur politischen Rolle, S. 298. 302 Zitat: ebd., S. 302. 303 Vgl. ebd., S. 304 ff.

83 Benjamin Murmelstein sollte in seinem restlichen Leben nie wieder als Rabbiner tätig werden. Es wurde ihm zwar eine Stelle in Triest angeboten, doch dort konnte oder wollte er nicht bleiben. Er wollte sich nach seiner verantwortungsvollen Aufgabe als Judenältester nicht mehr einer Gemeinde unterwerfen, die seine Weisheit und Erfahrung nicht angemessen schätzen konnte. In seiner Vorstellung schien es ein sozialer Abstieg zu sein: vom gefürchteten Judenältesten zum unwichtigen Gemeinderabbiner. Daraufhin ließ sich Murmelstein mit seiner Frau und seinem Sohn in Rom nieder, er behielt aber die österreichische Staatsbürgerschaft. Er kehrte nicht in den religiösen Dienst zurück, sondern konnte sein gewerbliches Geschick in einem Möbelgeschäft unter Beweis stellen. 304 1974 erzählte Murmelstein in Rom seine ganze Geschichte dem Filmemacher Claude Lanzmann. Dieser drehte den monumentalen Film „Shoah“. Eine Woche verbrachte Lanzmann in Rom und führte Gespräche mit Murmelstein. Doch diese kommen in seinem Film nicht vor. Lanzmann sagt, sie hätten den Rahmen gesprengt. Deshalb verarbeitete er das neunstündige Interviewmaterial in einem eigenen Film, der 2013 unter dem Titel „Der letzte der Ungerechten“ erschien. Lanzmann wollte Murmelstein ein Denkmal setzen, da die bisherige Berichterstattung über ihn „sehr ungerecht war“. 305

Dritter Teil

5 Ein Versuch der Beantwortung der Frage: Judenräte – Täter oder Opfer?

5.1 1945-1955 – Die Überlebenden urteilen selbst über jüdische Kollaborateure

Die Arbeit der Judenräte wurde bereits während des Krieges von Juden kritisiert und sie wurden teilweise der Kollaboration bezichtigt. Als das grauenvolle Ausmaß des Holocausts langsam immer offensichtlicher wurde, wuchs der Zorn auf die Judenräte. Die Welt ging dazu über, den Rest der Welt in „Gut“ und „Böse“ einzuteilen. Wer nicht aktiv am Widerstand

304 Vgl. Rabinovici, Ohne Alternativen, S. 3. 305 Vgl. Benjamin Murmelstein, www.hans-dieter-arntz.de/benjamin_murmelstein_und_josef_weiss.html ; vgl. Plädoyer für den Judenältesten, https://www.dw.com/de/plädoyer-für-den-judenältesten/a-17254695 .

84 beteiligt gewesen war, gehörte automatisch zu den Deutschen und ihren Kollaborateuren. Das Bild der mitschuldigen Judenräte führte dazu, dass viele ehemalige Judenratsmitglieder sich vor jüdischen Ehrengerichten verteidigen mussten. 306 Es lässt sich feststellen, dass die Beurteilung der Judenräte unmittelbar nach dem Krieg hauptsächlich auf einer emotionalen Ebene stattfand, die einen wissenschaftlichen neutralen Zugang vermissen ließ. 307 Einen detaillierten Einblick in diese Ehrengerichte liefert der Sammelband von Laura Jockusch und Gabriel N. Finder. In Polen, wo die Zahl der jüdischen Opfer am größten war, wollten die jüdischen Überlebenden eigene Gerichte einsetzen, um die Verbrechen der vermeintlichen jüdischen Kollaborateure zu ahnden. Wenngleich der Wunsch der Gesellschaft groß war, die jüdischen Kollaborateure unter den Ratsmitgliedern zu verurteilen, so waren von 158 mutmaßlichen Kollaborateuren nur zwanzig tatsächlich in einem Judenrat tätig. Von diesen zwanzig wiederum kamen nur vier vor das Zivilgericht; ein Mann wurde verurteilt. Dieser war Leon Czarny-Gidy, Mitglied des Judenrats von Ostoberschlesien. Ihm wurde Zusammenarbeit mit den Nazis vorgeworfen, Fraternisieren mit der Gestapo sowie bewusste Handlungen zum Schaden der Juden. Er wurde zwar vom Gericht verurteilt, die Strafe kann allerdings mehr als Ermahnung angesehen werden. Für eine schwere Bestrafung fehlte es dem Gericht an Beweisen. Er wurde verurteilt, weil er Teil des Judenrates gewesen war, in dem Moshe Merin den Vorsitz innehatte, um den sich ebenfalls Kollaborationsvorwürfe rankten. Die Assoziation mit dem Judenältesten Merin genügte für den Schuldspruch. Das Verfahren fand Mitte 1947 statt; andere Judenratsmitglieder, die nur ein Jahr später vor Gericht standen, wurden alle freigesprochen. Dies zeigt, dass die Ansichten der Gerichte zur Kollaboration schon nach wenigen Monaten differenzierter und unvoreingenommener wurden. 308 Auch in Deutschland kam es zur Errichtung von Ehrengerichten, zum Beispiel in Berlin, wie ausführlich beschrieben in einem Artikel von Philipp Dinkelaker. Auch diese Einrichtung hatte wie die polnischen Ehrengerichte keine strafrechtliche Kompetenz und war ausschließlich innerhalb der jüdischen Gemeinde für Moralurteile zuständig. Die dort eingegangenen Anschuldigungen glichen denen in Polen: Kollaboration mit der Gestapo oder Verrat bzw. Denunziation von Untergetauchten. Die Urteile lassen sich in vier Kategorien einteilen: schuldig, nicht ganz unschuldig, unschuldig und Vergleich. 309

306 Vgl. Michman, Kontroversen über die Judenräte, S. 311 ff. 307 Vgl. Hauff, Zur politischen Rolle von Judenräten, S. 33. 308 Vgl. Jockusch, Finder, Jewish Honor Courts, S. 83 ff. 309 Vgl. Dinkelaker, Umgang mit „jüdischer Kollaboration“, S. 24 ff.

85 „ Das Gericht befand in den hier untersuchten 56 Verfahren in zehn Fällen, dass die beschuldigte Person ihre ‚Pflichten gegenüber der Jüdischen Gemeinschaft‘ verletzt habe, und entschied in sieben weiteren Fällen, dass der oder die ‚Angeklagte‘ von einem derartigen Vorwurf nicht ganz freizusprechen sei. In 32 Fällen, also der Mehrheit der Verfahren, beschied das Gericht den Beschuldigten aber, dass sich die ‚erhobenen Vorwürfe nicht als berechtigt erwiesen‘ hätten .“ 310

Neben Anklagen von Drittpersonen kam es auch immer wieder zu einer Selbstanklage zwecks Wiedererlangung der Integrität ehemaliger Judenratsmitglieder. So versuchten die betroffenen Personen ihren Namen reinzuwaschen und ihre Unschuld zu beweisen. 311 Obwohl die Ehrengerichte hauptsächlich Moralurteile fällten, konnte es auch zu Sanktionen gegen eine verurteilte Person kommen. Es konnten zum Beispiel Sozialleistungen der Gemeinde gestrichen oder dem Betroffenen der Status OdF (Opfer des Faschismus) aberkannt werden. 312

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es in fast allen europäischen Ländern zur Errichtung von jüdischen Ehrengerichten kam, weil die Juden ihrer Tradition treubleiben wollten, ihr eigenes Gerichtswesen zurückzugewinnen und mit den mutmaßlichen jüdischen Kollaborateuren selbst zu Gericht zu gehen. 313

5.2 1960er Jahre: Hannah Arendt und Raul Hilberg prägen das Bild der Judenräte

In den 1960er Jahren waren es zwei Personen, die das Bild der Judenräte negativ geprägt haben; allerdings schreibt man ihnen auch den Anstoß zur weiteren Beschäftigung mit der Thematik der Judenräte zu. Es handelt sich um den Historiker Raul Hilberg und die Philosophin Hannah Arendt. Ich werde auf ihre Aussagen zu den Judenräten eingehen und mich mit ausgewählten Passagen aus Raul Hilbergs Gesamtwerk Die Vernichtung der europäischen Juden und Hannah Arendts Buch Eichmann in Jerusalem beschäftigen, das sich mit Adolf Eichmanns Prozess in Jerusalem befasst.

Raul Hilberg, 1926 in Wien geboren und mit seinen Eltern 1939 über Kuba in die USA emigriert, begann bereits 1948 mit den Recherchen zu seinem Werk, das 1961 in Amerika erschien und sich mit sämtlichen bekannten Tätern und allen grausamen Details des

310 Zitat: ebd., S. 36. 311 Vgl. Hauff, Zur politischen Rolle, S. 35. 312 Vgl. Dinkelaker, Umgang mit „jüdischer Kollaboration“, S. 41. 313 Vgl. Jockusch, Finder, Jewish Honor Courts, S. 4.

86 Holocausts beschäftigt. 314 Er beschreibt die Vernichtungsmaschinerie nüchtern wie ein Ingenieur und zeigt bei seinen Schilderungen kaum Einfühlungsvermögen. Seine Auseinandersetzung mit dem Thema fokussiert sich zuerst auf die jahrhundertelange Tradition der Verfolgung der Juden. Hilberg beleuchtet in seinem Werk die Geschichte der Juden als eine, die geprägt war von Gewaltmaßnahmen und Pogromen gegen sie. Die Geschichte zeigt, dass gewaltsamer Widerstand immer als letztes Mittel genutzt wurde und so gut wie nie vorkam. Viel häufiger lassen sich laut Hilberg Reaktionen wie Petitionen, Zahlungen von Schutzgeldern, Nachgeben, Unterstützungsaktionen, Trost und Wiederaufbau beobachten. So gab es auch in den von den Nazis besetzten Gebieten Versuche, sich mit Petitionen vor Häuserräumungen zu schützen oder sich mit Geld und Wertsachen die Rettung zu erkaufen. Im Lauf der Geschichte zeigt sich, dass die Juden so gut wie nie vor Pogromen davonliefen und eher versuchten, sich mit antijüdischen Regimen zu arrangieren. Viele jüdische Familien im Deutschen Reich warteten zu lange, um ihre Flucht anzutreten. 315 Hilbergs Kernaussage zum jüdischen Verhalten lässt sich in diesem Zitat zusammenfassen:

„Ohne Rücksicht auf die Kosten fuhr die bürokratische Maschine fort, unter zunehmender Beschleunigung und wachsender destruktiver Wirkung die europäischen Juden auszulöschen. Unfähig, auf Widerstand umzuschalten, erhöhte die jüdische Gemeinde ihre Kooperationsbereitschaft im Tempo der deutschen Maßnahmen, wodurch sich ihre eigene Vernichtung beschleunigte. Wie sich gezeigt hat, griffen Täter wie Opfer beim Umgang miteinander auf ihre jeweils spezifische jahrhundertealte Erfahrung zurück. Die Deutschen taten es mit Erfolg; die Juden erlebten ein Desaster. “316

Hier zeigt sich Hilbergs Standpunkt: Er macht die Juden aufgrund ihre jahrhundertelang erlernten Passivität mitverantwortlich für ihre Vernichtung. Ohne diese widerstandslose Kooperation wäre es den Deutschen nicht gelungen, mit dieser Geschwindigkeit und Organisiertheit Millionen von Menschen zu ermorden. Hilberg nennt die Judenältesten nicht direkt Mittäter, jedoch schreibt er ihnen Mitverantwortung zu. Dabei ist wichtig zu erwähnen: Hilberg stützt sich bei seiner Bewertung der Judenräte und des seiner Meinung nach fehlenden Widerstands ausschließlich auf Täterquellen. Seine stark generalisierenden Ansichten und Verurteilungen wurden jahrelang von Historikern in Yad Vashem abgelehnt und sein Werk erst 2004 erstmals in einer hebräischen Übersetzung publiziert. 317

314 Internetquelle: Brittanica.com Raul Hilberg, https://www.britannica.com/biography/Raul-Hilberg (aufgerufen am 5.12.2018). 315 Vgl. Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden, S. 29 ff. 316 Zitat: ebd., S. 35. 317 Vgl. Hauff, Zur politischen Rolle, S. 37.

87 „Wäre das jüdische Volk wirklich unorganisiert und führerlos gewesen, so hätte die ‚Endlösung‘ ein furchtbares Chaos und ein unerhörtes Elend bedeutet, aber angesichts des komplizierten bürokratischen Apparats, der für das ‚Auskämmen‘ von Westen nach Osten notwendig war, wäre das Resultat nur in den östlichen Gebieten, die ohnehin der Kompetenz der ‚Endlöser‘ nicht unterstanden, gleich schrecklich gewesen, und die Gesamtzahl der Opfer hätte schwerlich die Zahl von viereinhalb bis sechs Millionen Menschen erreicht. “318

Dieses Zitat zeigt deutlich, dass Hannah Arendt sich in ihren Aussagen deutlich offensiver und kritischer über die Judenräte äußert als Hilberg. In ihrem Buch Eichmann in Jerusalem , in dem sie über den Eichmann-Prozess berichtet, findet die Philosophin klare Worte für die jüdische Führung. Lisa Hauff zu Arendt: „Ihre scharfe Kritik, die politisch-theoretischer Natur war, ließ allerdings jegliches Einfühlungsvermögen vermissen. “319 Die 1906 in der Nähe von Hannover geborene Hannah Arendt wuchs in einer sozialdemokratischen und jüdischen assimilierten Familie auf. Sie studierte Philosophie und kam 1933 das erste Mal in Kontakt mit der Gestapo, von der sie kurze Zeit inhaftiert wurde. Nach ihrer Freilassung verließ Arendt Deutschland. Bevor sie endgültig in die Vereinigten Staaten ausreisen konnte, verbrachte sie mehrere Wochen im spanischen Internierungscamp Gurs. 1941 schaffte sie es mit ihrem Ehemann und ihrer Mutter nach Amerika. Von da an begann ihre schriftstellerische Tätigkeit für verschiedene Zeitschriften. Im Zuge dessen berichtete sie für die Zeitschrift „New Yorker“ 1961 über den Eichmann-Prozess. Diese Beobachtungen erschienen zwei Jahre später zusammengefasst in Eichmann in Jerusalem . Sie tätigte darin nicht nur vieldiskutierte Aussagen zu Adolf Eichmann, sondern auch über das Mitwirken der Judenräte an der Vernichtung der Juden. 320 Mit ihren kritischen Aussagen urteilte Arendt harsch über die Judenräte, die ihrer Meinung nach ihre Macht ausgenutzt hatten, um sich wie Kapitäne eines sinkenden Schiffes zu fühlen. Sie kritisierte direkt das Verhalten Chaim Rumkowskis, der Geldscheine mit seinem Portrait drucken und sich mit einer Art Kutsche durchs Ghetto Lodz chauffieren ließ. Ebenso erwähnte sie den Wiener Juden und letzten Judenältesten von Theresienstadt, Benjamin Murmelstein, namentlich und warf ihm vor, er und seine Judenratsmitglieder hätten persönlich die Deportationslisten verfasst. Somit warf sie den Judenräten vor, eigenhändig über Leben und Tod entschieden zu haben, indem sie aktiv die Deportationslisten mitgestalteten und nur die reichen und prominentesten Juden vor dem sicheren Tod bewahrten. Für Arendt waren die Judenältesten Kollaborateure und somit

318 Zitat: Arendt, Eichmann in Jerusalem, S. 218 ff. 319 Zitat: Hauff, Zur politischen Rolle, S. 40. 320 Vgl. Hanna Arendt Biografie, https://www.dhm.de/lemo/biografie/hannah-arendt (aufgerufen am 11.12.2018).

88 mitverantwortlich für die Ausrottung der Juden. Sie nennt die gute Organisation und die schnelle und reibungslose Zusammenarbeit der jüdischen Führer mit den deutschen Machthabern als Mitursache der hohen Opferzahlen. Sie gibt an, dass sich etwa die Hälfte der Juden hätte retten können, wenn sie nicht auf den Judenrat gehört hätten. 321 Die Juden hätten sich nicht freiwillig den Deutschen unterwerfen und ihnen die Arbeit des Aufspürens und Zusammentreibens der jüdischen Opfer nicht erleichtern sollen.

Arendts polemischen Aussagen bewirkten eine Vielzahl weiterer Publikationen und Auseinandersetzungen mit dem Thema Judenräte.

5.3 Ab 1970: Zahlreiche Historiker setzen sich genauer mit dem Thema auseinander

Nachdem die kalten und emotionslosen Beschreibungen Hilbergs und die harsche Verurteilung Arendts den Stein der Auseinandersetzung mit den Judenräten ins Rollen gebracht hatten, setzten es sich einige Historiker in den 1970er Jahren zum Ziel, das Thema noch genauer zu untersuchen. 1972 erschien von , ehemaliger Chefarchivar des YIVO Institute for Jewish Research in New York, das wegweisende Werk Judenrat. The Jewish Councils in eastern europe under Nazi occupation. Darin erläutert er auf mehr als 700 Seiten die Entstehung, die Aufgaben und die Probleme der Judenräte in ganz Osteuropa. Trunk betrachtet die Institution Judenrat nicht einfach als ein von den Deutschen eingesetztes Instrument, sondern er versucht, auf die lokalen Unterschiede einzugehen und die Thematik weitaus differenzierter zu entschlüsseln. Dan Michman beschreibt es als „ betrachten aus einem jüdischen Blickwinkel schwerpunktmäßig die Aktivitäten zugunsten des jüdischen Alltagslebens und die Ausdauer in einer extremen Zwangslage. “ Trunk ist in seinem Urteil über die Judenräte weitaus milder als Arendt. Vor allem aber zieht er differenziertere Schlüsse; man könne bei der Beurteilung der Judenräte nicht alle Ratsmitglieder gleich bewerten. Für Trunk war die Zusammenarbeit mit den Nazis sehr verlockend für rückgratlose Mitglieder, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht waren. Ebenso war die Aussicht auf Macht und Autorität ein Lockmittel, das die Nazis geschickt einzusetzen wussten. Macht korrumpiert sogar im Ghetto. Einige Judenälteste waren von ihrer plötzlichen Macht geblendet. Dieses Fehlverhalten Einzelner darf allerdings nicht zu Generalisierungen verleiten. 322 So beschreibt Trunk den Anstieg an Einfluss: „ Since the Middle Ages, no other

321 Vgl. Arendt. Eichmann in Jerusalem, S. 206 ff. 322 Vgl. Trunk, Judenrat, S. 570 ff.

89 Jewish body had exercised so much economic, administrative, judical, and police authority. “323 Die „Macht“ des Judenrats war nur so groß, wie die deutschen Machthaber es zuließen. Die Juden in den Ghettos waren nicht selbstbestimmt, der Judenrat war auf die „Zusammenarbeit“ mit den Deutschen angewiesen. Trunks Meinung nach hätte es kaum einen Unterschied gemacht, ob die Judenräte an den Deportationen mithalfen oder sich weigerten. Der Vernichtungswille der Nazis richtete sich vor allem gegen die Ostjuden, und mit diesem Plan vor Augen hätte niemand die Deutschen aufhalten können, die Juden zu vernichten. Man sieht dies an den zwei Millionen Opfern durch Einsatzgruppen in Osteuropa, die bereits in der Anfangsphase des Russlandkrieges von Deutschen ermordet wurden, ganz ohne „Mithilfe“ der Judenräte. Ebenso zeigt Trunk in seinem Buch, dass in den meisten Ghettos die Judenältesten keinen Einfluss auf die Deportationslisten hatten und die Deportationen allein von der SS ausgeführt wurden. Die Judenräte wussten, in welchem moralischen Dilemma sie sich befanden. Egal, welche Entscheidung sie trafen, es würden dadurch Juden sterben. Deshalb praktizierten sie verschiedene Strategien, um das Überleben zu sichern. „Unser einziger Weg ist Arbeit“ war eine davon; die Judenräte wollten dadurch Zeit gewinnen und hofften, so lange die Ghettos für die Deutschen produktiv waren, würden sie erhalten bleiben und man könne so der Deportation entgehen.

„Had the war ended earlier, a sizable number of the labor elements might have survived. Let us take the case of the Lodz Ghetto. In August 1944, when the Soviet armies had already reached the environs of Warsaw, approximately 70.000 Jews still lived in Lodz (at a distance of some 75 miles). Had the Soviet army not stopped its advance till January 1945, a large number of these 70.000 people would certainly have escaped the gas chambers of Auschwitz. “324

Zusammenfassend kann man sagen: Trunk verurteilt nicht alle Mitglieder der Judenräte allein auf Grund der Tatsache, dass sie Mitglieder eines solchen Rates waren. Er geht ins Detail und erläutert anhand von unzähligen Zeugenaussagen, wie unterschiedlich die einzelnen Situationen waren. Er geht detailliert auf die unterschiedlichen Haltungen der Judenräte zum widerständigen Handeln ein. Durch seine Analysen verwischt er die zuvor strikte Abgrenzung von heroischem „Widerstand“ und gefügigem „Judenrat“. Des Weiteren gibt er den Judenältesten eine positive Bewertung ihrer alltäglichen Arbeiten und der Versuche der Aufrechterhaltung von „normalem“ Leben. Die Bemühungen um kulturelle und religiöse

323 Zitat: ebd., S. 573. 324 Zitat: Trunk, Judenrat, S. 413.

90 Angebote im Ghetto, durch die die Menschen Hoffnung finden konnten, erkannt Trunk an. 325 Jedoch lässt sich sagen: Für Trunk waren die Judenältesten keine Kollaborateure, da sie sich ihre Posten nicht freiwillig aussuchten und obendrein keinen persönlichen Vorteil aus der Zusammenarbeit mit den Deutschen zogen, da wenige Judenälteste den Krieg überlebten.

Israel Gutman, der erst 1970 im Alter von 47 Jahren seine akademische Laufbahn begann, lieferte weitere Einblicke in die Dilemmata der Judenräte und besonders zu den Aktivitäten im Warschauer Ghetto. 326 Er schrieb auch das Vorwort zur Edition von Adam Czerniakows Tagebuch (München 1986), worin er auf die schwierige Situation Czerniakows hinweist. Er findet allerdings keine verurteilenden Worte für den Judenältesten, sondern schildert die Vorkommnisse sachlich und beleuchtet sie von unterschiedlichen Standpunkten aus. Er äußert klar, dass Czerniakow wohl nicht der beste Kandidat für dieses Amt war, er sich im Judenrat nicht radikal durchsetzen und keine eigenen Entscheidungen treffen konnte. Gutman beschreibt ferner Czerniakows Ehrlichkeit und seine guten Absichten, auch wenn er sie nicht verwirklichen konnte. Gutman findet zudem eine einfache Lösung dafür, warum die Ghettobewohner überwiegend Antipathie gegenüber den Judenräten empfanden: Sie kamen kaum mit den deutschen Behörden in Berührung, es war den einfachen Bewohnern im Ghetto nicht erlaubt, sich an die Deutschen zu wenden. Mit allen Problemen oder Beschwerden, die sie hatten, mussten sie sich an den jeweiligen Judenrat wenden. Die Judenältesten waren dann die negativ auftretenden Personen, die schlechte Nachrichten der Bevölkerung weiterleiten mussten, nicht SS-Leute. Darum ist es nach Gutman logisch, dass sich der Zorn und die Aggressionen der Mitbürger aufgrund der widrigen Lebensbedingungen gegen den Judenrat richteten und nicht gegen unbekannte deutsche Machthaber. 327 Mit seiner Dissertation war erst der erste Schritt in Gutmans Laufbahn getan, von da an ging alles sehr schnell, er wurde Professor am Institut für Zeitgenössisches Judentum an der Hebräischen Universität in Jerusalem, Leitender Historiker in Yad Vashem und er arbeitete als Hauptherausgeber mit einem Team von Historikern an der Encyclopedia of .

Einer aus diesem Team und Verfasser des Beitrags zu den Judenräten war Aharon Weiss. Darüber hinaus publizierte er eine detailreiche Studie zu den Judenräten in Polen und analysierte ihr Entstehen und die Handlungsspielräume in unterschiedlichen Situationen

325 Vgl. Hauff, Zur politischen Rolle, S. 45 ff. 326 Vgl. Biografie Gutman, http://www.judentum.net/geschichte/gutman.htm (aufgerufen am 11.12.2018). 327 Vgl. Czerniakow, Tagebuch, Vorwort, S. VII.

91 ausführlich. Auch er kommt zu dem Schluss, dass man das Phänomen Judenrat nicht verallgemeinern darf und sich diverse Unterschiede vor Augen halten muss.

„... takes into account the different phases that Nazi policy on the ‘Final Solution’ went through and the changes that took place in the composition of the Judenräte, and examines the effect of these changes in the conduct of Judenrat members. “328

In seiner Studie zeigt sich, wie sich die erwähnten Änderungen während des Krieges auf die Judenräte auswirkten. Weiss verglich das Verhalten von 279 Judenratsmitgliedern aus dem Generalgouvernement und Schlesien. Die ersten Judenältesten waren überwiegend entweder direkt in der Vorkriegs-Gemeindevertretung oder in einer anderen Art und Weise politisch aktiv gewesen. Sie waren bereits vor dem Krieg respektierte Persönlichkeiten der verschiedenen jüdischen Gemeinden. Einen weiteren Vergleich stellte Weiss betreffend dem Verhalten der Judenältesten an und wie deutlich sich dieses im Verlauf des Krieges änderte. In der Anfangsphase der Ghettos waren die Judenräte bemüht, die Lebensbedingungen aufrechtzuerhalten und im täglichen Austausch mit den Deutschen für Lebensmittel, Hygiene und Arbeitsplätze zu sorgen. Zu dieser Zeit wusste niemand auf jüdischer Seite, wo der Weg noch hinführen würde. Die komplette Vernichtung der Juden lag außerhalb jeder Vorstellungskraft. Über die Jahre hinweg wurden die Forderungen der Deutschen immer größer und mit dem Beginn der Deportationen entwickelten sich unterschiedliche Verhaltensweisen der Judenräte. Die ersten Judenältesten wurden, sobald sie sich weigerten Befehle auszuführen, durch unterwürfige Männer ersetzt, die sich den Deportationen nicht in den Weg stellten. 329

Was unterscheidet diese drei Historiker von Hilberg und Arendt? Sie waren alle selbst Überlebende des Holocaust, die Europa nicht verlassen konnten und sich entweder verstecken mussten oder die Zeit des Krieges in einem oder mehreren Ghettos und Konzentrationslagern überstanden haben. Sie haben die Ereignisse, von denen sie berichten, selbst miterlebt. Dies gilt auch für die Arbeit der Judenräte, die sie am eigenen Leib erfahren haben. Vielleicht fallen deshalb ihre Urteile über die Schuld der Judenräte milder aus als jene Arendts.

Die allgemeine Beurteilung der Judenräte wurde im Lauf der Zeit immer differenzierter und weniger kritisch. Nicht nur neu erscheinende Studien befassten sich immer individueller mit

328 Gutman (Hg.), Encyclopedia of the Holocaust, S. 771. 329 Marrus (Hg.), Victims of the Holocaust, S. 457 ff.

92 dem Thema, sondern auch Raul Hilberg muss in diesem Kontext ein weiteres Mal erwähnt werden. Auch er veränderte seine strikte Sicht auf die Judenräte, die er in der ersten Publikation von 1961 niedergeschrieben hatte. Für eine Neuauflage im Jahr 1985 schrieb er Passagen um. Ebenso widmete er dem komplexen Thema der Judenräte einen eigenen Artikel: Der Judenrat. Ein bewusstes oder unbewusstes „Werkzeug“ . Darin schreibt er, „ dass man verallgemeinernd sagen kann, dass alle Räte von Anfang an in einer Position waren, die ihnen keinen Handlungsspielraum ließ, unabhängig von den Vorstellungen oder Einschätzungen des Vorsitzenden. “330 In diesem Artikel schlägt Hilberg einen wesentlich einfühlsameren Ton ein. Er bemerkt, dass sich die Judenältesten mit allen Kräften bemühten, den Menschen im Ghetto zu helfen und dass sie sich bald in einer psychischen Abhängigkeit von den Tätern befanden. Alle Beziehungen im Ghetto waren ambivalent und von vielen Aspekten abhängig. Auch die Deutschen traten gelegentlich helfend auf, sie ließen die Judenräte Schulen einrichten und andere kulturelle Einrichtungen. Diese Wohltaten waren von deutscher Sicht aus aber genau geplant und dienten nur dazu, die Masse ruhigzuhalten und möglichen Konfrontationen aus dem Weg zu gehen. Gegen Ende stellt Hilberg die Frage, warum die Judenräte bis zum Schluss die Forderungen und Befehle der Deutschen ausführten. Er beschließt den Artikel nicht mit einer niederschmetternden Antwort und einer Verurteilung der Judenräte. Hilbergs Antwort ist offener und verständnisvoller. Er erwähnt zwar wieder die jüdischen Traditionen, auf die sich die Judenräte wohl berufen haben. Jedoch gesteht er den Juden zu, sich in einer ausweglosen Position befunden zu haben. 331

„In der noch nie dagewesen Situation griffen sie auf altbewährte Methoden zurück. Sie glaubten, die Führungspersönlichkeiten ihres Volkes zu sein, dabei wurden sie den größten Teil des Weges selbst geführt. Über ihnen drohte eine unbarmherzige Vernichtungsmaschinerie, wie es sie noch nie gegeben hatte. Unter ihnen verharrte eine Ghettobevölkerung, die sich an die Vergangenheit klammerte, durch die Trägheit der Masse an Ort und Stelle gehalten, bis der Tod sie alle überkam. “332

Für den deutschsprachigen Raum muss noch Doron Rabinovici erwähnt werden, der sich in seinem Buch Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938-1945. Der Weg zum Judenrat ausführlich mit der Thematik auf österreichischer Seite und den in Österreich agierenden Männern beschäftigt hat. Er analysiert präzise den Weg der Wiener jüdischen Gemeinde im Verlauf des Krieges und spricht Themen an, die oft tabuisiert werden. So trifft er zu Beginn des Buches

330 Zitat: Hilberg, Anatomie des Holocaust, S. 181. 331 Vgl. Hilberg, Anatomie des Holocaust, S. 179. 332 Zitat: ebd., S. 195.

93 schmerzhaft ehrliche Aussagen in Bezug auf die Schuld der Überlebenden.

„Nach der Befreiung, mussten sie sich für ihr Überleben rechtfertigen. Die antisemitische Logik, wonach bloß ein toter Jude ein guter sein könnte, hat paradoxerweise das ‚Dritte Reich‘ überdauert .“ 333

Rabinovici beendet sein Buch mit der Feststellung, dass die Kooperation der Judenältesten nicht mit Mittäterschaft gleichzusetzen ist. Diese Männer standen unter wahnsinnigem Druck und handelten nur nach ihrem besten Gewissen. Die Hoffnung blieb, zumindest einen Teil ihrer Gemeinde zu retten. Denn die Funktionäre verfügten über keine eigene Macht, sie konnten nur Befehle ausführen. Auch sagt Rabinovici, es liege nicht nur an der jüdischen Tradition der Passivität, es sei vielmehr so, dass jede Opfergruppe in dieser furchtbaren Situation gleich gehandelt hätte. 334

5.4 Spezifische Auseinandersetzung mit einzelnen Judenältesten

Neben Historikern, die sich mit dem Thema Judenrat in seiner Gesamtheit auseinandergesetzt und einen Überblick über die verschiedenen Judenräte und deren missliche Situation geliefert haben, gab es auch einige Historiker, die sich mit ausgewählten Personen, nämlich den Judenältesten, beschäftigt haben. Sie waren in den Ghettos das Sprachrohr und die direkte Verbindung zu den Nazis und deshalb vielfach verhasst. Je konfliktbehafteter ein Judenältester im Ghetto auftrat, desto mehr Publikationen lassen sich zu ihm finden. Philip Friedman schrieb drei Artikel zu drei kontroversen Judenältesten, die posthum im Buch Roads to Extinction: Essays on the Holocaust erschienen. Pseudo Saviors in the Polish Ghettos: Mordechai Chaim Rumkowski of Lodz; The Messianic Complex of a Nazi Collaborator in a Ghetto: Moses Merin of ; Jacob Gens: Commandant of the Vilna Ghettobewohner. Diese drei Männer wurden von Friedman als rücksichtslos, autokratisch und größenwahnsinnig beschrieben. Sie sahen sich als die wahren Retter des jüdischen Volkes, als Wiedergeburt des Messias. Die von den Nazis eingeführte Hierarchie in den Ghettos glich ihrem eigenen Führerprinzip. An der Spitze jeder jüdischen Gemeinde stand ein Führer, bezeichnet als Judenältester, und ihm oblag die gesamte Macht, was dazu führte, dass besagte Männer anfingen, in ihren neuen Rollen voll aufzugehen. 335 Moses Merin, der die jüdische Leitung aller Ghettos Ost-Oberschlesiens innehatte, herrschte über dieses Gebiet mit eiserner 333 Zitat: Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 26. 334 Vgl. Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht, S. 412 ff. 335 Vgl. Friedman, Roads to Extinction, S. 334.

94 Faust. Wer die von ihm auferlegten Steuern nicht zahlen konnte oder wollte, dem drohte er mit sofortiger Entsendung zum Arbeitsdienst oder mit Versetzung in ein Konzentrationslager. Sein egoistisches Verhalten blieb nicht ohne Folgen für Merin. Er stieß auf den Widerstand der zionistischen Jugendgruppen im Ghetto, die sein diktatorisches Auftreten nicht länger dulden wollten. Sie schrieben Pamphlete und Flugblätter gegen den Judenrat, aber noch mehr, um den Widerstand gegen die Deutschen zu fördern. Sie riefen die Arbeiter zu Sabotageakten auf und sammelten Waffen, um für einen Aufstand gerüstet zu sein. Merin konnte das autonome Handeln dieser Gruppen nicht lange zulassen und forderte Gehorsam von den Jugendlichen. Der interne Konflikt ging so weit, dass sie ein Attentat auf Merin verübten, das aber erfolglos blieb. Alle diese Aufstände konnten ihn allerdings nicht wachrütteln, er blieb bei seiner Philosophie: Man muss Menschen opfern, um andere zu retten. All sein Bemühen, seine Schäfchen zu retten, blieb erfolglos; als die Bewohnerzahl so niedrig war, dass alle in ein Ghetto passten, brauchten die Deutschen ihn nicht mehr. Er wurde im Juni 1943 zu einem Treffen mit der SS-Führung beordert, von dem er nicht zurückkommen sollte. 336 Auch wenn Merins Verhalten leicht zu kritisieren wäre, sagt Friedman, dass man Judenälteste nicht so leicht verurteilen kann.

„These ghetto leaders were not simple ‚villains‘. Their downfall was the result of complex internal conflicts, coupled with tremendous pressure from the German enemy. “337

Eine weitere erwähnenswerte Publikation ist das Buch von Leonard Tushnet aus dem Jahr 1972: The Pavement of Hell , in dem der Verfasser genauer auf das Leben von Mordechai Chaim Rumkowski, Adam Czerniakow und Jacob Gens eingeht. In jedem Kapitel versucht der Autor, das Leben der einzelnen Personen zu rekonstruieren: in welchen Verhältnissen sie aufgewachsen sind, wie sie in den Judenrat gekommen sind und wie sie sich in ihrem Amt verhalten haben. Jedes Kapitel bietet verschiedenste Zeitzeugenberichte zu den jeweiligen Protagonisten, die noch einmal einen anderen Blickwinkel als eine historisch-analytische Sicht liefern. Man darf bei Zeitzeugenaussagen natürlich nie die emotionale Befangenheit vergessen, die diese prägt. Tushnet beschreibt Chaim Rumkowskis Charakter als tonangebend und herrisch. Wenn er sich etwas in den Kopf setzte, musste es ausgeführt werden. Er verstand seine Befehle als bindend, nicht nur für die Juden im Ghetto, sondern auch für die Deutschen. Er stellte viele Forderungen an sie, wenn zum Beispiel Geld für Reparaturen und Renovierungen gebraucht wurde oder es um die Freigabe gesperrter Bankkonten ging. Es

336 Vgl. ebd., S. 354 ff. 337 Zitat: Friedman, Roads to Extinction, S. 353.

95 wurden bei Weitem nicht alle seine Forderungen erfüllt, geschweige denn überhaupt angehört. Aber seine Beharrlichkeit verhalf ihm zu mehr Vertrauen bei den Deutschen. 338 Im Kapitel zu Adam Czerniakow geht Tushnet umfassend auf dessen Selbstmord ein, wie er gedeutet werden kann und wie er im Ghetto aufgenommen wurde. Als sich die Nachricht vom Suizid des Judenältesten herumsprach, deuteten dies viele als schlechtes Omen für das Warschauer Ghetto. In den folgenden Monaten wurden 300.000 Juden nach Treblinka geschickt und dort ermordet. Die Meinungen zum Selbstmord Czerniakows waren gespalten. Einige sahen es als feigen Ausweg; er hätte sein Wissen um die Deportationen mit der Ghettobevölkerung teilen müssen. Andere glaubten sein Anstand verbot es ihm, für den Mord an tausenden Juden verantwortlich zu sein und er entschied sich deshalb dafür, sein Leben zu beenden. 339 Eine Zeitzeugin mutmaßt:

„Maybe he wanted his action to signal for an uprising on our part. Through his death we were to have understood that the last moment drew near, that we had nothing to lose .“ 340

Auch Tushnet kommt zu einem wichtigen Schluss, der bei jeder Beschäftigung mit dem Thema Holocaust nie vergessen werden darf. Der Plan der Deutschen bestand darin, die jüdische Rasse auszulöschen, sie wollten keine unbezahlten Arbeiter und Arbeiterinnen oder gar die Sklaverei einführen, sie wollten ihren Tod. Die Judenräte wurden aus einem Grund eingerichtet, um gezielt deutsche Befehle auszuführen und ein Bindeglied zwischen den Machthabern und den Juden zu sein. Tushnets Urteil fällt klar aus, die Judenräte waren keine Kollaborateure.

„What they did may have helped the Germans, but that was not their aim. Not one of them profited by his deed, and by profiting I do not mean in cash but in the most precious possession of all – in life itself .“ 341

Alle drei in Tushnets Buch beschriebenen Männer hätten eine oder mehrere Chancen gehabt, entweder das Ghetto und das Land zu verlassen oder durch einflussreiche Bekannte ihr Leben zu retten. Doch sie entschlossen sich dazu, bei ihren Gemeinden zu bleiben und sie auch im Angesicht des Todes nicht alleine zu lassen. Sie wollten alle ihre Juden retten. Rumkowski war der Zielstrebigste mit seinem Plan, als Retter der Juden in die Geschichte einzugehen, 338 Vgl. Tushnet, Pavement of Hell, S. 13 ff. 339 Vgl. Tushnet, Pavement of Hell, S. 128 ff. 340 Zitat: ebd., S.130. 341 Zitat: ebd., S. 204.

96 und mit diesem Ziel vor Augen agierte er. Dafür errichtete er die Ghettoarchive und sorgte für ein produktives Ghetto, um den Deutschen zu zeigen, dass die Juden ihnen noch nützlich sein können. Auch Czerniakow war ambitioniert, aber ruhiger in seinen Taten als Rumkowski. Er wollte den Feind nicht ärgern, er sah die Chance auf Überleben in stillem Gehorsam. Jacob Gens verbindet in gewisser Weise die Strategien beider Männer. Er setzte wie Rumkowski auf Arbeit, die Nützlichkeit der Juden und auf Gehorsam und Pflichtbewusstsein wie Czerniakow. Er gab den Glauben nie auf, die Deutschen würden den Krieg verlieren. 342 Tushnet schließt sein Vorwort mit den treffenden Worten:

„I believe the stories of their lives will confirm the conclusion expressed in the title of this book: that they were men with good intentions. Their feet laid hold on Hell, but the paths that led to the death camps Chelmno, Treblinka, Majdanek, and Auschwitz were not of their making. “343

Die gegenwärtige Forschung zum Thema Judenräte gelangt zu einem tieferen Verständnis der Zwangslage, in der sich die Betroffenen befanden. So findet man in den Stellungnahmen der aktuell führenden öffentlichen Institutionen der Holocaustforschung, Yad Vashem in Jerusalem und das United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington, Hinweise auf die ausweglose Situation der Judenräte und das unvorstellbare Dilemma, in dem sie sich befanden. Sie versuchten, ihrerseits eine Balance zu finden zwischen der Verantwortung für das jüdische Überleben und dem Zwang, alle deutschen Befehle ohne Umwege und Kompromisse auszuführen. Die aktuelle Beantwortung der Schuldfrage ist um vieles einfühlsamer als in der Nachkriegszeit.

342 Vgl. ebd., S. 201 ff. 343 Zitat: ebd., S. XI (Foreword).

97 Vierter Teil

6 Schlussteil

Mit der Einsetzung der Judenräte in den Ghettos begann ein Abschnitt der jüdischen Geschichte, der lange verdrängt und tabuisiert wurde. Die Auseinandersetzung mit vermeintlichen Kollaborateuren innerhalb der eigenen Reihen war ein schmerzhafter Prozess. Doch lassen sich die Mitglieder der Judenräte so einfach als Mittäter verurteilen? Diese Arbeit hat sich dieser Frage angenommen und zieht nun ein Fazit.

Die Einführung der Judenräte geht auf Reinhard Heydrichs Schnellbrief vom 21. September 1939 zurück. Sein Ziel war es die Juden zu zwingen, an ihrer eigenen Unterdrückung und Ausgrenzung innerhalb der besetzten Gebiete mitzuarbeiten. Die Juden organisierten sich allerdings schon vor dem offiziellen Befehl innerhalb selbst eingerichteter Hilfskomitees. Vielerorts fühlten sich die Mitglieder der Vorkriegs-Kehilla verpflichtet, ihre Führungspositionen beizubehalten. Dieses Pflichtbewusstsein wurde von der deutschen SS sofort instrumentalisiert, als es um die Bestimmung der ersten Judenräte ging. Die Mehrzahl der Mitglieder war in irgendeiner Form bereits politisch oder religiös im Gemeindeleben in Erscheinung getreten und übernahm die neuen Aufgaben, die von den Deutschen gestellt wurden.

Der Ghettoisierungsprozess vollzog sich in Osteuropa innerhalb weniger Monate. Die deutsche Gründlichkeit und Ordnungsliebe sparten auch die Kriegsführung nicht aus. Somit änderte sich das Leben hunderttausender Menschen innerhalb kürzester Zeit. Die Ghettos wurden zügig aufgebaut, sobald sich die deutschen Behörden genau über ihre Aufgaben im Klaren waren. Zu Beginn nur als Zwischenlösung und Übergangssituation angesehen, entwickelten sich manche Ghettos zu wahren Arbeitslagern und wichtigen Wirtschaftszweigen. Der fortdauernde Krieg zwang die Deutschen dazu, auf die Arbeitskräfte in den Zwangsarbeitslagern zurückzugreifen. Um die Leistungen im Kriegseinsatz aufrechtzuerhalten, wurden systematisch jüdische Institutionen zur Leitung der Ghettos eingesetzt. Man sparte somit deutsches Personal und machte gleichzeitig die Opfer selbst für die reibungslose Ausführung deutscher Befehle verantwortlich.

98 Städte wie Lodz, Warschau und das tschechische Terezin waren vor Kriegsausbruch Zentren jüdischen Lebens und jüdischer Kultur. Diese Ballungszentren wurden bewusst für die Errichtung der Ghettos ausgewählt, um die Transportwege und Umsiedelungsaktionen zu vereinfachen. Die Ghettos Lodz und Warschau verfügten über einige Gemeinsamkeiten. Beide Städte waren vor Kriegsbeginn reich an jüdischem Leben, das nach dem Überfall Deutschlands immer mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurde. Beide Ghettos wurden bewusst in die zuvor bestehenden Armenviertel verlegt, in denen die Lebensbedingungen katastrophal und das vorgesehene Gebiet erheblich zu klein für die Anzahl der eingesperrten Menschen waren. Diese Zustände sorgten für regelmäßige Epidemien.

Die Lebensbedingungen in Theresienstadt waren nicht sonderlich besser, nur war der Aufbau des Ghettos ein wenig anders. Theresienstadt als Festungskomplex war deutlich anders aufgebaut als die zuvor genannten Ghettos, für deren Errichtung einfach begrenzte Straßen und Viertel von der Außenwelt abgeriegelt wurden. Die Festung Theresienstadt fungierte zuvor bereits als Gefangenenlager und wurde kurzerhand mit einer neuen Aufgabe betraut. Sie sollte Adolf Eichmanns Vorzeige-Ghetto werden als Alterssitz der deutschsprachigen Juden. Ziel dieser Arbeit war es die Frage der Schuld der Judenräte zu klären. Im Lauf der Zeit einigten sich die Historiker darauf, dass man den Judenräten keine kollektive Mitschuld am Holocaust geben kann. Nein, die Judenräte waren nicht mitschuldig am Massenmord an den Juden. Sie selbst wurden als Instrumente im Vernichtungsprozess benutzt, die keine freie Wahl ihres Handelns hatten. Unter der Voraussetzung, nur von Kollaboration zu sprechen, wenn die Zusammenarbeit für alle beteiligten Personen positive Auswirkungen hat, kann man die Kollaborationsvorwürfe an die Judenräte eindeutig zurückweisen. Die Bilanz zeigt, dass kaum ein Judenratsmitglied den Holocaust überlebt hat. Die Zusammenarbeit mit den Deutschen erfolgte ausschließlich unter Druck und Zwang. Weigerten sie sich Befehle auszuführen, bedeutete dies den sicheren Tod.

Auch jene kontroversen Männer, die es angeblich genossen, im Rampenlicht zu stehen wie Chaim Rumkowski oder Jacob Gens, verfügten nur scheinbar über eigene Macht. Sie gingen bloß mit ihrer Aufgabe nach außen hin anders um. Chaim Rumkowski war überzeugt davon, die Situation der Juden durch seinen Führungsstil zu verbessern und damit Leben zu retten. Der Gedanke, ein Messias der Juden zu sein, mag zwar größenwahnsinnig anmuten, jedoch verdankten die Juden in Lodz der eiskalten Führung Rumkowskis die längste

99 Überlebenschance in einem Ghetto. Er hielt sich während seiner Amtszeit strikt an die Regeln und Befehle der deutschen Machthaber und verstand sich, ganz dem Wunsch der Deutschen entsprechend, als einziger Befehlsempfänger unter den Juden. Sein autokratisches Verhalten wurde ihm oft negativ ausgelegt und einige seiner Mitmenschen beschrieben ihn als herrisch, aggressiv und machtbesessen. Allerdings führen diese Verhaltenszüge nicht automatisch zu dem Schluss, ihn als Mittäter zu verurteilen. Er regierte sein Ghetto nach seinen Vorstellungen, von denen er glaubte, sie würden das Überleben der Massen garantieren. Er prägte das Ghetto mit seinem Motto „Unser einziger Weg ist Arbeit“, um so lange wie möglich für die deutsche Kriegswirtschaft nützlich zu sein. Gemäß diesem Plan musste er schwere Entscheidungen treffen, die er nicht leichtfertig und mit bösen Absichten ausführte. Seine emotionale Rede vor den Ghettobewohnern über die Deportation der Kinder aus dem Ghetto zeigt, dass ihm dieser deutsche Befehl nicht leichtfiel, er ihn aber trotzdem ausführte, um keine Konfrontation mit der SS zu provozieren. Rumkowski versuchte, das Leben für alle im Ghetto gleich zu gestalten; um Kollektivstrafen der Deutschen zu vermeiden, ging er deshalb rigoros gegen Schmuggel und andere Straftaten im Ghetto vor. Sein Charakter neigte zu Größenwahn und schon vor dem Krieg liebte es Rumkowski sich selbst feiern zu lassen und von den Menschen seiner Umgebung geliebt zu werden. Mit seiner Arbeit in den Waisenhäusern von Lodz vor dem Krieg ist die Position als Judenältester natürlich nicht zu vergleichen. Sein Ziel war es, als großer Mann in die Geschichte einzugehen und das ist ihm ohne Zweifel gelungen. Die Person Rumkowski wird wohl eine kontroverse bleiben, jedoch bleibe ich bei dem Schluss: Eine Person, die ihren Handlungsspielraum nicht selbst bestimmen kann, kann man nicht als Täter verurteilen. Ich schließe mich einer Aussage eines Überlebenden, Jack Moss, an, der zur Person Mordechai Chaim Rumkowski Folgendes sagte:

„Rumkowski was a foolish, vain, conceited man. Yet I must admit he had principles... one had to be crazy as he was, an unbounded egoist, to shoulder such a job as he had... “344

Die Bearbeitung dieses Themas sollte aufzeigen, wie verschiedene Männer mit der ungemein tragischen Aufgabe eines Judenältesten umgegangen sind. Die ausgewählten Personen sollten verdeutlichen, dass es nicht nur eine Strategie gab. So sieht man am Beispiel von Adam Czerniakow, was der Druck und die schier ausweglose Situation mit einem Mann anrichten können: die Entscheidung, sein eigenes Leben zu beenden, um nicht mit der Schuld am Tod unschuldiger Menschen leben zu müssen. Er wird für diesen Schritt zum einen als Märtyrer gefeiert, aber auch als schwach und ungeeignet für dieses Amt bewertet. Viele Mitmenschen

344 Zitat: Tushnet, Pavement of Hell, S. 68 ff.

100 beschrieben ihn als inkonsequent und hielten ihm vor, dass er sich zu sehr auf die Seite der reichen Juden stellte und somit das Leben der Ärmsten im Ghetto noch verschlimmerte. Im Ghetto stellte sich bald die Mehrheit der Menschen gegen ihn und machte ihn für die katastrophalen Lebensbedingungen verantwortlich, obwohl er unermüdlich für eine Verbesserung kämpfte und auch er – gezwungen von den Deutschen – mit zwielichtigen Personen zusammenarbeiten musste und bloßer Befehlsempfänger war. So beschrieb Marcel Reich-Ranicki Czerniakows Selbstmord.

„Alle waren erschüttert, auch seinen Kritiker, seine Gegner und Feinde, auch jene, die ihn noch gestern verspottet und verachtet hatten. Man verstand seine Tat, wie sie von ihm gemeint war: als Zeichen, als Signal, daß die Lage der Juden Warschaus hoffnungslos sei. Man verstand sie als verzweifelte Aufforderung zum Handeln. “345

Die dritte Person, die die kleinste Gruppe der Judenratsmitglieder repräsentiert, ist Benjamin Murmelstein. Er steht für die Überlebenden. Die Vorwürfe, die gegen ihn erhoben werden, gehen sogar so weit, ihm sein eigenes Überleben negativ auszulegen. Er widmete einen großen Teil seines Lebens dem Dienst für die jüdische Bevölkerung. Zuerst in Wien, wo er vor dem Krieg als Rabbi tätig war, über die ersten Jahre, als er in der Zentralstelle für jüdische Auswanderung arbeitete, bis zu seiner schwierigsten Position: der letzte Judenälteste im Ghetto Theresienstadt. Sein ungewisses Schicksal ging auch nach dem Krieg weiter, er musste sich vor einem Ehrengericht verantworten und verbrachte über ein Jahr in der Tschechoslowakei in Haft, bevor er Österreich für immer verließ und nach Italien auswanderte. Er erlangte nie wieder jenen Status, den er als Jude vor dem Krieg in Wien gehabt hatte. Er sah sich sein Leben lang als Sündenbock; so beschrieb Murmelstein seine Lebenssituation im Interview mit Claude Lanzmann treffend:

„Der ‚dumme‘ Esel geriet unvermeidlich in den tragisch-komischen Zustand, einen winzigen Spielraum nutzen zu müssen. Durch die Stellung eines Funktionärs zwischen Tätern und Opfern – wenngleich selbst Opfer – zwischen Hammer und Amboss. “346

Ich schließe mich der Meinung der Mehrheit der zeitgenössischen Historiker an: Man kann die Männer, die zu dieser Aufgabe gezwungen wurden, nicht als Kollaborateure einstufen. Sie versuchten ihren Handlungsspielraum so zu nutzen, wie es im Interesse der gesamten jüdischen Gemeinde lag, auch wenn dies bedeutete, den Deportationsprozess zu unterstützen. Egal, welche Strategie die Judenältesten verfolgten, ob „Rettung durch Arbeit“, den Versuch,

345 Zitat: Czerniakow, Tagebuch, S. 296. 346 Zitat: Hauff, Zur politischen Rolle, S. 308.

101 die Kinder und Alten besonders zu schützen oder den Selbstmord als einzigen Ausweg – jeder Judenälteste, egal in welchem Ghetto und in welcher Stadt, arbeitete in einem System, das Rettung ausschloss.

102 7 Bibliografie

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