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FANNY UND ALEXANDER

Ein Musical von Gisle Kverndokk (Musik) und Øystein Wiik (Libretto) nach Ingmar Bergmans Film von 1982

Deutsch von Elke Ranzinger und Roman Hinze Auftragswerk des Landestheaters Linz

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Inhalt

Besetzung / Orchester/ Team 3 Warped for Life by 5 Lebenslauf (Reclams Filmführer) 6 Lebenslauf Ingmar Bergman (Kino.de) 7 Beschreibung Fanny und Alexander (Reclams Filmführer) 8 Beschreibung Fanny und Alexander (Wikipedia) 9 Memories of a Child Star (Bertil Guve) 10 Zitate aus Margarete von Trottas Film Auf der Suche nach Ingm, Bergman 11 Lebensläufe Gisle Kverndokk (Musik) und Øystein Wiik (Libretto) 12 Artikel “Ein freudiger Schock” über Ingmar Bergmans Zeit in München 13 Auszüge aus “Fanny und Alexander – Roman in sieben Bildern” 16 Auszüge aus “Laterna Magica”, Ingmar Bergmans Autobiografie 37 Uppsala – Schauplatz von Fanny und Alexander (Karte) 41

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FANNY UND ALEXANDER (UA) Musik von Gisle Kverndokk, | Buch und Gesangstexte von Øystein Wiik | Nach dem Film von Ingmar Bergman Deutsch von Elke Ranzinger und Roman Hinze | In deutscher Sprache

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Warped for life by Fanny and Alexander Posted By Dmitry Samarov on 09.14.18 at 06:00 AM

My parents took me to see Ingmar Bergman's a world of dusty treasures and mystical philosophy, Fanny and Alexander when it was released in the a place where Alexander can get lost in his United States in 1983, and it warped me forever. I imagination. I have to believe that the sequence in don’t recall what month we went to see it, but I Isak's home which has haunted me all these years was either about to turn 13, or had just turned 13. must at least partially derive its power from my I do remember that we saw it at the Nickelodeon sense of identification or kinship. I've rarely had Cinema, just off Commonwealth Avenue, located in emotional reactions to Jewish themes in art, but between buildings belonging to Boston University. something about Isak's world feels very close to That movie theater is long gone, as are many other home. landmarks of my Boston youth, but memories from One of the overarching themes I've noticed in the those years linger and are reactivated often. Bergman films I've revisited or seen for the first Especially when I revisit a movie or book from long time over the past couple months is a child's ago. The Siskel Film Center's celebration of exposure to the adult world before he is able to Bergman has provided a great opportunity to process it. There are dozens of instances of little plunge into my own past. boys and girls stumbling upon grown-ups doing I didn't recall much of the plot of Fanny and seemingly incomprehensible things. The entirety of Alexander when I rewatched it recently but a The Silence (1963), for instance, is a prolonged and sense-memory of seeing something I shouldn't unasked-for plunge into debauchery, sickness, and have seen, or was maybe too young to see, has depression seemingly performed for the benefit of followed me around ever since my trip to the the protagonist, a little blond boy who has no idea Nickelodeon 35 years ago. I only remember one much of the time what he’s looking at. There’s a scene. It's when the young hero of the film, callback to The Silence in Fanny and Alexander Alexander, is taken to visit an androgynous young when Alexander wanders out of a bedroom in man named Ismael. Ismael is said to be dangerous Isak's house and, unable to find a chamber pot or and possibly clairvoyant and lives in a locked room bathroom, urinates on the carpet in the corner of in his family's junk shop. Alexander and Ismael the living room. Bergman's reuse of the image of a have one intense interaction that is simultaneously little boy peeing in an inappropriate place 20 years erotic, metaphysical, and horrific. Whether Ismael later speaks to how formative childhood has the magical powers that he claims or not, experiences can stay with us for decades, and Alexander believes it, and seeing that belief scared perhaps our entire lives. the hell out of me. It made me realize that there What Bergman continues to remind me of, as I was a dark world out there that I might never keep going through his filmography this year, is understand. how the world of our childhood continues Watching Fanny and Alexander as a middle-aged resurfacing at odd moments as we age. The scene man in 2018, after seeing about a dozen of the between Ismael and Alexander that has haunted films Bergman made before it, has lent it a gravity me most of my life takes place toward the end of and richness I wouldn't have been able to grasp as Fanny and Alexander. It is certainly one of the most a teenage boy. I didn't even remember, for pivotal moments in the entire story, but in my instance, that Ismael and his family were Jewish mind's eye all I see is that young boy and that like me. Ismael's uncle Isak, a close friend of strange androgynous young man, their faces close Alexander's grandmother, is very distinctly a together, talking about mysteries beyond anyone's minority and other in the early 20th-century understanding. Swedish society depicted in the film. Isak's shop is

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Ingmar Bergman (*1918 in Uppsala, Ϯ2007 auf Fårö)

Bergman ist der Sohn eines Pastors, die neuen Wegen der filmischen Gestaltung Auseinandersetzung mit Gott und mit der gesucht; aber er hat gezeigt, wie viel Neuland Religion bestimmt einen großen Teil seiner man auf den alten Wegen noch erreichen Filme. Bergman studierte ab 1937 konnte. Literaturgeschichte, brach sein Studium aber Zu Beginn seiner Laufbahn galt er als Chronist bald ab. Er begann, Erzählungen zu schreiben, der skeptischen Nachkriegsjugend, die in der veranstaltete Laienspiele, arbeitete an einem Welt der Erwachsenen keinen Platz mehr Studententheater. 1944 schrieb er für Alf findet. Dann wurden seine Helden älter und Sjöberg das Drehbuch zu dem Film Hets. entdeckten die Probleme von Ehe und Beruf, Wenig später inszenierte er seinen ersten die Bergman in den fünfziger Jahren – auch eigenen Film, Kris (Krise), der ein Misserfolg mit den Mitteln der Komödie – behandelte. wurde. Trotzdem wurde Bergman mit Mit dem Film Das siebente Siegel (1956) weiteren Filmen in Schweden schnell bekannt, begann das bohrende Fragen nach dem Sinn während man im Ausland erst durch seine des Lebens, nach Gott, nach dem Komödie Sommarnattens leende (Das Lächeln Selbstverständnis des Menschen. Und einer Sommernacht) (1955) auf ihn schließlich diagnostizierte Bergman in Filmen aufmerksam wurde. Neben seiner Tätigkeit für wie Szenen einer Ehe die Widersprüchlichkeit den Film ist Bergman auch ein bedeutender des Lebens und die Schwierigkeit des Theaterregisseur. Menschen, sich als Individuum und als Partner „Ich versuchte, die Wahrheit über die zu verwirklichen. menschlichen Verhältnisse zu erzählen, die Nach einer Auseinandersetzung mit den Wahrheit – so wie ich sie sehe“ (Bergman). Für schwedischen Steuerbehörden arbeitete Bergman ist der Film stets Mittel zum Zweck. Bergman einige Jahre überwiegend in Das formale Experiment hat ihm wenig Deutschland. bedeutet, wenn es ihm nicht half, sich besser, d.h. eindringlicher und überzeugender, zu Reclams Filmführer, 9. Auflage, Stuttgart 1993 artikulieren. Er hat nicht um jeden Preis nach

Ingmar Bergman mit seinem Kameramann Sven Nykvist (dpa/Scanfoto_code_591)

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Ingmar Bergman (*1918 in Uppsala, Ϯ2007 auf Fårö)

Ritter im Mittelalter zur Zeit der Pestepidemien mit dem leibhaftig auftretenden Tod Schach spielt, Wilde Erdbeeren, eine Reise in die Vergangenheit eines alten Mannes, oder Die Stunde des Wolfs, in dem Künstler generell als visionäre Außenseiter geschildert werden. Neben diesen düsteren Arbeiten finden sich im Werk Bergmans Komödien, deren frecher und lockerer Ton überrascht, so Das Lächeln einer Sommernacht oder Die Zeit mit Monika sowie sein großes Altersepos Fanny und Alexander, das in epischer Form Bergmans Kosmos bündelt.

Bergman blieb zeit seines Lebens von der Erziehung als Sohn eines lutherischen Pastors beeinflusst. Er begann mit Bühnenstücken und fand über das Theater, in dem er schon einen Er war der Inbegriff des introvertierten Regisseurs, gefestigten Ruf hatte, früh zum Film, wo er 1945 der sich quälend mit psychologischen Prozessen debütierte, auch als Folge der Bemühungen der und religiöser Sinnsuche, seelischen Konflikten, schwedischen Filmindustrie, junge Talente zu Träumen und Halluzinationen, dem Unbewussten fördern. Bergman war mehrfach mit den und existenzialistischen Problemen in einer Welt, Darstellerinnen seiner Filme liiert, was sich in den in der Gott schweigt, auseinandersetzt. Der 1918 in Werken niederschlug. Vor allem seine Zeit mit Liv Uppsala geborene Ingmar Bergman galt als Ullman in den 1960er und 1970er Jahren gilt als pessimistischer Regisseur, dessen verzweifelte seine reifste Periode. 1976 wurde Bergman wegen Sicht von sexuellen Beziehungen und scheiternden angeblicher Steuerhinterziehung verhaftet und Paaren ein eigenes, unverwechselbares Universum verließ Schweden, drehte in Deutschland Das schuf, das von einer glasklaren Bildsprache mit von Schlangenei und inszenierte am Residenztheater in der Traumanalyse Sigmund Freuds beeinflussten München. Nach Klärung der Steueraffäre kehrte er Symbolen getragen wurde: Gottes Werk und 1980 nach Schweden zurück, wo er nach dem Teufels Beitrag. weltweiten Triumph von Fanny und Alexander nur noch für das Fernsehen drehte und am Theater Als Frauenregisseur, der mit Schauspielerinnen wie arbeitete. Bibi und , , Gunnel Lindblom, , und Lena Olin Bergmans Werk wurde mit Preisen überhäuft. Sein Filme inszenierte, führte Bergman sie an die Einfluss reicht bis in den Werkkanon von Grenzen psychischer Belastbarkeit (Von Angesicht Regisseuren wie Woody Allen (Innenleben, Eine zu Angesicht, Persona). Seine Darsteller wie Max Sommernachts-Sexkomödie). 1987 veröffentlichte von Sydow, Gunnar Björnstrand und Erland er seine Autobiografie unter dem Titel Laterna Josephson spielten häufig neurotische, depressive Magica. 1997 wurde Bergman bei den Asketen oder unversöhnlich harte Charaktere. Filmfestspielen in Cannes als „Bester Filmregisseur Bergman suchte das Gespräch mit Gott (Licht im aller Zeiten“ geehrt. Kurz nach seinem 89. Winter), zeigte eine Welt ohne Sinn (Das Geburtstag starb Ingmar Bergman in seinem Haus Schweigen) und thematisierte eine Philosophie der auf der schwedischen Insel Fårö – am gleichen Tag Hoffnungslosigkeit. Zu seinem imposanten wie sein italienischer Kollege Michelangelo Gesamtwerk zählen Filme wie Abend der Gaukler, Antonioni. in dem Zirkusartisten als Metapher für Künstler Kino.de überhaupt stehen, Das siebente Siegel, in dem ein

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Fanny und Alexander (Fanny och Alexander) Schweden/Frankreich/BRD 1982. wehren, hat dann aber plötzlich die Vision einer brennenden Gestalt. Regie: Ingmar Bergman; Drehbuch: Ingmar Bergman; Kamera: Sven Nykvist; Darsteller*innen: Börje Am anderen Tag wird bekannt, dass der Bischof Ahlstedt (Carl Ekdahl), Pernilla Alwin (Fanny Ekdahl), durch einen Unfall in seinem Bett verbrannt ist. Am Harriet Andersson, Gunnar Björnstrand, Allan Edwall Ende feiern die Ekdahls wieder ein fröhliches (Oscar Ekdahl), (Ismael Ekdahl), Ewa Familienfest, eine doppelte Taufe für ein Kind Emilies Fröling (Emilie Ekdahl), Bertil Guve (Alexander aus ihrer Ehe mit dem Bischof und für ein Kind, das Ekdahl), Erland Josephson (Isak Jacobi), Jarl Kulle Emilies Kindermädchen Maj von Gustav Adolf (Gustav Adolf Ekdahl), Jan Malmsjö (Bischof empfangen hat. Vergérus), Christina Schollin, Gunn Wallgren (Helene Und den Schlusspunkt setzt Emilies Entschluss, das Ekdahl), Pernilla Wallgren (Maj). alte Theater, das sie anlässlich ihrer Hochzeit Uppsala 1907. Helena Ekdahl hat ihre drei Söhne und geschlossen hatte, wieder zu eröffnen. Sie schlägt deren Familien zur traditionellen Weihnachtsfeier Helena vor, mit ihr zusammen Ein Traumspiel von eingeladen: Oscar leitet zusammen mit seiner Familie Strindberg zu spielen, und liest ihr aus der das Theater der Stadt, das sich schon in der zweiten „Vorbemerkung“ des Stückes vor: „... alles kann Generation im Besitz der Familie befindet; Carl ist ein geschehen, alles ist möglich und wahrscheinlich. mit sich und der Welt unzufriedener Trinker; Gustav Raum und Zeit existieren nicht. Auf einem Adolf ist als Geschäftsmann und als Schürzenjäger unbedeutenden wirklichen Grunde spinnt die gleichermaßen erfolgreich. Und natürlich sind auch Einbildung weiter und webt neue Muster ...“ die Enkelkinder da – unter ihnen die achtjährige Während der Dreharbeiten erklärte Bergman, dies Fanny und ihr zehnjähriger Bruder Alexander. solle sein letzter Spielfilm werden. Entstanden ist, als Die Weihnachtsfeier gerät ebenso stimmungsvoll wie Extrakt einer vierteiligen Fernsehserie von insgesamt turbulent und – für Alexander wenigstens – ebenso rund fünf Stunden Laufzeit, ein dreistündiger fröhlich wie bedrohlich. Wenig später wird der Junge Kinofilm – der in seiner Vitalität und Virtuosität im Innersten verstört. Man holt ihn mit Gewalt ans durchaus als krönender Abschluss seines filmischen Sterbebett seines Vaters; Oscar hat auf der Bühne Werkes gelten kann. Wieder wird – typisch für einen Herzanfall erlitten. Emilie geht eine zweite Ehe Bergman – die Brüchigkeit der bürgerlichen Ordnung ein mit dem fanatisch-strengen Bischof Vergérus. beschworen, werden Ängste eines Kindes unter dem Terror einer lieblosen Disziplinierung geschildert. Die Aus der sinnlich-heiteren Welt der Ekdahls geraten fröhlichen Feste der Ekdahls, die naive Sinnenfreude die Geschwister in eine Art Gefängnis, in dem Gustav Adolfs etwa verweisen direkt zurück auf einen Düsternis und Askese herrschen. Als Emilie erkennt, Film wie Das Lächeln einer Sommernacht aus dem dass diese Ehe ein Irrtum war, scheint es zu spät. Jahre 1955, die Bilder einer Laterna magica stehen – Vergérus verweigert ihr die Scheidung und droht, wie schon so oft in seinen Filmen – für die heimliche falls sie ihn verlassen sollte, die Kinder durch Flucht eines Kindes in das Land der Fantasie. Fast Gerichtsbeschluss in sein Haus zu holen. scheint es so, als habe Bergman hier in der Tat noch Doch Isak Jacobi, ein weiser Jude und alter Freund einmal Bilanz gezogen – eine Bilanz seiner Wünsche, Helenas, weiß Rat. Durch eine geschickte Intrige, der Träume und Ängste, eine Bilanz aber auch seiner offenbar auch Gott durch ein Wunder hilft, entführt künstlerischen Möglichkeiten, die er hier abermals er die Kinder aus dem Haus des Bischofs. Und ein für einen wahrhaft meisterlichen Film genutzt hat. zweites, schreckliches „Wunder“ geschieht. In Isaks aus: Reclams Filmführer Haus trifft Alexander dessen 16-jährigen Neffen von Dieter Krusche Ismael, der wegen seiner magischen Fähigkeiten in unter Mitarbeit von Jürgen Labenski. einem verborgenen Raum des Hauses lebt. Ismael 9. neubearb. u. erw. Ausgabe eröffnet Alexander, er trage so viel Hass in sich, dass Stuttgart 1993 er damit einen Menschen töten könne. Alexander ist entsetzt, will sich gegen diese furchtbare Kraft

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Fanny und Alexander (Fanny och Alexander) Fanny und Alexander (Originaltitel: Fanny och Isak, ein Freund der Familie Ekdahl und früherer Alexander) ist ein schwedisch-französisch-deutsches Geliebter von Großmutter Helena, entführt Fanny Filmdrama von Ingmar Bergman aus dem Jahr 1982. und Alexander aus dem Domizil des Bischofs und Bergmans letzter offizieller Kinofilm wurde in einer bringt die beiden in seinem Haus unter. Emilie will dreistündigen Kinofassung und einer ebenfalls fliehen und verabreicht Vergérus ein fünfeinhalbstündigen Fernsehfassung gezeigt. Schlafmittel. Nachts begegnet Alexander in Isaks Haus dessen Neffen Ismael, der Alexander mit seinen hasserfüllten Gedanken gegen seinen Stiefvater konfrontiert. In dieser Nacht bricht in der Wohnung der Familie Vergérus ein Feuer aus, nachdem die bettlägerige Tante eine Petroleumlampe umgestoßen hat. Der Bischof kommt bei dem Brand ums Leben.

Emilie kehrt mit ihren Kindern in den Schoß der Familie Ekdahl zurück, wo sie ihr drittes Kind zur Welt bringt. Gustav Adolf, der selbst gerade Vater geworden ist, hält anlässlich der Feier eine Lobrede auf das Leben, das man wegen seiner Kürze genießen Bergman mit den Jungdarstellern von Fanny und Alexander solle. Alexander erscheint sein verstorbener Stiefvater, der ankündigt, ihn von nun an regelmäßig Erzählt wird ein Ausschnitt aus dem Leben der heimzusuchen. Schließlich eröffnet Emilie ihrer großbürgerlichen Familie Ekdahl im Schweden des Schwiegermutter Helena, dass sie ein neues Stück frühen 20. Jahrhunderts. Familienoberhaupt ist die einspielen und dafür Helena als Mitwirkende Großmutter Helena, aus deren Ehe mit ihrem gewinnen möchte. Helena beginnt aus dem verstorbenen Mann drei Söhne hervorgegangen sind: geplanten Stück, August Strindbergs Ein Traumspiel, Oscar, Gustav Adolf und Carl. Oscar leitet das sich im vorzulesen: „Alles kann geschehen, alles ist möglich Familienbesitz befindende Theater, an dem auch und wahrscheinlich. Zeit und Raum existieren nicht.“ seine viel jüngere Frau Emilie spielt. Sie haben zwei Kinder, Fanny und Alexander. HINTERGRUND: Fanny und Alexander war Bergmans erster in Schweden gedrehter Film seit seinem Während einer Probe bricht Oscar zusammen; er Fortgang nach Deutschland 1976. Er entstand stirbt kurz darauf, betrauert von seiner jungen Frau. zwischen September 1981 und März 1982 in den Sie findet Trost bei Bischof Vergérus, den sie „Filmhuset studios“ des Schwedischen Filminstituts in schließlich heiratet. Alexander, dem sein toter Vater . Die Entscheidung des Instituts, den Film in regelmäßigen Abständen erscheint, ist mit der zu einem großen Teil mitzufinanzieren, stieß wegen Entscheidung seiner Mutter nicht einverstanden. der angeblichen Benachteiligung anderer Regisseure Emilie zieht mit ihren beiden Kindern in Vergérus’ und deren Projekte auf Kritik. Residenz, der mit seiner Mutter, Schwester und einer bettlägerigen Tante lebt. Vergérus bittet Emilie, dass Bergman hatte im Vorfeld angekündigt, dass dies sein sie zum Einzug nicht nur ihre, sondern auch die letzter Kinofilm sein würde. weltliche Habe ihrer Kinder hinter sich lassen möge. 1984 veröffentlichte Bergman den Dokumentarfilm Emilie, Fanny und Alexander leiden bald unter der Das Fanny und Alexander-Dokument über die Strenge, in der Vergérus und seine Verwandten Entstehung des Films. In diesem zeigte er unter leben. Die Geschwister werden eingeschlossen, anderem Gunnar Björnstrands Kampf am Drehort Alexander körperlich gezüchtigt, nachdem er gegen seine Alzheimer-Krankheit. Obwohl von behauptet hat, die erste Frau des Bischofs und deren Björnstrand selbst freigegeben, musste diese Passage Kinder seien bei der Flucht vor ihm ums Leben später auf Druck seiner Witwe entfernt werden. gekommen. Als Emilie trotz einer neuen Quellen: Deutsche und englische Wikipedia Schwangerschaft die Scheidung erbittet, droht der Bischof mit dem Entzug des Sorgerechts ihrer Kinder.

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Memories of a child star The Guardian, Geoffrey Macnab, 30. May 2008

Only once, when Guve started corpsing, did he witness the director's notorious temper. As he stood tittering in front of camera, Bergman exploded. "He jumped up and grabbed my arm and said, 'This is the most outrageous, the most unprofessional behaviour I have ever seen.'" The child star was left in tears. The next take went just as badly. Guve wasn't laughing - now he was crying. Bergman eventually took Guve

Oh boy ... Bertil Guve in Fanny and Alexander into another room. "He put his arm around me. I cried. We talked. Everything was sorted out." Bertil Guve was 10 years old when Ingmar Bergman recruited him to star in Fanny and Alexander. Fanny and Alexander won four Oscars and suddenly Bergman had spotted Guve in a bit part in a Lasse Guve started being recognised on the street. "On the Hallstrom TV movie and had dispatched scouts to his one hand, my life went on just as normal. I went to school to look him over. "When they asked me to the bus stand and waited for the bus to go to audition, I wasn't really interested," Guve recalls school," he recalls. "But I had to take into account today. The Hallstrom movie hadn't been much fun. that people knew who I was when I didn't know who "People were in a bad mood and shouting at each they were." other. There was a lot of anger going round." He had Guve was half-Spanish, which led to some cultural no idea who Bergman was. Guve's mother explained misunderstandings. "After the film, I didn't really to him that Bergman was almost as famous in have the Swedish sense of being humble." But Guve as John Wayne or Bjorn Borg. "And she soon realised that some Swedes thought he was added - don't worry! They won't choose you for the showing off by talking about Fanny and Alexander. "I part." made the decision that I would never talk about the To Guve's immense surprise, he was chosen to play film unless someone asks me 15 or 20 questions and I Alexander (the character based on Bergman himself know that they are really interested." as a young boy). "I asked Ingmar later why he chose These days, Guve works for the Royal Institute of me. He said it was because I acted with my eyes." It Technology in Stockholm. He and Bergman stayed in helped, too, that Guve had a dreamy, slightly touch over the years. When Guve wrote a PhD thesis melancholy quality as well as a vivid imagination. on Judgment and Conviction in Business Decisions he (During his audition, he told a tall tale about having sent a copy to Bergman. "I don't know if he read it, killed his grandfather, which greatly appealed to but he sent me a message thanking me 'so much for Bergman.) the lovely book'." Bergman didn't tell Guve what Fanny and Alexander And what about the farting? In one of the most was about. It was shot in chronological order. Only celebrated scenes in Fanny and Alexander, Uncle Carl slowly did Guve realise this was a story about a is shown breaking wind on the staircase for the young boy at war with his disciplinarian stepfather, entertainment of the kids. He is a virtuoso in the art, the bishop. Despite the sometimes downbeat subject even able to blow out candles with his exhalations. matter, the atmosphere on set was high-spirited and No, Guve explains, the actor wasn't breaking wind for full of expectation - this was, after all, the largest film real. "They had a person sitting right next to the ever made in Sweden. Guve enjoyed himself, running candle with a tube." If you study the scene carefully, amok during the breaks between shooting. "I'd get you will notice that the wind that blows out the back and be all sweaty. My clothes would sometimes candle doesn't actually come from the direction of be dirty and the crew would panic." Uncle Carl's backside. "It comes from the side." So much for method acting.

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Auf der Suche nach Ingmar Bergman Zitate aus Margarete von Trottas Film von 2018

Interviewer: verschwunden, dann sind sie „Definieren Sie Filmregisseur!“ verschwunden. Das Publikum wird es akzeptieren.“ Antwort von Bergman: Kunst definiert, was wahr ist. „Vor lauter Problemen nicht zum Nachdenken kommen.“

von Trotta:

„Kinder filmen, wie in Fanny und Olivier Assayas, französischer Regisseur, Drehbuchautor und Filmtheoretiker, über Bergman: Alexander, das konnte keiner besser. „Es gibt bei ihm immer einen Bezug zur In mir löst das Gefühle aus ...“ Magie, zum Unsichtbaren, zum Assayas: Übernatürlichen, das mehr oder weniger „Ja, weil das Kind einen Bezug zu ihm präsent, jedoch dicht unter der Oberfläche ist. In Fanny und Alexander sucht der hat, weil er eine Geschichte über sich Pastor die Kinder, die in einem Koffer als Kind erzählt. Keine anderen versteckt wurden. Der Pastor kommt, der Kinder. Er ist es immer selbst. Rabbi öffnet den Koffer, und die Kinder von Trotta: sind nicht mehr drin, sie sind in einem anderen Koffer, in der ersten Etage. Als ich „Er filmt Kinder nie wie ein Vater, er mich mit Bergman für mein Interview-Buch filmt sie, als wäre er ein Kind. Wenn traf, fragte ich: er Kinder filmt, dann nur aus der „Glauben Sie an Magie, ans Perspektive von ihm als Kind.“ Übernatürliche? Das Übernatürliche ist ja bei Ihnen im Film unglaublich präsent. Das zeugt vom Glauben ans

Unsichtbare.“ Bergman: Er sieht mich an und sagt: „Ich habe mich stets einsam gefühlt „Wissen Sie, Olivier, ich bin ein alter in der Welt da draußen und mich Filmemacher mit viel Erfahrung. deshalb ins Filmemachen geflüchtet. Wenn ich beschließe, die Kinder sind Doch jedes Gefühl einer im Koffer, dann sind sie drin. Wenn Zusammengehörigkeit ist Illusion.“ ich beschließe, sie sind

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Gisle Kverndokk & Øystein Wiik

Geboren 1967 Studienzeit fing in Trondheim, Øystein Wiik an ist GISLE zu schreiben, KVERNDOKK zunächst für einer der Revuen, danach vielseitigsten Kinderstücke Komponisten und Liedtexte seiner für verschiedene Generation. Interpreten. Nach privatem Seit 2010 Unterricht in schreibt Wiik auch sehr erfolgreich Kriminalromane, Musiktheorie und Komposition studierte er an der inzwischen sind es zehn, darunter die ins Deutsche Staatlichen Musikakademie in Oslo und an der übersetzten „Tödlicher Applaus“ und „Leiche in Juilliard School in New York außer Komposition auch Acryl“ Orchesterleitung, Klavier und Flöte.

Gisle Kverndokk komponiert für nahezu alle Genres, wobei neben Vokal- Kammermusik- und ØYSTEIN WIIK UND GISLE KVERNDOKK bilden das Orchesterwerken das Musik- und Tanztheater ein derzeit produktivste und erfolgreichste europäische Schwerpunkt in seinem Schaffen einnimmt. Die Autorengespann im Bereich Musical. wichtigsten Orchester Norwegens haben Werke von Nach dem Erfolg von „Sofies Welt“ 1998 folgte im ihm aufgeführt. Jahr 2001 „Vincent van Gogh“ (ÖE am 2.4.2020 in Schon im Alter von 15 Jahren komponierte er eine Gmunden). Ein Jahr später war die Uraufführung von Radio-Oper im Auftrag des Norwegischen Rundfunks. „Gefährliche Liebschaften“, dem, wiederum knapp Sein erstes abendfüllendes Bühnenwerk „Der ein Jahr später, das Musical „Heimatlos“ Falkenturm“ (Libretto Erik Fosnes Hansen) kam 1990 („Frendelaus“) folgte, das nach seiner Uraufführung auf die Bühne; die Kinderoper „Das Wundermittel“ im Oktober 2003 (Regie: Matthias Davids) in Oslo zu („George’s Marvellous Medicine“) nach Roald Dahl einem der größten Musicalerfolge Nordeuropas entstand 1994 für die Kristiansund Oper und wurde wurde. Wiik und Kverndokk wurden von der 1995 von der Norwegischen Komponisten- Norwegischen Nationaloper beauftragt, die Vereinigung zum Werk des Jahres gewählt. Seine Eröffnungsoper für das neue Opernhaus in Oslo zu Radio-Oper „Bokken Lasson – stumbling success“ schreiben: „Jorden Rundt“, nach Jule Vernes Roman gewann den Prix Italia 2000. 2005 hatte an der „In 80 Tagen um die Welt“. Aufgrund technischer Norwegischen Nationaloper seine Oper „Den fjerde Schwierigkeiten der Hauptbühne des Opernhauses nattevakt“ („Die vierte Nachtwache“) nach dem musste die Uraufführung in die Spielzeit 2009/2010 Roman von Johan Falkberget Premiere, die verschoben werden. enthusiastisch aufgenommen wurde. Für die Domstufen in Erfurt schrieb das Autorenduo „Martin L. – Das Luther-Musical“, das dort im Sommer 2008 in der Regie von Matthias Davids Der 1956 geborene Norweger ØYSTEIN WIIK erhielt uraufgeführt wurde. 2016 wurde „In 80 Tagen um seine Ausbildung an der Staatlichen die Welt – Oder Wie viele Opern passen in ein Theaterhochschule in Oslo sowie in Wien, Bologna Musical?“ am Landestheater Linz, ebenfalls in einer und London. Als Sänger und Schauspieler trat er in Matthias-Davids-Inszenierung, uraufgeführt. 2019 zahlreichen Musiktheater-, Film- und feierte auf den Erfurter Domstufen die Fernsehproduktionen auf und hat an mehreren CD- Musicaladaption von „Der Name der Rose“ ihre Einspielungen mitgewirkt. Im Genre Musical spielte Uraufführung, bevor im April 2020 „Fanny und er Hauptrollen u.a. als Jean Valjean in „Les Alexander“ am Schauspielhaus Linz herauskommt. Misérables“ (sowohl im Londoner West End als auch in Oslo und Wien), „Jesus Christ Superstar“, „Sweeney Todd“ und „Evita“. Schon während seiner

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Ein freudiger Schock Im Februar 1976 floh der weltberühmte Regisseur Ingmar Bergman vor den rabiaten schwedischen Finanzbehörden nach München. Joachim Kaiser erinnert an diesen Glücksfall für das Theaterleben der Stadt. (Süddeutsche Zeitung 13.12.2008)

Einige aufregende Jahre lang hatten Münchens „Hedda Gabler“ von Ibsen aber gelang ihm eine Theaterfreunde Grund, den Stockholmer Interpretation, deren gestaltete Beziehungsfülle und Steuerfahndern dankbar zu sein. Im Februar 1976 historische Tiefe auch mehr als ein Vierteljahrhundert floh der damals schon weltberühmte später noch als exemplarisch gelten muss. Genialisch, Schauspielregisseur und Filmschöpfer vor dem unvergesslich, originell und beziehungsvoll. In einer rabiaten schwedischen Fiskus nach Deutschland, zum Gegenwart, die nur zu gern immer wieder Münchner Residenztheater. In seiner Heimat war er Meisterwerke als Steinbrüche für aktualisierende während einer Theaterprobe wegen Event-Veranstaltungen ausbeutet. Die weder Steuerhinterziehung verhaftet und angeklagt worden. Buchstaben noch Geist großer traditioneller Werke als verbindlich betrachtet. Es war ein freudiger Schock fürs Kultur-München, dass ein Künstler vom Ruhm und Weltrang Bergmans Ein Stück geht in die Theatergeschichte ein die Stadt zu seinem Arbeitsplatz auserwählte. Für den Nicht alle Bergman-Darbietungen seines Münchner damaligen, krisengeschüttelten Residenztheater-Chef Jahrfünfts gelangen gleichermaßen. In Strindbergs Kurt Meisel, dem Bergman das Leben keineswegs „Traumspiel“ kam die surrealistische Komponente ein leichtmachte, bedeutete die tätige Anwesenheit wenig zu kurz. Tschechows „Drei Schwestern“ litten eines Regisseurs von solchem Kaliber – der darunter, dass sich die poetische Atmosphäre nur mannigfache Oscars „für fremdsprachige Filme“ sein gebrochen darstellte. Vielleicht, weil Bergman zu viel eigen nannte – einen Erfolg, der allen damaligen Deutsch konnte, um sich helfen zu lassen – aber eben Gegnern Meisels den Mund verschloss. Hatte nicht doch zu wenig, um das Gewicht einzelner Worte sogar Woody Allen neidlos bekannt, Bergman sei der differenziert zu fühlen. In Molières „Tartuffe“ größte, tiefsinnigste Filmschöpfer der Gegenwart? wiederum stieß man befremdet auf den Nachdem ich als junger Theaterkritiker bei unüberbrückbaren Unterschied zwischen Aufenthalten in Schweden Bergmans dortige französischer und skandinavischer Heiterkeit. Inszenierungen überwältigt bewundert (aber wegen Diejenigen, die seinerzeit verwundert staunten über der schwedischen Sprache nicht verstanden) hatte, Bergmans auffällige Zurückhaltung, Werktreue, hoffte ich voller Begeisterung auch, mit Bergmans Diskretion, mochten es sich damit erklären, dass Ankunft sei für München ein Goldenes Zeitalter Theaterarbeit für den waghalsigen Filmregisseur angebrochen. Bergman vielleicht doch nur eine (von ihm freilich Gewiss: Er musste sich auf die deutsche Sprache, lebenslänglich praktizierte) Nebenbeschäftigung sei. deutsche Schauspieler, deutsches Publikum und Er selbst sah das anders. „Für mich ist Theater mein deutsche Rezensenten einstellen – den Kritikern Hauptberuf. Müsste ich mich entscheiden zwischen schmeichelte er keineswegs, mied persönliche Bühne und Film, ich würde immer das Theater Kontakte, ließ mich immerhin bei einer zufälligen wählen“, bekannte er in einem damals Begegnung wissen, wie und warum er so viel vom aufsehenerregenden Interview. „Fidelio“ halte. Da schwebte ihm eine finster-große So gelang ihm eine kongeniale Verfilmung der Neuschöpfung vor. Im Übrigen bedeutete er den Mozartschen „Zauberflöte“ mit dem unvergesslichen Kritikern, er habe seinen Beruf in jahrzehntelanger Papageno (Hakan Hagegard) im Schnee. Anstrengung erlernt. Was ihm gelungen sei und was Ausgerechnet jene überheikle Mozart-Oper, die so oft missglückt, das wisse er besser als beamtete läppisch, kurzatmig, kindisch oder steif erscheint, die Besserwisser. bei Festspielaufführungen meist zu idiotischem Hier in München brachte Ingmar Bergman einige Klamauk verkommt - ausgerechnet diese allzu leichte bemerkenswerte Inszenierungen heraus. Mit der und allzu schwere „Zauberflöte“ verwandelte

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Bergman in einen Kinofilm, wie er heiterer, seliger, Ingmar Bergman und die großartig herbe Christine unprätentiöser nicht zu denken ist. Buchegger führten die doppelte Motivierung von Ibsens Hedda theatralisch zwingend vor. (Denn nicht Wer weiß, ob dieses Zaubermärchen nicht so etwas auf die in der Sekundärliteratur bereits zur Sprache wie eine Befreiung, eine Erlösung für Bergman war. gekommene Doppelung, sondern auf ihre sinnvoll- Mozart erlaubte ihm, der es sich sonst so stimmige Verwirklichung kommt es an). Bei der Arbeit schwermachte, machen musste, zu zeigen, wie viel an „Hedda Gabler“ transponierte Ibsen die Liebesfähigkeit, wie viel reine Zärtlichkeit, ja wie viel Konstellation seines weit früher entstandenen Optimismus in ihm steckte. Ein Medium ging da im „Nordische Heerfahrt“-Dramas in ein bürgerliches anderen auf. Trauerspiel. Was aber machte nun den theatergeschichtlichen Das Archaische des 19. Jahrhunderts Rang von Ingmar Bergmans Münchner „Hedda Gabler“-Inszenierung aus, die 1979 herauskam? So erlebten wir nun im Münchner Residenztheater mit, wie quälend und ungeheuerlich fremd Hedda Hedda Gabler, das ist jene herrisch-überspannte Gabler ihre Existenz zu führen – und doch Generalstochter, die ein junges gefährdetes Genie, hochmütige Generalstochter zu sein hat. Um es zu Lövborg, einst geliebt, aber aus Feigheit oder zeigen, steckte Bergman nun aber nicht einfach eine Frigidität nicht geheiratet hat. Dafür nahm Hedda wilde Amazone, eine germanisch depressive Walküre dann später den netten harmlosen Professor Tesman in einen spießigen, bürgerlichen, Gelehrtenhaushalt, zum Gatten. Taucht nun der geniale Lövborg mit einer wo sich dieses Wesen schlicht komisch und tapfer naiven Partnerin wieder auf, dann bewirkt unglaubhaft hätte ausnehmen müssen. Hedda die Katastrophe: Sie vernichtet Lövborgs originelles, ungedrucktes Werk, weist ihm den Weg in Bergman machte die Situation realer, indem er die den Selbstmord, erschießt sich selbst ohne Zittern. Haltung und die Reaktionen von Hedda durchaus mit Übrig bleiben die braven Bürgerlichen. Denn Hedda ihrer bürgerlichen Umgebung und Erziehung in Gablers rauschhafte Zerrissenheiten und Zusammenhang brachte. Doch ihre Kraft und ihr widerspruchsvolle Aktivitäten werden überwölbt von radikales Anderssein aus ihrer mythologischen Ferne einer Passion, die alles Disparate ihres Charakters ableitete. Was hochmütige Berührungsangst schien, zusammenzuhalten scheint: von der tragischen war auch Amazonentum. Was wie Generalstochter- Arroganz einer unangepassten Heldin, die keine Ruhe Kälte wirkte, war eben nicht bloß stolze, zu geben vermag, bevor sie ihr Ende großbürgerliche Egozentrik, sondern wölfisch. Was herbeigezwungen hat. wirr, ja unverständlich anmutete, erklärte sich folgendermaßen: „Oh, dies Lächerliche und Niedrige, George Bernhard Shaw, der ein kluges Buch über das sich wie ein Fluch auf alles legt, was ich auch nur Ibsen geschrieben hat, („The Quintessence of anrühre.“ Ibsenism“) warf der schwärmerischen, von „Weinlaub im Haar“ träumenden Hedda vor, sie habe nur Es ist im Nachhinein schwierig, konkret und penibel romantische Ideale besessen, sei eine typische 19. auszumachen, was man in dieser Inszenierung, die Jahrhundertfigur. übrigens damals von der Presse gar nicht besonders heftig gefeiert wurde, neu entdeckte, oder was man In seiner Münchner Inszenierung zeigte Ingmar in sie hineinsah, gleichsam ergänzend hinzufügte, Bergman, dass Shaw irrte. Genauer: Dass nur die eine hineinprojizierte. Diese Ungewissheit hängt Seite, die eine Hälfte der Hedda aus dem 19. zusammen mit Bergmans damals dominierender Jahrhundert kommt. Die heftigere, unverständlichere, enorm suggestiver Gewalt. Einige seiner jede harmonische Lösung ausschließende Seite dieser aufregendsten Filme, „Schreie und Flüstern“ (1973) Frau aber stammt aus tiefer, mythischer Ferne. und „Herbstsonate“ (1978), hatten uns mit der Kraft Die Modernität dieses Schauspiels hängt damit unwiderstehlicher Obsession gelehrt, auf Bergman- zusammen, dass Ibsen die enorme Zerrissenheit der Art zu schauen, zu deuten, die Menschenkenntnisse Titelheldin eben nicht in eine große klassische und das Kameraauge dieses grandios isolierenden Blankvers-Tragödie fügte, sondern in den und forcierenden Künstlers ins eigene Sensorium zu realistischen Dialog eines scheinbar zeitgenössischen fügen. Konversationsstücks.

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Nun stellte sich die Idee jener „Hedda Gabler“- entstehende Leben. Ans Kind, welches eben doch Inszenierung gewiss konkret genug dar. Während einen Bezug herstellen würde zur verhassten bedeutende Theatermacher der vergangenen Umgebung, die natürlich auch mit tantenhaftem Jahrzehnte sich leidenschaftlich darum mühen, aus Wohlwollen lieb-taktlos fragt, ob nach so mythologischen Texten oder griechischen Tragikern umfänglicher Hochzeitsreise doch etwas Kleines zu das „Moderne“ herauszufiltern, vollzog sich erwarten sei. Bergmans Verdoppelungstendenz gleichsam in Bergman gestaltete seine Verdoppelung mit Hilfe umgekehrter Richtung! Er suchte also nicht im eines in zwei Teile sich gliedernden Bühnenbildes. scheinbar so Alten, Vergangenen, aktualisierend das Hedda musste immerfort präsent sein. Entweder mit „Zeitbezogene“, sondern ihm gelang es, in einem den anderen. Oder aber zurückgezogen, allein hinter bekannten Ehe- oder Emanzipationsdrama des 19. kleiner schiebetürartiger Trennwand. Dort aber Jahrhunderts das tief Archaische, Uralte aufzudecken. reagierte sie auf die Sätze, die in der Tricks, Anachronismen, Kostümscherze hatte er dabei gegenüberliegenden bürgerlichen Sphäre gewechselt nicht nötig. Er hielt sich getreulich an die Buchstaben wurden, keineswegs logisch oder beziehungsvoll. des Textes, aber ihren Geist definierte er neu. Sondern sie produzierte zusammenhanglos Einige Radikalitäten von Bergmans Bekundungen der Qual, der Verachtung, des Bühnencharakterisierung der Hedda Gabler könnten Ausgesetztseins, wie eine Wölfin im Wohnhaus. den Schluss nahelegen, dass dieser eigentlich doch Mit alledem gestaltete Bergman, Ibsen extrem werktreue, überhaupt nicht auf Sensationen erpichte interpretierend, kühn die Sphäre, die Dimension des Schauspielregisseur wahrscheinlich extremer Überprivaten, Tragischen. Auf derartigen Anspruch charakterisierte, wenn er auf dem Theater einen verzichten manche moderne Autoren oder vorgegebenen Stoff behandelte, als wenn er Filmemacher, selbst wenn ihnen die „Eigenes“ schuf. Also selbsterfundene Dialoge und eindimensionalen "Beziehungskisten", Figuren verfilmte. Konfliktsituationen, Zustandsbeschreibungen schal zu Tatsächlich kommt, beispielsweise, die heftige werden beginnen. Sie scheuen offenbar, anti-tragisch, Aggressionsgeladenheit von Bergmans den repräsentativen Anspruch übergroßer vielgerühmtem Film „Szenen einer Ehe“ nicht der Konstruktionen. Für alles das hat Walter Benjamin Eiseskälte höhnischer Verachtung gleich, mit welcher eine pathetische Formel zu bieten: „Schicksal als Bergman im Residenztheater vorführte, wie sich Schuldzusammenhang des Lebendigen“. Hedda, einem finster-bösen Drang folgend, von ihrer Als man einst von Jean-Paul Sartre wissen wollte, ob Umwelt distanzierte. Den „Szenen einer Ehe“ mangelt Ehe-Stücke heute überhaupt noch auf dem Theater es nicht an Hass und Aggressivität. Nur: die vorstellbar seien, gab er zur Antwort, dergleichen Protagonisten reden immerhin passioniert könne durchaus auf die Bühne gehören. Nur müssten miteinander, zerfetzen sich verbal. Daraus aber diese Ehe-Dramen, um nicht bloß belanglose spricht, trotz aller Konflikte, mehr Boulevard-Klamotten oder TV-Schnulzen zu sein, Zusammengehörigkeitsgefühl, Engagement, mythologische Dimensionen haben. Gemeinsamkeit - als wenn die beiden sich starr, eisig, unkommunikativ zurückzögen in tödliche So Sartre. Wie gewichtig, wie evident seine Ansicht Einsilbigkeit. ist, machen bedeutende Texte erkennbar. Etwa Becketts „Spiel“, wo eine banale Ehebruchs-Komödie So nett Tesman, der nahezu dumme Gelehrte, zu in höllischem Licht erscheint. Oder auch die seiner verwöhnten Angetrauten zu sein versuchte - interessantesten Dramen von Botho Strauß. Ingmar von „Liebe“ scheint Hedda förmlich angewidert, wie Bergman indessen hat die beglaubigende Fülle des von etwas Klebrigem. Beklemmender noch: Hektisch Nichtidentischen, des Widerspruchsvoll-Wahren, schlägt diese Hedda sich auf den Unterleib. Gequält geheimnisvoller Verdoppelung, genial eindringlich nicht von Schmerzen oder realisiert, als er eine kurze, dankbarer Erinnerung Schwangerschaftsbeschwerden. Sondern offenbar würdige Zeit in München Theater machte. vom Gedanken an das anscheinend in ihr

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Auszüge aus Ingmar Bergman: Fanny und Alexander. Roman in sieben Bildern.

Prolog Kapitel 3 (S. 19): darf nicht. Wenn er sich bewegt, wenn er auch nur Die Kinder werden geboren einen Finger rührt, wird der Tod sich in Bewegung setzen und ihm zuvorkommen. Es wird zu einem Im Herbst 1895 reiste Emilie Ekdahl zu einem ermüdenden Kampf zwischen Alexander und dem Gastspiel nach Helsinki. Ein Jahr später kam sie Tod kommen. (nach zehnjähriger Kinderlosigkeit) mit einer Tochter nieder, die auf den Namen Amanda Weihnachten Kapitel 1 (S. 33): getauft wurde. Oscars Weihnachtsansprache Ein junger und sehr begabter Schauspieler von Oscar Ekdahl betritt die Treppe, (...) man romantischem Aussehen wurde beim Theater versammelt sich um ihn (...) Er ist alles andere als engagiert. Es war an der Zeit, die Kameliendame ein Schönredner, aber alle schätzen ihn, und mit Emilie als der unglücklichen Hetäre zu spielen, außerdem muss die Weihnachtsansprache und Herr Palmlund erhielt die Rolle des feurigen gehalten werden. Armand. Diese Aufführung wurde zu einem der OSCAR: Liebe Freunde, liebe Mitarbeiter, liebe größten Erfolge des Theaters, und das Stück lief 46- Familie! 22 Jahre lang stehe ich schon hier und mal, was ungewöhnlich war. Der junge habe Ansprachen gehalten, ohne auch nur die Schauspieler erhielt ein Engagement in der leiseste Begabung für diese Art von Darbietung Hauptstadt, und es wurde behauptet, man habe zu haben (...) für diese Art von Auftritt. Meine Emilie mit rotverweinten Augen und einzige Begabung, wenn ich bei mir überhaupt ungekämmtem Haar gesehen. Sie gebar einen von Begabung sprechen kann, liegt darin, dass Sohn, der den Namen Alexander erhielt. Alexander ich diese kleine Welt innerhalb der dicken war ein ungewöhnlich kleines und kränkelndes Mauern dieses Hauses liebe. Und dann mag ich Baby, das in einem Krankenhaus die Nottaufe die Menschen, die in dieser kleinen Welt erhielt. Unter der zärtlichen Pflege der Mutter arbeiten. Außerhalb dieser Mauern liegt die erholte er sich jedoch nach und nach. große Welt, und manchmal gelingt es der Ein Jahr später wurde Fanny geboren, ein gesundes kleinen Welt, eine Sekunde lang die große Welt und rundes Mädchen, das dem Erzbischof ähnlich widerzuspiegeln, so dass wir sie besser sah, der im Stift zu Besuch gewesen war. verstehen können, oder aber wir geben den Menschen, die hierherkommen, eine Der rasche Zuwachs der Ekdahlschen Familie gab Möglichkeit, für einige Augenblicke oder Anlass zu Kommentaren in der Stadt, während die Sekunden ... in erster Linie Beteiligten sehr glücklich zu sein schienen. Da sowohl Oscar wie Emilie allgemein Er betrachtet sein Glas, das er zwischen den beliebt waren, verstummte das Getratsche jedoch Händen hält. Es ist vollkommen still, oben im recht bald und man erfreute sich stattdessen am Dunkel des Schnürbodens jault leise der Anblick der aufblühenden Mutter mit ihren Schneesturm. Als Oscar wieder aufblickt, merken gepflegten und munteren Kindern. alle, dass er ungewöhnlich blass ist und Tränen in den Augen hat. Prolog Kapitel 3 (S. 26): Alexander und der Tod OSCAR: ... für einige Sekunden die schwere Der Wintertag neigt sich seinem Ende zu, ein Welt da draußen zu vergessen. Unser Theater Schlitten fährt vorbei, ein Glöckchen bimmelt, die ist ein kleines ... ein kleines Zimmer der Pferdehufe donnern auf dem gefrorenen Schnee, Ordnung, in der alles seinen Platz hat, ein Ort um die Kufen des Schlittens fliegen die Funken. Die der Fürsorge und der Liebe. Ich weiß nicht, Turmuhr des Doms schlägt viermal die warum ich ausgerechnet heute so schrecklich Viertelstunde und dreimal die Stunde. Warum bin gerührt bin, mir ist so komisch feierlich zumute. ich so traurig, denkt Alexander, als er im Salon Ich kann nicht erklären, wie ich mich fühle. Ich steht und mit den Füßen im Blattmuster des glaube, ich muss mich heute kurz fassen. Teppichs versinkt. Warum bin ich so traurig? Ist es der Tod, der da draußen im Halbdunkel des Flurs Weihnachten Kapitel 2 (S. 39): Carls Furzkonzert so reglos dasteht? Höre ich, wie er kurz und Professor Carl Ekdahl lenkt Alexanders fauchend atmet? Kommt er, um Großmutter zu Aufmerksamkeit auf sich; sein Gesicht ist rot, und holen, die in der Bibliothek sitzt und in ihrem er schwitzt heftig. Die blauen Augen sind talgig und blauen Rechenbuch schreibt? Alexander will sofort schielen leicht hinter dem goldgeränderten zu ihr hingehen, um in ihr Knie zu weinen, aber er

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Pincenez. (...) Der Professor erhebt sich vorsichtig Zärtlichkeitsbezeugungen; und das eine ist ebenso vom Tisch und entschuldigt sich mit einer aufrichtig wie das andere. Verbeugung, verschwindet bei der Tür zur Anrichte Die Kinder sind trotz der Erziehungsprinzipien der um die Ecke. Alexander, Fanny und Jenny stehlen Zeit in die Ekdahlsche Liebe einbezogen. Sie leben sich unbemerkt davon. Mit erwartungsvoller in einer schützenden Hülle körperlicher Miene folgen sie Onkel Carl auf den Fersen. Zärtlichkeit. Sogar Frau Helena kann vor allem Professor Ekdahl trägt in jeder Hand eine gegenüber den Enkelkindern leidenschaftliche brennende Kerze, die er draußen auf dem Flur Ergebenheit an den Tag legen. Aber auch die Söhne Fanny und Jenny gibt. und die nahen Freunde kommen gelegentlich in den Genuss der sinnlichen Liebenswürdigkeit der alten Dame. Den Schwiegertöchtern gegenüber ist sie gleichwohl ein wenig zurückhaltend und stuft ihre Liebesbezeugungen gern auf raffinierte Weise ab. Weihnachten Kapitel 4 (S. 44): Ekdahlsche Religiösität Man kann nicht behaupten, das Ekdahlsche Haus sei sehr religiös; allenfalls religiös in sehr konventioneller Hinsicht. Man spricht mit den Kindern ein Nachtgebet, geht zum Gottesdienst im Dom, wo der Bischof predigt, und leistet sich Lautlos öffnet er die Tür zu dem geräumigen allgemeine und vage Vorstellungen von einem Treppenhaus (...) Onkel Carl gebietet den Kindern freundlichen, aber weit entfernten Gott, der alles mit einer Handbewegung zu schweigen. Ein wenig zum Besten ordnet, jedenfalls auf lange Sicht. Das schüchtern löst er seine Hosenträger und knöpft Nachtgebet der Kinder ist ziemlich kurz und Hose und Unterhose auf und zieht sie herunter. Die standardisiert. Es wird mit hoher Stimme im Chor Gesichter der Kinder sind blass vor Erwartung. gesprochen, wobei man mit gefalteten Händen vor Professor Ekdahl beugt sich leicht nach vorn, legt dem Bett kniet. die Hände auf das Treppengeländer und furzt. Wie durch ein Wunder entsteigt dem Hintern Onkel Weihnachten Kapitel 4 (S. 46): Carls eine Reihe der fülligsten Orgeltöne. Ein Da liegt sie, die arme Arabella gewittergleicher und sozusagen bebender Plötzlich geht die Tür auf, die zum Schlafzimmer Donnerschlag bildet den Abschluss. Jetzt halten der Eltern hin nur angelehnt ist, und Maj stürzt Fanny und Jenny ihre brennenden Kerzen einige herein. (...) Sie hebt die weißen Arme zur Decke Zentimeter vom Hinterteil des Professors entfernt. und tanzt hinkend mit Drehungen und kleinen Ein Augenblick höchster Spannung. Dann donnert Hüpfern. Sie ist wild vor Freude. ein scharfer Kanonenschuss durch das Ekdahlsche Treppenhaus. Die Flammen der Kerzen flackern MAJ: Guckt mal, was ich zu Weihnachten und erlöschen. bekommen habe. (...) Bin ich nicht wahnsinnig schön, bin ich nicht schön, ich sehe doch aus Weihnachten Kapitel 3 (S. 40): Ekdahlsche Liebe wie eine feine Dame, bin ich nicht wunderbar, Während wir das schöne Bild vom bin ich nicht fein? Weihnachtsessen in der Ekdahlschen Küche Sie dreht sich, lacht und flüstert. Dann löscht sie betrachten, werde ich vom Umgang der das Licht und umarmt Alexander. Familienmitglieder miteinander erzählen. MAJ flüsternd: Heute Nacht darfst du nicht in Was zunächst ins Auge fällt, ist die zärtliche meinem Bett schlafen, ich bekomme nämlich Aufmerksamkeit. Man fasst sich gegenseitig an, Besuch, verstehst du, und ich kann nicht schüttelt sich, schlägt sich gegenseitig auf den beliebig viele Männer im Bett haben, das wirst Rücken, streichelt, klopft und umarmt einander, du doch verstehen. Aber du bist auf jeden Fall man küsst sich mit Entzücken ab, man gibt sich Majs Liebling, das weißt du doch. große, nasse Schmatze, man hält sich an den Händen, sieht einander in die Augen, fährt sich Alexander erwidert die stürmischen gegenseitig durch das Haar. Man streitet gern und Zärtlichkeitsbezeugungen Majs mit Kühle und legt dramatisch, weint und schimpft und sucht sich mit dem Kopf zur Wand platt auf den Bauch. Bundesgenossen, aber man versöhnt sich ebenso (...) gern unter heiligen Schwüren und

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Alexander weiß nicht so genau, ob er eine Weile allein, sie ist allein im ganzen Haus, - oh – oh! geschlafen hat. Im ganzen Haus ist es still. Auf der Ihre Mutter ist tot und ihr Vater treibt sich mit Straße ist es still, Jenny und die Geschwister unredlichen Kumpanen herum. Oh! Oh! Oh! scheinen tief zu schlafen, und die Tür zum Fanny ist durch Alexanders monotones Daherbeten Schlafzimmer der Eltern ist geschlossen. des Textes aufgewacht. Sie ist aufgestanden, tapst herzu und stellt sich dicht neben ihn, verzaubert und erschreckt von dem schönen Bild und dem dumpfen Tonfall Alexanders. Das Glasbild besteht aus zwei Scheiben, die so zusammengefügt sind, dass sie unabhängig voneinander bewegt werden können. Alexander hält das Bild des schlafenden Mädchens fest; mit der anderen Hand schiebt er langsam die hintere Scheibe nach vorn. Da tritt das Wunder ein: Auf den Mondstrahlen schwebt eine durchsichtige Gestalt in einem weißen, fußlangen Gewand; ihr Gesicht ist bleich, aber überirdisch schön, und sie

trägt einen Stab in der Hand, der vor lauter Er fühlt, dass der Augenblick da ist; er kann nicht Sternenlichtern knistert. bis zum nächsten Tag warten (...) Alexander kann deutlich die Laterna Magica sehen. Sie steht auf ALEXANDER: Wer kommt da, da die Uhr des dem großen weißen Tisch mitten im Zimmer. Das Schlossturmes zwölfmal schlägt? Ich habe lackierte Blech zeichnet sich vor dem hellen Angst – oh! Oh – was ist das für eine Sekretär deutlich ab, das Messing des Objektivs entsetzliche weiße Gestalt, die sich auf den glänzt. Alexander spürt ein heftiges Saugen in der Strahlen des Mondes meinem Bett nähert! Oh! Magengrube; ihn friert, aber nicht, weil es im Das ist meine tote Mutter! Das ist der Geist Kinderzimmer kalt wäre; es ist ein Frösteln, das tief meiner Mutter! Kommst du, um ... in der Brust sitzt, fast außen an den Jenny ist mit einem Schrei des Entsetzens Schulterblättern. Er legt die Hände an den aufgewacht. merkwürdigen Apparat. (...) Er zündet ein Streichholz an. Jetzt leuchtet der Docht mit einem Weihnachten Kapitel 4 (S. 50): flammenden starken Licht. Er setzt das Lampenglas Der leuchtende Stuhl fest und regelt die Lichtstärke, schiebt die Lampe OSCAR: Schlaft ihr, ihr verdammten Gören? ins Gehäuse und macht die Luke wieder zu. Ein Was treibt ihr eigentlich? guter Duft nach Brennspiritus und warmem Blech verbreitet sich sofort im Raum. Er dreht den Er tapst herum, setzt sich auf einen niedrigen Apparat um, so dass das Objektiv auf die helle Kinderzimmerstuhl, nippt am Wein und schmatzt. Tapete über seinem Bett zielt. Dort ist er jetzt, der Er ist leicht berauscht und guter Laune. Plötzlich magische Kreis, er dreht an einer kleinen Schraube steht er auf, nimmt den Stuhl, auf dem er gesessen auf der Linse: die Ränder des Kreises werden sofort hat, in die linke Hand, hebt ihn hoch in die Luft, messerscharf. Alexanders Hände zittern vor zeigt ihn den Zuschauern. Erregung; er muss mal pinkeln und schwitzt im OSCAR: Das ist ein Stuhl, aber nicht irgendeiner. Nacken; das Herz klopft so laut, dass das ganze Er sieht zwar aus wie ein simpler Haus wach werden müsste. (...) Kinderzimmerstuhl aus Holz, ziemlich Alexander hat den Deckel geöffnet. In der abgewetzt und unansehnlich, doch der Schein Schachtel steht eine lange Reihe von Glasbildern, trügt. Dieses ist nämlich der kostbarste Stuhl bestimmt zwanzig. Vorsichtig pult er eines heraus der Welt, er gehört dem Kaiser von China und und steckt es in den Halter hinter dem Objektiv der kam auf eigenartigen Wegen in das Ekdahlsche Laterna Magica. Auf der Wand hinter seinem Bett Kinderzimmer. Aber aufgepasst, meine wird sofort ein Raum mit Säulen und hohen Herrschaften, und gut hingeschaut, Augen auf, Fenstern sichtbar, durch die ein scharfer bitte sehr! Sieht man möglicherweise, dass Mondschein auf ein weißes Bett fällt. Eine junge dieser Stuhl ein geheimnisvolles Licht Frau streckt sich behaglich auf dem Bett aus. ausstrahlt? Ganz recht, er leuchtet. Schaut nur, wie hell er ist im Dunkeln. Und nun frage ich ALEXANDER in halb singendem, leisem Tonfall: meine Kinder: Warum leuchtet dieser Stuhl, Da liegt sie, das schöne Mädchen, die arme warum schimmert er im Dunkeln? Das will ich Arabella; sie weiß nicht, was sie erwartet. Sie ist euch gleich sagen, vergesst aber nicht, dass es

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ein Geheimnis ist, wer die Lösung des Rätsels Fräulein Vegas ärgerliche Plörre. (Isak verneigt verrät, ist des Todes! Schwört ihr, zu sich, geziert lächelnd.) Wie spät mag es sein? schweigen? Zehn nach drei. Zwei Stunden können wir noch hier sitzen, dann muss ich mich fertig machen ALEXANDER UND FANNY: Wir schwören, zu zum Frühgottesdienst. Kaffeetrinken wollen wir schweigen. dieses Jahr danach bei Gustav Adolf. Du kannst OSCAR: Nicht so laut. Nicht so laut. Mutter dann ins Bett gehen und schlafen, dich hübsch kann uns hören, und dann ist Schluss mit der aufs Ohr legen, alter Isak, vergiss aber nicht das Vorstellung. Abendessen bei Carl und Lydia. Voriges Jahr hast du verschlafen. Du sagtest, du warst Oscar stellt den kleinen Stuhl auf den Tisch neben erkältet, hast aber verschlafen. (Seufzt.) Wie die Laterna Magica und die anderen schön, dich hier zu haben! Du bist ein treuer Weihnachtsgeschenke. Er streicht mit der Hand Freund. Du bist mein bester Freund. Was täte über ihn hin, und nimmt einen Schluck Rotwein. ich ohne dich. (Isak nimmt ihre Hand und OSCAR: Dieses ist der kostbarste Stuhl der streichelt sie.) Voriges Jahr fand ich Welt. Hergestellt in China, und zwar aus einem Weihnachten schön, diesmal war mir nur zum Metall, das es nur neunundfünfzigtausend Weinen. Vermutlich werde ich alt. Findest du, Meter unter der Erde gibt, und zwar nur in ich bin alt geworden? China. Es sieht aus wie die Kristalle von ISAK: Du bist älter geworden. Das schon. Diamanten, ist aber unendlich viel feiner, kostbarer, seltener. Der Stuhl wurde vor HELENA: Dachte ich’s mir doch. Mir war nur dreitausend Jahren vom Juwelenmeister des zum Weinen. Dabei ist es ja schön mit den Kaisers als Geburtstagsgeschenk für die Kaiserin Enkelkindern. Oscar sieht schlecht aus, finde gebaut, sie war sehr klein, nicht größer als ich. Er arbeitet zu viel, reibt sich auf für das Fanny, aber sie war die schönste Frau der Welt. verflixte Theater. (...) Oscar fand es aber immer Ihr Leben lang saß sie auf diesem Stuhl, zwei so peinlich, mich um Geld zu bitten, obwohl er Diener gingen immer mit ihr mit, der eine es gar nicht für sich verwendet hat. Im rechts, der andere links vom Stuhl und trugen Gegensatz zu Carl. Der hat mich schon wieder ihn. Als die Kaiserin starb, wurde sie auf diesem um ein Darlehen angepumpt, ich habe aber Stuhl sitzend begraben. Zweitausend Jahre saß nein gesagt. Wenn er sich von dir was pumpen sie in ihrer Grabkammer, der Stuhl schimmerte will, musst du nein sagen. Versprich es mir, im Dunkeln und leuchtete durch die Gestalt der Isak! kleinen Kaiserin hindurch. Dann kam eine ISAK (nickt geistesabwesend): Ja, ja. Verbrecherbande, brach in das Grab ein, stieß die Kaiserin um, die sich sogleich in Staub HELENA: Ich weiß auch nicht. Immer bringe ich verwandelte, und raubte den Stuhl. Jetzt gehört alles für ihn in Ordnung und nach einem Jahr er euch! sitzt er wieder in der Patsche. Er sagt, dass er nicht zu den Zinswucherern geht, ich weiß Weihnachten Kapitel 5 (S. 55): nicht. Weißt du? Helene und Isak über die Ekdahl-Familie ISAK: Ich weiß nichts. Frau Helena und Isak Jacobi halten Weihnachtswache. Das ist Tradition, wie so vieles HELENA: Diese entsetzliche Deutsche, mit der im Ekdahlschen Haus. Sie sitzen auf Großmutters er verheiratet ist. Schminkt sich wie eine Dirne. Sofa, die Lampen sind gelöscht, die Kerzen am Ich verstehe nicht, was ihn an der Frau hält. Es Tannenbaum heruntergebrannt, das Feuer im muss was Erotisches sein. Was glaubst du, Isak? offenen Kamin prasselt noch, die Spiegellampetten ISAK: Was sagst du? Erotisch. Ah ja. Ja, wohl aus Silber und Bergkristall verbreiten ein was in der Richtung, ja. gedämpftes, farbig schimmerndes Licht in dem stillen Raum. Frau Helena hat allen Prunk abgelegt HELENA (gibt ihm einen Klaps auf die Hand): Du und ist in einen violetten Schlafrock, einen grauen hörst mir gar nicht zu. (Trinkt einen Schluck Wollschal und große rote Pantoffeln geschlüpft, ihr Kognak.) Macht nichts. Hauptsache, du leistest Haar ist zu einem dicken Nachtzopf geflochten. mir Gesellschaft. (Seufzt, denkt lange nach, Isak hat den Gehrock ausgezogen und eine große lacht.) Carl und Gustav Adolf sind übererotisch, warme Wolldecke bekommen, die er sich um die das haben sie von ihrem Vater. Der war Schultern gelegt hat, seine Schuhe stehen unter übererotisch. Nicht, dass ich mich beklage, dem Stuhl. glaub das ja nicht, lieber Isak. (Isak macht eine kleine Geste.) Er war unersättlich. Ich fand es HELENA: Siehst du, jetzt habe ich uns einen schon fast ein bisschen zu viel des Guten, habe richtig starken Kaffee gemacht, viel besser als

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aber nie nein gesagt. Gustav Adolf ist der seiner Pistole, ich hing mich ganz fest an sein Schlimmste. Ich habe mal mit Alma gesprochen, Bein. (Lacht.) Und so wurden wir Freunde fürs sie sagt sehr klug, dass ihr seine Seitensprünge Leben. egal sind, weil er der netteste und tüchtigste ISAK: Dein Mann war ein großherziger Mensch. Ehemann der Welt ist. Ein Glück, dass Alma so gutmütig ist. Das kleine Ding sollte man wohl HELENA (muss weinen): Siehst du, jetzt weine mal warnen – Maj, oder wie sie heißt. ich. Das schöne, fröhliche Leben ist aus, das Unheimlich süß, muss ich sagen, und gut zu den schreckliche, dreckige Leben kommt. So ist das. Kindern, hübsche Farben, niedliche Figur, (Weint.) schade, dass sie hinkt, die Ärmste. Aber ich Isak Jacobi zieht Frau Helena, geborene mische mich nicht ein. Wer sich nirgends Mandelbaum, an sich und schließt sie in die Arme. einmischt, hält sich aus allem heraus, sagte Er streichelt ihr liebevoll über Haar und Wangen. meine Mutter immer. Schläfst du? Sie darf zu Ende weinen, es dauert nicht lang. ISAK (wacht auf): Nein. HELENA: Nein, mein Herr, so geht das wirklich HELENA: Na. Carl und Gustav haben zu viel nicht. Jetzt will ich mich mal waschen, neu abgekriegt und Oscar gar nichts. Eine Tragödie, schminken, mir die Frisur richten, das Korsett für eine heißblütige junge Frau. Als Emilie mit anziehen und ein Seidenkleid. Eine weinende Fanny schwanger war, hat sie mir alles erzählt. liebeskranke Frau verwandelt sich in eine Armes Mädchen! Ich muss schon sagen, sie hat beherrschte Großmutter. Wir spielen unsere ihre Affären ausgesprochen taktvoll geregelt. Rollen, manch einer spielt sie schlampig, Oscar und Emilie sind sich herzlich zugetan, es andere spielen sie ordentlich. Ich gehöre zur ist trotz allem eine glückliche Ehe. letzteren Kategorie. ISAK: …glückliche Ehe. ISAK: Gute Nacht, meine schöne Helena. HELENA: Bist du traurig, weil du schon alt bist, HELENA: Oh, du warst ein süßer Liebhaber, du Isak? warst wie wilde Erdbeeren. ISAK: Nein. Es sieht ja so aus, als würde alles Weihnachten Kapitel 6 (S. 60): immer schlimmer. Schlimmeres Wetter, Gustav Adolf und Majs Konditorei schlimmere Menschen, schlimmere Maschinen, schlimmere Kriege. Die Grenzen werden gesprengt, das Unsägliche breitet sich aus und lässt sich nicht mehr stoppen. Da ist Totsein gut. HELENA: Du bist ein abscheulicher alter Weltverächter, Isak, das warst du schon immer. Ich glaube ganz und gar nicht, was du glaubst.

ISAK: Nein, nein, Gott sei’s gedankt. HELENA: Zum Weinen ist mir trotzdem. Ist es In derselben Nacht stattet Gustav Adolf Ekdahl dir unangenehm, wenn ich ein bisschen weine? dem Kindermädchen Maj in ihrer adretten (Sie versucht zu weinen.) Nein, meine Güte, es Mansarde einen Besuch ab. Er lädt zu Champagner geht nicht. Wird nichts. Ich genehmige mir noch ein, ist wohlwollend, geil und hat einen kleinen einen kleinen Kognak. Rausch. Seine Kleidung geriet bereits in Frau Helena nippt vorsichtig am Glas, muss auf Unordnung: im steifen weißen Hemd, Unterhemd, einmal lachen, streckt sich und lacht. langen Unterhosen und schwarzen Strümpfen stützt er sich gegen den Bettgiebel, die schmale, ISAK: Worüber lachst du? durchhängende Bettstatt quietscht. Maj hat sich HELENA: Ich muss an Oscar denken, an meinen ans andere Ende verkrochen, ihr roter Zopf löst Mann. Du und ich, wir saßen hier auf dem Sofa sich auf, das Nachthemd entblößt ihre und haben uns geküsst wie die Verrückten. Du sommersprossige Haut, sie gluckst. hattest mir die Bluse aufgeknöpft, hattest dir GUSTAV ADOLF: Eine Konditorei an der sicherlich auch die Hose aufgeknöpft, ich weiß Schlossstraße! Eigenes Backwerk, Kuchen, nicht mehr genau. Der Vorhang ging zur Seite, Torten, Kekse und Konfekt. Was sagst du, und da steht mein Mann. (Lacht.) Wie in einem Majmädchen! Wäre das nicht köstlich. Was! Du Stück von Feydeau. Ich schrie und du wolltest leitest das Ganze, du bist die Chefin, du mit einem Sprung zur Tür. Oscar flitzte nach

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bestimmst. Erst gestern sagte ich zu Alma: guck LYDIA: Du schläfst ja nie mit mir. Schläfst nur dir die kleine Maj an. Die ist eine Prinzessin. mit allen möglichen. Du betrügst mich. Ich weiß Was du für einen Busen hast, mein Mädchen, schon, dass ich ständig betrogen werde, mein darf ich den mal richtig sehen, nein, nein, es tut Carlchen. Das ist die Wahrheit. Ich sage aber nicht weh, Jesses, du machst mit noch verrückt! nichts. Ich schweige. Jetzt wollen wir mal rumsdibumsen, ich bin ein CARL: Sprich schwedisch, schwedisch, herrlicher Liebhaber, das sagen alle Frauen. schwedisch! Hier sind Kraft und Schönheit. Zeig mal deinen kleinen Busch. Ist der auch so feurig wie die LYDIA: Armer Carl, du bist so unglücklich. Wenn Haare? Kriech zu Onkel Gusten, Rotkäppchen, du nicht so traurig und ängstlich wärst, wärst ich bin verrückt nach dir, Mädel. Das war ich du nicht so gemein. (...) vom ersten Tag an, als du ins Haus kamst. Die LYDIA: Komm, Carlchen. Komm, setz dich zu Kleine muss ich haben, dachte ich. Hast mir. eingeschlagen wie der Blitz. CARL: Du riechst nicht gut. Ich weiß nicht, MAJ: Wenn Herr Ekdahl mich flachgelegt hat, woher das kommt, wäschst du dich nicht mehr vergisst er das mit der Konditorei wohl. oder fängst du an zu verfaulen? (Gluckst.) LYDIA: Ich rieche gut, mein Carlchen. Das sind GUSTAV ADOLF: Ich schwöre, Maja mein. Odeurhalluzinationen. Moment, gib mir was zum Schreiben, da ist ein Stift. Ich schreibe: Maja Kling ist Vorsteherin Plötzlich setzt er sich aufs Bett, atmet tief und meiner Konditorei, Unterschrift, Gustaf Adolf beißt an den Nägeln, reißt sich die Nagelhaut ab, Ekdahl, in der Weihnachtsnacht 1908. Das ist dass es blutet. Betrachtet befriedigt das Blut. ein Vertrag, verstehst du, Kleine! Den hältst du LYDIA: Soll ich dir einen Umschlag machen? einem Notar einfach unter die Nase, wenn ich mein Versprechen vergesse. CARL: Nein, danke. MAJ: Herr Ekdahl muss aufpassen, dass nichts LYDIA: Willst du nicht versuchen, ein bisschen passiert. zu schlafen? Weihnachten Kapitel 7 (S. 63): CARL: Doch. Carl und Lydia – Wie wird man Mittelmaß? LYDIA: Du tust mir so leid, mein Carlchen. In derselben Nacht hat Carl Ekdahl Depressionen. CARL: Wie wird man Mittelmaß, kannst du mir Seine Frau Lydia, klein und dick mit schmalen das sagen? Wie fällt Staub? Wann hat man Schultern, sitzt zusammengesunken auf dem Bett, verloren? Zuerst bin ich ein Prinz und soll das kämpft gegen Tränen und Schlaf, während der Königreich haben. Auf einmal, eh ich’s mich Professor durch die dunklen, mit geschmacklosen versehe, bin ich abgesetzt. Der Tod tippt mir Möbeln überladenen Zimmer wankt, in Schlafrock, auf die Schulter. Die Wohnung ist kalt, wir Nachtmütze, Nachthemd und Pantoffeln. (...) können kein Holz kaufen. Ich bin hässlich und LYDIA: Willst du nicht ins Bett kommen, mein gemein; am gemeinsten zu dem einzigen Schatz? Menschen, der sich etwas aus mir macht. Das wirst du mir nie verzeihen. Ich bin ein CARL: Es ist die Hölle. Es ist die Hölle. Bestimmt Scheißdreck und ein Lump. (...) habe ich Fieber, ich friere und schwitze gleichzeitig. Diese Angst. Was ist denn los mit CARL: Oh, du Leben! Oh, Schlaflosigkeit und mir? Am besten bringe ich mich um. widerliche Eingeweide! Oh, Armut und Demütigung! Streck die Hand aus, und du LYDIA (weint): Das darfst du nicht sagen, greifst ins Leere. Warum bin ich so ein Feigling? Carlchen. Er wirft sich in die Kissen, Tränen laufen ihm über CARL: Wenn ich bloß begreifen könnte, warum die unrasierten, bläulich aufgedunsenen Wangen. du dich so verdammt schminkst. (Hustet.) Ab und zu steigt ein trockenes, krampfhaftes Siehst aus wie eine Hure. Schluchzen aus Professor Ekdahls gequälter Brust. LYDIA: Du schimpfst ja, wenn ich mich nicht Lydia nimmt seine Hand und streichelt sie. Er schminke, und sagst, ich sehe aus wie ein altes betrachtet sie mit Abscheu. (...) Weib. CARL: Oh, Hölle auf Erden, Gefängnis, Alter, CARL: Warum habe ich dich geheiratet? Du bist Ekel. Weißt du, warum ich dich so verflucht hässlich, arm und unfruchtbar. Konntest mir hasse, mein Lämmchen? Du bist ein Spiegel. nicht mal Kinder schenken. Gefälligkeit spiegelt Gefälligkeit. Mittelmaß und

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Hässlichkeit spiegeln Mittelmaß und EMILIE: Ich denke, wir gehen nach Hause und Hässlichkeit. Ich sehe, wie dein armes Gesicht ruhen uns ein bisschen aus. zuckt, du hast Runzeln am Mund, bist traurig, OSCAR: Wo bin ich? findest dich aber damit ab. Das ist der große Unterschied. Ich finde mich nicht ab. EMILIE: Du bist bei mir. Todesfall und Beerdigung Kapitel 1 (S. 73): OSCAR: Was ist passiert? Die Hamlet-Probe EMILIE: Du bist ein bisschen müde geworden, Seit ein paar Wochen laufen die Proben für glaube ich. Hamlet, Mitte Januar soll Premiere sein. Am ersten OSCAR: Was mache ich hier? Arbeitstag nach dem Fest ist das kleine Ensemble unter der erfahrenen Leitung von Herrn Landahl, EMILIE: Du hast Theater gespielt. abgesehen von den üblichen Erkältungen und OSCAR (leise): Theater gespielt. Wieso habe ich Magenkrämpfen, auf den Beinen. Der junge, Theater gespielt? vielversprechende Mikael Bergman spielt den Hamlet. Den König gibt der schon etwas in die EMILIE: Komm, Oscar, gehen wir nach Hause. Jahre gekommene Herr Morsing. Die Königin wird OSCAR: Glaubst du, das ist ein Schlaganfall? von Emilie Ekdahl dargestellt, und Oscar Ekdahl hat, mit einem Seufzer des Unwillens, die Rollen EMILIE: Wir holen Doktor Fürstenberg, er soll des Geists und des Ersten Schauspielers dich mal anschauen. übernommen. (...) OSCAR: Sterbe ich? Der größte Teil des männlichen Bühnenpersonals EMILIE: Könnt ihr mir nicht ein bisschen helfen? sitzt, liegt bzw. lungert rundum an den Wänden. Döst, gähnt, kratzt sich, lernt Text, plaudert oder Dies sagt sie zu den Umstehenden, die sich schaut der Probe zu; im matten Licht einer einzigen sogleich über Oscar Ekdahl beugen und ihn Glühbirne, die an einer langen Schnur vom hochheben, er kann sich nicht mehr auf den Schnürboden herabhängt, zieht sie sich in die Beinen halten, bevor er fällt, greifen sie ihm aber Länge. unter die Arme, man trägt halb, halb schleppt man ihn über die Bühne. (...) Dann wird er in der Hamlet sitzt also auf der Bank, mit Blick zum eiskalten Winterdämmerung rasch über den Markt Publikum. Hinter ihm steht der Geist. Zaungäste an getragen. der Rampe sind Souffleuse, Requisiteur und Herr Landahl, den Kopf in die Hände gestützt. Er hat die Todesfall und Beerdigung Kapitel 2 (S. 83): Augen zu, schlummert vielleicht. Oscar auf dem Sterbebett Sie spielen eine Szene aus HAMLET. Dann: Wenn Oscar Ekdahl zu sprechen beginnt, hält er die Augen weiterhin geschlossen. Seine Stimme ist Oscar Ekdahl will aufstehen, hebt ein wenig die schwach, er spricht etwas langsam, hört sich aber Arme, bleibt aber sitzen, schaut zu Hamlet, lächelt eigentlich an wie immer. unsicher, die Stirn schweißnass, seine Adern an den Schläfen treten hervor, er sucht nach einem OSCAR: Ihr müsst euch nicht ängstigen. Es ist Taschentuch, befeuchtet sich die Lippen. nichts Schlimmes. Mir tut nichts weh. Eigentlich geht es mir besser als seit langem. Kümmert OSCAR: Ich habe vergessen, was ich tun soll. euch nicht darum, dass ich die Augen zu habe, MIKAEL: Du stehst auf und gehst nach hinten. das Licht ist mir etwas zu grell, es macht wohl nichts, wenn sie zu sind. (Lacht.) Jetzt könnte OSCAR: Wo bin ich? ich den Geist richtig gut spielen, nichts trennt MIKAEL: Du bist hier. Im Theater. mich von euch, nicht jetzt und nicht dann. Das weiß ich, das sehe ich vollkommen klar. Ich Oscar Ekdahl scheint Mikaels Auskunft zu glaube fast, dass ich euch jetzt näher kommen überdenken, blickt zum Schnürboden und seufzt. werde, als zur Zeit, als ich noch lebte. Stellt Den Schauspielern ist klar, dass hier ein Unheil euch hierher, hier zu mir, nebeneinander, lasst geschieht. Schweigend und unsicher kommen sie euch anschauen. auf der Bühne zusammen. Alexander steht, von bemalten Kulissenteilen verdeckt, ganz vorn am Amanda geht zum Vater, der sich mit der Linken Proszenium. Alle schauen auf Emilie, die ihre die Augen beschirmt. Er blinzelt vorsichtig, es tut Handarbeit und das Flüstern mit Frau Sinclair weh, er macht die Augen auf, sieht seine Tochter unterbrochen hat. Langsam geht sie zu ihrem an und lächelt ihr zu. Mann und setzt sich zu ihm, streichelt ihm hastig OSCAR: Jetzt will ich Alexander angucken. über den Kopf.

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ALEXANDER: Nein. In ein paar kurzen, von vor Rührung abgerissenen Sätzen nahm sie Abschied von ihrem Sohn. Man Alexander presst den Rücken an die Tür und bekam auch die schöne, in Trauer versteinerte schüttelt immer wieder den Kopf. Die Großmutter Witwe zu sehen, schwer auf den Arm des Bischofs steht auf, nimmt ihn bei der Hand, bleibt einen gestützt. Man sah die drei vaterlosen Kinder, die, Moment lang wartend stehen und führt ihn dann einander an den Händen haltend, der Mutter mit sanfter Gewalt zum Vater, der sofort seine folgten. Alexanders Monolog hörte allerdings Hand ergreift und sie festhält. Oscar Ekdahl niemand außer Fanny. (...) Fanny hörte ihren schließt die Augen, hält die Hand des Sohnes und Bruder murmeln, einzelne Worte, bei jedem Schritt flüstert etwas, sein Mund bewegt sich, Worte sind eines. Sie spitzte die Ohren, um den Lärm und die nicht zu hören. Dann, plötzlich und intensiv, sieht Trauermusik überhören zu können. er seinen Sohn an, das ist Alexander zu viel, er wirft sich zu Boden, Emilie und die Großmutter heben ALEXANDER: Verflucht – verdammt – Pimmel – ihn hoch, starr vor Entsetzen, sie schleppen ihn zu Scheiße – Mordsmist – Schwanz – Möse – Satan Großmutters Sessel, dort kann er sich, die Arme – bumsen – wichsen – Kacke – Arsch – Pisse – ans Gesicht gedrückt, zusammenkauern. Sack – Arschloch – Fanny beweist vollkommene Geistesgegenwart, Fanny drückte ihm fest die Hand, er drehte den hält die Hand des Vaters und lässt sich von ihm Kopf und sah sie ernst an. Da lächelte sie anschauen, beugt sich plötzlich vor und küsst ihn blitzschnell. auf die Wange. („Ich bin zwei Jahre jünger als Der Aufbruch Kapitel 1 (S. 95): Alexander und hatte gar keine Angst. Ich fand es Emilie spricht übers Schauspielersein nicht mal eklig, obwohl es roch.“) Wenn der Applaus verebbt ist, versammeln sich die Todesfall und Begräbnis Kapitel 3 (S. 87): Schauspieler um Emilie (...) Emilie weint um Oscar EMILIE: Heute vor einem Jahr starb mein Mann. Alexander wacht auf, ist auf einmal hellwach, der Er wollte, dass wir weitermachen wie üblich, Kummer trifft ihn wie ein Schlag in den Magen, und wir haben weitergemacht wie üblich, geweckt hat ihn aber ein entferntes seltsames obwohl alles anders war. Wir hatten viel Erfolg Geräusch, ein Weinen. Er horcht kurz und weckt und großen Zulauf, konnten die Gagen erhöhen Fanny, was ziemlich schwierig ist, man braucht und hatten die Möglichkeit, drei neue Geduld, Fanny schläft fest und wird ungern Ensemblemitglieder zu engagieren. Wir haben geweckt. Endlich dringt der schreckliche Laut in ihr zusammengehalten – umnebeltes Bewusstsein und sie macht die Augen auf, ist hellwach. Jemand weint. Sie verstummt und sitzt ein Weilchen gedankenverloren da, wie geistesabwesend. Wenn Ein Weinen, nicht richtig menschlich. sie wieder zu sprechen beginnt, ist ihre Stimme Fanny und Alexander steigen sofort aus dem Bett, verändert, fast unhörbar und tastend. es ist nicht dunkel im Zimmer, auf der Kommode EMILIE: Da ziehen wir uns das Theater über den leuchtet das zarte Nachtlicht. Sie öffnen die Tür Kopf wie einen Mantel aus Geborgenheit. Wir zum Elternschlafzimmer. Dort leuchtet auf dem merken kaum, dass die Jahre vergehen. Dass Nachttisch Mutters Leselampe. Das Zimmer ist das Leben verrinnt, so sagt man doch? Die leer, Mutters Bett unbenutzt, die Kissen liegen auf Garderoben sind hell und warm, die Bühne dem Boden, auf Vaters Bett liegt ein Überwurf, umgibt uns mit freundlichen Schatten. Was wir gefaltet und geglättet. tun und denken sollen, sagen uns die Dichter. Das Weinen und schreckliche Schluchzen wird Wir dürfen lachen und weinen und toben. Im lauter. Fanny und Alexander gehen auf Dunkeln sitzen Leute, die uns mögen, uns Zehenspitzen zum Speisezimmer, wo die Tür einen merkwürdig treu bleiben, obwohl wir ihnen oft Spaltbreit offen steht. Die Mutter sitzt am Sarg. Sie Steine geben, statt Brot. Zu unserer weint wild und untröstlich. Rechtfertigung behaupten wir, einen schweren Beruf zu haben. Das ist eine Lüge, die die Todesfall und Begräbnis Kapitel 4 (S. 89): Umwelt akzeptiert, weil es viel schöner ist, Oscar wird beerdigt etwas Schwieriges mit anzusehen als eine Auf diese Art und Weise wurde Oscar Ekdahls Mühelosigkeit. Wir spielen fast immer. Wir Begräbnis zu einem alles andere in den Schatten spielen, weil wir es schön finden. Wenn wir es stellenden Ereignis in der Chronik der Stadt. Der nicht schön finden, werden wir sauer und Bischof hielt die Trauerrede, (...) der Dom war voll geben den Umständen die Schuld, nie uns. So besetzt mit einem Publikum, das in den Genuss des leben wir unser Leben in wunderbarem ergreifenden Soloauftritts von Helena Ekdahl kam. Selbstbetrug, anderen gegenüber scharfsichtig,

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nachsichtig gegen uns selbst. Wie steht es denn ein guter Freund deiner Großmutter und um Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein, Seelsorger dieser Gemeinde. Selbsterkenntnis; Eigenschaften, die in unserem EMILIE: Der Bischof ist in dieser schweren Zeit Beruf kaum existieren. Wenn mir jemand sagt, sehr gut zu mir gewesen, Alexander, ich weiß dass ich gut bin, bin ich gut, und bin froh. Wenn nicht, wie ich ohne seine Hilfe durchgehalten mir jemand sagt, dass ich schlecht bin, bin ich hätte. schlecht, und bin traurig. Was ich wirklich bin, weiß ich nicht, weil ich mich nicht darum EDVARD: Wir sprachen auch über dich, mein kümmere, die Wahrheit über mich Kleiner. herauszufinden. Ich kümmere mich nur um Der Bischof hat sich auf einen Stuhl am mich, aber das ist etwas anderes. Ich kümmere Bibliothekstisch gesetzt, einen Lederbeutel mich nicht um die Wirklichkeit. Die ist farblos, hervorgeholt, in dem er seine Pfeife und einen uninteressant, geht mich nichts an. Krieg und kleinen Tabakbeutel verwahrt. Er stopft die Pfeife Revolutionen und Seuchen und Armut und sorgfältig, zündet sie an, lehnt sich zurück und Ungerechtigkeiten und Vulkanausbrüche sind beobachtet Alexander mit seinen tiefblau unwichtige Dinge, falls sie nicht auf diese oder leuchtenden Augen. jene Art etwas mit der Rolle zu tun haben, die ich gerade spiele. Es gibt Akteure, die EMILIE: Ich habe dem Bischof gesagt, wie stolz behaupten, sich für ihre Umgebung zu und froh ich über meine braven Kinder bin. interessieren, ich weiß aber, dass sie sich was EDVARD: Du und deine Schwestern, ihr seid vormachen. tüchtig in der Schule, hörte ich. Ihr seid fleißig, Der Aufbruch Kapitel 2 (S. 98): Lüge und Wahrheit aufmerksam und hattet zu Weihnachten gute Zeugnisse. Nicht wahr, Alexander? EMILIE: Wir wollen in die Bibliothek gehen und jemanden begrüßen, der zu uns gekommen ist. Alexander (flüstert): Schon. (Pause) Es ist jemand, der dich sprechen möchte. Edvard: Du musst keine Angst haben. Ich bin (Pause) Weinen ist zwecklos. dein Freund und meine es gut mit dir. Das ALEXANDER: Was hab ich gemacht? glaubst du mir doch? EMILIE: Das weißt du selbst am besten. Komm, ALEXANDER (den Tränen nahe): Ja. gehen wir. Edvard: Fleiß und gute Noten sind nicht alles Die Mutter steht auf und nimmt ihren Sohn an der auf der Welt. Hand. Sie gehen in die Bibliothek. Dort steht der (...) Bischof und blättert in einem von Vaters Büchern, er dreht sich sofort um und lächelt den EDVARD: Du wirst langsam erwachsen. Darum Eintretenden zu. Aus Alexanders Blickwinkel ist werde ich als Erwachsener zu dir sprechen wie Edvard Vergérus imponierend: ein hoch zu einem Erwachsenen. Kannst du mir sagen, aufgeschossener breitschultriger Mann mit einem kannst du mir beschreiben, was ist eine Lüge großen, knochigen von grauweißem Haar und Bart und was ist eine Wahrheit? Kannst du das? umrahmten Gesicht. Seine Augen sind tiefblau. Auf (Alexander schweigt.) Du findest die Frage dem schwarzen Stoff des Lutherrocks blitzt das dumm, das ist sie auch. Ich wollte nur einen Goldkreuz. Er gibt Alexander die Hand und kleinen Scherz machen. Selbstverständlich Alexander macht einen tiefen Diener. Die Mutter weißt du, was Lüge und was Wahrheit ist. setzt sich auf das breite Ledersofa. Warum lügt man? EDVARD Vergérus: Guten Tag, Alexander. Warum lügt man, Alexander? Sag mir, warum man lügt. ALEXANDER: Guten Tag. ALEXANDER: Weil man nicht die Wahrheit EDVARD: Wir haben uns schon kennengelernt, sagen will. du und ich. (Pause) Unter traurigen Umständen (Pause), als ich deinen Vater beerdigte. EDVARD (lacht): Eine sehr listige Antwort, mein junger Freund. Aber so leicht kommst du nicht ALEXANDER: Ja. davon. Dann frage ich dich also: Warum will EDVARD: In der letzten Zeit hat sich deine man nicht die Wahrheit sagen. Mutter, aufgrund fehlender männlicher ALEXANDER: Weiß ich nicht. Unterstützung, mit ihren Sorgen ab und zu an mich gewandt. Das ist ganz natürlich. Ich bin Alexander blickt zu Boden und hat ein Gefühl, als ob er seine Knochen verlieren und sie sich alsbald

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auf dem hellen Orientteppich verbreiten würden. wirst. Du wirst deine Mutter um Verzeihung Der Bischof lächelt vor sich hin und stopft mit bitten für all den Kummer und die Sorgen, die seinem langen gelben Finger die Glut im du ihr jetzt bereitet hast. Geh zu deiner Mutter Pfeifenkopf fest. Emilie sieht ihren störrischen und bitte sie um Verzeihung. (Pause) Du hörst, Sohn traurig an. was ich sage, nicht wahr, Alexander? EDVARD: Wir haben Zeit, Alexander, deine Alexander hatte mit krampfhaft hochgezogenen Antwort interessiert mich so sehr, dass ich hier Schultern und gesenktem Kopf dagestanden, er beliebig lange sitzen und warten werde. Das weint nicht mehr, ballt die Fäuste. Endlich geht er glaubst du nicht, es ist aber tatsächlich so. zu seiner Mutter. Alexander: Man lügt, um sich einen Vorteil zu ALEXANDER: Ich bitte Mutter um Verzeihung, verschaffen. weil ich gelogen habe und verspreche, dass ich es nie wieder tue. EDVARD: Gute Antwort, mein Junge! Gut, kurz und knapp. Nun frage ich weiter und du musst Die Mutter umarmt den stocksteifen Alexander schon entschuldigen, wenn ich etwas und nimmt ihn auf den Schoß. Da sitzt er wie eine persönlich werde. Kannst du deiner Mutter und Marionette, die alle Fäden verloren hat. mir sagen, warum du in der Schule gelogen EDVARD: Gut, Alexander. Die Sache ist geklärt hast? und steht nicht mehr zur Debatte. ALEXANDER (starrt die Mutter an): Was? Fantasie, weißt du, ist etwas Großartiges, eine ungeheure Kraft, ein Gottesgeschenk. Große EMILIE: Deine Lehrerin hat mir geschrieben, Künstler verwalten es auf unsere Kosten, die dass du in der Klasse die unglaublichsten Lügen Dichter, die Musiker. herumerzählst. Der Bischof ist aufgestanden. Er tätschelt ALEXANDER (innerlich am Boden): Was? Alexander mit der knochigen Hand mehrmals den EMILIE: Willst du leugnen, dass du – dass du Nacken. deinen Klassenkameraden gegenüber Der Aufbruch Kapitel 2 (S. 104): behauptest – ich hätte dich an einen Der Bischof und Emilie werden heiraten Wanderzirkus verkauft (liest aus dem Brief vor), und dass die Zirkusleute dich am Ende des EMILIE: Ich habe euch etwas Wichtiges zu Schuljahres abholen kommen. Dass du zum sagen. Akrobaten und Zirkusreiter ausgebildet wirst, Alexander dreht den Kopf zur Seite: hinter Emilies gemeinsam mit einem gleichaltrigen Rücken, halb verdeckt von der offenen Tür, sieht er Zigeunermädchen namens Tamara. Oscar Ekdahl mit ernstem, vielsagendem Blick. Es EDVARD: Deine Mutter war, wie du sicherlich macht ihm keine Angst, löst auch keine verstehst, entsetzt und traurig, als sie diesen Verwunderung aus. Die Gegenwart des Vaters Brief gelesen hat. Sie wusste nicht mehr, was scheint selbstverständlich zu sein, wenig sie tun sollte. Ich habe ihr vorgeschlagen, gespenstisch. (...) vernünftig mit dir über das traurige Problem zu reden, und hier bin ich, wie du siehst. EMILIE: Du kannst dem Bischof dankbar sein, dass er sich die Zeit nimmt, verstehst du, Alexander? EDVARD: Wir sind uns also einig, dass der, der lügt, sich mit seiner Lüge einen Vorteil verschaffen will. Jetzt frage ich dich ganz logisch: Welchen Vorteil du dir mit der Behauptung zu verschaffen meintest, deine Mutter hätte dich an einen Zirkus verkauft? ALEXANDER: Weiß ich nicht. Die Mutter hat offenbar etwas gesagt und Alexander hat es nicht gehört. Oder Emilie hat den EDVARD (lächelnd): Ich glaube, du weißt es sehr Faden verloren und ist, in Ermangelung einer wohl, schämst dich aber, es zu sagen. Du Souffleuse, zum Schweigen verdammt. Vielleicht schämst dich, nicht wahr? Das ist gut, mein ahnt sie die Gegenwart des Toten. Wenn Alexander junger Freund. Das ist sehr gut. Es beweist, dass sich als Erwachsener später an diesen Moment zu du dich künftig vor ähnlichen Eskapaden hüten erinnern versucht, an das Gesicht der Mutter, den

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Bart des Bischofs und die Gesten der Schwestern, EMILIE: Sag deinen Wunsch. kann er sich vorstellen, dass seine Mutter vielleicht EDVARD: Ich möchte, dass ihr ohne Besitz in auf einmal müde wurde, möglicherweise mein Haus kommt, du und die Kinder. melancholisch, hervorgerufen durch die Gegenwart des Toten. Wie auch immer, Emilie hat EMILIE: Wie meinst du das? Tränen in den Augen und zerrt das kleine EDVARD: Du bist eine wohlhabende Frau, bist Spitzentaschentuch hervor, das immer in ihrer einen Luxus gewöhnt, den ich nicht bieten Spitzenmanschette steckt. kann. Deshalb will ich, dass du das Theater EDVARD: Ich bin davon überzeugt, dass wir – aufgibst. EMILIE: Klar, wird sich vieles – EMILIE: Darüber waren wir uns ja schon einig. Küss mich jetzt und sag, dass ich ein EDVARD: Gott sei unserer kleinen Familie Gottesgeschenk bin für den Bischof. gnädig. EDVARD (küsst sie flüchtig): Ich möchte, dass Alexander meint das freundlich ironische Lachen du dein Zuhause, deine Kleider, deinen des Vaters zu hören, der ist aber nicht mehr da. Schmuck, deine Möbel, deine Freunde, deine Emilie umarmt ihre Kinder und küsst sie, weint Habseligkeiten, deine Gewohnheiten, deine lautlos, benetzt ihnen Haar und Wangen mit Gedanken aufgibst. Ich will, dass du dein Tränen. Sie nimmt jedes einzeln an der Hand und früheres Leben ganz und gar verlässt. führt es zum Bischof, der sich vorbeugt und es auf die Stirn küsst. Er riecht nach Tabak und EMILIE: Soll ich nackt kommen? Mottenkugeln. EDVARD (lächelt): Es ist mir ernst, Emilie. Du EDVARD: Ich möchte, dass wir niederknien und sollst wie neugeboren in dein neues Leben gemeinsam innig beten. treten. Der Aufbruch Kapitel 3 (S. 107): EMILIE: Und die Kinder? Die Frauen im Bischofssitz EDVARD: Die Kinder auch. Im Haus des Bischofs leben drei Frauen. Allen EMILIE: Ihre Spielsachen, ihre Puppen, Bücher – voran seine Mutter, die alte Frau Blenda Vergérus, kleinen – eine anscheinend sanfte, liebenswerte Dame mit außerordentlicher Haltung und reinem Antlitz. EDVARD (unterbricht): Nichts. Henrietta Vergérus, die Schwester des Bischofs, EMILIE: Das muss ich mit ihnen besprechen. führt den Haushalt und ist das krasse Gegenteil ihres Bruders, klein, dunkel, lebhaft, mit EDVARD: Die Entscheidung liegt bei dir, Emilie. stechendem Blick und dichtem, schwarzem Haar. EMILIE: Ich kann für mich entscheiden. Nicht Der Bischof hat auch eine Tante, Fräulein Elsa für die Kinder. Darum muss ich sie fragen. Bergius, sie ist unförmig fett. Von Kissen gestützt, EDVARD: Sie müssen ein Opfer bringen für das sitzt sie regungslos in einem Sessel und hat in den Glück ihrer Mutter. letzten zwanzig Jahren eigentlich nichts gesagt. Böse Zungen behaupten, sie sei in ihrer Jugend EMILIE: Schon bist du mir böse. Küss mich! eine Schönheit gewesen und eine peinliche EDVARD: Ich bin dir nicht im Geringsten böse. Krankheit habe ihr Leben zerstört. (...) Die (Küsst sie lächelnd.) unförmige Frau betrachtet die Kinder mit scharfen Blicken unter wulstigen Augenlidern, lächelt ein EMILIE: Ich krieg sie schon herum. etwas sarkastisches Lächeln und nickt mehrmals. EDVARD: Überleg es dir, Emilie. Beim Atmen bringt sie Geräusche hervor, die wie eine verrostete Pumpe klingen. Die in sich EMILIE: Das habe ich getan. Mein Leben war zusammengesackte Gestalt umgibt ein Geruch oberflächlich und leer, gedankenlos und säuerlicher Feuchtigkeit. bequem. Ich habe mich schon immer nach dem Leben gesehnt, das du lebst. Der Aufbruch Kapitel 3 (S. 109): „Ich möchte, dass ihr ohne Besitz kommt“ EDVARD (gerührt): Ich weiß, ich weiß. EDVARD: Ich habe einen Wunsch. Einen EMILIE: Es macht mir keine Schwierigkeiten, einzigen Wunsch, aber einen wichtigen. Und ich deinen Wunsch zu erfüllen. Das tu ich mit will ihn dir jetzt gleich sagen, damit du die Freuden. Möglichkeit hast, es dir anders zu überlegen, falls es dir unmöglich ist, ihn zu erfüllen.

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EDVARD (mit Tränen in den Augen): Ich will, Zum ersten Mal sitzen alle an dem schweren dass wir nah beisammen leben. Im Angesicht Eichentisch: der Bischof und Emilie einander Gottes. gegenüber, die Kinder an der einen Längsseite, Frau Blenda und Fräulein Henrietta an der EMILIE: Ich lerne schon noch zu verstehen, was anderen, zwischen ihnen das unförmige Fräulein du meinst, wenn du sagst, wir wollen im Bergius, dem sie beim Essen helfen. Die dicke Frau Angesicht Gottes leben. wimmert leise. Beim langsamen Kauen mit dem EDVARD: Ich erzählte dir ja, wie meine Frau und zahnlosen Mund entringt sich ihrer Kehle ein kaum meine beiden Kinder vor fünfzehn Jahren in wahrnehmbares Knurren. dem Fluss da unten umgekommen sind. EDVARD (heiter): Dann sitzen wir also zum Jahrelang schleppte ich mich wie ein grauer ersten Mal bei Tisch. Erdenwurm durchs Leben. Ich sah dich, immer von weitem, mit anderen Leuten zusammen, du HENRIETTA: Die Kinder haben anscheinend warst unerreichbar, aber ich habe auf dich keinen Appetit. gewartet, meine Sehnsucht und mein Warten EMILIE: Das musst du verstehen, Henrietta, all waren der beste Teil meines Lebens. Jetzt halte das Neue und Ungewohnte beunruhigt sie. Das ich dich im Arm, und du hast, versprochen, zu musst du verstehen. mir zu kommen, auf immer. Eine unfassbare Gnade. HENRIETTA: Es kann ja auch sein, dass sie das gute Brot und schmackhafte Essen missachten. EMILIE: Ich habe mir wohl nie im Leben Gedanken gemacht. Weder über meinen Beruf EDVARD: Heute Abend wollen wir uns freuen, noch über die Kinder oder irgendeinen Henrietta. Menschen. Manchmal habe ich mich gefragt, HENRIETTA: Ich will uns den ersten Abend ob mit meinen Gefühlen grundsätzlich etwas bestimmt nicht mit Strenge verderben, aber in nicht stimmt. Ich konnte nicht verstehen, Zukunft – das sage ich lieber gleich – in Zukunft warum mir nichts richtig wehtut, warum ich nie verlässt keiner den Tisch, der nicht alles – richtig froh bin. Jetzt weiß ich, das Entscheidende ist hier! Ich weiß, dass wir EMILIE (unterbricht): Liebe Henrietta. Über einander wehtun werden, ich weiß es, habe meine Kinder bestimme nun mal ich. Ich werde aber keine Angst. Ich weiß auch, dass wir entscheiden – einander Freude machen werden und weine HENRIETTA (unterbricht): In diesem Haus gibt vor Angst, weil die Zeit so kurz ist, die Tage so es eine Grundregel, gegen die niemand schnell vergehen, unveränderlich ist nichts. verstoßen darf, nicht einmal du, liebe Emilie, Du sagst, dein Gott ist ein Gott der Liebe. Es und das ist der Respekt vor irdischen Gütern. klingt so schön, dass ich wünschte, ich könnte EMILIE: Ich denke, dass du da etwas sehr glauben wie du. Vielleicht kann ich es seines Wesentliches missverstehst, liebste Henrietta, Tages. Mein Gott ist anders, Edvard. Er ist wie schlage aber vor, dass wir die Diskussion auf ich, fließend, grenzenlos, unbegreiflich, in einen eher geeigneten Zeitpunkt verschieben. seiner Grausamkeit und in seiner Zärtlichkeit. Ich bin ja Schauspielerin, Masken zu tragen bin HENRIETTA: Verzeih mir, liebe Emilie. Ich ich gewohnt. Mein Gott hat tausend Masken, er vergesse mich. Verzeih! hat mir noch nie sein wahres Gesicht gezeigt, so EMILIE: Du bist bestimmt eine viel bessere wie ich unfähig bin, dir oder Gott mein wahres Hausfrau. Ich werde dich bei allem um Rat Gesicht zu zeigen. Durch dich lerne ich Gottes fragen. Wesen kennen. Küss mich jetzt und nimm mich in die Arme, ganz still, wie nur du es kannst, HENRIETTA: Edvard hat mich schon hundertmal mein Geliebter. ermahnt. (Weint und lacht.) Es ist nicht so leicht, kann ich dir sagen. (Pause) Es ist nicht so Der Aufbruch Kapitel 5 (S. 116): leicht einzusehen, dass man überflüssig ist. Zu Tisch im Bischofssitz FRAU BLENDA (unterbricht): Es reicht jetzt, Im Bischofshaus wird Abendbrot gegessen. Ein Henrietta. Feuer in dem offenen Kamin kämpft vergeblich gegen die modrige Feuchtigkeit aus dem dunklen Mit seltsam erschrockenem Blick zur Mutter hört Fluss. Die untergehende Sonne wirft scharf Henrietta sofort auf zu weinen. In der Kehle des umrissene Strahlenbündel in den dämmrigen Fräulein Bergius knurrt es leise. Die Kinder sitzen Raum. schmollend vor ihren randvollen Tellern mit Biersuppe.

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HENRIETTA (lächelt): Was ich vielleicht erzählen Kleidern vor der Puppenstube und flüstern, darf, ist, dass wir hier Frühaufsteher sind, dass sie mit mir spielen wollen! alltags und sonntags. Um sechs Uhr EMILIE (lacht): Still jetzt, Fanny! Sei nicht versammeln wir uns in Edvards Arbeitszimmer albern. zum Morgengebet. Ich möchte auch erwähnen, dass jeder sein Bett selbst macht und sein FANNY: Dann locken sie Fanny zu einer tiefen Zimmer aufräumt. In diesem Haus herrschen Stelle am Fluss. Und Fanny kann nichts sagen Pünktlichkeit, Sauberkeit und Ordnung. und nicht um Hilfe schreien. Auf einmal sind sie weg. FRAU BLENDA (unterbricht): Erschreckt nicht, Kinderchen. Meine Tochter meint es nicht so ALEXANDER: Ich will hier nicht wohnen. schlimm, wie es vielleicht klingt. Wir packen AMANDA: Du hast versprochen, dass ich im zunächst alles von der scherzhaften Seite an. Herbst beim Opernballett anfangen darf. Ich EMILIE: Ich verstehe nicht ganz. Wenn die bleibe nur unter der Bedingung, dass ich im Absicht besteht, eine neue Art von September ausziehe. Erziehungsmethode einzuführen – FANNY: Ich finde, wir haben einen langweiligen FRAU BLENDA (unterbricht): Gar nicht, Emilie, Stiefvater. Kleines! Gar nicht. Ich bin überzeugt, dass die ALEXANDER: Die Schwester, die der hat, spinnt Kinder schon noch dahinterkommen werden, doch. wie schön es ist, seine Pflichten sorgsam zu erfüllen. Für meine Begriffe soll alles sein wie AMANDA: Und dieser Fleischberg, der gefüttert ein Spiel. werden muss. EMILIE: Ich glaube nicht, dass meine Kinder FANNY: Ich hab Hunger, Mama. solche Spiele mögen. Ich auch nicht, nebenbei Emilie sitzt ein paar Momente still, sie blinzelt gesagt. mehrmals. Dann hebt sie beide Hände zum FRAU BLENDA: Das wird die Zukunft zeigen, Gesicht, hält aber inne, lächelt Fanny plötzlich zu. meine liebe Emilie. EMILIE: Ihr müsst mir ein bisschen Zeit geben! Der Aufbruch Kapitel 6 (S. 120): Es wird sich vieles ändern. Manches wird „Spiel nicht den Hamlet, Alexander“ schnell gehen, anderes wird lange dauern. Hauptsache, wir verlieren nicht den Mut. AMANDA: Was ist das da für eine Hauptsache, wir halten zusammen. Puppenstube? AMANDA: Warum hast du Onkel Edvard EMILIE (sanft): Vor fünfzehn Jahren wohnten in geheiratet? diesem Zimmer zwei kleine Mädchen. EMILIE: Ich habe ihn geheiratet, weil ich ihn AMANDA: Sie sind ertrunken, nicht? liebe. Euch liebe ich auch, ich war aber so ALEXANDER: Ihre Mutter auch. allein, als Vater gestorben war. So ist das. Und jetzt wollen wir schlafen. Wenn wir nicht mehr FANNY: Die spuken vielleicht! so müde sind, wird alles schöner sein. EMILIE: Jetzt sei nicht dumm, Fanny. Sie umarmt und küsst ihre Töchter. Alexander Gespenster gibt’s nicht. weist jede Annäherung stolz zurück, betrachtet AMANDA: Haben die Kinder in dem Zimmer seine Mutter mit kaltem Blick. Trotzdem beugt sie hier gewohnt? sich über ihn, umgibt ihn mit ihrem Duft und lächelt ihm zu. EMILIE: Es war das Kinderzimmer, glaube ich. EMILIE: Spiel nicht den Hamlet, mein Junge. Ich FANNY: Plötzlich, eines Tages, wenn es dunkel bin nicht Königin Gertrud und dein lieber wird und man hier hereinkommt, sitzen die Stiefvater ist kein König von Dänemark und dies zwei blassen kleinen Mädchen in schwarzen ist nicht Schloss Kronborg, auch wenn es düster aussieht.1

1 Wie war das gleich bei Hamlet? Der Geist von König ein hinterhältiger Mord, begangen von König Hamlets Hamlet (dem Vater von Prinz Hamlet) schmachtet im Bruder Claudius. Durch diese schändliche Tat ist der Fegefeuer, denn der Tod ereilte ihn im Schlaf, ohne König „um Leben, Krone, Frau zugleich gebracht“ vorherige Vergebung seiner Sünden. Die Ursache war worden – Claudius ermordete seinen Bruder, wurde keineswegs, wie alle glauben, ein Schlangenbiss, sondern König Hamlets Nachfolger auf dem Thron und heiratete

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Die Ereignisse des Sommers Kapitel 1 (S. 127): gesunken und bleibt mit der Ansichtskarte in der Helena und die schwangere Maj Hand eine Zeitlang nachdenklich sitzen, sie schaut sich die Vorder- und Rückseite an, als ob sich hier HELENA: Wer ist da? noch eine heimliche Nachricht verbergen müsste. MAJ: Ich bin’s nur, Frau Ekdahl. Dann lächelt sie flüchtig und gibt Maj die Karte zurück. HELENA: Maj? Komm herein, liebes Kind. Wie nett. HELENA: Ich glaube, wir verkennen Emilie. Sie ist fähig aufzupassen, dass den Kindern und ihr Maj tritt auf Veranda. Sie ist hochschwanger, aber nichts passiert. Wir machen uns unnötig schön und gut angezogen. Das dichte rote Haar Sorgen. trägt sie in einem sittsamen Knoten. Den leichten Mantel hat sie über die Schulter geworfen. Ihr MAJ: Ich bin in die Familie gekommen, bevor sommersprossiges Gesicht ist feucht vom Regen. Fanny geboren wurde. Es sind ja auch meine Kinder. (...) MAJ: Guten Tag, Frau Ekdahl. Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen. Frau Helena sieht die junge Frau scharf an, die nun zu weinen anfängt. Sie hält sich die Unterarme vors HELENA: Ganz bestimmt nicht. Gib mir einen Gesicht und weint lautlos, unablässig wie der Kuss. So. Das ist gut. (...) Bist du denn gar nicht Sommerregen. mit auf dem Ausflug? HELENA: Setz dich. Maj (lacht): Für mich ist kein Platz im Boot mit meinem dicken Bauch. MAJ (schüttelt den Kopf). HELENA: Dummes Zeug, Maj. Wegen Alma? HELENA: Ist es so schwer? MAJ: Nein, nein, Alma ist so nett. Maj (seufzt leise, weint): Es ist schwer. HELENA: Dann wegen Lydia? Doch, natürlich. HELENA: Wegen der Konditorei? MAJ: Ich will nicht, dass es Streit gibt. Es ist so MAJ: Das auch. heikel. (...) HELENA: Gustav Adolf lässt nicht locker, kann HELENA: Was ist denn, Maj? Stimmt was nicht? ich mir denken. MAJ: Vielleicht ist es dumm von mir, dass ich MAJ: (nickt, weint): Ich will ihn nicht verletzen. mir Sorgen mache. Er ist ja so nett. (Pause, weint.) Am meisten Sorgen mache ich mir um die Kinder. HELENA: Du machst dir Sorgen um die Kinder? Entschuldigung, dass ich weine. Ich benehme MAJ (nickt): Amanda und ich hatten mich nicht gut. Bitte um Entschuldigung. verabredet, dass wir uns schreiben. Ich habe Sie macht einen Knicks vor Frau Ekdahl und geht schon sieben Briefe geschrieben. durchs Esszimmer hinaus. HELENA: Und hast keine Antwort bekommen? Die Ereignisse des Sommers Kapitel 2 (S. 131): MAJ: Eine Ansichtskarte. Vor drei Wochen. Justina bei den Kindern – Der Tod der seligen Frau Hier. Bischof – Klugscheißer-Gott Sie hält eine Ansichtskarte vom Hauptgebäude des JUSTINA (nach einer Pause): Arme Kinder. Botanischen Gartens in der ausgestreckten Hand. AMANDA: Du meinst uns? Auf der Rückseite steht in Amandas Schrift eine Nachricht: „Liebe Maj. Uns geht es gut. Onkel JUSTINA: Ich meine schon nicht euch. Ich meine Edvard hat uns heute auf einen Ausflug in den die Ärmsten, die ihr Grab im dunklen Wasser Botanischen Garten mitgenommen. Wir haben viel fanden. Die gnädige Frau wollte sie retten, ist gelernt über seltene Blumen. Danke für Deine von den Strudeln aber hinuntergezogen Briefe. Ich schreibe, wenn ich Zeit habe. Deine worden. An der Dombrücke wurden sie ergebene Amanda. Fanny und Alexander lassen gefunden. Die hatten sich grüßen!“ aneinandergeklammert. Sie waren wie ein Körper. Man musste ihnen die Arme absägen, Frau Helena hat ihren Kakao und den dass sie einzeln den Sarg hineinpassen. Seitdem Kopenhagener vergessen, ist in einen Sessel

Hamlets Frau Gertrude. König Hamlet fordert daher von Alexander = Prinz Hamlet, Oscar = König Hamlet, Emilie = Prinz Hamlet Rache. So sieht Alexander das also: Königin Gertrud(e), Bischof Vergérus = Claudius.

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ist es nie mehr ganz ruhig im Haus, sagt Frau Mädchen in der Tür gesehen, die rannte nur Tander. vorbei, wie auf Zehen, man hat nichts gehört, dann kam das andere Mädchen, die ältere mit Amanda: Gespenster gibt’s nicht. den dunklen Haaren und so großen Augen. Die Fanny und Alexander wechseln einen Blick. Justina ist stehen geblieben, gab mir irgendwie ein schlägt sich mit der flachen Hand auf die Brust und Zeichen, dass ich mich umdrehen soll. Und da, schüttelt den Kopf. hinter meinem Rücken, ganz im hellen Licht, stand die Frau in ihrem schwarzen Kleid. Leise, JUSTINA: Bewahre, ich will ja keinen dass man es kaum hören konnte, hat sie gesagt, erschrecken. Aber in dem Haus hier geht es dass ich keine Angst haben soll, sie hätte mir einem doch nicht gut. Guckt euch das an, was zu erzählen. meine Hand: die Haut ist ab, rohes Fleisch. Ich wollte Hochwürden den Frühstückskaffee Alexander macht eine Kunstpause, bricht sich ein bringen, als ich die Türklinke angefasst habe, Stück Schwarzbrot ab und kaut. Die Geschichte hing die Haut dran. (...) Jetzt schließ ich ab, aber scheint ihn auf einmal nicht mehr zu interessieren, keine Angst, morgen ist die Frau Bischöfin ganz gedankenlos guckt er zum Fenster hinaus. (...) bestimmt wieder da, und dann wird ALEXANDER (langsam): Ich will keinen Hochwürden euch aus der Gefangenschaft erschrecken, aber wortwörtlich hat sie gesagt: befreien, höchstpersönlich. Legt euch gleich ins Bett und schlaft gut, dann vergeht die Zeit „Ich will, dass du unser Geheimnis kennst. Dein schneller. Das Tablett kann bis morgen hier Stiefvater, mein Mann, hat mich und meine stehen. Kinder im Schlafzimmer eingesperrt, fünf Tage und fünf Nächte lebten wir ohne Wasser und ALEXANDER (plötzlich): Ich habe sie aber Brot. In unserer Verzweiflung beschlossen wir, gesehen. abzuhauen. Wir haben Bettlaken FANNY: Wen hast du gesehen? zusammengebunden und wollten aus dem Fenster klettern, zu der schmalen Landzunge, AMANDA: Jetzt geht das wieder los, Alexander die aus dem tiefen wirbelnden Wasser lügt. herausragt. Meine beiden Töchter kletterten ALEXANDER: Ehrenwort, dass ich sie gesehen zuerst, sind aber hilflos ins Wasser gestürzt und habe! (...) wurden in die Tiefe gerissen. Ich wollte sie retten, ein schwarzer Stromstrudel hat aber JUSTINA: Ist das wahr? meine Kleider gepackt und mich mit sich ALEXANDER: Mein Ehrenwort als schwedischer gezerrt. Unter Wasser konnte ich die Hände Bürger. (...)Wenn ihr nicht wollt, dass ich’s meiner Kinder erwischen und sie an mich erzähle, sag ich natürlich nichts. Aber Fanny ziehen.“ weiß, dass ich die Wahrheit sage. Alexander schaut ins Publikum, sein schrecklich Fanny nickt mystisch. (...) Justina lächelt, das trauriges Schauspiel ist ein Erfolg. Justina steht auf, Lächeln gelangt aber nur bis zu den Augen. schüttelt mehrmals den Kopf und schlägt wie abwehrend mit der Hand in die Luft. Amanda FANNY: Weil ich sie auch gesehen hab. lächelt blass und will etwas Sarkastisches sagen, ist ALEXANDER: Du warst nicht dabei, als die Frau aber zu ergriffen. Fanny blickt liebevoll geredet hat. bewundernd auf ihren Bruder. (...) JUSTINA: Ah so, sie hat geredet? FANNY: Erzähl was richtig Gruseliges, was du gerade erlebt hast. ALEXANDER: Was ich zu erzählen habe, ist natürlich scheußlich und ihr müsst schwören, ALEXANDER: Neulich nachts hatte ich dass ihr nicht weitersagt, was ich verrate. Bauchweh und musste pinkeln. Ich bin durch den Flur gegangen, am Schlafzimmer vorbei. FANNY (ganz die treue Begleiterin): Wo hast du Die Tür war nicht zu, auf dem Nachttisch war sie gesehen? Licht. Hochwürden, der Bischof, weißt schon, ALEXANDER: Ich war gerade in der Bibliothek, der, der sagt, dass er unser Stiefvater ist, lag bei dem Mann da, der mit meiner Mutter auf Mama drauf, das Nachthemd über den verheiratet ist. Er hat wegen der schlechten dünnen Arsch gezogen, und hopste, dass das Note im Deutschaufsatz mit mir geschimpft, ganze Bett gewackelt hat. Mama schrie um und ich bin durchs Esszimmer gegangen. Die Hilfe und betete zu Gott. „Gott, oh Gott“, so in Sonne schien. Es war ungewöhnlich hell, schon dem Ton. (...) komisch hell. Da habe ich zuerst das eine kleine

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Amanda beeilt sich. Fanny liegt in der Mitte, Er tut es, und sie hält sie lange in der ihren. Mit der flankiert von den Geschwistern, das Federbett anderen umfasst sie sein Handgelenk, fühlt ihm bauscht sich über ihrer zerbrechlichen gleich mal den Puls. Geborgenheit. Die Fenster klappern. Der Regen HELENA: Ich erinnere mich noch an deine rauscht. Kinderhand, klein, fest, trocken und das ALEXANDER: Jetzt hat’s eingeschlagen. Handgelenk so schrecklich schmal. Muttersein war schön, Schauspielerin sein, war auch schön, FANNY: Ganz nah. aber Muttersein war schöner. Ich mochte AMANDA: Ein irrer Knall. meinen Dickbauch, das Theater ließ ich herzlich gern sausen. Es sind sowieso lauter Rollen. ALEXANDER: Hoffentlich ist der ganze Domkack Manche sind schön, andere sind weniger schön. abgekackt. Ich spiele die Mama. Ich spiele die Julia, das AMANDA: Was ist, wenn Gott dich jetzt Gretchen. Auf einmal spiele ich die Witwe. bestraft, weil du so was sagst? Oder die Großmutter. Eine Rolle nach der anderen. Schummeln gilt nicht, gekniffen wird ALEXANDER: Wenn so ein Klugscheißer wie der nicht. Aber wo ist das alles hin, kannst du mir allmächtige Gott so einen dünnen Pups wie das sagen, mein Junge? Alexander wegen dem bisschen bestraft, dann ist er genau das ekelhafte Arschloch, für das ich Frau Helena erwartet eigentlich keine Antwort. Das ihn halte. hat sie nie getan, und ihre Gesprächspartner haben es immer verstanden. FANNY: Finde ich auch. HELENA: Du bist lieb, hörst deiner alten Mama Nun dringen leise Flötentöne durch die dicken zu, wenn sie monologisiert, wie Isak immer Mauern, den Regenguss, den sich entfernenden sagt. Du bist ein lieber Junge, Oscar, ich war Donner, bis in die warme Höhle der Kinder. furchtbar traurig, als du starbst, da bekam ich AMANDA: Hört ihr? eine seltsame Rolle, mit Gefühlen aus dem Körper, ich konnte sie zwar beherrschen, doch FANNY: Er spielt Flöte. sie haben die Wirklichkeit zerschlagen, wenn du ALEXANDER: Hochwürden, der Bischof, blasen weißt, was ich meine. (Pause) Seitdem ist sie die Flöte, während er sich für seine Frau und kaputt, und seltsamerweise fühlt sich das seine Stiefkinder neue Quälereien ausdenkt. richtiger an. Ich mache mir keine Mühe mehr, Wenn wir uns jetzt alle darauf konzentrieren, sie wieder heil zu kriegen. Es ist mir eben egal, dass er stirbt, stirbt der. Wir müssen nur dass nichts stimmt. gleichzeitig anfangen. Achtung, fertig, los. Stirb, Oscar hält immer noch ihre Hand. Den Blick hat er du Arsch! Noch mal. Achtung, fertig, los. Stirb, zum Fenster gewandt, er lächelt nicht mehr, ist du Arsch! jetzt sehr ernst, wirkt müde und erschöpft. So wie Die Ereignisse des Sommers Kapitel 3 (S. 141): Frau Helena ihn aus seinen letzten Jahren in Helena spricht mit dem toten Oscar Erinnerung hat. HELENA: Ja, siehst du, Oscar, so ist das. Man ist HELENA: Oscar, mein Junge? alt und ist doch auch ein Kind. Und da versteht OSCAR: Ja, Mama. man nicht, wo all die Zeit geblieben ist, die einem so wichtig vorkam. Hier sitze ich, werde HELENA: Du siehst krank und traurig aus. melancholisch und denke, sie war ganz schön OSCAR: Ich mache mir Sorgen. kurz. Dein Vater sagte immer, ich sei sentimental. Er war, wie wir wissen, nicht HELENA: Du sorgst dich um Emilie und die gerade zimperlich, wurde wütend und war Kinder? gekränkt, als er starb. Er fand das Leben nie Die Ereignisse des Sommers Kapitel 4 (S. 148): grausam oder ungerecht oder schön. Er lebte „Ich liebe dich, Alexander“ und hielt Kommentare für die Katz. Die überließ er mir. Wenn ich das Leben dann so oder so EDVARD: Ich weiß nicht, was du dir vorstellst, fand, lachte er mich aus und sagte, ich sei Alexander. Glaubst du, das Ganze sei ein sentimental. Aber ich war ja Künstlerin, zum Scherz? Glaubst du, man könnte die Ehre eines Teufel. Als Künstlerin durfte ich auch Gefühle Menschen ungestraft verletzen? Glaubst du, haben. Oscar, mein lieber Junge, ich ängstige man könnte lügen, sich durchschlängeln und mich vielleicht ohne Grund. Wer nichts hat, was einen Meineid begehen? Glaubst du, das ganze die Gedanken beschäftigt, macht sich immer sei ein Spiel, Alexander? Oder glaubst du etwa, gleich Sorgen. Gibst du mir deine Hand?

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das sei hier eine Art Theaterstück, wo jeder EDVARD: In meiner Kindheit war man nicht so seinen Text aufsagt, wie’s gerade kommt? zartbesaitet. Kleine Schurken wurden exemplarisch, aber liebevoll bestraft. Da gab es ALEXANDER: Ich glaube, dass der Bischof den Rohrstock, den gibt es auch hier, er liegt da Alexander hasst. Das glaube ich. auf dem Tisch, ein ganz normaler, harmloser EDVARD: Soso, das glaubst du also. (Pause) Ich Teppichklopfer, tanzt ziemlich gut. Dann hätten will dir mal was sagen, mein Junge. Es wird dich wird auch noch ein anderes Mittel, sehr gängig, vielleicht wundern. Ich hasse dich nicht. Ich nämlich Rizinusöl. Schau, da steht die Flasche, liebe dich. Aber Liebe, die Liebe, die ich für dich und da ein Glas. Man wird ziemlich bescheiden, und deine Mutter und deine Geschwister hege, wenn man ein paar Schlucke getrunken hat. ist nicht blind und weichlich. Sie ist stark und Und wenn Rizinusöl nicht helfen sollte, gäbe es streng, Alexander. Wenn ich dich bestrafen auch noch eine dunkle, ziemlich kalte Kammer, muss, leide ich mehr, als du ahnst. Meine Liebe in der man ein paar Stunden sitzen könnte, bis zu dir zwingt mich, wahrhaftig zu sein. Sie die Mäuse einem das Gesicht beschnuppern. zwingt mich, dich zu erziehen und zu formen, Schau, da unter der Treppe. Da ist ein ziemlich auch wenn es wehtut. Hörst du, was ich sage, geräumiges Loch, das auf dich wartet. Natürlich Alexander? gibt es auch noch andere, barbarischere Methoden, die mag ich aber nicht, sie sind ALEXANDER: Nein. demütigend und gefährlich und kommen nicht EDVARD: Du bist bockig. Außerdem beurteilst in Frage – heutzutage. du deine Situation falsch. Ich bin nämlich sehr ALEXANDER: Welche Strafe kriege ich, wenn ich viel stärker als du. gestehe? ALEXANDER: Das bezweifle ich überhaupt nicht! EDVARD: Du darfst es dir aussuchen, Alexander. EDVARD: Seelisch stärker, mein Junge. Es liegt ALEXANDER: Warum muss ich eine Strafe daran, dass ich Wahrheit und Gerechtigkeit auf kriegen? meiner Seite habe. Ich weiß, dass du schon bald gestehen wirst. Du wirst dein Geständnis und EDVARD: Das ist ganz selbstverständlich, mein deine Strafe als Erleichterung empfinden. Und Junge. Dein Charakter hat eine wenn deine Mutter heute Abend Schwäche, du kannst Lüge und wiederkommt, ist die Sache aus der Welt, der Noch bist Alltag geht weiter wie üblich. Du bist ein kluger Wahrheit nicht unterscheiden. kleiner Mann, Alexander, siehst eigentlich du ein Kind und deine Lügen sind die Lügen schon ein, dass du das Spiel verloren hast, bist eines Kindes – wie grauenhaft sie auch immer aber stolz und eigensinnig, und du schämst dich sein mögen. Du bist aber bald ein erwachsener natürlich. Mann, und das Leben bestraft Lügner ohne Liebe und Rücksicht. Die Strafe soll dir Alexander. Einer von uns sollte sich schämen. beibringen, die Wahrheit zu sagen. Das stimmt. ALEXANDER: Ich gestehe, dass ich das mit dem EDVARD: Du musst wissen, dass deine Bischof, und dass er seine Frau und seine Unverschämtheit dir nichts bringt. Sie bestätigt Kinder eingesperrt hat, erfunden habe. meinen Verdacht nur. EDVARD: Gestehst du auch den Meineid? ALEXANDER: Ich habe vergessen, was ich gestehen soll. ALEXANDER: Mach ich wohl. EDVARD: Ah. So ist das. EDVARD: Du hast einen großen Sieg errungen, mein Junge. Einen Sieg über dich selbst. Welche ALEXANDER (nach langer Pause): Was soll ich Strafe willst du haben? denn gestehen? ALEXANDER: Wie viele Schläge mit dem EDVARD: Du weißt, dass mir Mittel und Wege Rohrstock krieg ich? zur Verfügung stehen. EDVARD: Nicht mehr als zehn. ALEXANDER: Das wusste ich nicht, weiß es aber jetzt. ALEXANDER: Dann den Rohrstock. EDVARD: Wirkungsvolle Mittel. EDVARD: Knöpf die Hosen auf. Beug dich auf das Sofa. Schieb dir ein Kissen unter den Bauch. ALEXANDER: Hört sich nicht schön an. Es folgen zehn nicht allzu harte Schläge mit dem Rohrstock. Alexander schweigt, beißt sich in die

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Hand, die Tränen rinnen ihm aus Augen und Nase, HELENA: Danke, lieber Gusten, ich brauche er ist hochrot und aus seiner Haut sickert Blut. nichts, möchte mich mit dir aber über Maj unterhalten. EDVARD: Steh auf, Alexander. GUSTAV ADOLF: Wieso denn das, verdammt? ALEXANDER (steht auf). Sie hat’s doch gut? EDVARD: Du hast mir noch etwas zu sagen. HELENA: Wirklich, Gusten? ALEXANDER: Nein. GUSTAV ADOLF: Jetzt werde ich EDVARD: Bitte mich um Verzeihung. fuchsteufelswild, wenn Mama entschuldigt. Hat das kleine Mädel nicht alles, was – ALEXANDER: Nie. ALMA: Beruhige dich, Gusten. Kaum kommen EDVARD: Dann muss ich dich schlagen, bis du wir auf das Kapitel Maj zu sprechen, fängt er auf bessere Gedanken kommst. Erspar uns ein an, sich aufzuregen, schäumt und schreit. solch unangenehmes Erlebnis. HELENA: Du musst wissen, lieber Gusten, dass ALEXANDER: Ich bitte niemals um Verzeihung. Maj nicht dein Privatspielzeug ist. Durch Almas EDVARD: Du bittest nicht um Verzeihung. Großherzigkeit gehört sie jetzt zur Familie und erwartet mein Enkelkind. Du hast, auf deine ALEXANDER: Nein. diktatorische Art, ihre Zukunft festgelegt. Es EDVARD: Zieh die Hosen herunter. Beug dich kann passieren – vor. Schieb dir das Kissen unter den Bauch. GUSTAV ADOLF (böse): Alma ist mir scheißegal (Will schlagen.) und – ALEXANDER: Nicht mehr hauen! ALMA: Ich hab es nicht gern, wenn du in EDVARD: Du bittest also um Verzeihung. Gegenwart deiner Mutter fluchst, hörst du, Gusten. ALEXANDER: Ja. GUSTAV ADOLF (böse): Ich hab das Mädel gern. EDVARD: Knöpf die Hosen zu. Schnäuz dich. Gib Ich meine es gut mit ihr. Ich will ihre Zukunft ihm ein Taschentuch, Justina. Was hast du zu sichern. Ich will nicht, dass sie vom Wohlwollen sagen, Alexander. der Verwandten abhängig ist, wenn ich ins Gras ALEXANDER: Alexander bittet den Bischof um beißen sollte. Sie hat ‚ja’ gesagt zu meinem Verzeihung. Vorschlag. Sie braucht, verfluchte Kiste, keine Beschützer, schon gar nicht gegen mich! Komm EDVARD: – für die Lügen und den Meineid. mir nicht mit der Behauptung, dass ich ALEXANDER: – für die Lügen und den Meineid. diktatorisch wäre. Maj kann alles selbst bestimmen. Ich mag sie. Ich bin nett zu ihr. EDVARD: Du weißt, dass ich dich aus Liebe Alma ist nett zu ihr. Jetzt bin ich irrsinnig bestrafen musste. verletzt, kann ich euch sagen. Scheißverletzt. Es ALEXANDER: Ja. gibt nicht den geringsten Grund, Maj gegen EDVARD: Küss mir die Hand, Alexander! mich in Schutz zu nehmen. Ich hab sie lieb. Alma hat sie lieb. Sie wird genauso geliebt wie ALEXANDER (küsst dem Bischof die Hand): Darf Jenny und Petra. Ja, da guckt ihr. Nicht ich gehen? genauso. Aber fast. Sie ist nett zu mir, findet EDVARD: Das darfst du, mein Junge. Um aber in mich nicht dick und alt und ekelhaft. Das findet aller Ruhe über die Ereignisse des Tages übrigens sowieso keiner. Gustav Adolf Ekdahl nachdenken zu können, wirst du auf dem ist verrückt nach Damen. Was soll man Dachboden schlafen. Justina bringt dir Decke machen? Maj wird ihren eigenen Weg gehen, und Matratze. Morgen früh um sechs schließt und ich gebe ihr festen Boden unter die Füße. Henrietta die Tür auf und du bist frei. Ist das in Jetzt haben wir aber genug darüber gequatscht. Ordnung, Alexander? Komm, Alma, gehen wir nach Hause zum Abendbrot, der Opernsänger sagte was davon, ALEXANDER: Ja, Hochwürden. dass er mit Frau und Kind vorbeischauen will. Die Ereignisse des Sommers Kapitel 7 (S. 162): Adieu, Mama, gib mir einen Kuss. Ich will Helena & Alma sprechen mit Gustav A. über Maj absolut nicht, dass Mama und Alma zusammenhocken und Majs Zukunft bekakeln. Die ist meine Sache. Das heißt, ihre, meine ich. Gute Nacht, Mama. Sei nicht bös, dass ich

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etwas laut geworden bin. Gehört haben es nur an und zieht ein kleines, aber dickes Buch aus die zwei mageren alten Krähen in der Küche, seiner kaputten Jackentasche. Es hat sehr dünne und die freuen sich, wenn sie was zu schnattern Seiten, dicht bedruckt mit einer fremdartigen haben. Komm, Alma! Schrift. ALMA (Kuss): Ich komme in ein paar Stunden ALEXANDER (höflich): Was ist das für ein Buch? wieder. ISAK (blickt auf): Ein Buch mit Erzählungen, GUSTAV ADOLF: Untersteh dich. Gedanken, weisen Worten und Gebeten. Auf Hebräisch. HELENA: Du bist herzlich willkommen, auch wenn es spät wird. FANNY: Kann Onkel Isak die Sprache verstehen? ALMA: Beruhige dich, Gusten, du kriegst noch ISAK (nickt): Soll ich euch etwas vorlesen? einen Herzschlag. Bist schon ganz rot im ALEXANDER: Onkel Isak! Gesicht. ISAK: Ja? Die Ereignisse des Sommers Kapitel 8 (S. 172): Ich liebe dich / Ich verfluche dich ALEXANDER: Ist es ganz sicher, dass Hochwürden uns hier nicht abholen kann? EDVARD: Ich liebe dich, Emilie, ich liebe dich mehr als irgendeinen Menschen auf der Welt, ISAK: Sei ganz beruhigt, Alexander. Gott ist mein Zeuge. Aber du bedrohst mein FANNY: Lies doch! Amt mit deinen wahnwitzigen, riskanten Ausbruchsversuchen und deinem ständigen ISAK: Es wird vielleicht ein bisschen holperig, Gerede von Scheidung. Das muss aufhören, weil ich übersetzen muss. (Blättert, räuspert Emilie. Du musst lernen, dich demütig der sich, beginnt zu lesen.) Macht zu beugen, der wir beide dienen. ‚Du gehst eine endlos lange Straße, gemeinsam EMILIE (schreit). mit vielen anderen Menschen. Wagen, von großen Pferden gezogen, preschen vorbei, EDVARD (schlägt sie auf den Mund). drängen die Wandernden und die Viehherden EMILIE: Ich verfluche dich. Ich verfluche an den Straßenrand oder in die tiefen Gräben. dein Kind in mir. Mit meinen eigenen Der Weg führt durch eine steinige Ebene, wo nichts wächst. Vom Morgen bis zum Abend und tot Händen will es mir herausreißen brennt die Sonne, du findest nirgends Kühle hauen, wie man ein giftiges Tier tot haut. Jeden oder Schatten. Ein schneidender Wind wirbelt, Tag, jede Stunde werde ich mir wünschen, dass mit den vielen Menschen, Wagen und du tot bist, und mir eine Qual ausdenken, Viehherden, riesige Staubwolken auf, die dir grauenhafter als alles, was mit Mund, Augen und Hals verschließen. Eine Menschenverstand zu fassen ist. unerklärliche Unruhe treibt dich vorwärts, und EDVARD: Wir wandern durch ein Tränental, brennender Durst quält dich. Manchmal fragst Emilie. Wir wandern durch das Tal der Tränen du dich oder deine Mitreisenden nach dem Ziel und machen es an Quellen reich. der Wanderung, die Antwort bleibt aber vage und zweifelhaft. (Pause) Auf einmal stehst du in einem Wald. Es dämmert und ist still, vielleicht hörst du einen verschlafenen Vogellaut, vielleicht den Abendwind in den hohen Bäumen. Voller Unruhe und Misstrauen stehst du da und wunderst dich. Du bist allein. Du bist allein und hörst nichts, weil deine Ohren vom Straßenstaub verstopft sind. Du siehst nichts, weil deine Augen von dem unbarmherzigen Tageslicht entzündet sind. Mund und Kehle sind ausgetrocknet von der langen Wanderung und Die Dämonen Kapitel 2 (S. 186): deine wunden Lippen sind zusammengebissen Isak erzählt von der Quelle des Glücks von Flüchen und harten Worten. (Pause) Die Kinder verstummen plötzlich. Sie sind müde, Darum hörst du das Wasser nicht strömen und unsicher und niedergeschlagen. Isak will das plätschern, bemerkst das Blinken in der Schweigen nicht stören. Er steckt sich eine Pfeife

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Dämmerung nicht. Blind stehst du am Er steigt in Arons viel zu langem Nachthemd aus Rand der Quelle und weißt nicht, dass den Polstern und sucht fieberhaft die Kammer ab, hier ist kein Topf. sie da ist. Wie ein Schlafwandler findest du einen Weg über die Wasserspiegel. Deine ALEXANDER: Hier ist kein Topf, ich muss raus blinde Geschicklichkeit ist erstaunlich, und bald aufs Plumpsklo. bist du wieder auf der lauten Straße, in dem In arger Bedrängnis macht er sich in der fremden brennend heißen, schattenlosen Licht, unter Wohnung auf den Weg. Schattenloses brüllenden Tieren, voranpreschenden Wagen Dämmerlicht sickert durch die Fenster. und erbitterten Menschen. Staunend sagst du zu dir selbst: Hier auf der Straße fühle ich mich ALEXANDER: Man kann nur hoffen, dass es sicher. Im Wald war ich mir selbst überlassen, nicht spukt. im Wald war es schrecklich einsam. (Pause) Alles ist verwirrend: Korridore und überraschend Doch in dem dämmrigen Wald spiegelt der vorhandene Zimmer, überall Gerümpel, Möbel, Abend sein helles Auge. Unentwegt plätschert Statuen, Bilder, Hausgerät, alte Kleider, Preziosen, das Wasser, strömt durch die Wälder, wird zu Bücher. Er hört dumpfes Schnarchen, eine Tür Bächen, Flüssen, tiefen Seen. ‚Wo kommt denn steht angelehnt. In einem hohen Bett liegt Onkel all das Wasser her?’, fragte der Jüngling. ‚Es Isak, wie ein König auf dem Sarkophag, aus seinem kommt von einem hohen Berg’, antwortete der Inneren dringen gewaltige Töne. Erschreckend. Alte. ‚Es kommt von einem hohen Berg, dessen Onkel Isak ist nicht der alte Bekannte, sondern ein Gipfel eine große Wolke verdeckt.’ ‚Was für ferner bedrohlicher Feind, der jenseits eine Wolke?’, fragte der Jüngling. Der Alte unüberwindlicher Mauern ein geheimes Leben sprach: ‚Jeder Mensch hat Hoffnungen, Ängste, führt. Alexander betrachtet ihn mit Widerwillen Sehnsüchte, jeder Mensch schreit seine und einigermaßen bange. Am Fuß des Katafalks Verzweiflung aus sich heraus, manche beten zu steht ein Feldbett, hier hat sich Aron einem bestimmten Gott, andere richten ihre zusammengerollt. In dem diffusen Licht ist sein Rufe ins Leere. Diese Verzweiflung, diese Gesicht wachsbleich. Offener Mund, schwarze Hoffnung, dieser Traum von Erlösung, all das Schatten unter den Wimpern, feuchtes dunkles Rufen sammelt sich in tausend und Haar auf der Stirn, halb geöffnete Hände. Er könnte abertausend Jahren an, alle Tränen, alle Opfer, ein Kind sein oder ein Greis. Alexander überdenkt alles Sehnen sammelt und verdichtet sich zu dies alles, das Bedürfnis macht sich aber heftig einer unermesslichen großen Wolke auf einem bemerkbar und reißt ihn aus seinen Gedanken. hohen Berg. Aus der Wolke regnet es auf den ALEXANDER: Jetzt geht’s um Leben und Tod. Berg. Bäche, Flüsse und Ströme bilden sich, es Oder ich pinkle in die Palme. Die sieht trocken bilden sich tiefe Quellen, an denen du dich satt aus, ganz gelb, braucht wohl Wasser. trinken kannst, an denen du dir dein Gesicht waschen, dir die wunden Füße kühlen kannst. In einem bauchigen Blumentopf steht eine Alle Menschen haben irgendwann von den gelbliche Palme. Alexander pinkelt lange und Quellen, von dem Berg und von der Wolke wollüstig. Isak Jacobi schnarcht. Aron liegt wie tot. gehört, die meisten bleiben aber auf der Während Alexander noch pinkelt, wird ihm klar, staubigen Straße, in der Angst, vor der Nacht dass er die Kammer nicht mehr finden wird, er hat nicht an ein unbekanntes Ziel zu kommen.’ sich verirrt. Die Dämonen Kapitel 4 (S. 200): ALEXANDER: Jetzt heißt es zurückfinden. Wird Alexander konfrontiert Oscar vermutlich nicht so leicht. In derselben Nacht hat Alexander drei seltsame Er öffnet eine Tür und weiß, dass er in die falsche Erlebnisse, die er nie im Leben irgendeinem Richtung rennt. Fröstelnd vor Unbehagen setzt er Menschen erzählen wird. Er wacht um vier Uhr sich auf einen Stuhl, zieht die nackten, ziemlich morgens auf (...). Sogleich stellt er fest, dass er schmutzigen Füße an sich und schließt die Augen, gefährlich dringend pinkeln muss. Weil ihn am um Panik und Tränen zurückzuhalten. Abend die Müdigkeit überwältigte, hatte er seine Als er sie wieder aufmacht, steht sein Vater vor gute Gewohnheit verschlafen, und jetzt ist es ihm und sieht ihn freundlich besorgt an. Alexander ernst. Alexander besitzt eine Eigenart. Er spricht ängstigt sich nicht, ist aber auch nicht gerade froh. vor sich hin, besonders in kritischen Situationen. Er schaut weg. Oscar setzt sich vorsichtig auf einen Dieses ist eine kritische Situation. kleinen Sessel, so ist er kleiner als der Sohn. ALEXANDER: Ich muss pinkeln, einen Topf OSCAR: Ich kann nichts dafür, dass alles schief finden. ging. Ich bin machtlos, Alexander. Dabei zu

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stehen und zu sehen, wie ihr euch quält, ist Abteilung. Oder pfeift Gott auf dich? Und auf schrecklich. Ich weiß nicht, welche Sünden ich uns alle? Hast du Gott im Jenseits überhaupt begangen habe, um in einer solchen Hölle schon mal gesehen? Ich wette hundert Prozent, leben zu müssen. dass du noch nicht rausgekriegt hast, welche Möglichkeiten es gibt, mal in die Nähe von Gott ALEXANDER: Du kannst doch wegbleiben wie zu kommen. Du bist nur rumgewuselt wie alle andern. üblich und hast dir Sorgen gemacht um Mama OSCAR: Die meisten können das. Ich nicht. und um uns. ALEXANDER. Du hast immer gesagt, wenn man OSCAR: Mein Vater fand mich auch jämmerlich. tot ist, kommt man zu Gott. Dann war das also Die Dämonen Kapitel 5 (S. 207): gar nicht wahr? „Ich habe nur eine Maske“ OSCAR: Ich kann euch nicht verlassen. EDVARD: Ich habe gehört, dass der Weltraum ALEXANDER: Wenn du uns sowieso nicht helfen sich ausdehnt. Die Himmelskörper bewegen kannst, wäre es sehr viel besser, an dich selber sich in rasantem Tempo voneinander weg. Das zu denken und in den Himmel abzuhauen, oder Universum explodiert, und wir befinden uns im wohin du willst. Moment dieser Explosion. OSCAR: Ich habe mein ganzes Leben mit euch EMILIE (schweigt, sieht ihn an.) und Emilie verbracht. Der Tod ändert daran EDVARD: ‚Verstehen’. Missbrauchtes Wort. Ich nichts. verstehe. Ich verstehe, was du meinst. Ich ALEXANDER: Das ist wirklich nicht mein verstehe, was du empfindest. Lügenworte. Problem. EMILIE (schweigt, sieht ihn an.) OSCAR: Warum bist du so wütend, Alexander? EDVARD: Du hast einmal gesagt, du hättest ALEXANDER: Äh. ununterbrochen die Masken gewechselt, bis du zuletzt nicht mehr wusstest, wer du warst. OSCAR. Ich habe dir doch nichts getan. (Pause) Ich habe nur eine Maske. Sie ist ALEXANDER: Kann schon sein, dass ich dich mir ins Fleisch eingebrannt, wenn ich mochte, als du noch gelebt hast, glaube ich wenigstens. Fanny und Amanda mochten dich sie abreißen wollte – lieber als ich, weil du ihnen immer was EMILIE (schweigt, sieht ihn an.) geschenkt hast. Edvard Vergérus setzt sich neben sie aufs Bett. OSCAR: Du hast auch Geschenke bekommen. Emilie kehrt ihm den Rücken zu, immer noch ALEXANDER. Ja, na ja, schon. Du hast dich aber reglos, wie in atemloser Spannung, zum Ersticken. immer so blöd angestellt, Papa. Bist immer so EDVARD: Ich dachte immer, die Leute mögen blöd rumgerannt. Mama und Großmutter mich. Ich hielt mich für klug, vorausschauend haben alles bestimmt. Du hast dich und gerecht. Ich ahnte nicht, dass jemand lächerlich gemacht, peinlich war das, hast imstande wäre, mich zu hassen. alles schleifen lassen und jeden um Rat gefragt. EMILIE: Ich hasse dich nicht. Nie hast du mal deine Meinung gesagt. Und dann warst du tot. Lässt aber immer noch alles EDVARD: Dein Sohn hasst mich. so schleifen wie im Leben. Du sagst, wir tun dir EMILIE: Das ist wahr. leid. Das ist ja Gerede, Papa. Wieso kannst du nicht zu Gott gehen und sagen, er soll den EDVARD: Ich habe Angst vor ihm. Bischof erschlagen, das ist doch seine

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Aus: Ingmar Bergman: Laterna Magica – Autobiografie Alexander Verlag Berlin 1987/2001

S. 14 Schuld und Strafe hasste und seinen plötzlich aufflammenden Zorn fürchtete, fand ich große Befriedigung darin, dass Unsere Erziehung beruhte hauptsächlich auf er so hart bestraft wurde. Begriffen wie Sünde, Bekenntnis, Strafe, Vergebung und Gnade – sie waren konkrete Nachdem die Schläge verabreicht waren, musste Faktoren in den Beziehungen von Eltern und man Vater die Hand küssen, worauf einem die Kindern zueinander und zu Gott. Darin war eine Vergebung erteilt wurde. Die Sündenlast fiel zur Logik, die wir akzeptierten und zu verstehen Erde, es kam zu Befreiung und Gnade, man musste meinten. Möglicherweise trug dieser Umstand zwar ohne Abendessen und Abendlektüre ins Bett dazu bei, dass wir so blauäugig und arglos auf die gehen, fühlte sich aber dennoch beträchtlich Nazis reinfielen. Wir hatten noch nie etwas von erleichtert. Freiheit gehört, und noch weniger wussten wir, wie Daneben gab es noch eine Art spontaner Strafe, sie schmeckt. In einem hierarchischen System sind die für ein Kind, das sich vor dem Dunkeln alle Türen verschlossen. fürchtete, sehr unangenehm sein konnte, nämlich Strafen waren etwas Selbstverständliches, das nie ein längeres oder kürzeres Einsperren in einer in Frage gestellt wurde. Sie konnten schnell und besonderen Garderobe. Alma hatte nämlich in der einfach kommen wie Ohrfeigen oder Schläge auf Küche erzählt, dass gerade in dieser Garderobe ein den Hosenboden, konnten aber auch äußerst kleines Wesen wohnte, das bösen Kindern die kompliziert sein, durch Generationen hindurch Zehen abfraß. Ich konnte deutlich hören, dass sich verfeinert. Wenn Ernst Ingmar in die Hose machte, da drinnen im Dunkeln etwas bewegte. Mein was nur allzuoft und allzuleicht passiert, musste er Entsetzen war total. Ich weiß nicht mehr, was ich für den Rest des Tages einen kniekurzen, roten unternahm. Vermutlich kletterte ich auf Regale Rock tragen. Das wurde als harmlose Strafe, aber und hängte mich an Haken auf, damit mir die als lächerlich angesehen. Zehen nicht aufgefressen wurden. Nachdem ich die Lösung gefunden hatte, machte mir diese Form der Schwerer Vergehen wurden exemplarisch bestraft: Bestrafung keine Angst mehr: Ich versteckte in Es begann mit der Entdeckung des Verbrechens. einer Ecke eine Taschenlampe mit rotem und Der Verbrecher legte in erster Instanz ein grünem Licht. Kaum hatte man mich eingesperrt, Geständnis ab, das heißt vor den Dienstmädchen suchte ich mir meine Lampe, richtete den oder Mutter oder der zahlreichen weiblichen Lichtkegel auf die Wand und stellte mir dabei vor, Verwandten, die öfter im Pfarrhof wohnten. ich wäre im Kino. Als einmal die Tür geöffnet Die unmittelbare Folge des Geständnisses war, wurde, lag ich mit geschlossenen Augen auf dem dass man den Täter schnitt. Niemand sprach mit Fußboden und spielte den Bewusstlosen. Alle ihm, niemand antwortete ihm. Soviel ich verstehe, bekamen es mit der Angst, nur Mutter nicht, die sollte das den Täter dazu bringen, sich nach Strafe mich im Verdacht hatte, bloß zu simulieren, aber oder Vergebung zu sehnen. Nach dem Mittagessen da mir nichts nachgewiesen werden konnte, und dem Kaffee wurden die Parteien in Vaters blieben weitere Strafen aus. Zimmer gerufen. Dort kam es zu neuen Verhören Andere Strafen waren Kinoverbot, Essensverbot, und neuen Geständnissen. Darauf wurde der Verbannung ins Bett, Stubenarrest, Strafarbeiten Teppichklopfer geholt, und man durfte selbst im Rechnen, Schläge mit dem Teppichklopfer auf angeben, wie viele Schläge man zu verdienen die Hände, Reißen an den Haaren, dass man in die meinte. Nachdem das Strafmaß festgestellt Küche abkommandiert wurde (was manchmal worden war, holte man ein grünes, fest gestopftes recht angenehm sein konnte) oder dass man für Kissen, Hose und Unterhose wurden eine bestimmte Zeit gemieden wurde, und so heruntergelassen, man wurde bäuchlings auf das weiter. Kissen gelegt, jemand hielt den Verbrecher am Hals fest, und die Schläge wurden ausgeteilt. Heute verstehe ich die Verzweiflung meiner Eltern. Eine Pastorenfamilie lebte wie auf dem Ich kann nicht behaupten, dass es sonderlich weh Präsentierkeller, allen Einblicken völlig tat, es waren das Ritual und die Demütigung, die preisgegeben. Das Haus musste immer offen wirklich schmerzten. Meinem Bruder erging es weit stehen. Kritik und Kommentare der Gemeinde schlimmer. Mutter saß oft an seinem Bett und hören nie auf. Sowohl Vater als auch Mutter waren kühlte ihm mit nassen Wickeln den Rücken, auf Perfektionisten, die diesem unerträglichen Druck dem die Hiebe die Haut abgelöst und blutige ganz sicher nicht gewachsen waren. Ihr Arbeitstag Streifen hinterlassen hatten. Da ich meinen Bruder

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war unbegrenzt, ihre Ehe nicht einfach, ihre Ich rächte mich an meinem ehemaligen Freund, Selbstdisziplin eisenhart. In beiden Söhnen indem ich ihn mit dem Dolch meines Bruders über spiegelten sich Charakterzüge, die sie unablässig den Schulhof jagte. Als eine Lehrerin bei sich selbst züchtigten. (...) dazwischenging, versuchte ich, sie umzubringen. Ich wurde vom Schulbesuch ausgeschlossen und S. 17: Wahrheit und Lüge bezog reichlich Prügel. Später bekam mein falscher Ich glaube, ich kam noch am besten davon, weil ich Freund Kinderlähmung und starb, was mir große mich zum Lügner ausbildete. Ich schuf eine äußere Freude machte. Person, die mit meinem wirklichen Ich sehr wenig S. 49 Künstler sein zu tun hatte. Da ich Maske und ich nicht auseinanderhalten konnte, hatten diese Schäden Ich habe längere Zeit mit einer älteren, äußerst noch Konsequenzen, als ich längst erwachsen war, begabten Schauspielerin zusammengelebt. Sie und sie beeinträchtigten auch meine Kreativität. machte sich über meine Sauberkeitstheorie lustig Manchmal musste ich mich damit trösten, dass und betonte, Theater sei Scheiße, Geilheit, Raserei der, der in der Lüge gelebt hat, die Wahrheit liebt. und Teufelei. Sie sagte: „Das einzig Traurige an dir, Ingmar Bergman, ist, ist deine Passion für das S. 19 Nach einem Zirkusbesuch: Esmeralda, die Gesunde. Diese Passion solltest du aufgeben, sie ist schönste Frau der Welt verlogen und suspekt, sie setzt Grenzen, die du Eine junge Frau in Weiß ritt auf einem gewaltigen nicht zu überschreiten wagst. Du solltest wie schwarzen Hengst. Mich ergriff Liebe zu der jungen Thomas Manns Doktor Faustus dein syphilitisches Frau. Ich schloss sie in meine Fantasiespiele ein Luder besuchen.“ und nannte sie Esmeralda (vielleicht hieß sie Vielleicht hatte sie recht, vielleicht war es in wirklich so). Meine Fantasien vollzogen am Ende Wirklichkeit romantisches Geschwafel im den allzu gefährlichen Schritt in die Wirklichkeit Kielwasser von Popkultur und Drogenkonsum. Ich hinaus, als ich meinem Klassenkameraden Nisse weiß nur, dass die schöne und geniale unter dem Siegel der Verschwiegenheit Schauspielerin Gedächtnis und Zähne verlor und anvertraute, meine Eltern hätten mich an den mit fünfzig in einer Irrenanstalt starb. Das hatte sie Zirkus Schumann verkauft, man werde mich bald davon, dass sie alles ausleben musste. zu Hause abholen und mich zusammen mit Esmeralda, der schönsten Frau der Welt, zum S. 77 „Was habe ich getan?“ – „Das weißt du Akrobaten ausbilden. Am nächsten Tag war meine selbst am besten!“ Fantasie in aller Munde und geschändet. Eine Momentaufnahme! Ich liege in meinem Bett Meine Klassenlehrerin nahm die Sache so ernst, mit den hohen Giebeln. Es ist Abend, die dass sie meiner Mutter einen empörten Brief Nachttischlampe leuchtet. Ich bin wolllüstig damit schrieb. Es kam zu einem schrecklichen Prozess. Ich beschäftigt, eine Wurst zu drücken. Ich presse sie wurde gedemütigt und mit Schimpf und Schande zwischen den Händen. Sie ist weich und formbar an den Pranger gestellt, zu Hause wie in der und riecht vertraut. Plötzlich werfe ich sie auf den Schule. Fußboden und rufe eifrig nach Linnéa, dem Kindermädchen. Die Tür geht auf, Vater tritt ein, Fünfzig Jahre später fragte ich Mutter, ob sie sich steht groß und dunkel vor dem Licht aus der Halle. an meinen Verkauf an den Zirkus erinnern könne. Er zeigt auf die Wurst und fragt, was das wohl sein Sie erinnerte sich sehr gut. Ich fragte dann, warum könne. Ich blick auf und antworte mit zitterndem damals niemand gelacht oder Zärtlichkeit Herzen, ich glaubte, es sei überhaupt nichts. empfunden habe, als ich so viel Fantasie und Nächste Szene: Ich habe den Hinter voll gekriegt Kühnheit an den Tag legte. Es hätte sich ja auch und sitze laut heulend mitten auf dem Fußboden jemand fragen können, wie es kommt, dass ein auf dem Topf. Die Deckenlampe brennt, und Siebenjähriger sein Elternhaus verlassen will, um Linnéa wechselt mit zornigen Bewegungen in an einen Zirkus verkauft zu werden. Mutter meinem Bett die Wäsche. erwiderte, meine Verlogenheit und meine Fantasien hätten ihr und meinem Vater schon zu Heimlichkeiten. Plötzliches Schweigen. Dunkles oft Kummer gemacht. In ihrer großen Angst habe körperliches Unbehagen. Sind das die sie den berühmten Kinderarzt konsultiert. Er habe Gewissensbisse? Wie Indras Tochter im Traumspiel betont, wie wichtig es für ein Kind sei, frühzeitig sagt. Was habe ich getan?, frage ich mich entsetzt. zwischen Fantasie und Wirklichkeit unterscheiden Das weißt du selbst am besten, entgegnet die zu lernen. Da man nun vor einer frechen und Obrigkeit. Ja, natürlich habe ich gesündigt, es gibt offenkundigen Lüge gestanden habe, musste die immer irgendein unentdecktes Vergehen, das an sofort exemplarisch bestraft werden. der Seele nagt. S. 88 Ein Drehtag von Fanny und Alexander

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Ich wähle einen Drehtag im Januar 1982. Meinen Wie ein Perlenfischer. Aufzeichnungen zufolge ist es kalt – minus 20 Grad. S. 109 Eine Kinderfreundschaft Ich wache wie gewöhnlich um fünf Uhr auf, das heißt, ich werde geweckt, werde von irgendeinem Märta war stumm, und ich sprach. Ich erzählte, bösartigen Geist wie in einer Spirale aus dem mein Vater sei nicht mein richtiger Vater. Ich sei tiefsten Schlaf gezogen. Ich bin hellwach. Um der Sohn eines berühmten Schauspielers namens Hysterie und die Sabotage der Eingeweide zu Anders de Wahl. Pastor Bergman hasse mich und bekämpfen, stehe ich sofort auf und bleibe einige verfolge mich, und das müsse man verstehen. Augenblicke mit geschlossenen Augen still auf dem Meine Mutter liebe noch immer Anders de Wahl Fußboden stehen. (...) Ich registriere, dass die und besuche alle seine Premieren. Ich hätte ihn Hysterie beherrscht ist, dass die Furcht vor einem einmal vor dem Theater kennengelernt. Er habe Magenkrampf nicht allzu intensiv ist, dass die mich mit Tränen in den Augen angesehen und mich Arbeit des Tages aus der Szene zwischen Ismael auf die Stirn geküsst. Dann habe er mit seiner und Alexander besteht, dass ich mir Sorgen mache, wohlklingenden Stimme gesagt, Gott segne dich, die genannte Szene werde die Fähigkeiten meines mein Kind. „Märta, du kannst ihn bei der jungen, tapferen Hauptdarstellers übersteigen. Die Neujahrsansprache im Radio hören! Anders de bevorstehende Zusammenarbeit mit Stina Ekblad Wahl ist mein Vater, und ich werde gleich nach der [Darstellerin des Ekblad] gibt mir trotzdem einen Schule Schauspieler beim Dramatischen Theater Stich von Erwartung. Wenn Stina so tüchtig ist, wie werden.“ ich glaube, werde ich mit Bertil-Alexander [Bertil S. 150 Erwachende Sexualität Guve war der Darsteller des Alexander] fertig werden. Ich habe schon zwei Strategien entwickelt: Ich zeichnete eine nackte Frau in mein blaues eine mit gleichwertigen Akteuren, eine mit Schulheft. (...) Ich rieb mich vorsichtig zwischen Hauptdarsteller und assistierendem Darsteller. den Beinen, knöpfte die Hose auf und ließ einen blauroten und leicht zitternden Schwanz frei und Jetzt gilt es, Ruhe zu bewahren, ruhig zu sein. (...) groß aufragen. Es war auf ungewohnte und etwas Punkt neun Uhr beginnen die Dreharbeiten des erschreckende Weise genussvoll. (...) Tages. Es ist wichtig, dass unser gemeinsamer Start Plötzlich spürte ich, dass mein Körper explodieren pünktlich erfolgt. Diskussionen und Unsicherheiten würde, dass etwas, das ich nicht beherrschen müssen außerhalb dieses innersten Zirkels der konnte, herauswollte. Ich rannte aufs Klos und Konzentration bleiben. Von diesem Augenblick an schloss mich ein. Der Genuss hatte sich jetzt in sind wir eine komplizierte, aber einheitlich körperlichen Schmerz verwandelt. Mein harmloser funktionierende Maschine, die lebende Bilder Pimmel, den ich früher mit zerstreutem, aber herzustellen hat. freundlichem Interesse betrachtet hatte, hatte sich (...) Schon von der ersten Minute an spüren wir alle plötzlich in einen pulsierenden Teufel verwandelt, Stina Ekblads merkwürdiges Einverständnis mit der mir im Magen und an den Schenkeln heftige dem vom Schicksal geschlagenen Ismael. Das beste und schmerzhafte Reize verursachte. Ich wusste von allem ist, dass Bertil-Alexander die Situation nicht, was ich mit diesem mächtigen Feind sofort akzeptiert hat. Mit dem Kindern eigenen anfangen sollte. Ich packte ihn fest mit der Hand. seltsamen Verständnis drückt er mit rührender Im selben Augenblick kam die Detonation. Zu Echtheit einen komplizierten Zustand aus Neugier meiner Bestürzung spritzte mir eine unbekannte und Furcht aus. (...) Flüssigkeit über Hände, Hosen, die Klobrille, die Gardine, die Wände und den blauen Manchmal ist es ein ganz besonderes Glück, Frotteeteppich. In meinem Entsetzen meinte ich, Filmregisseur zu sein. Ein ungeprobter Ausdruck ich selbst und alles um mich herum würde von wird im Augenblick geboren, und die Kamera diesem unbekannten Brei, der aus meinem Körper registriert diesen Ausdruck. Genau das geschah hervorquoll, vollgespritzt. Ich wusste nichts, begriff heute. Unvorbereitet und ungeprobt wird nichts. Ich hatte noch nie nächtliche Ergüsse Alexander sehr blass, auf seinem Gesicht zeichnet gehabt. Meine Erektionen waren immer so schnell sich reiner Schmerz ab. Die Kamera registriert den verschwunden, wie sie gekommen waren. Augenblick. Der Schmerz, der ungreifbare Schmerz, war einige Sekunden lang da und kam nie mehr Meine Sexualität traf mich wie ein Blitzschlag. Sie zurück. Es hatte ihn auch vorher nicht gegeben, war unbegreiflich, feindselig und quälend. Ich weiß aber dieser kleine Filmstreifen fing den Augenblick noch heute nicht, wie das so geschehen konnte, ein. In solchen Momenten finde ich, dass sich Tage warum diese tiefe körperliche Veränderung so und Monate geplanter, strukturierter ohne Vorwarnung kam, warum sie so schmerzhaft Ordentlichkeit gelohnt haben. Möglicherweise lebe war, vom ersten Augenblick an so schuldbeladen. ich für diese kurzen Momente. War die Angst vor Sexualität durch die Haut in uns

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Kinder eingedrungen, lag sie in unserem relative Freiheit beruhte ausschließlich auf der Kinderzimmer wie ein giftiges, unsichtbares Gas? übermächtigen Arbeitsbelastung der Eltern, aber Uns hatte ja niemand etwas gesagt. Niemand hatte es war eine vergiftete Freiheit. Die Spannungen uns gewarnt, geschweige denn erschreckt. waren stark, die Knoten unauflöslich. Was nach außen hin als untadeliges Bild eines guten Die Krankheit oder Besessenheit traf mich ohne Familienzusammenhalts erschien, war nach innen Erbarmen, die Handlung wurde ständig, beinahe Elend und aufreibende Konflikte. Vater besaß ohne zwanghaft wiederholt. (...) Zweifel schauspielerisches Talent. Außerhalb der Im medizinischen Handbuch der Familie stand, Bühne war er nervös, reizbar und depressiv. Er dass Masturbation auch Selbstbefleckung genannt hatte Angst, seinen Aufgaben nicht gewachsen zu werde, dass es ein Jugendlaster sei, das mit allen sein, sah seinen öffentlichen Auftritten mit Mitteln bekämpft werden müsse, dass es zu Blässe Entsetzen entgegen, schrieb seine Predigten immer führe, zu Schweißausbrüchen, zu Zittern, wieder um, und viele seiner Verwaltungsaufgaben schwarzen Ringen unter den Augen, zu verursachten ihm Unbehagen. Er war voller Ängste Konzentrationsschwierigkeiten und und konnte heftig aufbrausen, biss sich an Gleichgewichtsstörungen. In schweren Fällen führe Kleinigkeiten fest: Wir durften nicht pfeifen, nicht die Krankheit zu Gehirnerweichung. Sie greife das mit den Händen in den Hosentaschen Rückenmark an. Es könne auch zu epileptischen herumlaufen. Er konnte sich plötzlich entschließen, Anfällen, Bewusstlosigkeit und einem vorzeitigen die Schulaufgaben abzuhören. Wer sich dabei Tod kommen. Mit diesen Zukunftsaussichten vor verhaspelte, wurde bestraft. Er litt überdies unter Augen setzte ich mein Handwerk mit Entsetzen einem extrem empfindlichen Gehör. Laute und Genuss fort.^ Geräusche machten ihn wütend. S. 183 Vater, der Gottesmann S. 191 Familie in Auflösung Vater war ein beliebter Gottesmann und hatte bei Mein Bruder versuchte, Selbstmord zu begehen, seinen Predigten immer ein volles Haus. Er war ein meine Schwester wurde aus Rücksicht auf die fürsorglicher Seelsorger und besaß ein Familie zu einer Abtreibung gezwungen. Ich riss unschätzbares Talent: sein Personengedächtnis von zu Hause aus. Meine Eltern lebten in einer war grenzenlos. aufreibenden Krise ohne Anfang oder Ende. Sie taten ihre Pflicht. Sie gaben sich Mühe. Sie flehten Das Haus des Pfarrers stand aus Tradition allen Gott um Barmherzigkeit an. Ihre Normen, Menschen offen. Mutter meisterte und leitete eine Wertvorstellungen und Traditionen halfen ihnen ansehnliche Organisation. Sie repräsentierte an nicht. Nichts half. Unser Drama spielte sich vor Vaters Seite, saß treu in der Kirchenbank ganz aller Augen auf der scharf erleuchteten Bühne des vorn, nahm an Konferenzen teil und gab große Pfarrhauses ab. Die Furcht ließ das Gefürchtete Essen. Wirklichkeit werden. Mein Bruder war zwanzig und studierte in Uppsala.

Meine Schwester war zwölf, ich sechzehn. Unsere

FANNY UND ALEXANDER Landestheater Linz 2020 MATERIALMAPPE 41

Uppsala – Schauplatz von Fanny und Alexander Uppsala (Betonung im Schwedischen auf der In Fanny und Alexander spielt sich vieles um zweiten Silbe) ist für Ingmar Bergman ein Ort den St. Eriks torg (1) herum ab. In Großmutter der Kindheitserinnerungen. In Uppsala ist er Helena Ekdahls herrschaftlicher Wohnung, die zur Welt gekommen, und auch als die Familie zum Marktplatz hinausgeht, wo auch das bald darauf nach Stockholm zog, verbrachte er Theater liegt, das ihr Sohn Oscar leitet, und viel Zeit bei seiner Großmutter in Uppsala. Die wo sich das Restaurant befindet, geführt von Stadt nimmt in Ingmar Bergmans Werk die ihrem anderen Sohn Gustav Adolf. Der Rolle eines Arkadien, einer verlorenen Welt Bischofssitz von Edvard Vergerus liegt laut ein und spielt vor allem in der späten, Drehbuch gegenüber der Domkyrkan (2). Als autobiografischen Periode eine große Rolle, in Drehort für den Bischofssitz wurde in der Werke wie Fanny und Alexander (1982), Wirklichkeit die ehemalige Mühle die Autobiografie Laterna Magica (1987), das Akademikvarnen (3) verwendet, die heute später von Bille August als TV-Serie verfilmte vom Museum Upplandsmuseet genutzt wird. Buch Die besten Absichten (1993) und das Es liegt am Flüsschen Fyrisån, dessen später von Liv Ullman als TV-Serie verfilmte rauschendes Wasser ein Leitmotiv im Film ist. Buch Einzelgespräche (2001) entstanden sind.

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