30. JANUAR 1933 Hitlers Machtergreifung
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Vom gleichen Autor erschien ausserdem als Heyne-Taschenbuch Der Fall Sorge • Band 5386 HANS OTTO MEISSNER 30. JANUAR 1933 Hitlers Machtergreifung Tatsachenbericht WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN HEYNE-BUCH Nr. 5583 im Wilhelm Heyne Verlag, München Genehmigte, ungekürzte Taschenbuchausgabe Copyright ® 1979 by Bechtle Verlag, Esslingen Printed in Germany 1979 Innenfotos: O. Putz (4), Oscar Tellgmann, Eschwege (1), H.O. Meissner (1), Günther Beyer, Weimar (1), Bilderdienst Süddeutscher Verlag (5), Ullstein Bilderdienst (3), Zeitgeschichtliches Bildarchiv Heinrich Hoffmann (5) Umschlagfoto: Süddeutscher Verlag, Bilderdienst, München Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München Gesamtherstellung: Presse-Druck Augsburg Eingescannt mit OCR-Software ABBYY Fine Reader ISBN 3-453-00995-9 VORWORT Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler er- nannt. Am 27. Februar 1933 ging der Reichstag in Flammen auf, und drei Wochen später begann in Deutschland die «Drit- tes Reich» genannte Diktatur. Seit dem schicksalhaften Geschehen jener Tage sind viereinhalb Jahrzehnte vergangen. Eine lange Zeit, wie es scheint, aber heute noch und weiter in unabsehbare Zukunft hinein werden die Geschicke vieler Völker Europas, ebenso die Lebensverhältnisse von Millionen einzelner Familien durch Umstände bestimmt, die fast zwangsläufig Folgen jener Entwicklung sind, deren ent- scheidende Endphase in weniger als drei Monaten zur absolu- ten Herrschaft eines Mannes geführt hat. Obwohl man sich angewöhnt hat, die «Machtergreifung» mit dem 30. Januar 1933 zu datieren, besteht sie in Wahrheit aus einer Kette aufregender Ereignisse, in deren Verlauf die Betrau- ung Hitlers mit dem Kanzleramt nur eines von vielen Gliedern darstellt. Ihren Höhepunkt erreichten die so rasch ablaufenden Ereignisse hintereinander im Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 und ihren Abschluss im Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933. Den wirklichen Ablauf jener Tage mit ihren Hintergründen exakt zu erfassen und darzustellen, ist lange Zeit unmöglich ge- wesen. Zuerst war es der 1933 ins Leben getretene totale Staat selbst, der alles daransetzte, die Geschichte seiner Entstehung zu vernebeln. Nach dem Zusammenbruch von 1945 waren es gleichermassen die Feinde wie die Förderer des Dritten Reiches, die eine sachliche Aufklärung der entscheidenden Zusammen- hänge nicht wünschen konnten... aus entgegengesetzten Mo- tiven! 7 Verfasser dieses Buches ist Dr. Hans-Otto Meissner, einziger Sohn des Staatssekretärs (später Staatsministers) Dr. Otto Meissner, der seit März 1919 im Büro des Reichspräsidenten tätig war, seit Mai 1920 als dessen Chef. Er blieb mit etwa den gleichen Aufgaben an der Spitze der gleichen Behörde – unter Hitler Präsidialkanzlei genannt – während eines vollen Viertel- jahrhunderts bis zur Auslöschung des Deutschen Reichs im Mai 1945. Nur Bismarck ausgenommen, war das für deutsche Behördenchefs wahrscheinlich die längste Amtsdauer über- haupt. Während dieser 25 Jahre hatte Otto Meissner eine Stellung inne, die zwar kein entscheidendes persönliches Eingreifen in die Staatsgeschäfte ermöglichte, aber es gab keinen massgebli- chen politischen Vorgang, der nicht durch seine Hände ging, und keine Persönlichkeit von staatspolitischer Bedeutung, die ihm nicht bekannt geworden oder begegnet wäre. Seine ausser- ordentliche Sprachbegabung, die auch seinem Sohn zugute kam, machte den Staatssekretär unabhängig von Dolmetschern und Übersetzungen. Die Herkunft aus Elsass-Lothringen, wo die Menschen in zweierlei Kulturen zu leben und Andersdenkende zu tolerieren gewohnt sind, liess Otto Meissner, wann immer es möglich war, den Ausgleich, die Kunst des Kompromisses su- chen. Auch nach Hindenburgs Tod verblieb Staatssekretär Dr. Meiss- ner in seinem, allerdings politisch bald bedeutungslos geworde- nen Amt. Als er in den Jahren 1948-1949 seine Erinnerungen niederlegte, waren ihm die Archive des Staates wie die grossen Bibliotheken verschlossen, seine eigenen Unterlagen ver- schleppt oder verbrannt. Memoiren-Werke anderer Persönlich- keiten waren noch nicht erschienen. Er begann seine Nieder- schrift, fast allein aufs Gedächtnis angewiesen, in verschiedenen Internierungslagern, dann auch im Nürnberger Militärgefäng- nis. Infolge der dort nur schlechten, schwachen Beleuchtung hat die Sehkraft des Inhaftierten stark gelitten. Nach seinem Freispruch im Wilhelmstrassen-Prozess erschien das Werk und erregte ausserordentliches Interesse (Dr. Otto Meissner, Staats- sekretär unter Ebert, Hindenburg und Hitler, 1950). 8 Nicht nur das Fehlen von Unterlagen, sondern auch die Rück- sichtnahme gegenüber Personen, die durch «Enthüllungen» in berufliche oder persönliche Gefahr geraten konnten, verhinder- te damals die zu wünschende restlose Aufhellung. Diese in einem zweiten Werk nachfolgen zu lassen, blieb dem Staats- sekretär nicht vergönnt. Er starb am 28. Mai 1953. Seiner schwindenden Sehkraft wegen hatte er Mitte 1952 be- gonnen, seinen Sohn, der inzwischen einige unpolitische Bücher veröffentlicht hatte, heranzuziehen. So übernahm der in der Wilhelmstrasse aufgewachsene Hans-Otto Meissner, dem das Regierungsviertel Heimat und das Milieu vertraut war, das Wissen seines Vaters. Um zu vermeiden, dass sich bei der Wiedergabe der vorwiegend mündlichen Darstellungen Missverständnisse oder Ungenauig- keiten einschleichen, hatte Dr. Meissner jun. zu einigen Ge- sprächen mit seinem Vater auch sachkundige Partner herange- zogen, wie unter anderem den Publizisten Harry Wilde, damals Herausgeber des «Echo der Woche». So entstand bis 1957 eine erste Ausgabe dieses Werkes. Sie erregte schon deswegen gro- sses und weites Interesse, weil hier zum ersten Male Hinter- gründe geschildert, auch Zusammenhänge aufgeklärt wurden, \ die andere über die gleiche Epoche schreibende Autoren nicht wissen konnten. Einfach deshalb nicht, weil es ausser Dr. Otto Meissner dafür keine Zeugen gegeben hat. Indessen sind wieder fast 20 Jahre vergangen, und vieles, was seinerzeit dem interessierten Leser wohlbekannte Personen, Be- griffe und Ereignisse waren, kann nicht mehr als selbstver- ständlich vorausgesetzt werden. Eine neugefasste, leichter be- greifliche Darstellung erschien deshalb notwendig. Schon der erste Titel «Die Machtergreifung» kann heute die Frage veran- lassen, um welche es sich handelt. Deshalb der neue, erklärende Titel. Dr. Hans-Otto Meissner ist nun selbst bekannt als einer der meistgelesenen Schriftsteller deutscher Sprache. Aus seiner Fe- der stammen mehr als fünfzig Bücher unpolitischen, teilweise historischen Inhalts. Er schrieb zahlreiche Berichte über seine Weltreisen, über sein Vordringen in fernste Wildnis, wie über 9 seine Jagderlebnisse in allen Kontinenten. Weit verbreitet und vielfach übersetzt seine zwölfbändige Reihe «Abenteuer der Weltentdeckung». Nun hat er sich nochmals und sehr eingehend mit der Vorgeschichte, den damals herrschenden Verhältnissen und dem wahrlich erschütternden Verlauf jener Entwicklung befasst. Da er selbst während dieser Jahre Monate und Wochen in der Wilhelmstrasse lebte, im Hause des Reichspräsidenten, sind bis heute für ihn die besondere Atmosphäre, die damals dort wirkenden Menschen und ihre Umwelteinflüsse so leben- dig geblieben, als wären sie noch vorhanden. Jedenfalls kann er sich ganz und gar in sie hineinversetzen. Vor allem das Thema der Machtergreifung liess ihn nicht los. Noch leben, wenn auch ruhig, schweigsam und zurückgezogen, eine erfreulich grosse Zahl von Beamten, Sekretärinnen, Angestellten und Amtsboten des ehemaligen Büros des Reichspräsidenten, die sogar eine sich hin und wieder zusammenfindende Gemeinschaft bilden. Der Sohn ihres einstigen Chefs hat sie alle besucht, getroffen und mit ihnen gesprochen. Was diese «kleinen Leute» noch alles wussten, war verblüffend. Viele der anscheinend unbedeutenden Details, die sie berichten, werfen bezeichnendes Licht auf Geschehen und Persönlichkeiten von grosser Bedeutung. Nur durch die Gesamtbetrachtung der Entwicklung konnte ge- lingen, jene Epoche auch denen verständlich zu machen, die da- mals noch nicht geboren oder noch nicht zu politischem Be- wusstsein erwacht waren. Sie alle können die Ereignisse jener unruhigen Jahre, auch den Untergang des Dritten Reiches in Blut, Rauch und Tränen, die Zerreissung unseres Vaterlandes und die politischen Probleme, vor denen wir stehen, nur beur- teilen, wenn sie begreifen, was dem deutschen Volke damals geschehen ist. Berichte und Hinweise, auch die Schilderung von Zusammen- hängen, die damalige KPD und ihre Organisationen betreffend, gehen im Wesentlichen auf Kenntnisse und Forschungen Harry Schulze-Wildes zurück, dem an dieser Stelle nochmals für seine wertvolle Mitarbeit gedankt wird. H. O. M. 10 1. DER STREIK Das Jahr 1932, ein von politischen und wirtschaftlichen Krisen erschüttertes Jahr, neigt sich dem Ende zu. Doch bevor es in den «Weihnachtsfrieden» einmündet, jenen von der Regierung auf dem Verordnungswege verfügten Burgfrieden mit Demon- strationsverbot, werden wider Erwarten und aus nebensächli- chem Anlass noch einmal alle politischen Leidenschaften aufge- wühlt. Aber nicht die für den 6. November angesetzte Wahl zum Deutschen Reichstag ist der Ausgangspunkt schwerer bür- gerkriegähnlicher Ausschreitungen, sondern ein Streik der Ber- liner Verkehrsarbeiter wegen einer zweiprozentigen Lohnkür- zung. Mit einem Schlage wird unmittelbar vor der Wahl das gesamte Leben der Reichshauptstadt lahmgelegt. In den letzten acht Monaten dieses Jahres 1932 wurde das deut- sche Volk schon viermal zu den Wahlurnen gerufen. Jetzt ist es müde geworden. In den Augen der