PERSPEKTIVE | FES MADAGASKAR

Madagaskar vor der Stichwahl Duell der Schattenpräsidenten

MARCUS SCHNEIDER Dezember 2013

n Der erste Wahlgang der lang erwarteten madagassischen Präsidentschaftswahlen ist nahezu reibungslos verlaufen. »Frei, fair und glaubwürdig« lautet das geteilte Urteil der internationalen Wahlbeobachter. n Bei einer Wahlbeteiligung von 62 Prozent gibt es entgegen mancher Befürchtungen zwei klare Sieger. Jean-Louis Robinson und Hery Rajaonarimampianina ziehen mit 21 bzw. 16 Prozent in die Stichwahl ein. Die beiden Kontrahenten, die vor wenigen Wochen noch niemand auf der Rechnung hatte, sind die Stellvertreter von und von . n In der Stichwahl ist nun erstmals das ganze Volk aufgerufen, den politischen Kampf zwischen Ex-Präsident Ravalomanana und Transitionspräsident Rajoelina zu ent- scheiden. Es kommt zu einem Duell der Schattenpräsidenten, dessen Ausgang vor- erst ungewiss ist. n Sollte der zweite Wahlgang ein allgemein akzeptiertes und klares Ergebnis produ- zieren, stünde der ins Amt kommende neue Präsident vor einer Mammutaufgabe. Nach dem desaströsen Niedergang der letzten fünf Jahre müsste er die Inselrepublik politisch und wirtschaftlich wieder stabilisieren. MarCus Schneider | Madagaskar vor der Stichwahl

Madagaskar hat gewählt. Nach den Präsidentschafts- es nicht zu Anfechtungen kam. Die Kandidaten auf den wahlen von 2006 war das madagassische Volk zum Rängen unmittelbar hinter den beiden Erstplatzierten ersten Mal wieder aufgerufen, sein Staatsoberhaupt in haben ihre Niederlage eingeräumt. Der Stichwahl steht freien Wahlen zu bestimmen. Allein das ist bereits ein so nichts mehr im Wege. Erfolg. Denn seit dem Umsturz von 2009, der das Land in eine massive politische und sozioökonomische Krise stürzte, wurden ein gefühltes Dutzend Mal Wahlen an- »Frei, fair und glaubwürdig« gekündigt und dann doch wieder verschoben. Noch im – ein großes Ja, aber! Juli dieses Jahres stand die Durchführung der Abstim- mung Spitz auf Knopf (vgl. Schneider 2013). Erst unter Das positive Bild hat freilich eine Kehrseite, die von der massivem internationalem Druck konnte sie ermöglicht madagassischen Zivilgesellschaft nicht verschwiegen werden. Die nationalistischen Kampagnen gegen inter- wird (SeFaFi 2013). Ganz vorne firmiert dabei die Kritik nationale Einmischung, furios betrieben von einem nicht am Wahlregister. Trotz monatelangem Registrierungs- geringen Teil der politischen Eliten, verfingen letzten En- prozess hat die unabhängige Wahlkommission CENIT des nicht. Laut einer Befragung des Afrobarometers for- nur 7,8 Millionen Madagassen erfasst. Zu wenig bei ei- derten 80 Prozent der Bevölkerung Wahlen als Lösung ner Bevölkerung von 22 Millionen, von denen mindes- der politischen Krise. Eine auf unbestimmte Zeit in die tens die Hälfte im wahlfähigen Alter ist. Drei Millionen Zukunft verlängerte Transition, wie sie der Kirchenbund Madagassen wurde so das Wahlrecht verwehrt. Eine FFKM mit Unterstützung der Altpräsidenten Didier Ratsi- Öffnung des Wahlregisters vor der Stichwahl schließt raka und propagierte, entsprach ganz offen- die CENIT aus technischen Gründen aber aus. Auch die sichtlich nicht dem Willen der Bevölkerung. Wahlkampffinanzierung steht in der Kritik. Kaum ein Kandidat hat die Herkunft seiner Finanzmittel aufge- Genau wie die Bürger setzte auch die internationale deckt. Der Import hunderter Geländewagen, dutzender Gemeinschaft darauf, den politischen Konflikt über die Helikopter, eine Insel überzogen mit Plakaten, T-Shirts Urnen zu befrieden. Die Vermittlung durch die Entwick- und anderen Wahlkampfdevotionalien, bis hin zur plum- lungsgemeinschaft des Südlichen Afrika (SADC) war pen Aushändigung kleiner Geldbeträge deuten darauf mehrfach an ihre Grenzen gestoßen. Eine endgültige hin, dass erhebliche Mittel im Einsatz waren. Der »Kan- Einigung zwischen dem exilierten Ex-Präsidenten Marc didat des Staates«, Hery Rajaonarimampianina, kann Be- Ravalomanana und dem jetzigen Machthaber Andry Ra- obachtern zufolge auf ein Budget von sage und schreibe joelina konnte nie erzielt werden. Durch ihren erzwunge- 43 Millionen Dollar zurückgreifen (Africa Confidential nen Verzicht auf eine eigene Kandidatur sollte der Weg 2013). frei gemacht werden für einen politischen Neuanfang. Ob dieser gelingt, ist jedoch fraglich. Im Wahlergebnis Das Wahlergebnis selbst schmeckt nicht allen. All dieje- spiegelt sich nicht der Neuanfang, sondern die Bestäti- nigen, die fest daran glaubten, das tiefe Misstrauen der gung der beiden Krisenprotagonisten als die stärksten Madagassen in ihre politische Klasse würde zu deren politischen Kräfte der Inselrepublik. Abstrafung führen (siehe Friedrich-Ebert-Stiftung 2013), haben sich getäuscht. Das Duell der Stichwahl lautet Immerhin hat diese erste Runde der Präsidentschafts- Jean-Louis Robinson gegen Hery Rajaonarimampianina. wahlen all jene, die nicht an ihren Erfolg glauben moch- Hinter den zwei Kandidaten, die vor Vierteljahresfrist ten, eines Besseren belehrt. 4,8 von 7,8 Millionen Ma- noch niemand auf der Rechnung hatte, stehen die bei- dagassen haben sich an der Abstimmung beteiligt. Die den starken Männer der Insel, die das Schicksal der Re- Wahlbeteiligung von 62 Prozent ist solide genug, um publik seit 2007 quasi unter sich ausmachen: der 2009 dem Wahlergebnis zur notwendigen Legitimität zu ver- ins südafrikanische Exil gedrängte Marc Ravalomanana helfen. Die Reaktionen der internationalen Beobachter, und der seitdem amtierende Transitionspräsident Andry zuvorderst von EU und SADC, sind unisono positiv. Trotz Rajoelina. Ihr Ringen um die politische Vorherrschaft im enormer logistischer Herausforderungen wurde der Ab- Inselstaat kulminiert am 20. Dezember in der Stichwahl stimmung das Etikett »frei, fair und glaubwürdig« verlie- zwischen ihren Statthaltern. Auch auf den Rängen hin- hen. Die Resultate waren zudem hinreichend klar, sodass ter den beiden Erstplatzierten stehen mit der Ausnah-

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Das Ergebnis des ersten Wahlgangs

Kandidat Partei/Richtung Ergebnis Zahl gewonnener Regionen

Jean-Louis Robinson Avana, 21,1 Prozent 8 (vor allem im nördlichen Hoch- Mouvance Ravalomanana land und im Westen) Hery Rajaonarimampianina Hery Vaovao, 15,9 Prozent 7 (vor allem im südlichen Hoch- Mouvance Rajoelina land, im Süden und Südosten) Hajo Andrianainarivelo MMM, 10,5 Prozent 1 (im Südosten) ehemals Mouvance Rajo- elina Roland Ratsiraka MTS 9,0 Prozent 4 (im Norden und im Nordosten) Camille Vital Hiaraka Isika, 6,9 Prozent 1 (im Südwesten) Mouvance Rajoelina Saraha Georget Grüne Partei 4,5 Prozent - Edgard Razafindravahy TGV, 4,4 Prozent - Mouvance Rajoelina Pierrot Rajaonarivelo MDM 2,7 Prozent -

Quelle: Unabhängige Wahlkommission CENIT: http://www.cenit-madagascar.mg/res/Recap_National_.php

me der Kandidatin der Grünen Partei, Saraha Georget, nördliche, östliche und südliche Peripherie der Inselre- die immerhin mehr Stimmen holte als jemals zuvor eine publik geht, desto geringer fallen die Stimmenanteile Frau bei Präsidentschaftswahlen, alles alte Bekannte. Die Robinsons aus. Zwischen vier und acht Prozent kann er meisten davon sind hohe Funktionsträger des seit 2009 in den östlichen und nördlichen Küstenregionen für sich amtierenden Transitionsregimes. gewinnen. Im äußersten Süden rutscht er mit drei Pro- zent auf das Resultat eines Splitterkandidaten ab. Hery Rajaonarimampianina kann zwar in keiner Region eine Das Wahlergebnis: eine Lektion in politischer ähnliche Dominanz entfalten wie Jean-Louis Robinson, Geografie der Insel seine Ergebnisse sind mit zwischen acht und 33 Prozent jedoch erheblich gleichmäßiger verteilt. Zwar kann er Mit 21,1 Prozent liegt der Kandidat des Ravalomanana- mit sieben Regionen eine weniger gewinnen als Robin- Lagers, Jean-Louis Robinson, ehemaliger Gesundheits- son, der in acht Regionen zumeist mit großem Abstand minister unter dem Ex-Präsidenten, klar vorne. Hery siegt. Anders als sein Stichwahlgegner kommt er aber in Rajaonarimampianina, der bis vor kurzem amtierende 20 von 22 Regionen unter die ersten Zwei. Im direkten Finanzminister und offiziöse Kandidat der Staatsmacht Vergleich der Finalgegner liegt Hery Rajaonarimampia- folgt auf Rang zwei, hat seinerseits jedoch großen Vor- nina in 14 Regionen vorn, während Robinson acht für sprung vor dem Drittplatzierten, dem ehemaligen Vize- sich entscheiden kann. Außer den beiden Stichwahlkan- premier Hajo Andrianainarivelo. Das nationale Ender- didaten kann nur noch Roland Ratsiraka mehr als eine gebnis spiegelt sich dergestalt allerdings in kaum einer Region für sich gewinnen. Der ehemalige Bürgermeister der 22 Regionen wider. Es dominieren vielmehr enorme der Ostküstenstadt Tamatave siegt in vier Regionen im wahlgeografische Unterschiede. In den vier Regionen Norden und Osten des Landes. Drei weitere Kandidaten des zentralen Hochlands holt Robinson Traumresultate können jeweils eine Region für sich entscheiden. von 36 bis zu 52 Prozent. Das Herzland des Merinavol- kes hat sich auch fast fünf Jahre nach seiner Entmach- Die geografische Stimmenverteilung erinnert stark an tung und allen Unkenrufen zum Trotz als Marc Ravalo- historische Konfliktlinien, die das politische und ge- mananas Hochburg erwiesen. Je weiter es jedoch in die sellschaftliche Leben der Insel lange prägten. Der von

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Frankreich geschürte Gegensatz zwischen dem Merina- Aushängeschild vorgesehen, weitergehende politische volk im zentralen Hochland, dessen Herrscher Ende des Ambitionen hatte man ihm nicht zugetraut. 18. Jahrhunderts das Königreich Madagaskar begründe- ten, und den vermeintlich unterdrückten »Côtiers«, den Für Jean-Louis Robinson erweist sich seine bisher ge- Küstenvölkern, ist bis heute nicht völlig überwunden. ringe Popularität in den Küstenregionen als Problem. Die Rivalität zwischen linksnationalistischem MDRM1, Diese aber muss nicht zwingend aus Ressentiments ge- dessen Führer zum 1947 blutig niedergeschlagenen genüber Merina oder Ravalomanana bestehen. Sie kann Kolonialaufstand aufriefen, und der profranzösischen auch einem etwas chaotischen und sehr spät konzipier- »Partei der Enterbten« PADESM2 setzte sich nach der ten Wahlkampf geschuldet sein. Positiv ist, dass dem Unabhängigkeit fort. Die andauernde französische Ein- Ravalomanana-Kandidaten im zweiten Wahlgang kein mischung in madagassische Angelegenheiten auch Côtier, sondern mit Hery Rajaonarimampianina ein Meri- Jahrzehnte nach Ende des Kolonialstaates rechtfertigte na gegenübersteht. Einer ethnischen Zuspitzung bei der Paris damit, Schutzmacht der ehemals Unterdrückten zu Stichwahl kann Madagaskar demnach entgehen. sein. Das implizite Feindbild war die Wiedererrichtung der Merina-Herrschaft über die gesamte Insel. Aus die- Daran, dass die Stichwahlgegner nicht in eigenem Na- sem Grund galt bis 2001 der ungeschriebene Grundsatz, men, sondern als Statthalter der beiden starken Männer dass kein Merina Präsident Madagaskars werden dürfe. antreten, besteht unter politischen Beobachtern kein Erst die umstrittene Wahl Marc Ravalomananas sprengte Zweifel. Beide verdanken ihre plötzliche elektorale Pro- das von Paris vermittelte Bündnis zwischen Côtiers und minenz den Umständen der letzten Monate. So wurde den Nachfahren der Sklavenbevölkerung im Hochland. Jean-Louis Robinson erst in letzter Minute zum Kandi- daten des Ravalomanana-Lagers ernannt, nachdem der Die Präsidentschaft des Selfmademans war von Anfang ursprüngliche Plan, mit Lalao Ravalomanana, der Frau an durch das schwierige Verhältnis zu Frankreich ge- des Ex-Präsidenten, in den Wahlkampf zu ziehen, am prägt. Die ehemalige Kolonialmacht spielte 2009 beim Widerstand des Wahlgerichtshofes gescheitert war. Sturz des Präsidenten eine entscheidende Rolle. Umstrit- ten bleibt, ob es sich bei den Ereignissen um einen ordi- nären Putsch oder um eine Erhebung des Volkes gegen Vorbild Putin: Ravalomananas und Rajoelinas das zunehmend autoritäre Staatsoberhaupt handelte. Streben nach der Macht

Im Wahlkampf war Lalao Ravalomanana dann allgegen- Hochland gegen Küste: Wiederaufflammen wärtig. Kaum ein Termin, den Robinson ohne »Neny«, eines historischen Gegensatzes? die ehemalige Mutter der Nation, absolvierte. Kurz vor der Wahl rief er sie zu seiner Kandidatin für den Pos- Der deutliche Wahlsieg des Ravalomanana-Schützlings ten des Premierministers aus. »Scénario russe« nennen Robinson, insbesondere seine schiere Dominanz im das die madagassischen Medien, zumal jeder weiß, dass Hochland, spricht gegen die These, die große Mehrheit hinter der politisch unbeschlagenen Ehefrau der Exprä- der Hauptstadtbevölkerung hätte Ravalomanana davon- sident selbst steht. Dieser könnte nach einer erfolgrei- gejagt. 2009 ereignete sich demnach weniger ein Volks- chen Wahl Robinsons nicht nur unter großem Trubel aufstand als vielmehr ein orchestrierter Umsturz, der zurückkehren, sondern zum Präsidenten des Senats, sich auf eine Allianz aus Militärs und großen Teilen einer der zweiten Parlamentskammer, ernannt werden. Laut sich übervorteilt sehenden politischen Klasse stützte. Die Verfassung wäre er so der unmittelbare Nachfolger des Fäden im Hintergrund zog der Altpräsident Ratsiraka, Staatsoberhaupts, im Falle eines Rücktritts zum Beispiel. mit tatkräftiger Unterstützung Frankreichs. Dass der jun- Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. ge Politunternehmer und ehemalige Diskjockey Andry Rajoelina dann im Präsidentenpalast landete, muss als Die Kandidatur von Hery Rajaonarimampianina weist ge- Kollateralschaden betrachtet werden. Er war lediglich als wisse Parallelen auf. Ursprünglich war der Finanzminister keineswegs Rajoelinas erste Wahl. Er war gewisserma- 1. Mouvement Démocratique de la Rénovation Malgache. ßen übrig geblieben, nachdem der Transitionspräsident 2. Parti des Déshérités de .

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durch eigene erratische Manöver seine politischen Ver- Ein Wahlsieg Rajaonarimampianinas erscheint so keines- bündeten einen nach dem anderen demontierte. Edgard wegs mehr als ausgemacht. Die nachträgliche elektorale Razafindravahy, der Bürgermeister der Hauptstadt, und Absegnung des Putsches von 2009 droht zu scheitern. Camille Vital, ehemaliger Premierminister, entfremdeten Es wäre die größte politische Niederlage des Andry Ra- sich so dem amtierenden Staatsoberhaut und kandidier- joelina. ten gegen den »Kandidat des Staates«. Gleich Jean-Lou- is Robinson machte Hery Rajaonarimampianina deutlich, Dem Ravalomanana-Lager kommt nicht nur entgegen, wer der eigentlich starke Mann hinter seiner Kandidatur dass dem Transitionspräsidenten die Verbündeten verlo- ist. Kurz vor der Wahl kündigte er an, Rajoelina im Falle ren gehen. Es kann zusätzlich noch auf die Logik des un- seines Sieges zum Premierminister zu machen. »Scénario abhängigen Wählers setzen. So steht nirgends geschrie- russe« das Zweite. Nach dem Einzug seines Schützlings ben, dass es einen Automatismus der Stimmenaddition in die Stichwahl ließ dieser wiederum alle Vorsicht fallen zugunsten Hery Rajaonarimampianinas gebe. Es ist nicht und stellte sich entgegen den Vorgaben des Wahlgeset- unwahrscheinlich, dass die Anhänger des Ex-Präsiden- zes, das strenge Neutralität der Transitionsinstitutionen ten noch erhebliche Reserven haben. Die Nominierung vorsieht, auch offiziell hinter seinen Kandidaten.3 Jean-Louis Robinsons war eine erratische Last-Minute- Entscheidung. In fast der Hälfte aller Wahllokale hatten die Robinsonwahlkämpfer keinen Repräsentanten. Dass Logik der politischen Klasse oder Logik des man unter diesen Umständen mit einem vor Monatsfrist unabhängigen Wählers: Welche Faktoren kaum bekannten Kandidaten überhaupt an der Spitze entscheiden die Stichwahl? des Feldes landete, grenzt an ein kleines Wunder. Die mittelmäßigen Resultate in den Peripherieregionen, wo Entscheidend für den zweiten Wahlgang wird der nun der staatliche Rundfunk oft das einzige verbreitete Me- einsetzende »grand marchandage« – die Allianzbildung. dium ist, könnten an der relativen Unbekanntheit des Dabei lassen sich für die Stichwahl zwei Logiken heraus- Kandidaten liegen. Die weitaus besser informierte Be- arbeiten: die Logik der politischen Klasse und die Logik völkerung des Hochlandes hat jedenfalls eindeutig vo- der unabhängigen Wählerschaft. Nach der Logik der po- tiert. Nun muss Jean-Louis Robinson hoffen, dass sich litischen Klasse müsste alles auf einen Wahlsieg von Hery diese ihm positiv gesinnte Stimmung in der Hauptstadt Rajaonarimampianina zulaufen. Von den sechs Kandida- politisch noch steigert. Gewinnt Robinson das, was die ten, die auf den Rängen drei bis acht folgen, sind fünf Amerikaner »momentum« nennen, ließen sich auch die dem Lager des Transitionspräsidenten zuzurechnen. fast 40 Prozent Nichtwähler aus dem ersten Wahlgang Auch wenn sie sich diesem in den letzten Monaten zu- mobilisieren. Anders als die politische Klasse, die in ihrer nehmend entfremdet haben, eint sie doch die Ableh- Mehrheit Ravalomanana ablehnt, mag die Wahlbevölke- nung Ravalomananas. Als ehemalige Putschisten haben rung weniger ressentimentgeladen sein. Inhaltlich – und sie wenig Interesse an dessen Rückkehr auf die Insel. die Inhalte waren bisher die große Leerstelle im Wahl- Nach der Logik der politischen Klasse wäre somit eine kampf – könnte Robinson zudem damit punkten, dass Isolierung Jean-Louis Robinsons zwingend. Die letzten er anders als sein Gegenkandidat nicht für die Politik der Ereignisse deuten aber darauf hin, dass die Allianz um letzten fünf Jahre verantwortlich zeichnet. Eine Politik, Rajoelina bröckelt. Hajo Andrianainarivelo verweigerte die einen nie dagewesenen sozialen und ökonomischen sich einem Wahlaufruf zugunsten des »Kandidaten des Niedergang zur Folge hatte. Die Explosion der Armuts- Staates«. Er bleibe lieber neutral und konzentriere sich rate von 68 Prozent im Jahr 2008 auf unglaubliche 92 ganz auf die Parlamentswahlen. Rajoelinas ehemaliger Prozent heute ist gleichbedeutend mit der Verelendung Vizepremier Camille Vital ging sogar noch einen Schritt von Millionen. Robinson müsste dazu ein soziales und weiter und schlug sich offen auf die Seite Robinsons. Le- ökonomisches Gegenmodell formulieren, das program- diglich Roland Ratsiraka bleibt der Allianz von 2009 treu. matisch und visionär über die omnipräsenten Allgemein- plätze hinausreicht. Ob ihm das gelingt, ist vorerst noch

3. Andry Rajoelina, 7. November 2013: »Pour le second tour, c’est désor- ungewiss. mais clair: Hery Rajaonarimampianina est le candidat de la mouvance Rajoelina, le candidat de la revolution (sic!). Nous avions dix candidats. Si on fait le calcul, nous arrivons à près de 55 Prozent. Le candidat que je soutiens sera le nouveau président de Madagascar.«

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Ein Wahlsieg Robinsons wäre die machtpo- Eine tiefgreifende Legitimitätskrise politischer litische Revision des Umsturzes von 2009. Herrschaft Ist Madagaskar bereit für einen friedlichen Machtwechsel an den Urnen? Es ist naiv zu glauben, dass sich die fundamentalen Probleme der Inselrepublik mit einer demokratisch ein- Ein Wahlsieg Jean-Louis Robinsons birgt die nicht von wandfreien Wahl beseitigen ließen. Die eigentliche Krise der Hand zu weisende Gefahr neuer politischer Verwer- geht viel tiefer. Sie resultiert daraus, dass in Madagaskar fungen. Da ein solcher Sieg unmittelbar mit der Rück- trotz eines ausgeprägten Nationalismus oder Gefühl des kehr des Expräsidenten verbunden ist, wäre er gleichbe- Andersartigseins das nation-building unvollendet ge- deutend mit dem Umsturz der seit 2009 herrschenden blieben ist. Die Wiederkehr politischer Krisen, die sich Machtverhältnisse. Nicht ohne Grund hat das Transitions- seit dem Erlangen der Unabhängigkeit fieberschubartig regime Marc Ravalomananas Versuche heimzukehren, in immer kürzeren Abständen reproduzierten, offenbart stets vereitelt. Zu groß war die Furcht, damit die neue ein grundsätzliches Problem von Legitimität politischer politische Ordnung in ihren Grundfesten zu erschüttern. Herrschaft. Der Staat war stets ein Instrument zur Aus- Ein demokratisches Votum würde daran wenig ändern, beutung der Bevölkerung zugunsten der individuellen erst recht nicht bei den 2009er Eliten, deren ganze Legi- Interessen der Herrschenden. Eine Kultur des Allgemein- timation auf dem aufbaut, was Andry Rajoelina gern als wohls und der Rechenschaftspflicht politischer Eliten ge- »la révolution« bezeichnet. Ravalomanana wurde nicht genüber dem gesamten Volk konnte sich nie etablieren. an den Urnen, sondern – zumindest in der Weltsicht der Das war unter der Kolonialherrschaft nicht anders als im Anführer von 2009 – auf den Straßen geschlagen. Aber Hochlandkönigreich Madagaskar, der vor dem Verlust auch auf der anderen Seite gibt es keine Garantie, dass der Unabhängigkeit stärksten politischen Entität auf der der weithin als rachsüchtig und selbstherrlich geltende Insel. Dessen Herrschaftslogik beruhte jedoch auf einem Expräsident denjenigen, die ihm seit 2009 die Rückkehr Kastensystem und der Ausbeutung der Sklavenbevölke- in die Heimat verweigern, ein auskömmliches Dasein als rung, die religiös-traditionelle Legitimation besaßen und demokratische politische Opposition zubilligen würde. so stabilitätsfördernd wirkten. Mit der Abschaffung der Eine solche hat es in der Geschichte der Inselrepublik Sklaverei zu Beginn der Kolonialzeit war dem traditio- auch fast nie gegeben. 1993 und 2002 ging der unter- nellen System die Grundlage entzogen worden – freilich legene ins Exil statt in die Opposition, ohne, dass sie durch etwas grundsätzlich Neues ersetzt 2009 traf dasselbe Schicksal Ravalomanana. Es spricht werden konnte. Mit einer erfolgreichen divide et impera- gegenwärtig leider wenig dafür, dass es für die 2013 Politik verhinderte Frankreich vielmehr die Ausprägung unterlegene Partei anders kommen wird. Eine Versöh- einer machtvollen nationalistischen und gegebenenfalls nung der seit 2009 verfehdeten politischen Clans steht egalitären Bewegung, die die Madagassen in ihrem weiter aus. Der aufkommende Wahlkampf bietet zudem Kampf für die nationale Unabhängigkeit einen und dem eine denkbar schlechte Kulisse dafür. Noch sitzen die nachfolgenden Staate eine ideologische Rechtfertigung 2009er Eliten am machtpolitisch längeren Hebel – bis hätte geben können. Ihrem ganzen Gepränge nach war sich dies mit der tatsächlichen Rückkehr Ravalomananas diese Unabhängigkeit nicht gegen Frankreich errungen, schlagartig ändern würde. Wer investiert 43 Millionen sondern präsentierte sich als »Geschenk« Paris an das Dollar, das kolportierte Wahlkampfbudget Hery Rajao- ehemalige Kolonialvolk. narimampianinas, um hernach ins Exil getrieben zu wer- den? Auch wenn zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch Das gescheiterte nation-building wird am offensicht- kein Szenario für den Fall existieren sollte, dass Robinson lichsten dadurch manifest, dass es seit der Unabhängig- die Wahl gewinnt, ist dennoch klar, dass sich einflussrei- keit keinen Präsidenten geschweige denn einen anderen che Kreise dadurch derart in ihren Interessen geschädigt Politiker oder Staatsmann gab, der partei-, ethnien- oder sehen könnten, dass eine postelektorale Krise, wie sie konfessionsübergreifend, also im besten Sinne nationale Madagaskar bereits mehrfach erlebt hat, auch diesmal Legitimität beanspruchen kann. Die aufeinanderfolgen- nicht auszuschließen ist. den Regime legitimierten sich stets über die Verteufe- lung ihrer Vorgänger. Ein gesellschaftlicher Konsens über die gemeinsame nationale Vergangenheit existiert

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weiterhin nicht. Für eine gesellschaftliche Stabilität fehlt Madagaskar das ideologische Narrativ, wie es beispiels- weise ehemalige Befreiungsbewegungen artikulieren können. Abseits von aus der kulturellen Tradition be- zogenen gesellschaftlich-politischen Normen4, die zwar ständig beschworen, aber nie in die politische Moder- ne übersetzt worden sind, gibt es wenig, das politische Herrschaft legitimieren und stabilisieren könnte. Politi- sche Stabilität aber ist die Voraussetzung für wirtschaft- liche Entwicklung, gerade in Zeiten der Globalisierung. Ohne politische Stabilität kann keine Reform der öko- nomischen Verhältnisse nachhaltig erfolgreich sein. Das, was unter dem einen Regime aufgebaut wurde, wurde vom nächsten stets wieder eingerissen.

Der neue Präsident: Demokratische Stabilität als Voraussetzung für den Ausweg aus der Armutsfalle

Den beschriebenen historisch-gesellschaftlichen Kräften muss sich ein neugewählter madagassischer Präsident stellen. Im besten Falle hat Madagaskar Anfang 2014 eine nationale Regierung, die auch die Akzeptanz der- jenigen genießt, die am 20. Dezember unterliegen wer- den. Mittelfristig geht es jedoch darum, dass das Resul- tat an den Urnen nicht in zwei oder vier Jahren wieder infrage gestellt wird – durch einen inszenierten Volks- aufstand oder eine anders geartete politische Krise. Ein nation-building ist erforderlich, das Oppositionskräfte nicht marginalisiert, sondern einbindet und auf einen de- mokratischen Grundkonsens hinwirkt. Traditionelle ge- sellschaftliche Werte müssen in eine moderne politische Ordnung übersetzt werden. Dies ist die Voraussetzung für den Erfolg der madagassischen Demokratie und da- mit auch die Voraussetzung für einen gelungenen öko- nomischen Ausweg aus der Armutsfalle. Auf den neuen Präsidenten wartet zweifelsohne eine Mammutaufgabe.

4. Exemplarisch sei hier das fihavanana genannt, das in den intellektu- ellen Debatten über die politische und gesellschaftliche Kultur der Insel omnipräsent ist. Eigentlich wurden damit erweiterte Verwandtschaftsver- hältnisse bezeichnet, die innerhalb einer Gemeinschaft aber die guten Beziehungen meinen, die alle miteinander verbinden. Es kann am ehes- ten mit einer Art Solidarität übersetzt werden. Die Übertragung einer ver- wandtschaftlich oder gemeinschaftlich begründeten Solidarität auf die Ebene der Nation ist aber nie gelungen. Vgl. Sylvain Urfer: Madagascar: Une culture en péril?, Mai 2012.

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Literatur

Africa Confidential (2013): No princes on the ballot, 4. Oktober 2013. Friedrich-Ebert-Stiftung/Liberty32 (2013): Participation et Perceptions Politiques du Citoyen, Septembre 2013. Marcus Schneider (2013): Die Krise, die nicht vergehen will. Madagaskar in der Sackgasse. FES-Perspektive, Juli 2013, http:// library.fes.de/pdf-files/iez/10196.pdf. SeFaFi (2013): Présidentielles de 2013: Bilan du 1er Tour, 4. November 2013.

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Marcus Schneider ist seit 2012 Regionalberater im Südlichen Friedrich-Ebert-Stiftung | Referat Afrika Afrika und betreut das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Ma- Hiroshimastr. 17 | 10785 Berlin | Deutschland dagaskar. Verantwortlich: Manfred Öhm, Leiter des Referats Afrika

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