67. Jahrgang, 40–41/2017, 2. Oktober 2017

AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Jugoslawien

Andreas Ernst Ana Mijić ECHORAUM, DER BOSNISCH- NICHT PULVERFASS HERZEGOWINISCHE NACHKRIEG Vedran Džihić DIE NACHFOLGESTAATEN Tanja Petrović JUGOSLAWIENS ZWISCHEN ERINNERUNGEN AN EIN EU, RUSSLAND UND TÜRKEI UNTERGEGANGENES LAND

Marie-Janine Calic Marc Halder KLEINE GESCHICHTE MYTHOS TITO JUGOSLAWIENS

ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung Jugoslawien APuZ 40–41/2017

ANDREAS ERNST ANA MIJIĆ ECHORAUM, NICHT PULVERFASS DER BOSNISCH-HERZEGOWINISCHE Bedenkliche Befunde zum postjugoslawischen NACHKRIEG Raum häufen sich. Aber ist die Warnung vor der Über 20 Jahre nach Ende des Krieges ist das brennenden Lunte am Pulverfass gerechtfertigt? Verhältnis zwischen den bosniakischen, kroati- Um das beurteilen zu können, ist es zunächst schen und serbischen Bosnierinnen und Bosniern sinnvoll zu hinterfragen, wie sinnvoll eine durch tiefe Gräben gekennzeichnet. Über die Betrachtung dieser Staaten als Region ist. Verantwortung für den Krieg und die begange- Seite 04–09 nen Verbrechen wird noch immer gestritten. Seite 26–31

VEDRAN DŽIHIĆ DIE NACHFOLGESTAATEN JUGOSLAWIENS TANJA PETROVIĆ ZWISCHEN EU, RUSSLAND UND TÜRKEI ERINNERUNGEN AN EIN In den postjugoslawischen Staaten, die noch UNTERGEGANGENES LAND keine EU-Mitglieder sind, sinkt die Zustimmung Im dritten Jahrzehnt nach dem von ethnischer zur Europäischen Union. Gleichzeitig wachsen Gewalt geprägten Zerfall Jugoslawiens wird der die Sympathien für Russland oder die Türkei. Vielvölkerstaat in seinen Nachfolgestaaten von Die Krisen in der Region häufen sich. Welche offizieller Seite gerne auf ein historisches Faktum Rolle spielt die EU in dieser Situation? reduziert. Aber gehört Jugoslawien wirklich Seite 10–15 definitiv der Vergangenheit an? Seite 32–37

MARIE-JANINE CALIC KLEINE GESCHICHTE JUGOSLAWIENS MARC HALDER Die beiden Jugoslawien – das königliche und das MYTHOS TITO sozialistische – standen vor ähnlichen Heraus- Wie wurde aus dem kroatischen Bauernsohn forderungen, wählten aber unterschiedliche Josip Broz der charismatische Partisanenführer Ansätze zur Herstellung nationaler Einheit. und weltweit geachtete Staatsmann Tito? Die Beide scheiterten schließlich an einer wachsenden Antwort auf diese Frage führt über den Perso- Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit. nenkult um den jugoslawischen Staatschef, der Seite 16–23 bis heute nachwirkt. Seite 38–44 EDITORIAL

Die Entstehung eines der komplexesten Staatsgebilde des 20. Jahrhunderts jährt sich zum hundertsten Mal: Am 20. Juli 1917 vereinbarten Vertreter von Serben, Kroaten und Slowenen in der Deklaration von Korfu, die drei Teile ihrer „drei­ namigen Nation“ in einem Staat zu vereinen. Dieser wurde am 1. Dezember 1918 als Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen ausgerufen und elf Jahre später in „Jugoslawien“ (Südslawien) umbenannt. Die Rivalitäten zwischen den fast zwanzig Volksgruppen, die über die Jahr- hunderte unter sehr unterschiedlichen Einflüssen gestanden hatten und nun zu einer einzigen jugoslawischen Nation zählen sollten, belasteten den neuen Staat von Beginn an. Als Jugoslawien nach dem Zweiten Weltkrieg als sozialistischer Bundesstaat neu gegründet wurde, waren die Gräben während der Besatzung tiefer geworden. Zwar vermochte der legendäre Oberbefehlshaber der sieg- reichen gesamtjugoslawischen Partisanen, , als Staatschef zur Identifikationsfigur eines jugoslawischen Selbstbewusstseins zu werden. Aber nach seinem Tod 1980, einer lähmenden Wirtschaftskrise und dem Ende des Ost-West-Konflikts brachen sich die schwelenden Nationalismen Bahn, und der letzte Vielvölkerstaat Europas zerfiel in ethnisch motivierter Gewalt. Von den sieben Nachfolgestaaten Jugoslawiens gehören heute Slowenien und Kroatien zur Europäischen Union. Serbien, Montenegro und Mazedonien sind Beitrittskandidaten, und 2016 konnte auch Bosnien-Herzegowina ein Beitritts- gesuch stellen, während Kosovos Unabhängigkeit von einigen EU-Mitglieds- staaten nach wie vor nicht anerkannt wird. Aber die katalysierende Wirkung, die das Ziel eines EU-Beitritts für den Prozess der demokratischen Transformation im postjugoslawischen Raum entfaltete, hat mit den multiplen Krisen der Europäischen Union nachgelassen, und angesichts autoritärer Tendenzen und wieder zunehmender ethnopolitischer Spannungen mehren sich Fragen nach der Zukunft der Region.

Anne-Sophie Friedel

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ECHORAUM, NICHT PULVERFASS Andreas Ernst

Die Rede vom Balkan als Europas „Pulverfass“ IST DER POSTJUGOSLAWISCHE hat in jüngster Zeit wieder Konjunktur. Dem RAUM EINE REGION? westlichen Publikum, das seit dem kriegerischen Zerfall Jugoslawiens in den 1990er Jahren eher Im postjugoslawischen Raum selbst ist es durch- wenig aus der Region erfahren hat, wird vermit- aus üblich, von den Ländern, die aus der Kon- telt, im „weichen Unterleib“ des europäischen kursmasse des untergegangenen Staates hervor- Kontinents rumore es wieder. gegangen sind, als „Regija“ (Region) zu sprechen. Unbestreitbar sind viele Bürgerinnen und Bezeichnenderweise wird der Begriff groß ge- Bürger in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens schrieben, als würde es sich um einen Eigenna- mit ihrem Los unzufrieden, wobei die schlechte men handeln. 04 Und tatsächlich gibt es auf den wirtschaftliche Lage, eine mangelhafte Gesund- ersten Blick Argumente, die dafür sprechen, diese heitsversorgung und ungenügende Bildungsein- Länder mit ihren 20 Millionen Einwohnerinnen richtungen die größten Sorgen bereiten. Überall und Einwohnern als Region zu betrachten. verbreitet ist ein Gefühl der Distanz und Entfrem- So gibt es nicht nur mannigfaltige politische, dung gegenüber der politischen Klasse. Die Frus- wirtschaftliche und kulturelle Austauschbezie- tration hat in den meisten Fällen zum apathischen hungen, sondern auch die Öffentlichkeiten der Rückzug ins Private geführt, bei jungen Gutaus- postjugoslawischen Gesellschaften überlappen gebildeten oft zur Emigration, und nur selten und sich vielfach. Vor einigen Jahren hat der briti- meist kurzfristig zu politischer Mobilisierung. 01 sche Journalist Tim Judah dieses Phänomen als Ebenso trifft zu, dass die Zeiten vorbei sind, „Jugosphäre“ bezeichnet. 05 Deren Vorausset- in denen allein die EU im Verbund mit Washing- zung ist natürlich die gemeinsame Sprache, die ton ihren Einfluss in der Region geltend machte in Serbien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und und als Ordnungsmacht auftrat. Die Zahl der Ak- Montenegro gesprochen und von vielen Men- teure, die Interessen anmelden, hat mit Russland, schen in Slowenien und Mazedonien verstanden der Türkei, aber auch China und den Golfstaaten wird. Medienunternehmen wie N1, Al Jazeera zugenommen – und mit ihnen auch Spannungen, oder auch Pink betrachten den gesamten Sprach- wie in jüngster Zeit das Wiederaufleben der Rhe- raum als einen Markt, gleiches gilt für die Musik-, torik aus dem Kalten Krieg zeigt. 02 Film- und Buchbranche und einen Teil der Un- Diese Befunde sind zwar bedenklich, aber terhaltungsindustrie. Eine parallele Entwicklung rechtfertigen sie die Warnung vor der brennen- findet seit 1999 – dem Jahr des Abzugs der serbi- den Lunte am Pulverfass? Um diese Frage zu be- schen Truppen aus Kosovo – in der albanischen antworten, ist es sinnvoll, zunächst zu klären, in- Sprach­region statt. wiefern von „den“ postjugoslawischen Staaten Was die einzelnen Staaten – scheinbar parado- überhaupt als Region gesprochen werden kann. xerweise – ebenfalls miteinander verbindet, sind Der Begriff „Westbalkan“, den die EU 1998 für die immer wieder aufbrechenden Differenzen und die Nachfolgestaaten Jugoslawiens plus Albanien Konflikte, die gerade deshalb so intensiv werden, übernahm, impliziert zwar eine regionale Iden- weil man sich – sprachlich – so gut versteht. Die tität, macht diese aber lediglich daran fest, dass Gegenstände dieser medial aufgeheizten Auseinan- diese Länder EU-Beitrittskandidaten sind. 03 Ent- dersetzungen reichen von Grenzfragen und Han- sprechend zählen im EU-Jargon Kroatien und delshemmnissen über Abhörskandale bis zu Erin- Slowenien, die mittlerweile EU-Mitgliedsstaaten nerungskultur und Geschichtspolitik. Die mitunter sind, nicht mehr dazu. fast schon neurotische Fixiertheit auf die Nachbarn

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– am meisten ausgeprägt in Kroatien und Serbien – Bei näherer Betrachtung der politischen Sys- ist zweifellos eine Erbschaft aus der Zeit des ge- teme, der governance und des Stands der inneren meinsamen Staates und seines tragischen Zerfalls. Staatsbildung zeigen sich allerdings markante Un- Auch wirtschaftlich sind die Länder stark terschiede zwischen den postjugoslawischen Staa- miteinander verflochten, und es gibt eine Reihe ten. Drei Gruppen lassen sich unterscheiden: Ers- multinationaler Unternehmen wie die kroatische tens die stabilen gelenkten Demokratien Serbien Großhandelsfirma Atlantic Grupa oder die slo- und Montenegro, zweitens die „unvollendeten“, mit wenisch-kroatische Handelskette Mercator, die Legitimitätsdefiziten kämpfenden Staaten Bosnien- regional aktiv sind. Im Rahmen des „Berlin Pro- Herzegowina, Kosovo und Mazedonien sowie drit- zesses“ gibt es Bestrebungen, einen gemeinsamen tens Kroatien und Slowenien, an der EU-Peripherie regionalen Wirtschaftsraum zu schaffen. Doch gelegen und über Traditionen und Konflikte mit ih- zurzeit ist der Austausch der einzelnen Länder ren südlichen Nachbarn verbunden. mit der EU noch deutlich größer als jener zwi- schen den postjugoslawischen Staaten selbst. 06 Serbien und Montenegro – Ähnlichkeiten zwischen den Ländern gibt es gelenkte Demokratien auch, wenn wir den Blick auf den gesellschaftspo- Die politischen Systeme Serbiens und Montene- litischen Konservatismus richten, die umfassen- gros zeichnen sich in der Praxis durch die weit- de Rolle der Familie, den breiten Raum, den Re- gehende Abwesenheit institutioneller checks and ligionen in der Öffentlichkeit einnehmen oder die balances aus. Die Macht konzentriert sich bei der klientelistisch geprägten Parteiensysteme. Diese Exekutive (im Fall Serbiens verfassungswidrig im Strukturmerkmale sind aber keineswegs gleichmä- Präsidialamt). Die Regierungsparteien dominie- ßig über die Region verteilt und finden sich auch ren die staatlichen Institutionen und funktionie- in Ländern wie Italien, Polen oder Ungarn. ren als Klientelsysteme, die Pfründe gegen Loya- lität tauschen, sodass mit gutem Grund von einem 07 01 Die basisdemokratische „Plenum“-Bewegung in Bosnien-Herzego- captured state gesprochen werden kann. Das wina verschwand nach ihrem kurzen Auftritt 2014 wieder, „Ne davimo Parlament ist entsprechend machtlos. Es finden Beograd“, der Bürgerprotest gegen eine Überbauung des Savebe- kaum echte Debatten in den Ausschüssen statt ckens in Belgrad ist kaum mehr in der Öffentlichkeit sichtbar, und der und schon gar nicht im Plenum. Gesetze werden Bürgerprotest in Mazedonien gegen das Regime von Ministerpräsident oft im Eilverfahren durchgewinkt. Die Justiz ist Nikola Gruevski ebbte ab, noch bevor es unter Druck der USA im Frühjahr 2017 die Fahne strich. Einzig in Kosovo hat es die linksnatio- ineffizient und beeinflussbar und eignet sich we- nale Bürgerbewegung Vetevendosje (Selbstbestimmung) geschafft, das nig zur raschen Lösung von Rechtshändeln. politische Spektrum zu verändern und sich zur stärksten Oppositions- Ein Großteil der Medien ist personell und fi- partei mit realen Chancen zur Machtübernahme entwickelt. nanziell von der Regierung abhängig und betreibt 02 So warnte der US-Vizepräsident Mike Pence bei einem entsprechend eine gouvernementale Berichter- Besuch in Montenegro im August 2017, Russland arbeite daran, die Region zu destabilisieren. Das gelte es zu verhindern, denn stattung. Die landesweiten Fernsehkanäle, über die Zukunft dieser Staaten liege im Westen. Vgl. Deutsche Welle, die sich das Gros der Bevölkerung informiert, Pence verspricht Westbalkan Beistand, 2. 8. 2017, www.dw.com/ dienen als Plattformen für propagandistisch an- de/​a-39940798. mutende Auftritte der Exekutive. Dazu gehört 03 Vgl. Janusz Bugajski, The Western , 27. 8. 2017, www. die mediale Inszenierung von Krisen und Be- oxfordbibliographies.com/view/document/obo-9780199743292/ obo-9780199743292-0094.xml. drohungen: Ein angeblicher Putschversuch mit 04 Wobei im Januar 2016 der neue konservative kroatische russischen Hintermännern in Montenegro am Außenminister Weisung gab, künftig nicht mehr von der „Region“, Wahltag im Oktober 2016, die Entdeckung ei- sondern von der „Nachbarschaft“ zu sprechen, um eine Identi- nes Waffenlagers beim Wochenendhaus des serbi- fizierung mit dem postjugoslawischen Raum zu vermeiden. Vgl. Andreas Ernst, Kroatiens Flucht aus der Region, 8. 3. 2016, www. nzz.ch/-1.18708181. 07 Der Begriff, manchmal mit „Kaperung staatlicher Institutionen“ 05 Tim Judah, Good News from the Balkans. Yugoslavia Is Dead, übersetzt, bezeichnet mehr als weit verbreitete Korruption. Es geht Long Live the Yugosphere, November 2009, www.lse.ac.uk/euro- darum, dass private Akteure, zum Beispiel Regierungsparteien, peaninstitute/research/lsee/pdfs/publications/yugosphere.pdf. die staatlichen Institutionen mit einem Netz von klientelistischen 06 Institute for Public Policy and Good Governance, Economic Strukturen überziehen und sich Zugang zu staatlichen Pfründen Relations Between the Western Balkans Six Countries, Tirana verschaffen. Vgl. Mihály Fazekas, Ágnes Czibik, From Corruption 2016, www.excellence.al/sites/default/files/Policy_Paper_IPPM.pdf, to State Capture: A New Analytical Framework, 20. 1. 2015, S. 7; Andreas Ernst, Serbien plant eine Zollunion im Westbalkan, http://corruptionresearchnetwork.org/acrn-news/blog/from- 12.9.2017, www.nzz.ch/-ld.1315641. corruption-to-state-capture-a-new-analytical-framework.

05 APuZ 40–41/2017 schen Ministerpräsidenten Aleksandar Vučić im Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, selben Monat oder ungeklärte Geheimdienstakti- Kosovo – unvollendete Staaten vitäten rund um die serbische Botschaft in Skopje In ähnlicher Weise sind state capture, Kliente- im August 2017. Das Muster ist immer dasselbe: lismus und eingeschränkte Medienfreiheit auch Die Exekutive beschwört mit aktiver Beihilfe der Strukturmerkmale von Mazedonien, Bosnien- Medien eine Krise herauf, die dank dem beherz- Herzegowina und Kosovo. Aber bei diesen drei ten Eingreifen der Staatsspitze wenig später ge- Staaten kommt ein entscheidendes Kriterium hin- löst wird. Das Risiko, dass kritische Medien den zu: Sie werden von einem relevanten Teil ihrer po- Bluff aufdecken, ist vernachlässigbar. Damit be- litischen Elite beziehungsweise ihrer Bevölkerung findet sich der politische Diskurs permanent im nicht oder nur mit Vorbehalten als legitim betrach- Wahlkampfmodus und ist gekennzeichnet von tet. Das hängt auch damit zusammen, dass ihre Polemik, Personalisierung und Dramatisierung. Verfassungen stark von außen definiert wurden: Es wäre aber falsch, diesen krisenhaften Dis- in Bosnien-Herzegowina durch das Dayton-Ab- kurs als Ausdruck von Instabilität zu „lesen“. Im kommen 1995, in Mazedonien durch das Ohri- Gegenteil ist er Teil einer bewährten Herrschafts- der Rahmenabkommen von 2001 und in Kosovo technik, die als „gelenkte Demokratie“ bezeichnet durch den Ahtisaari-Plan von 2007. Die im Wes- werden kann. In diesem System finden zwar re- ten gehegte Hoffnung, dass diesen Verfassungen gelmäßig freie Wahlen statt, aber die Erfolgschan- und ihren Institutionen mit der Zeit die Zustim- cen der Wettbewerber sind extrem einseitig ver- mung der Gesellschaften entgegenwachsen würde, teilt. Weil die Regierungsparteien den öffentlichen hat sich nicht erfüllt, wohl auch deshalb, weil die Sektor kontrollieren, verfügen sie über ein qua- drei Staaten bei der Bereitstellung öffentlicher Gü- si „garantiertes“ Potenzial an Stimmen, das sich ter in weiten Teilen versagen. Denn es fehlen ihnen leicht mobilisieren lässt. Hinzu kommt die abso- Institutionen, die in der Lage wären, Rechenschaft lute Dominanz in der medialen Öffentlichkeit, die (accountability) von den Mächtigen einzufordern. auch jenseits des abhängigen Klientels für Zustim- In Bosnien-Herzegowina, das 1995 mit dem mung sorgt. Oppositionelle Politiker haben unter Abkommen von Dayton als stark föderalisier- diesen Umständen einen schweren Stand. Ihre me- ter multiethnischer Staat neu gegründet wurde, diale Präsenz ist viel geringer als jene der Regie- befürwortet eine knappe Mehrheit, nämlich die renden, und es ist fast unmöglich, eine kohärente muslimischen Bosniaken, den Gesamtstaat, wäh- Kampagne zu führen. In diesen freien, aber nicht rend seine Legitimität im Landesteil der Repu- fairen Wahlen werden die Regierenden immer wie- blika Srpska systematisch infrage gestellt wird. der von Neuem im Amt bestätigt. Immer wieder gelangt dort die Forderung nach Diese Kontinuität lässt sich auch außenpoli- einem Unabhängigkeitsreferendum aufs Tapet, tisch nutzen. Sowohl Präsident Aleksandar Vučić das mit der drohenden Majorisierung der Serben in Serbien als auch Milo Ðukanović, die graue begründet wird. Mit analogen Argumenten gibt Eminenz der montenegrinischen Politik, haben es in der Herzegowina Bestrebungen, eine dritte, sich über die Jahre als verlässliche Partner des kroatisch dominierte Entität zu gründen. Würden Westens erwiesen. Vučić zeigt sich gegenüber Ko- solche Autonomie- und Sezessionsbestrebungen sovo im Dienste eines Normalisierungsprozesses aus Belgrad und Zagreb unterstützt, könnte das zu Konzessionen bereit. In Bosnien-Herzegowi- für die Staatlichkeit Bosnien-Herzegowinas sehr na bremst er die separatistischen Bestrebungen in schnell gefährlich werden. Der überall gelten- der Republika Srpska. Ðukanović steuerte Mon- de ethnische Proporz hat die Volkszugehörigkeit tenegro noch in den 1990er Jahren aus Miloševićs zur zentralen politischen Kategorie im Land wer- Orbit und gegen den erbitterten Widerstand der den lassen und zudem eine aufgeblähte staatliche Hälfte der Bevölkerung jüngst in den Hafen der Verwaltung geschaffen. Deren Ineffizienz unter- Nato. Dieses Wohlverhalten wird von westlicher gräbt zusätzlich die Legitimität des Staates. Seite belohnt: mit EU-Beitrittsverhandlungen, Auch in Mazedonien ist das Verhältnis zwi- mit zurückhaltender Kritik am autoritären Füh- schen der mazedonischen Mehrheit, die 65 Pro- rungsstil und durch die Aufwertung der koopera- zent der Bevölkerung ausmacht, und dem albani- tiven Politiker, die sich im Schein westlicher Spit- schen Viertel der Bevölkerung angespannt. Viele zenpolitiker sonnen und daraus innenpolitisches Albaner bemessen die Legitimität des mazedo- Kapital schlagen. nischen Staates daran, ob er in der Lage ist, sie

06 Jugoslawien APuZ zu EU-Bürgern zu machen. Innerhalb der EU, Serben spielen trotz ihrer geringen Zahl politisch so die verbreitete Vorstellung, würden die Gren- eine wichtige Rolle im jungen Staat. Die Verfas- zen zu Kosovo und Albanien so stark relativiert, sung, die sich im Wesentlichen auf den Ahtisaa- dass dem freien Austausch innerhalb der „Alba- ri-Plan von 2007 stützt, garantiert der serbischen nosphäre“ nichts mehr im Wege stünde. Diese Minderheit zehn Parlamentssitze im 120-köpfi- „Loyalität auf Zusehen“ schürt das Misstrauen gen Parlament. der mazedonischen Mehrheit. Es wird noch ge- Die mit Abstand stärkste Partei der Serben in steigert durch das gewachsene nationale Selbst- Kosovo, die „Serbische Liste“, pflegt enge Bezie- bewusstsein der Albaner, seit Kosovo unabhän- hungen zur Regierung in Belgrad und ist finanzi- gig ist. Die Verunsicherung der Mazedonier hat ell und personell von ihr abhängig. Insofern hat einen weiteren Grund: Ihre eigenständige Iden- Serbien weiterhin eine Mitsprache in Kosovo, tität wird von bulgarischen und serbischen Na- die durch den 2013 zwischen Belgrad und Pris- tionalisten infrage gestellt, und Griechenland tina vereinbarten serbischen Gemeindeverband erkennt den verfassungsmäßigen Namen des noch verstärkt werden soll. Gegen diese neue Landes nicht an. Körperschaft, die den Serben zusätzliche Auto- Gefangen in einem defensiven Ressentiment nomie einräumen soll, gibt es allerdings heftigen verpasst es die mazedonische Bevölkerungsmehr- Widerstand in der kosovarischen Gesellschaft. heit regelmäßig, von sich aus Schritte zu unter- Es handle sich dabei um ein „trojanisches Pferd“ nehmen, um die Teilhabe der albanischen Min- Belgrads, sagen Kritiker, oder schlimmer, um ei- derheit am gemeinsamen Staat zu stärken. Der nen „Staat im Staat“. Umgekehrt ist der serbisch mazedonische Widerstand gegen den Einbezug besiedelte Norden des Landes institutionell noch ethnisch-albanischer Symbole in das Staatswesen immer erst halbwegs in den kosovarischen Staat ist Ausdruck dieser Haltung. 08 Seit dem Rahmen- integriert. Die Staatsbildung ist also sowohl nach abkommen von Ohrid hat zwar die Teilhabe der innen als auch nach außen nicht abgeschlossen. Albaner an der Regierung und Verwaltung zuge- Wohl anerkennen mehr als die Hälfte der Mit- nommen, nicht aber deren Integration. Im Ge- gliedsstaaten der Vereinten Nationen Kosovos genteil bildeten sich zwei politische Sphären he- Unabhängigkeit, aber im UN-Sicherheitsrat wird raus – eine mazedonische und eine albanische –, sie von Russland und China abgelehnt, in der EU die interessengeleitet nur an der Spitze durch eine von Spanien, Rumänien, Griechenland, der Slo- interethnische Regierungskoalition zusammen- wakei und Zypern. gehalten werden. Die ethnische Segregation be- trifft auch die Zivilgesellschaft. Allerdings führ- Slowenien und Kroatien – ten die Proteste gegen das zehnjährige Regime die EU-Peripherie von Nikola Gruevski 2015 erstmals zu multieth- Verglichen mit ihren südlichen Nachbarn ha- nischen Gruppenbildungen. Ob sich daraus sta- ben Slowenien und Kroatien, die seit 2004 bezie- bile Strukturen bilden, bleibt abzuwarten. Die hungsweise 2013 der EU angehören, gefestigte Segregation der beiden Bevölkerungsteile werden Demokratien, und die Justizapparate sind deut- sie kaum überwinden können. lich unabhängiger. Dennoch sind Vetternwirt- Kosovo, maßgeblich dank amerikanischer schaft und Parteipatronage ernsthafte Probleme Hilfe und gegen dessen Willen seit 2008 unabhän- und führen regelmäßig zu großen politischen gig von Serbien, genießt als Staat hohe Legitimi- und wirtschaftlichen Skandalen. 10 Die in Kroa- tät bei der albanischen Mehrheit, die über 90 Pro- tien vor dem EU-Beitritt gehegte Hoffnung, als zent der Bevölkerung ausmacht, aber nicht bei Mitgliedsstaat schnell einen großen Wohlstands- den rund fünf Prozent Serben, 09 die Kosovo nicht sprung zu machen und die ungeliebte balkanische als ihren Staat anerkennen, auch wenn sie sich Nachbarschaft ein für alle Mal gegen das respek- pragmatisch damit arrangieren. Die verbliebenen tablere Mitteleuropa zu tauschen, hat sich nicht erfüllt.

08 Vgl. Andreas Ernst, Fragiler Staat in einer instabilen Region: Mazedonien sucht seinen Kern, 24. 8. 2017, www.nzz.ch/-ld.​131​ 10 Vgl. etwa Marco Kauffmann Bossart, Russische Rettungsleine 2550. für Agrokor, 23. 3. 2017, www.nzz.ch/-ld.152982; Blaz Zgaga, 09 Die genaue Zahl ist unbekannt, weil viele Serben den Zensus Arms Deals and Bribes: The Downfall of Slovenia’s Former PM, 2011 boykottierten. 30. 4. 2014, https://euobserver.com/investigations/​123961.

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Slowenien hat ein vergleichsweise entspann- dung aus der marxistischen Theorie hilfreich. tes Verhältnis zu den Ländern des westlichen Dort spricht man von der „Klasse an sich“ und Balkans und betrachtet sie in erster Linie als Ab- der „Klasse für sich“. Die „Klasse an sich“ defi- satzmärkte für heimische Produkte. Das hängt niert sich über das objektive Kriterium des Zu- zweifellos damit zusammen, dass die Loslösung gangs zu den Produktionsmitteln. Die „Klasse aus dem jugoslawischen Verbund schnell und re- für sich“ bestimmt sich dagegen subjektiv durch lativ unblutig verlief. Weniger entspannt ist das ihr Bewusstsein, eine Klasse zu sein. Cum grano Verhältnis zum direkten Nachbarn Kroatien, mit salis kann man sagen, dass diese Ländergruppe dem es seit Jahren um den Grenzverlauf in der zwar nicht „an sich“, also strukturell eine Regi- Bucht von Piran streitet. on bildet, „für sich“ hingegen schon: als vielfäl- Kroatien – und vor allem dessen konservati- tig verwobener gemeinsamer Kommunikations- ves Milieu – betont anstelle der jugoslawischen raum mit einer schwierigen Geschichte, aus der Tradition lieber das österreichisch-ungarische es scheinbar kein Entrinnen gibt. 11 Erbe. Entsprechend sucht Zagreb in der EU An- Eine solche differenzierte Betrachtung des schluss an die Visegrád-Gruppe. Und doch bleibt postjugoslawischen Raums ist in der Berichter- es über eine konfliktreiche Vergangenheit sowohl stattung über das „Pulverfass“ Europas selten. mit Serbien als auch mit Bosnien-Herzegowina Umso mehr sollten die dramatisierenden Be- fest verbunden. Die in Bosnien-Herzegowina an- schreibungen der Lage in der Region kritisch hin- sässigen Kroaten besitzen zu einem großen Teil terfragt werden. Sie lassen sich oft besser mit den neben der bosnischen auch die kroatische Staats- Interessen der Sprecher erklären als mit tatsächli- bürgerschaft. In Serbien und Kroatien bestehen chen Veränderungen in den Gesellschaften selbst. nach der Befreiung kroatischen Territoriums von Im Kampf um Aufmerksamkeit haben viele pro- serbischen Truppen 1995 und der Vertreibung ei- fessionelle Beobachterinnen und Beobachter ein nes Großteils der dort lebenden Serben („Ope- handfestes Interesse, die Lage möglichst drama- ration Oluja“) heute diametral entgegengesetzte tisch zu schildern. Nur so können sie hoffen, als Erinnerungskulturen. Die Kroaten gedenken aus- Korrespondenten ihre Berichte ins Blatt zu brin- schließlich der Befreiung, die Serben nur der Ver- gen, als Experten konsultiert zu werden, als Ver- treibung, was jedes Jahr zu ritualisierten Konflik- treter von Nichtregierungsorganisationen Unter- ten führt. stützung zu erhalten und als Diplomaten nicht als Auch die periodisch aufbrechenden Debat- „abgeschoben“ zu gelten. ten über die Geschichte des Zweiten Weltkrieges Aber auch politische Akteure in der Region verbinden und entzweien die kroatische und ser- wissen die Krisen- und Konfliktrhetorik für sich bische Öffentlichkeit. Aber auch die kroatische zu nutzen. Sie malen die Gefahr vor Feinden im Gesellschaft selbst ist diesbezüglich in ein säku- Inneren und Äußeren an die Wand, drohen mit ra- lar-fortschrittliches und ein katholisch-konserva- dikalen Schritten und spielen sich damit gegensei- tives Milieu gespalten: Die Linke betrachtet das tig den Ball in die Hände. Dabei haben sie weder faschistische Regime der Ustascha als von außen ein Interesse an einem offenen Konflikt noch die gesteuerten Fremdkörper im kroatischen Volk. Mittel dazu. Ihre Rhetorik soll vielmehr die Bür- Die „guten Kroaten“ kämpften mit Tito – und gerschaft beunruhigen. Gelingt dies, schart sie sich sicherten so die Existenz der kroatischen Teilre- hinter die politische Führung und sieht darüber publik. Für die Rechte ist die jugoslawische Idee hinweg, dass deren Engagement maßgeblich darin die eigentliche Bedrohung, denn sie erblickt da- besteht, Privilegien und Pfründe zu sichern. Wenn rin „die Fratze des Großserbentums“. Dem Usta- dann internationale Medien und Nichtregierungs- scha-Regime hält sie zugute, den Willen zum ei- organisationen noch von neu aufflammendem Na- genen Staat verkörpert zu haben. tionalismus und altem ethnischen Hass schreiben, geht die Rechnung für alle Beteiligten auf. ZWISCHEN INTERESSEN Trotz all dieser Vorbehalte gibt es Risiken UND REALITÄTEN einer Destabilisierung im postjugoslawischen Raum. Sie haben ihren Ursprung aber weniger in Im Lichte dieser Ausführungen ist für die Beant- wortung der Frage, ob die postjugoslawischen 11 Kosovo ist natürlich ein Grenzfall, in dem sich Albanosphäre Staaten eine Region bilden, eine Unterschei- und Jugosphäre überlappen.

08 Jugoslawien APuZ der Region selbst, sondern kommen von außen. der Mauer, das Ende der So­wjet­union und den Nach über zehn Jahren „Erweiterungsmüdig- Triumph des Westens erklären. Jugoslawien hat- keit“ ist die EU als Ordnungsmacht geschwächt. te seine geopolitische Rolle als blockfreie Füh- Die Zugkraft, die das Beitrittsversprechen für rungsmacht verloren, die Krise des Sozialismus die Transformation der Kandidatenländer zu de- und Brüssels Attraktivität als Zentrum eines ge- mokratischen Rechtsstaaten einst entfaltete, hat samteuropäischen Projekts untergruben die ideo- nachgelassen. Stattdessen sind die divergieren- logische Basis von Titos Vielvölkerstaat. den Einflüsse einiger Hauptstädte wichtiger ge- Bisher kompensierten Bosnien-Herzegowina, worden: Nicht nur, als es um die Migrationspo- Mazedonien und Kosovo ihre Legitimitätspro- litik entlang der sogenannten Balkanroute ging, bleme mit der Perspektive auf eine EU-Mitglied- erwarteten Berlin, Wien und Budapest Wider- schaft und die damit assoziierten Gewinne an sprüchliches von den Balkanstaaten. Wohlstand und Sicherheit. Zerschlagen sich die- Und dann sind da freilich noch die alt-neu- se Hoffnungen, werden alternative Projekte zur en Akteure im great game um den Balkan. Russ- Ordnung der Region wieder attraktiv: „Groß-Al- land hat – wenn auch erfolglos – versucht, die banien“ oder „Groß-Serbien“. Integration Montenegros in die Nato zu verhin- Aber auch wenn der Einfluss der EU abge- dern. In weiten Teilen der serbischsprachigen nommen hat, hält sie doch immer noch die bes- Bevölkerung, aber auch im deep state der serbi- ten Karten in der Hand. Ihre Krise ist auch eine schen Geheimdienste, genießt der Kreml große Chance für den Westbalkan. Die sich abzeich- Sympathien. Die türkische Regierung exportiert nende institutionelle Vertiefung der Eurozone den Konflikt zwischen ihrem Präsidenten Recep wird das Modell eines „Europa der verschiede- Tayyip Erdoğan und dem Geistlichen Fethul- nen Geschwindigkeiten“ akzentuieren. Die Hür- lah Gülen nach Bosnien-Herzegowina, Maze- den für einen Beitritt in eine Zweiklassenunion donien, Kosovo und Albanien, indem sie diese dürften für die postjugoslawischen Staaten über- Staaten ultimativ auffordert, Gülen-Schulen zu schreitbarer werden. Zudem gewinnt in Brüssel schließen. Aber Sympathisanten und Angehöri- und den interessierten Hauptstädten die Betrach- ge des religiösen Netzwerks sind längst Teil der tung der Region als Ganze an Bedeutung. Da und lokalen Eliten. Schließlich erschwerten die vie- dort wird auch schon über die Aufgabe des Re- len Unbekannten zu Begin von Donald Trumps gattaprinzips nachgedacht, dem zufolge die An- US-Präsidentschaft das Kalkül über die Zukunft näherung an die EU ausschließlich aufgrund der Region. Die Kosovo-Albaner fürchteten, dass der Reformleistungen eines Staates stattfindet. die langjährige Protektorin USA ihre schützen- Eine Abkehr von diesem Prinzip scheint durch- de Hand über dem ungefestigten Staatswesen aus sinnvoll, wenn man in Rechnung stellt, dass zurückziehen könnte, während manche Serben der individuelle EU-Beitrittsprozess in manchen hofften, eine Rückkehr der abtrünnigen Provinz Staaten und Gesellschaften viel weniger verändert sei möglich. hat, als es sich die Vertreter der Transitionsideo- logie einst erhofft hatten – man blicke nur nach FAZIT Bulgarien oder Rumänien. Dagegen würde ein gemeinsames europäisches Dach über den post- Der Balkan als Pulverfass ist ein schiefes Bild. Die jugoslawischen Staaten unbestreitbar ein Bei- Region ist vielmehr ein Echoraum, der die Kri- trag zur Sicherheits- und Friedensarchitektur des sen in seinem Umfeld reflektiert und manchmal Kontinents bedeuten. Denn diese Länder werden auch verstärkt. Das ist nicht neu: Die Balkankrie- sich auch in Zukunft verbunden bleiben – sei es ge 1912/13 waren eine direkte Reaktion auf den durch Konflikt oder Kooperation. Zerfall des Osmanischen , das seine Rolle als Ordnungsmacht verloren hatte. Der anschlie- ßende Konflikt zwischen Serbien und der öster- reichischen Kolonialmacht in Bosnien war 1914 lediglich die Zündschnur, die das Pulverfass Eu- ANDREAS ERNST ropa zur Explosion brachte. Und auch der Zu- ist promovierter Historiker und Südosteuropa- sammenbruch des sozialistischen Jugoslawien in Korrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung“. den 1990er Jahren lässt sich nicht ohne den Fall [email protected]

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VERLORENE STRAHLKRAFT? Die Nachfolgestaaten Jugoslawiens zwischen EU, Russland und Türkei

Vedran Džihić

Es war 1980, vor mehr als 37 Jahren, als die Euro- Jugoslawiens die Verheißung eines besseren Le- päische Gemeinschaft und die Sozialistische Föde- bens. Nach 15 Jahren der Annäherung liegt der rative Republik Jugoslawien das erste umfassende Zeithorizont für einen möglichen EU-Beitritt Kooperationsabkommen unterzeichneten. Jugosla- jedoch für Menschen mittleren Alters in Bosni- wien war damals unter den Staaten des östlichen Eu- en-Herzegowina, Kosovo oder Mazedonien fast ropas am weitesten entwickelt und hatte die besten schon außerhalb ihrer eigenen Lebensspanne. So Voraussetzungen für einen Vollbeitritt zur Europäi- müssten die Volkswirtschaften der sechs Staaten schen Gemeinschaft. In den 1980er Jahren geriet der des sogenannten Westbalkan – der im EU-Sprach- Vielvölkerstaat jedoch in eine tiefe Krise, die in den gebrauch die verbleibenden postjugoslawischen 1990er Jahren in Krieg und Staatszerfall mündete. Nicht-EU-Mitgliedsstaaten Bosnien-Herzego- Als die EU auf dem Gipfel von Thessaloniki wina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und 2003 den Nachfolgestaaten Jugoslawiens das Ver- Serbien sowie Albanien umfasst – bis Ende der sprechen gab, in absehbarer Zeit volle Mitglieder 2030er Jahre jährlich um mindestens sechs Pro- einer florierenden Union werden zu können, ver- zent wachsen, um wirtschaftlich zum EU-Durch- körperte sie für deren gebeutelte Bevölkerungen schnitt aufzuschließen; derzeit liegen die Wachs- alles, wonach sie sich sehnten – Stabilität, Wohl- tumsraten zwischen zwei und drei Prozent. 01 stand, Prosperität. Die Strahlkraft der EU ver- Immer mehr Menschen stellen daher den mochte sie dazu zu motivieren, den Reformkurs EU-Beitritt als unumstößliches Ziel infrage. So einzuschlagen, der einmal in die EU führen soll- stimmen etwa 32 Prozent der Serbinnen und Ser- te. Das war jedoch einige Jahre vor den geschei- ben, 28 Prozent der Mazedonierinnen und Ma- terten EU-Verfassungsreferenden in Frankreich zedonier und 33 Prozent der Bürgerinnen und und den Niederlanden und vor dem Beginn der Bürger von Bosnien-Herzegowina der Aussage langen Krisenkette – von der Finanz- und Wirt- zu, dass ihre Länder nie der Europäischen Union schaftskrise über die Griechenland- und Euro- beitreten werden. 02 Die Umfragen, die seit Jah- Krise bis hin zur sogenannten Flüchtlingskrise ren die Unterstützung für die Europäische Uni- und dem Brexit. Die heutige EU ähnelt der Uni- on und für einen Beitrittsprozess in der Region on des Jahres 2003 kaum noch. Sie kriselt, und messen, spiegeln eine zunehmende EU-Skepsis mit ihr das einst strahlende Vorbild. wider. Hatte man noch in den 2000er Jahren in Auch wenn mit Slowenien und Kroatien heu- allen Staaten des Westbalkan Zustimmungsraten te zwei der ehemaligen jugoslawischen Teilrepu- über 70 oder 80 Prozent, sind diese in den ver- bliken Mitglieder der Europäischen Union sind, gangenen Jahren kontinuierlich gesunken. 2016 scheinen die übrigen postjugoslawischen Staaten waren in der gesamten Region 39 Prozent der der EU heute nicht näher zu sein als das damalige Meinung, dass die Europäische Union „eine gute Jugoslawien der EG – zugunsten alt-neuer Player Sache“ sei. 36 Prozent meinten, dass sie weder auf dem Balkan. gut noch schlecht sei, während 20 Prozent der Meinung waren, dass eine EU-Mitgliedschaft BEGEISTERUNG WEICHT SKEPSIS „schlecht“ wäre. In Serbien, Montenegro und Bosnien-Her- Nach wie vor ist die Europäische Union für vie- zegowina ist die EU-Skepsis am stärksten ausge- le Bürgerinnen und Bürger der Nachfolgestaaten prägt: In Serbien schätzten 2016 beispielsweise

10 Jugoslawien APuZ nur 21 Prozent der Befragten eine EU-Mitglied- gen Putin in Moskau und warben in der heißen schaft positiv ein, während 31 Prozent expli- Wahlkampfphase mit seiner Unterstützung für zit der Meinung waren, dass eine EU-Mit- ihren politischen Kurs. gliedschaft für Serbien schlecht wäre. Ähnlich Umgekehrt ist in jüngster Zeit immer wie- niedrige Zustimmungsraten hat die Europäische der eine mehr oder weniger direkte Einmischung Union auch im serbisch besiedelten Teil von Russlands in die innenpolitischen Angelegenhei- Bosnien-Herzegowina, in der Republika Srps- ten einzelner Staaten der Region zu beobachten. ka. In den albanischsprachigen Staaten, also in So gab es zum Zeitpunkt der Parlamentswahlen Kosovo und Albanien, ist die Zustimmung we- in Montenegro im Oktober 2016 eine heftige De- niger stark rückläufig, und auch in Mazedonien batte über einen Putschversuch, der Quellen der überwog 2016 noch knapp die Anzahl jener, die montenegrinischen Regierung zufolge von russi- die EU befürworten. schen Stellen geplant worden war. Hintergrund war die bevorstehende und mittlerweile erfolg- NEUE VORBILDER te Aufnahme Montenegros in die Nato, ein von Russland als feindlich angesehener Akt. Russland Gleichzeitig scheint sich in denselben Staaten unterstützte auch offen den mittlerweile abge- eine Hinwendung zu anderen für die Region re- wählten ehemaligen mazedonischen Premiermi- levanten geopolitischen Akteuren zu vollziehen. nister Nikola Gruevski, der mit seiner Weigerung, So schätzten in Serbien Anfang 2017 61 Pro- eine neue sozialdemokratisch geführte Regierung zent der Befragten den Einfluss Russlands als in Skopje zu akzeptieren, Mazedonien im April sehr positiv für das Land ein, und 32 Prozent 2017 an den Rand eines Krieges gebracht hatte. gaben an, einen Beitritt Serbiens zu einer Eu- Auch die Rolle eines von Russland unterhaltenen roasiatischen Union unter russischer Führung „Humanitären Zentrums“ in der südserbischen zu begrüßen, während 35 Prozent den Einfluss Stadt Niš, das mit Know-how und technischer Deutschlands positiv sahen und sich nur fünf Unterstützung bei der Bewältigung von Natur- Prozent für eine Mitgliedschaft in der Nato aus- katastrophen helfen soll, wird im Zusammenhang sprachen. 03 In Kosovo hingegen sind mehr als mit Spionagevorwürfen kontrovers diskutiert. 04 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger für ei- Kurzum, Russland nutzt die Gelegenheiten, um nen Beitritt zur Nato. sich in der Region als Gegensatz zu EU und Nato In Politiker-Popularitätsrankings in Serbien zu profilieren. und der Republika Srpska ist der russische Präsi- In den muslimisch besiedelten Gebieten der dent Wladimir Putin mit Raten von über 70 Pro- Region, in Bosnien-Herzegowina, Albanien und zent Spitzenreiter. Im öffentlichen Diskurs und Teilen von Mazedonien und Serbien, führt der im politischen Leben wird die Nähe Russlands türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die und zu Putin offen gesucht und instrumentali- Liste der populärsten Persönlichkeiten an. Zwi- siert. So besuchten beispielweise sowohl der Prä- schen den bosnischen Muslimen, den Bosniaken, sident der Republika Srpska, Milorad Dodik, als und der Türkei sind die geschichtlichen und kul- auch der ehemalige Regierungschef und mittler- turellen Verbindungen ohnehin besonders eng. weile Präsident Serbiens, Aleksandar Vučić, weni- Aktuell ist es jedoch vor allem die Sehnsucht nach ge Tage vor den für sie entscheidenden Wahlgän- Anerkennung und Geltung der in ihrer Selbst- wahrnehmung marginalisierten Bosniaken, die eine emotional aufgeladene und bisweilen irrati- 01 Vgl. Tobias Flessenkemper/Dušan Reljić, EU-Erweiterung: Ein onale Bindung zur heutigen Türkei aufrechter- Sechs-Prozent-Ziel für die Westbalkanstaaten, 23. 6. 2017, www. hält, wo Erdoğan Macht und Größe eines selbst- swp-berlin.org/kurz-gesagt/eu-erweiterung-ein-sechs-prozent-ziel- fuer-die-westbalkanstaaten. bewussten Staates heraufbeschwört. Wie stark die 02 Für alle Umfragedaten im Text vgl. Regional Cooperation Loyalität zur Türkei und zu Erdoğan ist, zeigt Council, Balkan Opinion Barometer 2016: Public Opinion Survey, etwa die begeisterte Reaktion des bosniakischen Sarajevo 2016. 03 Vgl. Beogradski centar za bezbedonosnu politiku: Stavovi gradjana o spojnjoj politici Srbije (Die Einstellung der Bevölkerung 04 Vgl. The Economist, Moscow Is Regaining Sway in the Balkans, Serbiens zur serbischen Außenpolitik), 8. 3. 2017, www.bezbed- 25. 2. 2017, www.economist.com/news/europe/​21717390-aid- nost.org/upload/document/stavovi_graana_o_spoljnoj_politi- warplanes-and-aganda-convince-serbs-russia-their-friend-moscow- ci_srbije.pdf. regaining-sway.

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Vertreters im dreiköpfigen Staatspräsidium Bos- vielen auf dem Balkan. Dies erklärt die Wert- nien-Herzegowinas, 05 Bakir Izetbegović, auf den schätzung, die Erdoğan und Putin dort entge- Ausgang des Verfassungsreferendums in der Tür- gengebracht wird. kei im April 2017: „Das wird meiner Meinung nach die Türkei stabilisieren und sie zu einer DEMOKRATISCHE REGRESSION noch mächtigeren regionalen Macht machen. Die UND NEUE AUTORITÄRE Türkei spielt eine sehr stabilisierende und positi- TENDENZEN ve Rolle in diesem Teil der Welt, und ich bin der Meinung, dass eine starke Führung in der Türkei Die zitierten Statistiken sowie die beschriebenen gut ist.“ 06 Wie auch der albanische und der pakis- Entwicklungen in den Beziehungen der Staaten tanische Premierminister war Izetbegović im Mai der Region zu Russland und der Türkei zeugen 2016 unter den Hochzeitsgästen von Erdoğans von einer zunehmenden Skepsis gegenüber der Tochter. 07 Europäischen Union als primäres oder alleini- Die Türkei hat den Balkan in den vergange- ges role model. Wird die Annäherung an Europa nen zwei Jahrzehnten „wiederentdeckt“. Vor gleichgesetzt mit dem Prozess der Demokrati- dem Hintergrund der gemeinsamen Geschichte sierung der postjugoslawischen Gesellschaften, und der starken kulturellen und identitären Ver- dann ist die logische Schlussfolgerung, dass auch bindung zwischen den muslimischen Bevölke- der Demokratie als Gesellschaftsform auf dem rungen der Region und der Türkei ist im Zuge Westbalkan immer mehr Misstrauen entgegenge- des wirtschaftlichen Aufstiegs des Landes seit den bracht wird und die Bereitschaft steigt, andere – 2000er Jahren und dem neuen türkischen Selbst- illiberale oder autoritäre – Herrschaftsformen zu bewusstsein die symbolische Strahlkraft der Tür- akzeptieren. In der Tat zeigt sich in allen verglei- kei im Westbalkan gewachsen, obgleich sie wie chenden Untersuchungen zum Zustand der De- auch Russland weder wirtschaftlich noch (sicher- mokratie in der Region eine eindeutig regressive heits)politisch der dominante Player in der Regi- Tendenz. on ist – türkische und russische Investitionen sind Die Balkans in Europe Policy Advisory beispielsweise im Vergleich zu jenen aus Deutsch- Group schlussfolgerte in ihrem Bericht aus dem land und Österreich sehr viel kleiner. 08 Frühjahr 2017: „Democracy in the Western Bal- Auch auf der Ebene des Regierungsstils kor- kans has been backsliding for a decade. There is relieren die Entwicklungen und Präferenzen in no single turning point for the entire region, but Russland und der Türkei mit denen der West­ the downward spiral began a decade ago, and ac- balkanstaaten.­ Hier nährt sich ein tief verwur- celerated with the economic crisis in 2008 and zelter autoritärer Code aus Versatzstücken von multiple crisis within the EU that distracted the Patriarchalismus und Machismus, Traditiona- Union from enlargement.“ 09 lismus, der Sehnsucht nach starken Führungs- Laut einer aktuellen Untersuchung des Pew persönlichkeiten und einem wiedererstarkten Research Center zu Zentral- und Osteuropa Nationalismus. Erdoğan bedient diesen ebenso sind in Serbien nur 25 Prozent der Bürgerinnen perfekt wie Putin. Das Bild des starken Mannes, und Bürger davon überzeugt, dass Demokra- der den anderen zeigt, wo es lang geht, und den tie die beste Regierungsform ist, während zu- anderen Mächtigen der Welt trotzt, imponiert gleich 28 Prozent meinen, dass unter bestimm- ten Umständen nichtdemokratische Regierungen besser sind, und weiteren 43 Prozent die Regie- 05 Die Präsidentschaft von Bosnien-Herzegowina besteht aus rungsform vollkommen gleichgültig ist. 10 Auch drei direkt gewählten Mitgliedern, die laut Verfassung jeweils aus die Daten von Nations in Transit oder des Ber- den drei größten Volksgruppen des Landes (Bosniaken, Kroaten und Serben) stammen müssen. telsmann-Transformationsindex deuten auf eine 06 Zit. nach Radio Slobodna Evropa, Vraća li se Turska neootoman­ ­ skim ambicijama na Balkan? (Kehrt die Türkei mit neo-ottomatischen 09 Balkans in Europe Policy Advisory Group, The Crisis of Demo- Ambitionen auf den Balkan zurück?), 17. 4. 2017, www.slobodnaev- cracy in the Western Balkans. Authoritarianism and EU Stabilito- ropa.org/a/turska-refrendum-balkan/​28434948.html. cracy, Belgrad 2017. 07 Vgl. Miljenko Jergovic, Is Europe Losing the Balkans?, in: New 10 Vgl. Pew Research Center, Religious Belief and National Belong- Eastern Europe 3–4/2017, S. 7–14. ing in Central and Eastern Europe, 10. 5. 2017, www.pewforum.​org/​ 08 Vgl. Alida Vračić, Turkey’s Role in the Western Balkans, Stif- 2017/​05/​10/religious-belief-and-national-belonging-in-central-​and- tung Wissenschaft und Politik, Berlin 2016. eastern-europe.

12 Jugoslawien APuZ kontinuierliche Erosion der demokratischen Ent- Vučić oder auch kosovo-albanische Politiker wicklung in der Region hin. 11 Dieser Befund spie- mit einer Vergangenheit in der Befreiungsarmee gelt sich in den autoritären Tendenzen wider, die Kosovos (UÇK) bemühen sich, ihre bescheidenen seit einigen Jahren in fast allen Nachfolgestaaten Hintergründe hervorzuheben und sich als Men- Jugoslawiens auszumachen sind. schen des Volkes zu präsentieren. Gleichzeitig be- anspruchen sie für sich auch die Definitionsho- NATIONALISTISCHE heit darüber, wer das „wirkliche“ Volk ist – seien MOBILISIERUNG DURCH es nun authentische Albaner, echte Serben, wah- „STARKE MÄNNER“ re Bosniaken, stolze Montenegriner oder Kosova- ren. Diese politische Polarisierung teilt die Gesell- So wächst in der gesamten Region die Dominanz schaft entlang eines Freund-Feind-Schemas, durch des „starken Mannes“ an der Spitze des Staates. das jeglicher Dissens und eine noch so zurückhal- Dabei sind neue Formen des Machtpragmatis- tende Kritik an der Regierungspartei als Verrat an mus zu beobachten, hinter denen sich einerseits „der nationalen Sache“ delegitimiert und teilwei- das Bedürfnis nach dem Schutz der angehäuften se kriminalisiert wird. Auf diese Art und Weise Privilegien sowie andererseits eine deutlich nar- schaffen es Führungspersönlichkeiten wie Vučić zisstische bis hin zu messianische Selbstwahrneh- in Serbien oder Izetbegović in Bosnien-Herzego- mung der politischen Führungspersönlichkeiten wina immer wieder, die Kritik der Opposition an verbirgt. ihrer Regierungsweise abzuschmettern. In Serbien veröffentlichte das Wahlkampf- team des ehemaligen Premierministers Alek- KRISE ALS sandar Vučić kurz nach der Ankündigung sei- HERRSCHAFTSELEMENT ner Kandidatur für das Amt des Präsidenten Anfang 2017 einen Videoclip, der den Takt für Das Szenario einer Bedrohung von außen be- die Kampagne vorgeben sollte. Darin ist Vučić dient den Eindruck einer permanenten Krise, der schlafend in einem Flugzeug zu sehen, während angesichts der Häufung der konflikthaften Situ- zwei Piloten über die Flugrichtung streiten. Als ationen in der Region in den vergangenen Jahren sie in ihrer Auseinandersetzung wild am Steu- ohnehin verbreitet ist. erknüppel herumreißen und das Flugzeug und So war auf dem Höhepunkt der sogenann- die Passagiere in heftige Turbulenzen bringen, ten Flüchtlingskrise 2015, als ein Großteil der wacht Vučić auf. Augenblicklich beruhigt sich Flüchtenden über die „Balkanroute“ den Weg die Lage, und mit sanfter Stimme verkündet der in die Europäische Union suchte, von einem re- eben noch schlummernde Passagier, dass es ei- gelrechten Handelskrieg zwischen Kroatien und nen klaren und eindeutigen Kurs für den Serbi- Serbien die Rede. Gleichzeitig eskalierte die Si- en-Flieger brauche und nur er allein das Land tuation in Mazedonien: Nach einer umstritte- auf den richtigen Weg bringen könne. 12 Die Bot- nen Polizeiaktion gegen eine Gruppe bewaffne- schaft ist klar: Der Steuerknüppel bleibt in einer ter Albaner in Kumanovo nahe der Grenze zu festen und stabilen Hand. Serbien, bei der fast zwei Dutzend Menschen ihr Die „starken Männer“ am Balkan sind alle- Leben verloren, heizte der damalige Premiermi- samt geschickte Rhetoriker. Sie geben sich als nister Nikola Gruevski mit nationalistischen Pa- Pragmatiker, die alles dem Fortschritt unterord- rolen die Spannungen zwischen der slawischen nen. Parallel dazu pflegen sie einen Diskurs der Bevölkerungsmehrheit und der albanischen Min- ständigen Bedrohung durch andere beziehungs- derheit an, um Erstere für seine Politik zu mo- weise von außen, gewürzt mit einer ordentlichen bilisieren. In Kosovo zieht sich ein tiefer Graben Prise Nationalismus, die stets auch ein Gefühl der zwischen Regierung und Opposition. Seit 2015 Viktimisierung transportiert. hat die Opposition im Parlament wiederholt Trä- nengas gezündet und den Protest auf die Straßen getragen. 2015 kochte auch in Bosnien-Herzego- 11 Vgl. Freedom House, The False Promise of Populism. Nations wina der schwelende Konflikt zwischen den bei- in Transit 2017, Washington D. C. 2017, freedomhouse.org/​ report/nations-transit/nations-transit-2017; Bertelsmann Stiftung, den Entitäten Republika Srpska und Föderation Transformation Index BTI 2016, www.bti-project.org/de/startseite. von Bosnien und Herzegowina zum wiederhol- 12 Für den Clip siehe www.youtube.com/watch?v=xnm2djbelDw. ten Mal hoch, als der Präsident der Republika

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Srpska, Milorad Dodik, mit einem Referendum ser Kampagne. Zuletzt eskalierte die Rhetorik im über eine Abspaltung von Bosnien-Herzegowi- August 2017, als die serbische Regierung ohne na drohte. In Serbien befindet sich Vučić seit Jah- nähere Erklärung ihr gesamtes Botschaftsperso- ren in einem selbstinszenierten Dauerwahlkampf. nal aus Mazedonien abzog. Im Nachhinein such- Hinzu kommen auf regionaler Ebene eine Reihe te Serbien – auch auf Druck aus Brüssel – wieder dramatischer Affären – sei es jene mit dem serbi- den Dialog zu Mazedonien. schen Personenzug mit der mehrsprachigen Auf- Zurück bleibt der Eindruck einer künstlich schrift „Kosovo ist Serbien“, der auf dem Weg herbeigeführten Krise, in der metaphorisch ge- nach Kosovo aufgehalten wurde, oder jene rund sprochen jener, der den Brand gelegt hat, vorgibt, um die Verhaftung des Vorsitzenden der Allianz ihn zu löschen, um sich als Retter in der Not zu für die Zukunft Kosovos, Ramush Haradinaj, der inszenieren. Bei dieser Strategie greifen die jewei- in Frankreich aufgrund eines serbischen Haft- ligen Regierungsparteien auch auf die Medien zu- befehls wegen angeblich neuer Beweise für sei- rück, die sie im Zuge ihres Machtausbaus zuneh- ne Beteiligung an Kriegsverbrechen während des mend kontrollieren. Kosovokrieges festgenommen wurde. Wie diese krisenhafte Stimmung in der Regi- PARTEIEN ALS on auf nationaler Ebene instrumentalisiert wird, INTERESSENMASCHINEN zeigen etwa die jüngsten Entwicklungen in Ma- zedonien. Am 27. April 2017 stürmte nach der Ein weiteres zentrales Muster autoritären Re- Wahl eines Albaners zum Parlamentspräsiden- gierens zeigt sich in der Informalität, mit der ten durch die neue Regierungsmehrheit ein Mob die wirtschaftlichen Interessen der regierenden aus Anhängern des langjährigen mazedonischen Parteien durchgesetzt werden. Um die Herr- Regierungschefs Nikola Gruevski das Parla- schaft und Loyalität abzusichern, setzt man in ment in Skopje, verletzte den Parteichef der So- den Nachfolgestaaten Jugoslawiens in der Re- zialdemokratischen Partei Mazedoniens, Zoran gierungspraxis zunehmend auf informelle Be- Zaev, sowie weitere Parlamentarier. Nach dieser ziehungen und Abhängigkeiten, durch die die Gewalt­eskalation warfen sowohl ehemalige Mit- Institutionen erodieren und Bürgerrechte un- glieder des abgelösten mazedonischen Regimes terwandert werden. 13 In einem solchen System als auch serbische Medien den Sozialdemokraten zählt dann die persönliche Treue, die auf ma- vor, ihre Machtübernahme durch einen Schulter- terieller Abhängigkeit, Familienbanden, Clan- schluss mit den Albanern vorbereitet und damit Zugehörigkeit, ethnischer Herkunft oder Re- slawisch-mazedonische Nationalinteressen ver- ligion beruht, als Grundlage der Macht. Auf raten zu haben. Der vermeintliche Zusammen- Basis persönlicher Treue zur Führungsfigur oder hang von angeblichen Kompromissen zugunsten zur dominanten Partei entstehen klientelistische der Albaner und einem Sturz der Regierung gilt Beziehungsgeflechte. seither vor allem in Serbien als gefährlich. Dort Die Regierungsparteien sind nicht nur Struk- geisterte im Anschluss das „mazedonische Sze- turen, um Macht zu organisieren und politische nario“ als Schlagwort durch Politik und Medien, Interessen zu vertreten – sei es die Serbische Fort- und die politische Rhetorik suggerierte, dass die schrittspartei in Serbien, die Demokratische Par- „mazedonische Frage“ eine große Bedrohung für tei der Sozialisten in Montenegro, die bosniakisch den Frieden in der Region darstelle. dominierte Partei der demokratischen Aktion in Dahinter steckt die Furcht vor gegen Serben Bosnien-Herzegowina oder ihr serbisches bezie- gerichteten „großalbanischen“ Ambitionen. Die hungsweise kroatisches Pendant Allianz der un- Aussagen albanischer Politiker wie des Minister- abhängigen Sozialdemokraten und Kroatische präsidenten Albaniens, Edi Rama, oder des Pre- Demokratische Union in Bosnien und der Herze- mierministers von Kosovo, Ramush Haradinaj, gowina, sei es die Demokratische Partei Kosovos, die sich gegen jegliche Einmischung aus Serbi- die Allianz für die Zukunft Kosovos oder ehe- en verwehrten, verstärkten in der serbischen Öf- mals die Innere Mazedonische Revolutionäre Or- fentlichkeit den Eindruck, dass eine neue offensi- ve (groß)albanische Front gegen Serbien entstehe 13 Vgl. Christian Giordano/Nicolas Hayoz (Hrsg.), Informality in und das Land bedroht werde. Serbiens Präsi- Eastern Europe. Structures, Political Cultures, and Social Practices, dent Vučić beteiligte sich selbst intensiv an die- Bern 2013, S. 11 f.

14 Jugoslawien APuZ ganisation – Demokratische Partei für Mazedo- Eine banale Einsicht ist wohl jene, dass es für nische Nationale Einheit (VMRO-DPMNE). Sie Politiker dieses Schlags mit einer schwachen EU fungieren auch als klientelistische Netzwerke, die einfacher ist, die eigene Klientel zu bedienen. Mal die öffentlichen Güter und staatlichen Ressour- kann man sich rhetorisch Richtung Brüssel ver- cen verteilen, die sie kontrollieren. Immer stärker neigen, mal die autoritäre Erdoğan- oder Putin- wird dies zur Grundlage der Legitimationsstrate- Schiene fahren. In dieser politischen Beliebigkeit gien der einzelnen Parteien. verkommt Politik zu einem Spektakel ohne er- Bei der informellen Umverteilung von staat- kennbare Richtung und Programmatik. lichen Ressourcen innerhalb der von der Regie- Man kann aber in all diesen Aussagen Symp- rungspartei dominierten klientelistischen Netz- tome dafür sehen, dass in Zeiten politischer Span- werke spielen insbesondere Infrastruktur- und nungen, wenn der Druck seitens der Opposition Bauprojekte eine wichtige Rolle. Beispielhaft zunimmt und der EU-Beitritt in unsicherer Fer- dafür steht sicherlich das von der mazedoni- ne scheint, auch Pragmatiker wie Edi Rama oder schen VMRO-DPMNE ab 2010 realisierte Me- Aleksandar Vučić gerne zu populären und bis- gabauprojekt „Skopje 2014“. Der Wiederaufbau weilen populistischen Äußerungen greifen. Trotz des Zentrums der mazedonischen Hauptstadt des formalen EU-Pragmatismus darf dabei eine entlang der imaginierten Vorstellung Mazedo- Breitseite gegen die Europäische Union oder ein- niens als Wiege der antiken Kultur kostete bis zelne EU-Mitgliedsstaaten nicht fehlen. Dies ist heute laut Schätzungen des Balkan Investigati- allerdings nur solange möglich, wie die Erweite- ve Reporting Network (BIRN) etwa 670 Milli- rungspolitik nicht zu den Prioritäten in Brüssel onen Euro. Von dieser Summe sind große Teile gehört. einfach verschwunden. Wie das BIRN auf seiner Insofern hat die tiefe Krise der EU-Erweite- Webseite und mithilfe der interaktiven Internet- rung durch den derzeit prominenten türkischen Plattform „Skopje 2014 Uncovered“ aufzeigt, Fall sicherlich auch negative Auswirkungen auf war dieses Projekt vor allem ein zentrales Vehi- die Lage in der Region und begünstigt autoritäre kel zur Neuverteilung der öffentlichen Ressour- Tendenzen und die Hinwendung einzelner Staa- cen Mazedoniens an VMRO-DPMNE-nahe­ ten zu Russland und der Türkei. Aus dieser Per- Unternehmen. spektive ist die Europäische Union im Westbal- kan längst zum Teil des Problems geworden. DIE EU ALS TEIL DES PROBLEMS?

Im Lichte dieser Entwicklungen stellt sich die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen der nachlassenden Strahlkraft der Europäischen Uni- on und den autoritären Tendenzen in der Region gibt. Was kann Brüssel für eine positive Trend- wende auf dem Westbalkan tun? Die rhetorischen Angriffe und Finessen von Aleksandar Vučić rund um die „Zug-Affäre“ oder das oben diskutierte „mazedonische Sze- nario“ fallen in die Kategorie gekonnt eingesetz- ter machtpolitischer Schachzüge von politerfah- renen „starken Männern“. In dieselbe Kategorie fällt auch das laute Nachdenken des albanischen Premierministers Edi Rama im Frühjahr 2017 über eine „kleine Union“ mit dem Kosovo als Alternative zum EU-Beitritt. Ähnliche rhetori- VEDRAN DŽIHIĆ sche Spielchen macht auch Izetbegović, wenn er ist promovierter Politikwissenschaftler und Erdoğan umschmeichelt, zugleich aber stets be- Senior Researcher am Österreichischen Institut tont, dass das Schicksal Bosnien-Herzegowinas für ­Internationale Politik. in der Euro­päischen Union liege. [email protected]

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KLEINE GESCHICHTE JUGOSLAWIENS Marie-Janine Calic

Am 20. Juli 1917 wurde mit der Deklaration von mungs- und Kulturgemeinschaft, die es wiederzu- Korfu die Gründungsurkunde Jugoslawiens un- beleben gelte. Kernforderungen waren unter ande- terschrieben. Vertreter der Südslawen aus der rem die Schaffung einer einheitlichen illyrischen, Habsburgermonarchie sowie Serbiens erklärten also kroatischen oder südslawischen Literaturspra- darin, „die vereinte Nation der Serben, Kroaten che sowie die politische Vereinigung von Kroatien, und Slowenen“ werde einen gemeinsamen süd- Slawonien, Dalmatien, Slowenien und Bosnien zu slawischen Staat schaffen. Nach Ende des Ersten einem autonomen und fortschrittlichen „Großilly- Weltkrieges rief der serbische Prinzregent Ale- rien“. Auch im benachbarten Fürstentum Serbien, xander Karađorđević am 1. Dezember 1918 feier- das 1830 unter osmanischer Oberherrschaft auto- lich den Staat der Serben, Kroaten und Slowenen nom geworden war, kursierten Vereinigungsideen. (SHS) aus. Die seit 1878 unabhängigen Königrei- Mit dem 1844 verfassten Entwurf „Načertanije“ che Serbien und Montenegro vereinigten sich mit des Politikers Ilija Garašanin entstand das Pro- den von Slowenen, Kroaten, Serben und slawi- gramm, Serbien zum „Piemont“ einer grenzüber- schen Muslimen besiedelten Ländern, die bis da- greifenden südslawischen (oder auch nur „groß- hin zu Österreich-Ungarn gehört hatten. Im Mai serbischen“) Staatsbildung zu machen. 1919 wurde das südslawische Königreich auf der Anfangs war die südslawische Idee in Kro- Pariser Friedenskonferenz völkerrechtlich aner- atien und Serbien ein rein intellektuelles Unter- kannt. 1929 wurde es in „Jugoslawien“ (von süd- fangen. Nationalbewegte Schriftsteller und Ge- slawisch jug für „Süden“) umbenannt. 01 lehrte forschten nach Sprichwörtern, Epen und Märchen, um die Wiedergeburt jenes urzeitlichen JUGOSLAWIEN ALS IDEE südslawischen Volkes voranzutreiben, das sie sich vorstellten. Als tragende Säule der nationalen Ein- Ein politisches Gebilde dieses Namens hatte es vor heit galt die Entwicklung einer gemeinsamen Stan- dem Ersten Weltkrieg nie gegeben. Seit Jahrhun- dardsprache, denn in den kroatischen Ländern, in derten lebten katholische, orthodoxe und musli- Bosnien und der Herzegowina, Serbien und Mon- mische Südslawen, die Slowenen, Kroaten, Serben, tenegro sprach man ähnliche, zum Teil sogar die Bosniaken, Montenegriner und Mazedonier, in ver- gleichen Dialekte. Im Wiener Abkommen legten schiedenen Großreichen unter fremder Herrschaft, der Serbe Vuk Karadžić und der Kroate Ljudevit also unter jeweils ganz unterschiedlichen Politik- Gaj 1850 die Grundlagen des Serbo-Kroatischen und Kultureinflüssen. Jedoch existierten aufgrund beziehungsweise Kroato-Serbischen. Bis nach sprachlicher und kultureller Gemeinsamkeiten Ge- dem Zweiten Weltkrieg ging man von zwei Va- fühle von Verwandtschaft und Zusammengehörig- rianten eines gemeinsamen Sprachstandards aus. keit, die sich bis in die Renaissance zurückverfolgen Heute wird – mehr aus politischen denn linguis- lassen. Im 19. Jahrhundert, als auch Deutsche, Itali- tischen Gründen – zwischen Kroatisch, Serbisch, ener, Polen und andere europäische Völker Einheit Bosnisch und Montenegrinisch unterschieden. und Selbstbestimmung forderten, formierte sich ein In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts südslawischer ­Nationalismus. 02 ging der habsburgische Illyrismus in den Jugo­ Die Vorkämpfer der südslawischen National- slawismus über. Der Patriotismus der Gelehrten bewegung waren die kroatischen „Illyristen“, die verwandelte sich in eine politische Bewegung mit um 1830 in der Habsburgermonarchie aktiv wur- dem Ziel, einen vereinten südslawischen Staat zu den. Sie betrachteten Kroaten, Serben, Monteneg- gründen. Die führenden Köpfe der Bewegung, riner, Slowenen und Bosnier als Nachfahren eines der Bischof von Đakovo, Josip Juraj Strossmayer, vermeintlich südslawischen Urvolkes, der antiken und der Historiker und Theologe Franjo Rački, Illyrer, und mithin als Angehörige einer Abstam- behaupteten, dass katholische Kroaten (und even-

16 Jugoslawien APuZ tuell auch Slowenen) sowie orthodoxe Serben den die Habsburgermonarchie unwiderruflich un- trotz unterschiedlicher Konfessionen eine Nation terging, schuf die Voraussetzungen für die Grün- bildeten. Als deren historisch verbürgte Natio­ dung des südslawischen Staates. Am 28. Juni 1914 nalreligion betrachteten sie das vorschismatische ermordete Gavrilo Princip von der Geheimorgani- Christentum. Die Südslawen waren im 9. Jahr- sation „Junges Bosnien“ den österreichisch-ungari- hundert durch die byzantinischen Slawenapostel schen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Kyrill und Method missioniert worden. Erst im Sophie in Sarajevo. Als bekennende „jugoslawische 11. Jahrhundert hatten sich die westliche (lateini- Nationalisten“ wollten deren Anhänger die öster- sche) und die östliche (orthodoxe) Kirche offizi- reichisch-ungarische Herrschaft zerstören, um die ell gespalten und dadurch die Entwicklung unter- politische Vereinigung mit Serbien voranzutreiben. schiedlicher Konfessionsnationen eingeleitet. Die Waffen erhielten sie von der serbischen Unter- Die kroatischen Jugoslawisten forderten zu- grundorganisation „Schwarze Hand“. 05 nächst ein autonomes südslawisches Königreich Wien nahm den Mord zum Anlass, Serbien als dritte Entität neben Österreich und Ungarn in- ein kaum erfüllbares Ultimatum zu stellen und nerhalb der Habsburgermonarchie. Kaiser Franz ihm einen Monat später den Krieg zu erklären. Joseph und sein Thronfolger Franz Ferdinand wa- Die Regierung in Belgrad, der bis heute keine Ur- ren allerdings strikt dagegen, einen solchen „Tria- heberschaft an dem Attentat nachgewiesen wer- lismus“ ernsthaft in Erwägung zu ziehen oder den den kann, verkündete nun das Ziel, einen „star- auf unterschiedliche Reichsteile zerstreuten Süd- ken südwestlichen slawischen Staat, in den alle slawen wenigstens mehr Rechte zuzugestehen. 03 Kroaten, und alle Serben und alle Slowenen ein- Immer mehr nationalbewegte Kroaten und Slowe- treten“, zu gründen. Allerdings konnte Serbien nen wandten sich deswegen von der Monarchie ab. den Armeen der Mittelmächte nicht dauerhaft Nach 1900 begannen serbische und kroatische standhalten. Während die Angreifer das Land un- Politiker zusammenzuarbeiten, um einen unab- ter sich aufteilten, zogen sich König Peter, seine hängigen jugoslawischen Staat zu gründen. Im Regierung und das Oberkommando der Armee, Gegensatz dazu forderten Anhänger exklusiver gefolgt von mehr als 150 000 Soldaten und Zivilis- großkroatischer und großserbischer National- ten, im Winter 1915/16 an die Adriaküste zurück. staatsideen, die mittelalterlichen Königreiche in Nach dem verlustreichen Marsch durch die alba- ihren historischen Grenzen wiederherzustellen. nischen Berge wurden sie von den Alliierten auf Dadurch wurde die Frage virulent, wem Bosnien die „Rettungsinsel“ Korfu evakuiert. 06 und die Herzegowina zustehe, das mal hier- und Unterdessen hatten serbische, kroatische und mal dorthin gehört hatte. Der integrative Jugosla- slowenische Politiker aus der Habsburgermonar- wismus löste diese Konkurrenz auf, erklärte das chie im November 1914 im Londoner Exil den „Ju- multireligiöse Land später sogar zum „Herzen goslawischen Ausschuss“ gegründet. Sie erklärten Jugoslawiens“. Wissenschaftler, Literaten, Bild- Serben, Kroaten und Slowenen zu „ein- und dem- hauer und Maler gingen folglich daran, die vorge- selben Volk (…) mit drei verschiedenen Namen“ stellte südslawische Nation künstlerisch und lite- und forderten einen jugoslawischen Staat. Wäh- rarisch auszugestalten, unter ihnen der bosnische rend Hunderttausende habsburgische Südslawen Schriftsteller und spätere Nobelpreisträger Ivo noch in der k. u. k. Armee kämpften, unterzeich- Andrić, der kroatische Bildhauer Ivan Meštrović neten der Vorsitzende des Ausschusses, der Kro- und der serbische Geograf Jovan Cvijić. 04 ate Ante Trumbić, und der Ministerpräsident und Aus der anfangs nur von wenigen Gelehrten Außenminister Serbiens, Nikola Pašić, am 20. Juli getragenen südslawischen Idee entwickelte sich ab 1917 die Deklaration von Korfu. Sie kündigte eine der Jahrhundertwende eine nationalistische Mas- konstitutionelle, demokratische und parlamenta- senbewegung. Aber erst der Erste Weltkrieg, durch rische Monarchie unter der in Serbien herrschen- den Dynastie Karađorđević an. Während die un- 01 Vgl. Marie-Janine Calic, Südosteuropa. Weltgeschichte einer Re- terschiedlichen Volksnamen, Religionen, Schriften gion, München 2016; dies., Geschichte Jugoslawiens, München 20142. und nationalen Symbole gleichberechtigt sein soll- 02 Vgl. Dejan Djokić (Hrsg.), Yugoslavism, London 2003. ten, blieb vorerst offen, wie historische, kulturelle 03 Das Gegenteil behauptet Christopher Clark, Die Schlafwand- ler, München 2013. 04 Vgl. Andrew B. Wachtel, Literature and Cultural Politics in 05 Vgl. Vladimir Dedijer, Sarajewo 1914, Wien u. a. 1967, S. 335 ff. Yugoslavia, Stanford 1998. 06 Vgl. Andrej Mitrović, Serbia’s Great War, West Lafayette 2007.

17 APuZ 40–41/2017 und religiöse Eigenheiten der verschiedenen süd- Serben in Regierung und Verwaltung, bei Militär slawischen Gruppen innerhalb der vorgestellten und Polizei deutlich überrepräsentiert. Die Ver- Einheitsnation berücksichtigt werden würden. treter der habsburgischen Landesteile, die schon bei der Staatsgründung für eine föderale Ord- EINHEIT nung votiert hatten, sahen ihren Argwohn gegen- IN VIELFALT über großserbischer Hegemonie nun durch die politische Praxis bestätigt. 07 Aufseiten der Siegermächte setzte sich gegen Als der kroatische Oppositionsführer Stjepan Ende des Krieges die Einsicht durch, dass ein de- Radić 1928 im Parlament ermordet wurde, instal- mokratisches und liberales Jugoslawien besser in lierte König Alexander im Januar 1929 ein dikta- die Nachkriegsordnung passen würde als ein Fli- torisches Regime. Um dem spalterischen „Tribalis- ckenteppich kleinerer Nationalstaaten. Infolge mus“ entgegenzuwirken und die nationale Einheit der Pariser Friedensschlüsse 1919/20 sollten da- zu stärken, verbot er alle Parteien und Vereine, die her sieben historische Entitäten mit ganz unter- ethnisch oder konfessionell ausgerichtet waren. Am schiedlichen Traditionen, Währungs-, Bildungs-, 3. Oktober 1929 ließ er den Staat in „Königreich Infrastruktur- und Rechtssystemen zum „König- Jugoslawien“ umbenennen und nach dem Vorbild der Serben, Kroaten und Slowenen“ ver- der französischen Departements neu gliedern, um, schmelzen. Die Friedensmacher übernahmen die wie er sich ausdrückte, die „nationale Synthese und Deutung, die südslawische Einheitsnation beste- Einheit“ weiter zu festigen. 1931 oktroyierte er he aus drei „Stämmen“ und trage drei Namen. Im eine Verfassung, die es ihm erlaubte, durch Erzie- Unterschied zu heute waren die Montenegriner, hung, Propaganda, Verordnungen und Repression bosnischen Muslime (Bosniaken) und „Südser- den integralen Jugoslawismus nach dem Motto „ein ben“ (Mazedonier) nicht als eigenständige Sub- Volk – ein Nationalgefühl“ mit quasidiktatorischen jekte oder gar als Nationen anerkannt. Sie alle Vollmachten durchzusetzen. 08 sollten zur „dreinamigen“ Titularnation der Ser- König Alexander und der französische Außen- bo-Kroato-Slowenen zählen, die rund 82 Prozent minister Louis Barthou fielen im Oktober 1934 ei- von 12 Millionen Einwohnerinnen und Einwoh- nem Attentat kroatischer Faschisten in Marseille nern stellte. Magyaren, Deutsche, Albaner und zum Opfer. Unter Prinzregent Paul, der anstelle weitere ethnische Gruppen wurden als Minder- des minderjährigen Thronfolgers Peter die Staats- heiten mit verbrieften Rechten anerkannt. führung antrat und eine Koalitionsregierung er- Nach dem Vorbild Großbritanniens und nannte, kam die Königsdiktatur zum Ende. Um Frankreichs erhielt der SHS-Staat 1921 eine zen- dem kroatischen Separatismus entgegenzuwirken, tralistische Verfassung. Sie wurde am Veitstag ver- schuf die jugoslawische Regierung im August 1939 abschiedet, dem Jahrestag der mythenumwobenen ein autonomes kroatisches Verwaltungsgebiet, die Schlacht gegen die Türken auf dem Amselfeld 1389 Banovina (Banschaft). Daraufhin forderten dann und gemeinsamen Symbol für Freiheit und Ein- aber auch Serben, Slowenen und bosnische Mus- heit aller Südslawen. Es galt der Unitarismus nach lime eigene Autonomien. Zu einer umfassenden dem Motto „ein Volk, ein König, ein Staat“. Das Staatsreform kam es jedoch nicht mehr. Staatswappen verschmolz die unterschiedlichen historischen Hoheitszeichen der drei „Stämme“: SOZIALISTISCHE das Kreuz mit den vier Feuerstählen (serbisch), REVOLUTION das rot-weiße Schachbrett (kroatisch) sowie die Mondsichel mit den drei Sternen (slowenisch). Die Am Morgen des 6. April 1941 griff Hitler- Religionen sollten gleichberechtigt sein und eben- Deutschland an, um Jugoslawien „zu zerschla- so die kyrillische und die lateinische Schrift. gen“. Anlass war ein Putsch serbischer Generäle, Die vorgestellte Einheit der jugoslawischen die aus Protest gegen den erzwungenen Beitritt Nation stand allerdings auf tönernen Füßen. Jugoslawiens zum Dreimächtepakt die jugoslawi- Zum einen besaßen Slowenen, Kroaten, Bosni- aken, Mazedonier, Montenegriner und Serben 07 Vgl. Ivo Banac, The National Question in Yugoslavia, Ithaca bereits ein gewisses nationales Eigen- und Ab- 1984, S. 217. grenzungsbewusstsein, das die Idee vom „drei­ 08 Vgl. Christian Axboe Nielsen, Identity in King Aleksandar’s nami ­gen Volk“ überging. Zum anderen waren Yugoslavia, Toronto u. a. 2014, S. 203.

18 Jugoslawien APuZ sche Regierung gestürzt hatten. Die Armee musste um einen sozialistischen Föderalstaat aufzubauen. infolge des deutschen Einmarsches nach wenigen und SS-Einsatzgruppen gingen erbar- Tagen kapitulieren, König und Regierung flohen mungslos gegen beide Gruppen und die Zivilbe- ins Exil. Jugoslawien wurde in Besatzungsgebiete völkerung vor. So befahl der Oberbefehlshaber der aufgeteilt und einer Terrorherrschaft unterworfen. 2. Armee, Maximilian von Weichs, Auf dem Gebiet Kroatiens sowie in Teilen Bos- bereits am 28. April 1941, als Sühne für jeden deut- niens und der Herzegowina entstand der nur dem schen Soldaten, der durch Überfall zu Schaden Namen nach „Unabhängige Staat Kroatien“. Hitler kam, 100 Zivilisten aller Bevölkerungsschichten übergab die Regierung des von deutschen und ita- „rücksichtslos“ zu erschießen und die Leichen öf- lienischen Truppen besetzten Landes der faschisti- fentlich aufzuhängen. Zehntausende fielen Straf- schen Ustascha-Bewegung. Sie baute einen Führer- und Vergeltungsaktionen zum Opfer. 11 Staat nach NS-Vorbild auf und ließ auf deutsches Nachdem Tschetnik-Führer Mihailović aus Geheiß Juden und Roma ermorden. Ihre eige- Angst vor Repressalien seine Aktionen eingestellt ne rassistische Agenda betraf hingegen vor allem hatte und streckenweise sogar zur Kooperation die orthodoxen Serben: Hunderttausende wurden mit den Besatzern übergegangen war, stieg Mar- zwangsweise katholisiert, in Konzentrationslager schall Tito zum alleinigen politisch-militärischen gesperrt, vertrieben oder ermordet. 09 Serbien kam Widerstandsführer auf. Der kroatische Maschi- unter deutsche Militärverwaltung, assistiert durch nenschlosser und Gewerkschafter hatte als Kom- die ultranationalistische Kollaborationsregierung munist Jahre in jugoslawischen Gefängnissen von General Milan Nedić. Den Rest Jugoslawi- gesessen, als Funktionär der Kommunistischen ens teilten die Revisionsmächte Italien, Bulgarien, Partei eine Schulung in der Sowjet­ ­union durch- Ungarn und Deutschland unter sich auf. Überall laufen und 1937 als Generalsekretär die Spitze der wurde die Wirtschaft auf die deutschen Kriegsziele KPJ erklommen. Während die königliche Familie, ausgerichtet. Zehntausende wurden als Zwangsar- die ehemalige Regierung und die wichtigsten Op- beiter ins Reich deportiert. Die Bevölkerung Jugo- positionspolitiker im sicheren Exil saßen, brachte slawiens wurde zudem Opfer der rassischen „Neu- seine multinationale „Volksbefreiungsarmee“ im- ordnungspläne“ Hitlers und seiner Verbündeten. mer größere Gebiete unter Kontrolle. 12 Juden und Roma wurden stigmatisiert, entrechtet, Obwohl die Alliierten den Kommunisten Tito in Lager gepfercht und systematisch ermordet oder 1943 offiziell als Verbündeten anerkannten, leis- bei „Sühneaktionen“ zuerst erschossen. In Serbien teten weder Stalin noch die Westmächte nennens- setzte die SS dafür bereits im Frühjahr 1942 einen werte Militärhilfe. Die Partisanen, die bis Mai Gaswagen ein. Insgesamt fielen bis zu 60 000 von 1945 auf 800 000 Männer und Frauen aller Na- etwa 72 000 Juden der Vernichtung anheim, davon tionalitäten angewachsen waren, konnten Jugo- ein Drittel in deutschen Konzentrationslagern. 10 slawien trotz höchster Verluste dennoch befrei- Bereits im Sommer 1941 traten zwei rivali- en. Bei Kriegsende besaß keine politische Kraft sierende Widerstandsgruppen auf den Plan: die mehr die Glaubwürdigkeit, die Autorität und die kommunistischen Partisanen und die nationalser- Macht, Tito die Führungsrolle im künftigen Ju- bischen Tschetniks. Kämpften beide anfangs ge- goslawien streitig zu machen. meinsam gegen die Besatzer, entwickelten sich Tito betrachtete den „Volksbefreiungskampf“ bald bürgerkriegsähnliche Zustände zwischen von Anfang an auch als Motor, um die sozialis- den ideologischen Gegnern. Die Tschetniks unter tische Revolution voranzutreiben. Im November Dragoljub-Draža Mihailović kämpften für 1943, als die Wehrmacht auch in Jugoslawien be- ein monarchisches und ethnisch homogenes Groß- reits unter erheblichem militärischen Druck stand, serbien, wofür sie massenhaft nichtserbische Be- fasste der Antifaschistische Rat der Volksbefrei- völkerung aus ihren angestammten Siedlungsge- ung Jugoslawiens, eine Art Partisanenparlament, bieten vertrieben. Im Gegensatz dazu propagierte im bosnischen Jajce den Beschluss, Jugoslawien Josip Broz Tito mit seinen multinationalen Partisa- nach Kriegsende als sozialistische Bundesrepublik nen das Prinzip von „Brüderlichkeit und Einheit“, gleichberechtigter Völker wieder aufzubauen. Auf

09 Vgl. Jozo Tomasevich, War and Revolution in Yugoslavia. 11 Vgl. Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Verbre- Occupation and Collaboration, Stanford 2001, S. 366 ff. chen der Wehrmacht, Hamburg 2002, S. 508 ff., S. 550. 10 Vgl. Calic 2016 (Anm. 1), S. 498. 12 Vgl. Jože Pirjevec, Tito. Die Biografie, München 2016.

19 APuZ 40–41/2017 dem Weg dahin rechneten die Partisanen in den Okkupation ausgefochtenen Bruderkrieges be- letzten Kriegsmonaten mit den Truppen der Kol- wältigen. Um das zerrissene Land zu befrieden, laborateure und antikommunistischen „Banden“ wurde der multinationale Partisanenkampf als systematisch ab. Zehntausende wurden durch Gründungsmythos eines neuen, friedlichen Jugos- Standgerichte als Kriegsverbrecher verurteilt und lawien inszeniert. Tatsächlich schien der Hass bald hingerichtet. Als im November 1945 die ersten, vergessen: Fast drei Viertel der befragten Jugosla- kaum als frei und fair zu bezeichnenden Wahlen wen erklärten 1964, ihr Verhältnis zu Angehörigen stattfanden, erhielt Titos „Volksfront“ eine über- anderer Nationalitäten sei gut, weitere acht Pro- wältigende Mehrheit. Am 29. November 1945 rief zent hielten es für befriedigend. Nur 5,3 Prozent das Parlament die Republik aus. äußerten sich negativ, der Rest war unentschieden. Immer mehr Menschen wollten sich schließlich TITOS auch gar nicht mehr ethnisch zuordnen, sondern JUGOSLAWIEN allein als „Jugoslawe“ im staatsbürgerlichen Sinn verstehen. In den 1980er Jahren waren das bis zu Jugoslawien wurde nun zu einer Föderation aus 1,2 Millionen, also über fünf Prozent der Bevölke- sechs Republiken und zwei autonomen Regionen rung. Andererseits blieben vor allem auf dem fla- (später: Provinzen). Slowenen, Kroaten, Serben, chen Land die alten ethnischen Barrieren noch er- Mazedonier und Montenegriner waren als staats- halten. So wurden selbst in den 1980er Jahren noch bildende Nationen anerkannt; in den 1960er Jah- 87,5 Prozent aller Ehen zwischen Partnern ein- ren traten noch die Bosniaken als sechste Nation und derselben Nationalität geschlossen. 15 hinzu. Mehr als 20 weitere Nationalitäten und re- Titos Stellung galt auch deshalb als nahezu un- ligiöse Gruppen erhielten Minderheitenrechte. Die angreifbar, weil er Jugoslawien dem sowjetisch Republiken waren im Präsidium und allen Bun- dominierten Ostblock entwunden hatte. Genauer desorganen paritätisch vertreten; in allen wichti- gesagt ließ Stalin Jugoslawien 1948 aus dem Kom- gen Funktionen galt ein „ethnischer Schlüssel“. munistischen Informationsbüro und Anfang 1949 Tito wurde später Staatspräsident auf Lebenszeit. auch von der Gründung des Rates für gegenseiti- Tito war die Personifizierung des neuen Jugo- ge Wirtschaftshilfe ausschließen. 16 Denn Tito, der slawien. Sein außergewöhnliches politisches Ta- sich Moskaus Vorgaben nie ganz unterworfen hat- lent und sein Charisma, das auch viele ausländi- te, hatte nun sogar begonnen, mit Bulgarien und sche Beobachter rühmten, begründeten eine von Albanien einen Balkanbund zu schmieden. Sta- breiten Teilen der Gesellschaft, der politischen lin, der seinen Einfluss in Südosteuropa gefährdet Klasse und der internationalen Gemeinschaft an- sah, brandmarkte die jugoslawischen Kommunis- erkannte Legitimität. 13 Zugleich war er als Über- ten als „Abweichler“. Tito reagierte seinerseits mit vater immens populär: Viele Menschen projizier- Säuberungen gegen moskautreue Kommunisten. ten ihre ganz persönlichen Wünsche, Hoffnungen Tausende angebliche Stalin-Anhänger wurden aus und Fantasien auf den Partisanenmarschall, den der Partei ausgeschlossen oder auf der berüchtig- sie seit Kriegszeiten bewunderten, verehrten und ten Insel Goli otok zur Umerziehung interniert. liebten. Dieser ließ sich nach allen Regeln des mo- Der Rauswurf aus dem Ostblock öffnete dem dernen Personenkults als mutiger, kluger, gütiger, jugoslawischen Regime neue Spielräume. So bo- humorvoller, gerechter und unfehlbarer Staats- ten die USA militärische und wirtschaftliche Hil- führer inszenieren. Systemkritiker, die Josip Broz fen an, um Tito „über Wasser zu halten“. Dieser verachteten, vermochten ihn insoweit zu respek- knüpfte neue Handelsbeziehungen nach Westen, tieren, als er mal als gerechter Makler, mal als au- vermochte es nach Stalins Tod 1953 aber auch, toritärer Autokrat auftrat, um „Brüderlichkeit sein Verhältnis zu Moskau wieder zu normalisie- und Einheit“ „wie seinen Augapfel zu hüten“. 14 ren. Er wollte keinem der beiden antagonistischen Im Gegensatz zum ersten musste das zwei- Bündnissysteme beitreten. Gemeinsam mit seinen te Jugoslawien die Hypothek eines während der ägyptischen und indischen Amtskollegen, Gamal Abdel Nasser und Jawaharlal Nehru, verschrieb

13 Siehe dazu auch den Beitrag von Marc Halder in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). 15 Vgl. Calic 2014 (Anm. 1), S. 216. 14 Vjekoslav Perica, Balkan Idols: Religion and Nationalism in 16 Vgl. Holm Sundhaussen, Jugoslawien und seine Nachfolge- Yugoslav States, Oxford u. a. 2002, S. 101. staaten 1943–2011, Wien u. a. 2012.

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Tito sich in den 1950er Jahren der „aktiven friedli- ten, und nur wenigen dämmerte, dass das System chen Koexistenz“. 1961 wurde in Belgrad die Or- möglicherweise auch für Misswirtschaft, Büro- ganisation der Blockfreien formal gegründet, die kratisierung und Korruption verantwortlich war. fortan unter Jugoslawiens Führung für Dekoloni- Trotz diverser Mechanismen zur Umverteilung sierung, Abrüstung sowie eine gerechte Weltwirt- und Regionalförderung misslang das zentrale Vor- schafts- und Weltkommunikationsordnung warb. haben der Kommunisten, die Entwicklungs- und Sie wurde zu einer tragenden Säule der Identität Einkommensunterschiede zwischen den Repu­ und Stabilität im Vielvölkerstaat. bliken­ Jugoslawiens zu verringern. Im Gegenteil: Im Inneren schufen die jugoslawischen Kom- Die Disparitäten wurden immer größer. Waren die munisten mit der sozialistischen Arbeiterselbst- Slowenen pro Kopf bei Kriegsende etwa dreimal verwaltung nach 1948 einen Sozialismus eigener wohlhabender als die Kosovaren, waren sie Mit- Prägung. Nicht anonyme Staatsorgane wie im te der 1960er Jahre etwa sechsmal und Ende der Ostblock, sondern demokratische Arbeiterräte 1980er Jahre sogar neunmal reicher. 18 Ungewollt sollten die Unternehmen und alle gesellschaftli- förderte das System damit Verteilungskonflikte, chen Organisationen lenken. Im Zuge zahlreicher bestärkte Nationalismus und ethnische Intoleranz. Reformen wurden marktwirtschaftliche Elemen- Als sich Ende der 1960er Jahre erste wirt- te und Privatbetriebe zugelassen. Viele westliche schaftliche Krisenerscheinungen bemerkbar Linke priesen den jugoslawischen Sozialismus machten, meldeten sich in allen Landesteilen „mit menschlichem Antlitz“ als ihr Vorbild. Politiker und Intellektuelle zu Wort, die in der Unterstützt durch eine sehr günstige globale gleichmacherischen Politik von „Brüderlichkeit Konjunktur erlebten die Jugoslawen nach 1945 ein und Einheit“ einen Angriff auf nationale Identi- „Wirtschaftswunder“. Die Führung trieb die sozi- täten und Interessen sahen. Kroatische Intellek- alistische Modernisierung voran, investierte mas- tuelle und Kulturorganisationen verlangten 1967 siv in die Industrialisierung, in den Tourismus und eine kroatische Literatursprache, während die Al- in die Bildung. Bis Mitte der 1960er Jahre verwan- baner im Kosovo 1968 bei gewaltsamen Demons- delte sich das ehemalige Agrarland in einen Indus- trationen eine eigene Teilrepublik und Anschluss triestaat: mehr Menschen arbeiteten im sekundä- an Albanien forderten. Während des „Kroati- ren und tertiären Sektor als in der Landwirtschaft, schen Frühlings“ 1971 riefen die kroatische Par- die Städte wuchsen, das Bildungsniveau und die teispitze, die Kulturorganisation Matica hrvatska, Mobilität stiegen, die Frauen emanzipierten sich Studentenvertreter und Medien nach mehr Ei- aus den patriarchalischen Geschlechterrollen. Pro genständigkeit für Kroatien, einer eigenen Armee Kopf wuchs das Bruttosozialprodukt zu konstan- sowie „großkroatischen“ Republikgrenzen. Tito ten Preisen zwischen 1950 und 1977 um 6,1 Pro- warf die kroatische Parteiführung daraufhin aus zent jährlich, die Realeinkommen stiegen in die- dem Amt; die Anführer kamen vor Gericht. Auch sem Zeitraum um 150 Prozent. 17 in Serbien und Bosnien-Herzegowina ging der Der zunehmende Wohlstand ermöglichte mehr Staat nun verstärkt gegen nationalistische Um- Konsum und Freizeit, was die Lebensweisen und triebe und Regimekritik vor. In Bosnien-Herze- Werte von Grund auf veränderte. Im Gegensatz gowina kamen die Verfasser einer „Islamischen zum Ostblock tolerierte das jugoslawische Sys- Deklaration“, darunter der spätere bosnische tem schließlich auch einen gewissen Pluralismus Präsident Alija Izetbegović, ins Visier, weil sie die in Literatur, Wissenschaften und Künsten. Zwar „Vereinigung der islamischen Welt in einem rie- herrschte das Regime mit Geheimpolizei, Presse- sigen Staat“ gefordert und Kontakte zum irani- zensur und Berufsverboten, jedoch duldete es in schen Ajatollah-Regime aufgebaut hatten. gewissen Nischen auch abweichende Meinungen, etwa in Universitäten, Akademien und Religions- VOM JUGOSLAWISMUS gemeinschaften. Das am höchsten geschätzte Pri- ZUM NATIONALISMUS vileg der Jugoslawen aber war die Reisefreiheit. So waren die Bürgerinnen und Bürger Jugoslawi- Nachdem Tito 1980 in hohem Alter gestorben ens durchaus stolz auf Fortschritte und Freihei- war, fehlte dem Vielvölkerstaat seine wichtigste

17 Vgl. Derek Howard Aldcroft, The European Economy 18 Vgl. Dijana Pleština, Regional Development in Communist 1914–2000, London–New York 2001, S. 163 ff. Yugoslavia, Boulder 1992, S. 118 ff.

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Integrationsfigur gerade in dem Moment, als das 1990/91 fanden in den Republiken Jugoslawi- Land auf eine tiefe Wirtschaftskrise zusteuerte. ens Mehrparteienwahlen statt, die im Ergebnis zu Identitäts- und Sinnsuche, aber auch sozialöko- ethnischer Versäulung der politischen Landschaft nomische Probleme und Zukunftsängste, brach- und nationalistischen Polarisierungen führten. In ten nationalistischen Politikern und religiösen Serbien behauptete sich der ehemalige Kommunist Führern Zulauf. Slobodan Milošević, der seit 1989 an der Staatsspit- Ausgelöst durch die Ölkrise war 1973 das in- ze stand und auf Großveranstaltungen mit natio- ternationale Währungssystem zusammengebro- nalistischen Parolen für ein starkes Serbien warb. chen. Die Weltwirtschaft war in schwere Turbu- In Slowenien trat Milan Kučan und in Kroatien lenzen geraten, und auch Jugoslawien war in eine Franjo Tuđman, einer der Protagonisten des „Kro- Krise geschlittert. Der Staat hatte damals zunächst atischen Frühlings“, die Präsidentschaft an. Da versucht, die sinkende Wirtschaftsleistung durch die neuen, national ausgerichteten Republikfüh- ausländische Kredite auszugleichen, verfing sich rungen noch weniger kompromissbereit waren als aber in der Schuldenfalle. Zwischen 1973 und 1981 ihre Vorgänger, das Prinzip der kollektiven Füh- waren die Verbindlichkeiten von 4,6 auf 21 Milli- rung aber Einstimmigkeit voraussetzte, wurde die arden US-Dollar gestiegen. Als die Geber in den jugoslawische Bundespolitik ­handlungsunfähig. 1980er Jahren ihre Gelder zurückforderten, droh- Scheinbar unvereinbare Interessen trafen in den te dem Staat die Zahlungsunfähigkeit. Viele Men- Institutionen aufeinander. Einerseits wollten Slo- schen wurden von wachsender Arbeitslosigkeit wenien und Kroatien um jeden Preis mehr Hand- erfasst, und der Lebensstandard sank. Zwischen lungsfreiheit durchsetzen, um Demokratisierung, 1980 und 1986 stieg das Bruttoinlandsprodukt nur Marktwirtschaft und die Annäherung an die Euro- noch um 0,6 Prozent im Jahr; die Realeinkommen päische Gemeinschaft voranzubringen. Anderer- lagen 1985 um 27 Prozent niedriger als 1979. 19 seits gefährdete dies aber die nationale Einheit der In den 1980er Jahren änderten sich zudem die Serben, von denen mehr als ein Viertel in Kroati- internationalen Rahmenbedingungen, die Jugos- en und Bosnien-Herzegowina lebte. Belgrad wollte lawiens einzigartige Stellung zwischen Ost und den Vielvölkerstaat, in dem alle Nationsangehöri- West gewährleistet hatten. Mit dem Zusammen- gen vereint waren, durch Zentralisierung zusam- bruch des Kommunismus verschwand nach Tito menhalten oder, wenn dies nicht möglich war, zu- auch die verbindende Ideologie von „Brüder- mindest die von Serben bewohnten Gebiete. Als lichkeit und Einheit“ als maßgeblicher integra- Slowenien und Kroatien die Unabhängigkeit vor- tiver Faktor. Mit dem Ende des Kalten Krieges bereiteten, gründeten die kroatischen und die bos- wurde auch Jugoslawiens „dritter Weg“ hinfäl- nischen Serben 1991/92 ihre eigenen Staaten: die lig. Die tragenden Säulen von Titos Modell – Völ- Serbische Republik Krajina in Kroatien und die kerfreundschaft, Arbeiterselbstverwaltung und Republika Srpska in Bosnien-Herzegowina. Diese Blockfreiheit – ergaben keinen Sinn mehr. sprachen sich für den Verbleib in Jugoslawien aus. Aus der Wirtschaftskrise entwickelte sich Ermuntert durch den deutschen Außenminis- bald eine Legitimitäts-, System- und schließlich ter Hans-Dietrich Genscher, erklärten Sloweni- umfassende Staatskrise. Letzte Reformbemühun- en und Kroatien am 25. Juni 1991 ihre Unabhän- gen scheiterten, darunter auch eine von den in- gigkeit. Daraufhin votierten auch die Parlamente ternationalen Finanzinstitutionen verordnete Bosnien-Herzegowinas (allerdings ohne die „Schocktherapie“. Die Wachstums- und Produk- Stimmen der Serben) und Mazedoniens für die tionsraten stürzten weiter in den Keller, und die Unabhängigkeit, während Montenegro und Ser- Inflation galoppierte mit 2700 Prozent davon. 20 bien die „Bundesrepublik Jugoslawien“ bildeten, Im Konflikt über Reformen zerfiel Anfang 1990 später „Staatenunion Serbien und Montenegro“. die Einheitspartei, der Bund der Kommunisten Diese zerfiel erst 2006. Jugoslawiens. Die gesamtstaatlichen Institutio- nen, der gemeinsame Wirtschaftsraum, die Medi- KRIEG UMS ERBE en und der Sicherheits­apparat ­erodierten. Die Auflösung Jugoslawiens in seine Teil­re­pu­bli­

19 Vgl. Calic 2014 (Anm. 1), S. 265 f. ken bildete den Auslöser für den Krieg um sein 20 Vgl. Susan Woodward, Balkan Tragedy, Washington, D. C. Erbe. Während in Slowenien, wo keine Serben 1995, S. 127 f. beheimatet waren, der bewaffnete Konflikt nach

22 Jugoslawien APuZ wenigen Tagen zu Ende ging, begann die Jugos- Somit zerfiel Jugoslawien nacheinander in sie- lawische Volksarmee im Herbst 1991 in Kroatien ben Nachfolgestaaten, von denen heute bereits eine Großoffensive. Streitkräfte der kroatischen zwei – Slowenien und Kroatien – Mitglieder der Serben brachten ein Drittel Kroatiens unter ihre Europäischen Union sind. Serbien, Montenegro Kontrolle und vertrieben etwa eine halbe Milli- und Mazedonien besitzen einen offiziellen, Bos- on Menschen. Nach etlichen gescheiterten inter- nien-Herzegowina und Kosovo einen potenziel- nationalen Vermittlungsversuchen gelang erst im len Kandidatenstatus. Ob und wann sie je der EU Januar 1992 ein Waffenstillstand. beitreten werden, ist allerdings gänzlich offen. In Bosnien-Herzegowina gab die Anerken- nung im April 1992 den bosnisch-serbischen SCHLUSS Streitkräften den Anlass, binnen Wochen rund 70 Prozent des Territoriums zu erobern. Hun- Seit dem 19. Jahrhundert strebten kroatische, ser- derttausende wurden im Zuge „ethnischer Säu- bische und slowenische Gelehrte, Politiker und berungen“ vertrieben. Währenddessen begannen einfache Bürger nach einem vereinigten südslawi- Ende 1992 Kroaten und Bosniaken, die anfangs schen Staat. Für Jugoslawien sprachen aus ihrer gemeinsam gegen die Serben gekämpft hatten, Sicht viele Argumente: sprachlich-kulturelle Ge- einen „Krieg im Krieg“ gegeneinander. Infolge meinsamkeiten, das erprobte Zusammenleben in der eskalierenden Kämpfe zwischen den regulä- den multiethnischen Regionen, die einigende Er- ren Armeen von drei Kriegsparteien und zahl- fahrung jahrhundertelanger Fremdherrschaft, der reichen paramilitärischen Gruppen begaben sich Wunsch nach Selbstbestimmung und Teilhabe so- über zwei Millionen Menschen aller ethnischen wie die Sicherheit in einem starken Gemeinwesen. Gruppen, die Hälfte der Bevölkerung Bosnien- Jedoch erforderte das Zusammenleben in der staat- Herzegowinas, auf die Flucht. Viele wurden plan- lichen Gemeinschaft angesichts der hochgradigen mäßig vertrieben. Im Juli 1995 ermordeten bos- Diversität der von Südslawen bewohnten Länder nisch-serbische Streitkräfte beim Sturm auf die von allen Seiten beträchtliche Zugeständnisse.­ UNO-Schutzzone Srebrenica mehr als 8200 bos- Trotz ganz unterschiedlicher auf nationale niakische Männer – das Ereignis gilt als der ers- Einheit ausgerichteter Ideologien und Politikan- te Genozid auf europäischem Boden seit 1945. sätze – unitarischer Zentralismus im ersten und Insgesamt wurden während des Krieges mehr multinationaler Föderalismus im zweiten Jugos- als 100 000 Menschen unterschiedlicher Volks- lawien – sind die Entwicklungs- und Interessen- zugehörigkeit getötet, wobei die Bosniaken bei unterschiede und damit die Konflikte im Verlauf Weitem die höchsten Opferzahlen zu beklagen des 20. Jahrhunderts stetig gewachsen. Am Ende hatten. scheiterte der Vielvölkerstaat am Unvermögen, Für die Staatengemeinschaft war mit Srebre- die wachsende Komplexität der Herausforderun- nica eine rote Linie überschritten. Während die gen zu meistern, beziehungsweise an dem Unwil- Nato begann, bosnisch-serbische Stellungen zu len der Eliten, die historischen Kompromisse von bombardieren, nutzte die kroatische Armee im Korfu 1917 und Jajce 1943 fortzusetzen. Anstelle August 1995 die Gunst der Stunde, um mit der der integrativen südslawischen Idee trat der eth- Operation „Sturm“ die Krajina zurückzuerobern nisch homogene Nationalstaat als Ordnungsprin- und die dort ansässigen Serben in die Nachbar- zip und mit ihm die Erfahrung von Krieg, Vertrei- staaten zu vertreiben. In Bosnien-Herzegowina bung und Massenmord. Ein Vierteljahrhundert bildete sich infolge der Intervention eine militä- nach dem Zerfall Jugoslawiens sind Identitäts-, rische Pattsituation, die es ermöglichte, den Krieg Grenz- und Statusfragen, zumal die serbische, im November 1995 durch das Abkommen von bosnische, mazedonische und albanische natio- Dayton zu beenden und das versehrte Land unter nale Frage, noch immer ungelöst. internationale Verwaltung zu stellen. Im Frühjahr 1999 unternahm die Nato erneut einen Luftkrieg, diesmal gegen Serbien, das im Kosovo gegen die MARIE-JANINE CALIC nach Unabhängigkeit strebende albanische Gue- ist Professorin für Ost- und Südosteuropäische rilla gewaltsam vorging. Kosovo wurde zu einem Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität UNO-Protektorat, ehe es sich 2008 unilateral für München. unabhängig erklärte. [email protected]

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DER BOSNISCH-HERZEGOWINISCHE NACHKRIEG Ein Kampf um den Opferstatus Ana Mijić

Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände konstruieren sie in dieser neuen Situation des Nach- geraten ein bosniakischer und ein serbischer Soldat krieges ihr (ethnisches) Selbstbild und damit auch in einen Schützengraben zwischen den Fronten des das Bild der (ethnisch) jeweils anderen, und mit Bosnien-Krieges. Während ihrer gemeinsamen An- welchen Schwierigkeiten sind diese Konstruktions- strengungen, sich aus dieser misslichen Lage zu be- prozesse verbunden? Die folgenden Ausführungen freien, kommen sie sich näher; sie unterhalten sich bauen auf einem empirischen Projekt über Identi- über ihr Leben vor dem Krieg und stellen fest, dass tätsbildung im bosnisch-herzegowinischen Nach- sie einige Gemeinsamkeiten haben, sogar gemein- kriegstransformationsprozess auf, 01 dessen primäre same Bekannte. Im Bombenhagel – von beiden Sei- Datengrundlage 30 nichtstrukturierte narrative In- ten aus wird geschossen – kommt irgendwann die terviews bilden, die zwischen 2007 und 2009 in ver- Frage auf, wer eigentlich die Verantwortung für schiedenen Regionen Bosniens erhoben und mittels die Zerstörung dieser gemeinsamen Vergangenheit einer objektiv-hermeneutischen Rekonstruktion und das Blutvergießen trägt. Sie ergehen sich in ge- von Deutungsmustern analysiert wurden. 02 genseitigen Schuldzuweisungen, bis der Bosnia- ke seine Waffe auf sein Gegenüber richtet und ein IDENTITÄTEN letztes Mal die Frage stellt: „Tko je poćeo rat?“ – IM (NACH-)KRIEG Wer hat den Krieg angefangen? So die Handlung einer Schlüsselszene in Danis Tanovićs Film „No „Durch den Krieg“, so der bosnisch-kroatische Man’s Land“ aus dem Jahr 2001. Publizist Ivan Lovrenović, wurde der „wichtigste Seit der Unterzeichnung des Allgemeinen Rah- zivilisatorische Grundzug der bosnischen Erfah- menabkommens von Dayton über einen Frieden in rung und Lebensweise (…) unmittelbar ins Mark Bosnien und Herzegowina Ende 1995 schweigen in getroffen: die Gewöhnung an den anderen und an der ehemaligen Teilrepublik Jugoslawiens die Waf- das Andersartige als alltägliche Erfahrung und Ver- fen. Bis dahin forderte der 1992 entbrannte Krieg, trautheit. Diese Erfahrung der Alterität hatte es dessen Parteien sich mittels ethnischer Selbst- und auch ermöglicht, Bosnier zu sein. Erneut territori- Fremdzuschreibungen konstituierten, 100 000 Men- alisiert, giftig chauvinisiert, hören die Bosnier auf, schenleben. Nach wie vor ist das Verhältnis zwi- Bosnier zu sein, und sind nur noch muslimische schen den bosniakischen (also den muslimischen), Bosniaken, nur noch Kroaten, nur noch Serben.“ 03 kroatischen und serbischen Bosnierinnen und Bos- Vertreibung, Verfolgung und Mord sowie intra- niern durch tiefe Gräben gekennzeichnet. Eines je- ethnische Homogenisierungsbestrebungen zwan- doch verbindet alle Ethnien in Bosnien-Herze- gen die Bürgerinnen und Bürger des einst geradezu gowina: Sie empfinden sich gerade aufgrund ihrer als Musterschüler des „Multikulturalismus“ gel- ethnischen Zugehörigkeit als Opfer des Krieges und tenden Bosniens zur Identifikation mit „ihrer“ je- der Nachkriegszeit. Über die Frage „Tko je poćeo weiligen ethnischen Gruppe. Befördert wurde die- rat?“ sowie über die Verantwortung für die Verbre- ser Prozess durch eine Bevölkerungsverschiebung, chen, die während des Krieges begangen wurden, die mit der Beendigung des Krieges auch institu- wird noch immer gestritten. tionell verankert wurde: Der Vertrag von Day- Diesem Beitrag liegt die Frage zugrunde, wie ton besiegelte, wenn schon nicht eine Drei-, so Menschen im gegenwärtigen Bosnien-Herzegowina doch eine Zweiteilung des Landes in die serbisch ihre Wahrheiten entwickeln und verteidigen. Wie dominierte Republika Srpska, die 49 Prozent des

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Staatsgebietes umfasst, und die Föderation Bos- kaum mehr jemand befreien. Die Verschmelzung von nien-Herzegowina, die ihrerseits in zehn weitge- „Ich“ und „Wir“ vermochte nicht nur ein Identifika- hend monoethnisch-kroatische oder -bosniakische tionsvakuum zu füllen, das mit dem Ende des sozia- Kantone gegliedert ist. 04 Mit dieser Einteilung des listischen Systems einherging. Vor dem Hintergrund Landes führte der Friedensvertrag faktisch zu einer der die bloße Existenz bedrohenden und die Zeit- Legitimierung dessen, was euphemistisch als „eth- perspektive verknappenden 09 kriegerischen Gewalt nische Säuberung“ bezeichnet wird. entlang ethnischer Grenzen löschte diese umfassen- Die Anthropologin Katherine Verdery weist da- de Identifikation mit dem Ethnischen alle zuvor vor- rauf hin, dass „ethnische Säuberung“ aber nicht nur handenen Identifikationen aus. Die Reduktion auf die Vernichtung aller Spuren des ethnisch Anderen die ethnische Zugehörigkeit ist verbunden mit einer bedeutet, sondern meist auch die Auslöschung al- hierarchisierenden Unterscheidung zwischen „Uns“ ternativer Identitätskonzepte für das Individuum. 05 und „den Anderen“ und gekennzeichnet durch ab- Die Reduktion auf die Zugehörigkeit zu einer eth- wertende Zuschreibungen gegenüber der ethnischen nischen oder nationalen Gruppe bringt die kroati- Fremdgruppe sowie aufwertenden Zuschreibungen sche Schriftstellerin Slavenka Drakulić 1992 in ih- gegenüber der ethnischen Eigengruppe. Dem „eige- rem Essay „Vom Nationaldenken überwältigt“ für nen Gruppencharisma“ wird die „fremde Gruppen- den kroatischen Fall mit folgenden Worten präg- schande“ gegenübergestellt, der eigenen Superiorität nant zum Ausdruck: „Ich bin niemand mehr, weil die fremde Inferiorität. 10 ich keine Person mehr bin. Ich bin eine von 4,5 Mil- Zahlreiche Forschungen haben ergeben, dass lionen Kroaten. (…) Ich fühle mich wie eine Wai- die Verdichtung ethnischer Grenzen als eine Folge se, weil der Krieg mich des einzigen wahren Besit- von Krieg und Gewalt zu betrachten ist und nicht zes beraubt hat, den ich in meinem Leben erworben monokausal als Ursache gewaltsamer Auseinan- hatte, meiner Individualität.“ 06 Eine solche Reduk- dersetzungen. 11 Mittlerweile ist es wissenschaftli- tion des „Ich“ auf ein „Wir“ geht einher mit einer cher Konsens, dass Ethnizität kein ursprüngliches Vergemeinschaftung ganz besonderer Art – „[z]wi- Element menschlichen Daseins darstellt, sondern schen dem Einzelnen und dem Ganzen besteht kein in gesellschaftlichen Prozessen überhaupt erst er- jenseits mehr, sodass selbst ‚Hingebung‘ kein ganz schaffen wird. Doch die Tatsache, dass Ethnizität zutreffendes Wort ist: man braucht sich nicht erst konstruiert wird, dass das Zugehörigkeitsgefühl zu hinzugeben, wo das Gefühl von vornherein keine einer ethnischen Kategorie zunächst nichts weiter Scheidung zeigt“, so der Soziologe Georg Simmel ist als ein – wie der Soziologe Max Weber es formu- in seinen Reflexionen über den Ersten Weltkrieg. 07 liert – „subjektive[r] Glaube an eine Abstammungs- Von der „Fiktion einer ‚reinen‘ ethnischen Iden- gemeinsamkeit“, 12 darf nicht dazu verleiten, an der tität“ 08 konnte sich im zerfallenden Jugoslawien bald „Realität“ ethnischer Grenzen zu zweifeln. Auch eine erschaffene Wirklichkeit kann dem Menschen 13 01 Vgl. Ana Mijić, Verletzte Identitäten. Der Kampf um den Op- als außermenschliche Faktizität gegenübertreten. ferstatus im bosnisch-herzegowinischen Nachkrieg, Frankfur­ t/M.– Gerade im Hinblick auf Nationalität, Rasse oder New York 2014. Ethnizität tendieren Menschen zu einer primordi- 02 Vgl. Ulrich Oevermann, Die Struktur sozialer Deutungs­muster alistischen Perspektive, 14 also zu einer verdingli- – Versuch einer Aktualisierung, in: Sozialer Sinn 1/2001, S. 35–81; ders., Klinische Soziologie auf der Basis der Methodologie der objektiven Hermeneutik, Frank­furt/M. 2002. 09 Vgl. Herfried Münkler, Politik und Krieg, in: Armin Nassehi/ 03 Ivan Lovrenović, Bosnien und Herzegowina, Wien 1999, S. 200. Markus Schroer (Hrsg.), Der Begriff des Politischen, Baden-Baden 04 Neben der Republika Srpska und der Föderation wurde 1995 2003, S. 471–490, hier S. 479. mit dem Dayton-Abkommen aus geopolitischen Gründen der Sonder- 10 Norbert Elias, Zur Theorie der Etablierten-Außenseiter-Be­ bezirk Brčko eingerichtet, der als Kondominium beiden Entitäten zie­hun­gen, in: ders./John L. Scotson, Etablierte und Außenseiter, zugehörig ist. Frank ­furt/M. 1990, 16 ff. 05 Vgl. Katherine Verdery, Ethnicity, Nationalism, and State-Ma- 11 Vgl. Andreas Wimmer, Ethnische Grenzziehungen, in: Marion king, in: Hans Vermeulen/Cora Govers (Hrsg.), The Anthropology Müller/Dariuš Zifonun (Hrsg.), Ethnowissen, Wiesbaden 2010, of Ethnicity, Amsterdam 1994, S. 33–58, hier S. 38. S. 99–152, hier S. 111. 06 Slavenka Drakulić, Sterben in Kroatien, Reinbek 1992, S. 83. 12 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 19764 07 Georg Simmel, Deutschlands innere Wandlung, in: Der (1920/21), S. 237. Krieg und die geistigen Entscheidungen, München–Leipzig 1917, 13 Vgl. Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche S. 9–29, hier S. 12. Konstruktion der Wirklichkeit, Frank­furt/M. 1969, S. 94. 08 Michael Ignatieff, Reisen in den neuen Nationalismus, Frank­ 14 Vgl. Clifford Geertz, Primordial Ties, in: Anthony D. Smith/John furt/M. 1996, S. 33. Hutchinson (Hrsg.), Ethnicity, New York 1996, S. 40–45.

27 APuZ 40–41/2017 chenden oder essenzialisierenden Sichtweise, 15 zu ihre Nationalfarben und ausgestattet mit Plakaten einem Blickwinkel, von dem aus sozial Konstru- und Bildern der Verhafteten oder Verurteilten, so- iertes als natürlich Gegebenes erscheint. wie zerrissene Europaflaggen setzten im Zuge der Obwohl konstruiert, können ethnische Gren- Proteste deutliche Zeichen – auch der Delegitimie- zen und die damit einher gehenden Selbst- und rung all jener, die die „einzig wahre Wirklichkeit“ Fremdbilder nicht jederzeit beliebig verändert nicht anerkennen wollen. Denn die Erwartungs- werden. Einmal erschaffen, wirken sie auf die In- haltung gegenüber dem Tribunal ist vor allem da- dividuen zurück. Eine Voraussetzung für ihr Fort- durch geprägt, dass es die Version der Ereignis- bestehen ist jedoch, dass die Kontakte zu jenen be- se vertreten soll, der zufolge die eigene ethnische stehen bleiben, die diese Wirklichkeit stützen und Gruppe kollektiv als Opfer und damit eben auch schützen; nur dadurch bleibt ihre Plausibilität er- als unschuldig betrachtet wird. Wird diese Erwar- halten. 16 „Kategorien“, so der Soziologe Rogers tung nicht erfüllt, werden die Nationalhelden zu Brubaker, „brauchen Biotope mit Artenschutz, in Mördern, zu Tätern, zu Schuldigen, wird dies als denen sie überleben und gedeihen können“. 17 Die ein Angriff auf die eigene Identität gewertet. Die Konfrontation mit alternativen Wirklichkeitsauf- starke Identifikation mit den Angeklagten geht fassungen stellt dagegen stets eine Gefahr dar. Mit einher mit der Annahme, dass vor dem Tribunal der Beendigung der kriegerischen Gewalt rückte eben nicht über Individuen gerichtet wird, son- diese Gefahr in Bosnien-Herzegowina bedrohlich dern über die gesamte ethnische Gruppe. nahe. Die bislang unhinterfragt gültige Deutung, Deutlich zeigt sich hier auch, dass im gegen- der zufolge die eigene ethnische Gruppe moralisch wärtigen Bosnien der Konflikt über die Vergan- und zivilisatorisch als überlegen begriffen wird, genheit primär ein Kampf um die Wahrheit und gerät im Prozess der Nachkriegstransformation ins das eigene Wir-Ideal ist. 18 Dieser Kampf bildet Wanken. Die Wahrheiten der Anderen – sowohl den Kern des „Nachkrieges“, also dessen, was der ethnisch Anderen als auch außenstehender sich – in Verkehrung des Zitats von Carl von Dritter wie etwa die internationale Gemeinschaft – Clausewitz – als Fortsetzung des Krieges mit po- stellen eine Bedrohung für das positive Selbstbild, litischen Mitteln beschreiben lässt. für das eigene Gruppencharisma dar. Allein ihr Da- sein kann zu Verletzungen der während des Krie- SELBSTVIKTIMISIERUNG ges essenzialisierten Identitäten führen. Exemplarisch lassen sich diese Zusammenhän- Vor allem die Tatsache, dass es in diesem Konflikt ge am Beispiel des Umgangs mit (mutmaßlichen) auch Dritte von der Wahrheit und Wahrhaftigkeit Kriegsverbrechern verdeutlichen: Wenn als „He- der eigenen Perspektive zu überzeugen gilt, führt roen“ gefeierte Mitglieder der ethnischen Eigen- dazu, dass der Kampf um das Wir-Ideal zu einer gruppe von anderen als Verbrecher und Mörder Auseinandersetzung um den eigenen Opferstatus bezeichnet werden, kommt es über weite Bevöl- wird. Die Selbstviktimisierung ist weder ein neu- kerungsgruppen hinweg zu emotionalen Abwehr- es noch ein regional begrenztes Phänomen; nahezu reaktionen. Wie sich die Menschen der „Richtig- jeder Konflikt zeichnet sich dadurch aus, dass sich keit“ ihrer Perspektive angesichts der Bedrohung seine Parteien ausschließlich als Opfer betrachten. 19 durch alternative Wirklichkeiten versichern, ließ sich etwa im Zuge der Proteste gegen die Aus- 18 Vgl. Jens Brockmeier, Remembering and Forgetting. Narrative lieferung oder Verurteilung „nationaler Helden“, as Cultural Memory, in Culture & Psychology 1/2002, S. 15–43, wie Radovan Karadžić, Radko Mladić oder Ante hier S. 15. Gotovina durch das Internationale Kriegsverbre- 19 Vgl. etwa Luca Andrighetto et al., Reducing Competitive Victim- chertribunal für das ehemalige Jugoslawien beob- hood in Kosovo, in: Political Psychology 4/2012, S. 513–529; Neil Ferguson/Mark Burgess/Ian Hollywood, Victimhood Experiences in achten. In Tränen aufgelöste Menschen, gehüllt in Postagreement Northern Ireland, in: Political Psychology 6/2010, S. 857–886; Marcel M. Baumann, Contested Victimhood in the Northern Irish Peace Process, in: Peace Review 2/2010, S. 171– 15 Vgl. Rogers Brubaker/Mara Loveman/Peter Stamatov, Ethni- 177; Nurit Shnabel/Masi Noor, Competitive Victimhood Among zität als Kognition, in: Rogers Brubaker, Ethnizität ohne Gruppen, Jewish and Palestinian Israelis Reflects Differential Threats to Their Hamburg 2007, S. 96–128, hier S. 124. Identities, in: Kai J. Jonas/Thomas A. Morton (Hrsg.), Restoring Civil 16 Vgl. Berger/Luckmann (Anm. 13), S. 163. Societies, Chichester 2012, S. 192–207; Johanna R. Vollhardt, The 17 Rogers Brubaker, Ethnizität ohne Gruppen, in: ders. (Anm. 14), Role of Victim Beliefs in the Israeli-Palestinian Conflict, in: Peace and S. 16–45, hier S. 44. Conflict: Journal of Peace Psychology 2/2009, S. 135–159.

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„Es gibt keinen größeren kollektiven Genuss für zu sein, wird als unteilbares und allumfassendes eine Volksgruppe, denn als Opfer zu leben“, so Gut betrachtet. Der Politikwissenschaftler Her- etwa der aus Bosnien stammende Schriftstel- fried Münkler schrieb dazu: „Was im Alltagsleben ler Milenko Jergović, „alle Probleme sind ge- von jedermann unbesehen zugestanden wird, dass löst, denn du (…) kannst jederzeit und über- nämlich jeder Täter auch Opfer sein oder zumin- all um wirtschaftlichen und moralischen Kredit dest doch werden kann – wie umgekehrt ebenso –, bitten. So hat der Chauvinismus der jugoslawi- das wird, sobald es um politische Positionierun- schen Nationen immer begonnen: Er kommt aus gen geht, heftig bestritten. Hier ist die Unterschei- den Massengräbern. Der serbische Nationalismus dung zwischen Opfer und Täter nicht länger eine der neunziger Jahre kommt aus den Massengrä- situationsabhängige Momentaufnahme, sondern bern des Ustascha-Vernichtungslagers Jasenovac gerinnt zum permanenten Merkmal.“ 23 im Zweiten Weltkrieg. Daraus entstand der My- Durch ihren höchst kompetitiven Charak- thos, alle Serben seien Opfer. Ähnliches ist mit ter wirkt die Selbstviktimisierung in (Post-)Kon- den Bosniaken nach Srebrenica geschehen: Sie fliktkonstellationen nach außen trennend und alle wurden dort getötet. Diesen Opferkomplex nach innen verbindend. 24 Die räumliche und so- zu exorzieren, ist extrem schmerzhaft.“ 20 ziale Nähe der ethnischen Outgroups trägt noch „Opfer-Sein“, wie es sich hier darstellt, hat zusätzlich zur inneren Verbundenheit bei, denn wenig mit Schwäche zu tun. Ganz im Gegen- der Opferideologie zufolge stellen die Anderen teil: Die Opferrolle ist mit einer Macht, mit ei- eine permanente Bedrohung von Leib und Leben nem „politischen Mehrwert“ 21 verbunden, der dar. Gleichzeitig birgt die Nähe zu den Anderen aus der moralischen Privilegierung des Opfers re- auch eine Gefahr für die Opferideologie selbst: sultiert. „Opfer“ bündeln die Sympathien auf ih- Sie macht es nahezu unmöglich, sich den Wahr- rer Seite, sie haben ein Anrecht auf Rücksichtnah- heiten der Anderen zu entziehen. me und können jegliche Kritik unter Verweis auf das erfahrene Leid von sich weisen. Die Selbst- STRATEGIEN ZUR viktimisierung basiert auf dem Glauben an die AUFRECHTERHALTUNG Rechtmäßigkeit der eigenen Ziele und dient der DES OPFERSTATUS moralischen Rechtfertigung und damit auch einer Stärkung des eigenen Gruppencharismas. Sie er- Um in dieser Situation die eigene Viktimisie- laubt es, an einem positiven Wir-Bild festzuhal- rung trotz permanenter Konfrontation mit den ten, weil sie zweifelsfrei festlegt, wer die Schuld Anderen und ihren Wirklichkeitsperspekti- am Leid des eigenen Kollektivs trägt und unmiss- ven aufrechtzuerhalten, haben die Menschen im verständlich zwischen „gut“ und „böse“ unter- Nachkriegs-Bosnien verschiedene Strategien ent- scheidet. Damit schafft sie ein kohärentes Welt- wickelt. bild und liefert nicht nur plausible Erklärungen für Vergangenheit und Gegenwart, sondern for- Tabuisierung der muliert auch Erwartungen an die Zukunft. 22 Kriegsvergangenheit Selbst dort, wo die Auseinandersetzung mit Die Analyse der Interviews und ethnografische der Vergangenheit eine Auseinandersetzung mit Beobachtungen zeigen sehr deutlich, dass der der eigenen Täterrolle erzwingt, wird diese im Krieg im Rahmen interethnischer Begegnungen kollektiven Gedächtnis zugunsten einer Selbst- in der Regel komplett ausgeblendet wird. Ein In- auffassung als Opfer oft genug verdrängt. Opfer terviewpartner formuliert beispielsweise: „Nach einer so kurzen Zeit, es vergingen keine paar Mo- nate, nachdem der Krieg aufhörte, fingen wir an, 20 Andreas Ernst, „Ich bin ein jugoslawischer Schriftsteller“. Gespräch mit Miljenko Jergović über seine Liebe zu Autos, die zueinander zu gehen (…) Als sei nichts gewesen Balkantragödie als triviales Genre sowie die Lust der Völker, Opfer (…) Als hätte dieses Loch nie existiert. Als hät- zu sein, 21. 4. 2012, www.nzz.ch/-1.16541823. 21 Herfried Münkler, Unter Abwertungsvorbehalt. Vom Bomben- krieg bis zur Vertreibung, in: Frankfurter Rundschau, 24. 9. 2003, 23 Münkler (Anm. 21). S. 9. 24 Vgl. Masi Noor et al., The Psychology of Competitive 22 Vgl. Daniel Bar-Tal et al., A Sense of Self-Perceived Collective Victimhood Between Adversarial Groups in Violent Conflicts, in: Victimhood in Intractable Conflicts, in: International Review of the Personality and Social Psychology Review 4/2012, S. 351–374; Red Cross 874/2009, S. 229–258; Vgl. Shnabel/Noor (Anm. 19). ders./Shnabel (Anm. 19).

29 APuZ 40–41/2017 ten die Linien nie existiert.“ 25 Eine solche Aus- Doppelte Relativierung blendung der Kriegsvergangenheit zugunsten Mitunter kommt es aber auch zu der Einsicht, der Normalisierung der Verhältnisse mag zu- dass Mitglieder der ethnischen Ingroup ebenfalls nächst sinnvoll erscheinen, denn das Schweigen Verbrechen begangen haben könnten. Zunächst über den Krieg ermöglicht es den Angehörigen erscheint die Annahme naheliegend, dass eine sol- der verschiedenen ethnischen Gruppen, im All- che Anerkennung zu einer Entidealisierung bezie- tag zu interagieren und dadurch möglicherweise hungsweise zu einer Relativierung des positiven neue Wirklichkeiten zu erschaffen, innerhalb de- Wir-Bildes führt. Was hier jedoch geschieht, ist rer die ethnische Grenzziehung eine nachgeord- der Versuch, abweichende Wirklichkeitsbestim- nete Rolle spielt. Mit dieser Vermeidungsstrate- mungen mit Begriffen aus der eigenen Sinnwelt gie geht allerdings auch eine Reproduktion oder auszustatten, sie also der eigenen Sinnwelt einzu- gar Verdichtung der ethnischen Grenzziehung verleiben und somit als konkurrierende Wirklich- einher. Wenn Gespräche um die Wirklichkeit keitsperspektive zu liquidieren. Indem zugegeben der Kriegsvergangenheit nur im Kreise „Gleich- wird, dass das Verhalten von Mitgliedern der In- gesinnter“, also innerhalb der ethnischen Grup- group moralisch „nicht einwandfrei“ war, verleiht pe, stattfinden, ist zu erwarten, dass eben deren man sich zusätzlich Legitimation. Wahrnehmung der Wirklichkeit wie in Stein ge- Dieses moralisch nicht einwandfreie Verhal- meißelt wird. ten der Ingroup-Mitglieder wird dann allerdings in einem zweiten Schritt typischerweise in Rela- Zweierlei Maß tion gesetzt mit den als sehr viel schlimmer klas- Kommt es zu einer Konfrontation mit konkur- sifizierten Verbrechen der Outgroup. Diese dop- rierenden Wirklichkeitsauffassungen, werden pelte Relativierung – also die Relativierung des bei der Bewertung und Rechtfertigung von In- eigenen Wir-Ideals, die jedoch selbst auch einer group-Verhalten und Outgroup-Verhalten typi- Relativierung unterzogen wird – dient damit wie- scherweise unterschiedliche Maßstäbe angelegt. derum der Stabilisierung dieses Wir-Ideals. Den Aggressionen der Outgroup wird die Vertei- Insgesamt zeigen Menschen bei diesem Pro- digung der Ingroup gegenübergestellt. Das Ver- zess der Relativierung eine recht ausgeprägte halten der Ingroup wird ursächlich auf das Ver- „soziale Kreativität“: 27 Die sozialen Vergleichs- halten der Outgroup zurückgeführt und damit dimensionen werden so gewählt, dass die Eigen- zu rechtfertigen versucht. Diese Dichotomisie- gruppe in jedem Fall günstiger abschneidet als rung von Tätern und Opfern lässt sich angesichts die Außengruppe. So verweisen beispielsweise der Präsenz der konkurrierenden Erzählungen auch bosnische Kroatinnen und Kroaten regel- nicht ohne Weiteres aufrechterhalten. Infrage ge- mäßig auf das Massaker von Srebrenica, bei wel- stellt wird nun aber der Wahrheitsgehalt oder die chem über 8000 bosniakische Jungen und Männer „Wahrhaftigkeit“ der konkurrierenden Erzäh- von Serben umgebracht wurden, denn vor diesem lung – und aus der Dichotomie von Opfern und Hintergrund sollen die Verbrechen der Ingroup Tätern wird eine Dichotomie von wahren Opfern verhältnismäßig unbedeutend erscheinen. und kreierten, konstruierten, erfundenen Opfern. „Die systematische Ächtung des Außengruppen- Subjektivierung des Krieges angehörigen“, so der Soziologe Robert Merton in Trotz einer in der Regel eindeutig erfolgenden seiner Theorie über die sich selbst erfüllende Pro- Täter-Opfer-Zuschreibung wird der Krieg regel- phezeiung, „nimmt ihren Lauf weitgehend unge- mäßig als nicht von Menschen gemacht, sondern achtet dessen, was er tut. Mehr noch: Durch den als ein übermenschliches, die Menschen vernich- Aberwitz einer kapriziösen richterlichen Logik tendes und verfeindendes Phänomen beschrie- wird das Opfer für das Verbrechen bestraft.“ 26 ben: „Als Tito starb, als Jugoslawien zerfiel, (…) Mittels einer „Moral-Alchemie“ werden je nach kam dieser verdammte Krieg, welcher angerichtet Gutdünken Tugenden zu Lastern und Laster zu hat, was er angerichtet hat: uns alle verfeindet“, Tugenden.

27 Henri Tajfel/John C. Turner, The Social Identity Theory of In- 25 Zit. nach Mijić (Anm. 1), S. 245. tergroup Behavior, in: William G. Austin/Stephen Worchel (Hrsg.), 26 Robert K. Merton, Soziologische Theorie und soziale Struktur, Social Psychology of Intergroup Relations, Chicago 1978, S. 7–24, Berlin 1995, S. 405. hier S. 19 f.

30 Jugoslawien APuZ so ein Interviewpartner. 28 Der Krieg tritt hier ten, die je nach eigenem Vorteil ihre Bündnispart- in der Gestalt eines vom Handeln menschlicher ner wechseln, und in den Bosniaken personifiziert Subjekte unabhängigen Geschehens auf, ähnlich sich schließlich aus der Perspektive der christli- einer Naturkatastrophe, oder gar als aktiv han- chen Kroaten und Serben die Gefahr islamischen delnd – quasi als Subjekt. Die Konsequenz die- Fundamentalismus mitten in Europa. ser Betrachtungsweise ist, dass der Krieg letztlich Eine zweite Möglichkeit der Externalisierung nicht zum Gegenstand ethischer Überlegungen von Verantwortung besteht in einer Kontrakti- gemacht werden kann und menschliches Han- on der Wir-Gruppe – jene Teile, die das Wir-Ideal deln von jeder Verantwortung befreit wird. 29 Die bedrohen, werden ausgeschlossen. Es kann drit- Funktion dieses Deutungsmusters im Hinblick tens aber auch eine Ausdifferenzierung der Au- auf den hier verhandelten Fall liegt auf der Hand: ßengruppe vorgenommen werden, eine Unter- Indem man den Krieg zum Subjekt macht, geht scheidung zwischen den „guten Anderen“ und man nicht nur selbst in Distanz zum Geschehen den „bösen Anderen“. und schützt damit sein Wir-Ideal, sondern bietet Viertens zeigt sich im Rahmen der Analyse eben diese Möglichkeit auch dem Gegenüber an. auch immer wieder, dass die Schuld oder zumin- Eventuell verbirgt sich dahinter der kleinste ge- dest eine Mitschuld einem gänzlich außenstehen- meinsame „panethnische“ Nenner. den Dritten zugeschrieben wird: der „internatio- Im Verlauf der Analyse zeigt sich, dass vor al- nalen Gemeinschaft“ oder aber auch einzelnen lem jene, die erfolgreich und anhaltend ins sozia- Staaten. Ob die zentrale Täterschaft nun den listische System des ehemaligen Jugoslawien sozi- ethnischen Outgroups, der internationalen Ge- alisiert wurden, auf diese Strategie zurückgreifen, meinschaft oder dem Krieg an sich zugeschrieben denn die Subjektivierung des Krieges liefert eine wird, „[i]n jedem Fall ist das Böse externalisiert; plausible Erklärung dafür, warum es trotz „Brüder- es wird draußen gesucht und es trifft einen von lichkeit und Einheit“ zum Krieg kommen konnte. außen“. 30

Externalisierung CONCLUSIO der Schuld In Situationen interethnischen Kontakts kann es Bis zum heutigen Tage scheinen die Menschen in gelingen, verschiedene Wirklichkeitsperspektiven Bosnien-Herzegowina im Schützengraben zwi- einander anzugleichen, indem die Verantwortung schen den Fronten gefangen zu sein. Innerhalb oder die „Schuld“ auf außenstehende Akteure der Sozialpsychologie wird darauf hingewiesen, übertragen wird. Dies kann auf viererlei Wegen dass sich solche Konkurrenzsituationen durch geschehen. eine gegenseitige Anerkennung des Opfersta- Erstens können sich Angehörige zweier ethni- tus entschärfen ließen. Doch abgesehen von der scher Kategorien im interethnischen Kontakt ge- Tatsache, dass sich Viktimisierungen stets durch gen einen Dritten verbünden, auf den die Haupt- einen gewissen Egoismus auszeichnen, 31 gilt es verantwortung für das, was geschehen ist oder zu bedenken, dass eine gegenseitige Anerken- nach wie vor geschieht, übertragen wird. So wer- nung auch eine gewisse Risikobereitschaft vor- den die Serben von den Kroaten und Bosniaken als aussetzt: 32 Gehe ich einen Schritt auf mein Ge- jene betrachtet, von denen die primäre Aggression genüber zu, ohne zu wissen, ob mein Gegenüber ausging; die Kroaten gelten als die Opportunis- auch mir entgegen kommt, laufe ich Gefahr, ihm eine zusätzliche Waffe im Kampf um den eigenen Opferstatus an die Hand zu geben – vielleicht 28 Zit. nach Mijić (Anm. 1), S. 276. jene, die letztlich darüber entscheidet, welche 29 Vgl. Martin Hoch, Zur Bedeutung des Krieges für das Men- schen- und Geschichtsbild, in: Mittelweg 36 6/1999, S. 30–48, Wirklichkeitsperspektive sich durchsetzt. hier S. 38. 30 Alexander Mitscherlich/Margarete Mitscherlich, Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 198416 (1967), S. 60. ANA MIJIĆ 31 Vgl. John Mack, The Psychodynamics of Victimization Among ist promovierte Soziologin und bekleidet derzeit National Groups in Conflict, in: Joseph V. Montville/Vamik D. Volkan/​ Demetrios A. Julius (Hrsg.), The Psychodynamics of International eine Hertha-Firnberg-Forschungsstelle am Institut Relationships: Concepts and Theories, Lexington 1990, S. 125. für Soziologie an der Universität Wien. 32 Vgl. Noor et al. (Anm. 24), S. 365. [email protected]

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ESSAY JUGOSLAWIEN NACH JUGOSLAWIEN Erinnerungen an ein untergegangenes Land Tanja Petrović

Fast drei Jahrzehnte nach dem von ethnischer landschaft durch den Bau von Denkmalen für Gewalt geprägten Zerfall der Sozialistischen Fö- Mitglieder der örtlichen faschistischen Militär- derativen Republik Jugoslawien gibt es auf ihrem einheiten. ehemaligen Gebiet sieben unabhängige Staaten. Auf den jugoslawischen Sozialstaat, seine in- Es scheint, als sei die Desintegration Jugoslawiens ternationale Politik der Blockfreiheit, seine Er- abgeschlossen, nicht nur in geografischer, son- fahrung der multiethnischen Koexistenz, der dern auch in politischer und ideologischer Hin- Weltoffenheit, der Selbstverwaltung, des Anti- sicht. Zwei parallele und sich gegenseitig verstär- faschismus und der Klassensolidarität wird heu- kende Prozesse haben dabei eine zentrale Rolle te weder in politischen Reden noch in den neu- gespielt: der kapitalistische Wandel, in dessen gestalteten Nationalsymbolen Bezug genommen. Zuge sich das neoliberale Paradigma etablierte, Diese Ideen und Werte sind gemeinsam mit den und die ethnozentrische Restauration von Nati- materiellen Resten der jugoslawischen Realität onalstaaten. 01 Die greifbaren Erinnerungsträger verschwunden, für die sie standen. Von offiziel- der jugoslawischen Zeit zeugen von Erfolg und ler Seite wird Jugoslawien höchstens auf ein rein Radikalität dieser Prozesse: Ruinen von großen historisches Faktum reduziert, eine Seite in einem Infrastrukturprojekten, ausgedehnten Indus­trie­ Geschichtslehrbuch und eine Abweichung vom komple­xen, von Denkmalen zur Erinnerung an „natürlichen Kurs“ der Nation. den Kampf gegen den Faschismus oder von mo- Aber gehört Jugoslawien wirklich definitiv dernistischen Gebäuden. der Vergangenheit an? Ist die Erinnerung an das Wichtige Teile der jugoslawischen Vergan- Land und an die Ideen, auf die es gebaut war, tat- genheit sind ausradiert worden, und das nicht sächlich so gründlich und radikal gelöscht? Mei- nur durch den Zahn der Zeit, sondern häufig nungsumfragen, Kunstprojekte, wissenschaftli- im wörtlichen Sinne. So wurden beispielsweise che Forschung und die Initiativen aktivistischer in Kroatien die meisten Denkmale, die an den Gruppen vermitteln den gegenteiligen Eindruck. Befreiungskampf von 1941 bis 1945 erinnerten, Sie legen nahe, dass Jugoslawien in seinen Nach- in den 1990er Jahren zerstört. Auch in anderen folgestaaten nicht nur ein wesentlicher Teil der postjugoslawischen Staaten wurden ihre Pen- Gegenwart ist, sondern auch ein wichtiges Ele- dants entfernt, dem Verfall überlassen oder im ment bei Imaginationen einer „guten“ Zukunft besten Fall „nationalisiert“, sodass Erinnerun- in diesen von Kriegen, Deindustrialisierung so- gen an den antifaschistischen Kampf Jugosla- wie undurchsichtigen und oft gewaltsamen Pri- wiens heute etwa serbischen oder slowenischen vatisierungen ausgelaugten postjugoslawischen Partisanen gewidmet sind. 02 Namen von Städ- Gesellschaften, vor allem in Gegenden mit zerfal- ten, Straßen, Plätzen und Institutionen wur- lener Infrastruktur, verarmter Bevölkerung und den geändert, gesetzliche Feiertage, die an die nicht funktionierenden Institutionen, in denen jugoslawische Geschichte und den antifaschis- die Kluft zwischen gesellschaftlichen Gruppen tischen Kampf erinnerten, abgeschafft, die Rol- immer größer wird. len von Tätern und Opfern im Zweiten Welt- Jugoslawien ist zum jetzigen Zeitpunkt krieg relativiert und häufig auch vertauscht – sei zwangsläufig Teil der Gegenwart: Die Lebens- es durch revisionistische Geschichtsschreibung, erfahrung im jugoslawischen Sozialismus wird die rechtliche Rehabilitierung von Kollabora- noch von Millionen Menschen geteilt. In den teuren oder die Umgestaltung der Erinnerungs- Worten der Historikerin Ljubica Spaskovska:

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Die jugoslawische Zeit ist zwar historisch, aber music, the dishes, the ideologies, the cities, the den (post)jugoslawischen Raum und die Men- patriarchy, the policies, the words, the concepts, schen, die ihn zu jener Zeit bewohn(t)en, gibt and the people.“ 04 es noch immer – Jugoslawien ist sowohl „noch- nicht-ganz-vergangen“ als auch „teilweise-noch- ERINNERUNG AN präsent“. 03 Die Erinnerungen ehemaliger Ju- DIE ALTERNATIVE goslawinnen und Jugoslawen sind es, durch die das verschwundene Land im Alltag weiterlebt: Nicht nur der Sozialismus und der jugoslawische in Anspielungen, Gerüchen, Geschmäcken und Staat gingen in den frühen 1990er Jahren unter. Worten, in den Sensibilitäten und Offenbarun- Es war auch das Ende einer Welt, in der es ein- gen der Leute, die auf dem ehemaligen Staatsge- facher war als heute, sich Alternativen vorzustel- biet Jugoslawiens leben. len. Aufgrund seines radikalen Modernisierungs- Gleichzeitig scheint es nicht nur die genera- kurses, des Selbstverwaltungssozialismus und der tionengebundene Erfahrung zu sein, die Jugo- internationalen Politik der Blockfreiheit verkör- slawien weiterleben lässt. So schreibt etwa ein perte Jugoslawien im Kalten Krieg die Möglich- junger Mann, der den jugoslawischen Alltag keit einer politischen und ökonomischen Alter- nicht oder kaum kennen gelernt hat, in seinem native, 05 und innerhalb des Landes herrschte die Blog: „Yugoslavia is the only way I refer to the (Selbst-)Wahrnehmung Jugoslawiens als legiti- place I’m originally from, where I grew up, but mer und wichtiger internationaler Akteur. also to the place(s) where most of my friends Die Welt sei eine andere gewesen, so der slo- and family live at the moment. I do realise that it wenische Philosoph und einstige Aktivist Tomaž may seem as if I’m trying to recreate something Mastnak, und ebenso die Einstellung Jugoslawi- that is long gone or to call something into exis- ens dieser Welt gegenüber im Vergleich zu der sei- tence, but for me Yugoslavia is right now and ner Nachfolgestaaten heute. Mit Blick auf den In- right there. It is not an internationally recognis- halt der jugoslawischen Tageszeitungen 1989, also ed state, nor is it a state that I need to see resto- am Vorabend des Zusammenbruchs des Landes, red, it is simply the best name I have for all the bezeichnet er es als aus heutiger Perspektive au- things I feel to be familiar and intelligible – the ßergewöhnlich, dass ausführlich und detailliert über Ereignisse rund um den Globus berichtet

01 Vgl. Nikola Dedić, Yugoslavia in Post-Yugoslav Artistic wurde „Our media had qualified foreign corre- Practices: Or, Art as …, in: Vlad Beronja, Stijn Vervaet (Hrsg.), spondents abroad, and not only in London, Ber- Post-Yugoslav Constellations: Archive, Memory, and Trauma in lin and Washington (Brussels wasn’t on the map Contemporary Bosnian, Croatian, and Serbian Literature and back then), and our country had an independent, Culture, Berlin–Boston, S. 169–190, hier S. 170. sovereign foreign policy. It was a factor in world 02 Der erste Präsident des unabhängigen Kroatiens, Franjo Tuđman, begann die Idee des „kroatischen Antifaschismus“ politics and its representatives championed na- bereits in den 1980er Jahren voranzutreiben, als er General tional interests – and not without success. Who beim jugoslawischen Militär war. Vgl. Nikica Barić, Antifašistička back then would have thought that a quarter cen- borba u drugom svjetskom ratu u političkim interpretacijama tury later our media in the semi-colony of Slo- hrvatskih predsjednika 1991–2006 (Antifaschistischer Kampf venia would simply recycle the so-called agency im Zweiten Weltkrieg – Politische Interpretationen kroatischer 06 Präsidenten 1991–2000), in: Vera Katz (Hrsg.), Revizija prošlosti news (…).“ na prostorima bivše Jugoslavije (Die Prüfung der Vergangenheit auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien), Sarajevo 2007, S. 211–233, hier S. 213. Milorad Dodik, der Präsident der 04 Marko Simonović, Being a Yugoslav #1, o. D., www.philopoli- Republika Srpska, des serbisch dominierten Teils von Bosnien- tics.org/being-a-yugoslav-1-marko-simonovic. Herzegowina, behauptet, dass „der Antifaschismus in diesen 05 Dies soll keinesfalls implizieren, dass es sich um eine Gebieten den Serben gehört“. Zit. nach SRNA, Dodik u Milića „ideale“ Gesellschaft ohne soziale oder politische Spannungen Gaju: Antifašizam vlasništvo Srba (Dodik in Milić Gaj: Anti- handelte. Zum Umfang der sozialen Ungleichheiten und öko- faschismus gehört Serben), 27. 7. 2017, www.nezavisne.com/ nomischen Missverhältnisse in mehreren Bereichen wie Bildung, novosti/bih/Dodik-u-Milica-Gaju-Antifasizam-vlasnistvo-Srba/​ Wohnraum und Tourismus in verschiedenen Regionen des sozi- 436453. alistischen Jugoslawiens vgl. etwa Igor Duda/Rory Archer/Paul 03 Ljubica Spaskovska, The Yugoslav Chronotope – Histories, Stubbs, Social Inequalities and Discontent in Yugoslav Socialism, Memories and the Future of Yugoslav Studies, in: Florian Bieber/ London 2016. Armina Galijaš/Rory Archer (Hrsg.), Debating the Dissolution of 06 Tomaž Mastnak, Twenty Eight Years Later, Ljubljana 2017, Yugoslavia, London 2014, S. 241–253, hier S. 241. S. 2.

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Diese Selbstwahrnehmung als quasikoloniale Vergessen zu bewahren. Der lesbische Chor „Le Peripherie ist heute besonders in denjenigen Tei- Zbor“ aus Zagreb schenkt den Themen Arbeit, len des ehemaligen Jugoslawiens ausgeprägt, die Arbeiter und deren Rolle im Sozialismus beson- ökonomisch stark benachteiligt sind. Dort han- dere Aufmerksamkeit und singt auch Revolu- delt es sich bei dem Verweis auf semikoloniale tionslieder. Lieder über „Arbeit und Bau“ aus Zustände häufig um mehr als um eine Metapher: der sozialistischen Zeit, als Arbeit als von al- So gibt es Berichte, dass etwa im serbischen Le- len geteilter Wert gefördert wurde und Arbeiter skovac Arbeitskräfte im Werk des koreanischen die zentrale Figur der sozialistischen Ideologie Konzerns Yura während der Arbeitszeit nicht zur waren, sind ein wichtiger Teil des Repertoires. Toilette gehen dürfen. Ihnen werde empfohlen, Gleiches gilt für den Belgrader Chor „Horke- Windeln zu tragen. In der Olimpias-Textilfabrik star“, dessen Mitglieder häufig in blauen Ar- in Niš soll es den Arbeitskräften darüber hinaus beitsoveralls auftreten, während die Chorleiterin verboten sein, Wasser zu trinken oder miteinan- borosane trägt, die unverwechselbaren Arbeits- der zu sprechen. Und in der südlich von Belgrad schuhe aus dem Hause Borovo, die Frauen wäh- gelegenen Stadt Obrenovac sollen Vertreter eines rend des Sozialismus trugen, und der häufig an ausländischen Investors die Gesundheitsakten Orten auftritt, die wie Fördertürme oder stillge- der Bevölkerung geprüft haben, da dieser nicht in legte Fabriken einst Symbole der Industriearbeit einem Gebiet investieren wollte, in dem der Ge- im Sozialismus waren. Der 2009 gegründete ma- sundheitszustand der potenziellen Arbeitskräfte zedonische Chor „Raspeani Skopjani“ trat be- schlecht ist. 07 reits mehrfach mit dem Lied „Gradot ubav pak Gewiss fördern solche sozialen und wirt- ke nikne“ (Die schöne Stadt wird wieder empor- schaftlichen Bedingungen ein Interesse am jugo- schnellen) auf, das während des Wiederaufbaus slawischen Sozialismus, dessen Erbe dadurch zu- von Skopje nach dem katastrophalen Erdbeben nehmend auch zur Inspiration für eine Politik der von 1963 gesungen wurde. Damit protestieren Zukunft wird, die neue linke Aktivisten und The- die Sänger gegen die ökonomisch undurchsich- oretiker in- und außerhalb der Region vertreten. tige architektonische Neugestaltung der maze- Ein interessantes Phänomen in diesem Zu- donischen Hauptstadt, die zugunsten von antik sammenhang ist die Gründung selbstorganisier- oder barock anmutenden Monumenten und Ge- ter Chöre, die eine antifaschistische Musiktradi- bäuden die sozialistische Geschichte der Stadt tion des ehemaligen Jugoslawiens wiederbeleben. unsichtbar gemacht hat. Beispielsweise singt der Chor „Kombinat“ aus Zahlreiche Gruppen von Künstlern und Ak- Ljubljana, der 2008 am 27. April gegründet tivisten versuchen mit ihren Projekten, Jugosla- wurde, also am „Tag des Widerstands“, ehe- wien vom heutigen „nationalistisch-kapitalisti- mals sozialistischer „Tag der Befreiungsfront“ schen Konsens“ aus zu verstehen. 08 So werden und heute Nationalfeiertag in Slowenien, antifa- etwa auf mehreren Archivplattformen breit ge- schistische und Partisanenlieder aus verschiede- fächerte geisteswissenschaftliche Publikationen nen Teilen des ehemaligen Jugoslawien, um Lie- aus der jugoslawischen Zeit gesammelt, gespei- der und Werte aus der Vergangenheit vor dem chert und zugänglich gemacht. Beispielswei- se versteht sich das Portal „Učitelj neznalica i

07 Vgl. Ljiljana Bukvić, Ne daju im da idu u toalet, teraju ih da njegovi komiteti“ (Der ignorante Lehrer und nose pelene (Verbiete ihnen, zur Toilette zu gehen und zwinge seine Komitees) als „Ort der Selbstbildung und sie, Windeln zu tragen), 27. 4. 2016, www.danas.rs/danasrs/ öffentliches Bibliotheksarchiv für Texte, Zeit- ekonomija/_ne_daju_im_da_idu_u_toalet_teraju_ih_da_nose_ schriften und Bücher aus den jugoslawischen pelene.4.html?news_id=319688; Danas, Sloga: Tortura u Juri, rad- Geisteswissenschaften“. 09 Künftig sollen auch nicima savetuju da nose pelene (Gewerkschaft Sloga: Folter in Jura, Arbeiter sollen Windeln tragen), 28. 4. 2016, http://rs.n1info.com/ zeitgenössische Veröffentlichungen gesammelt a155764; Južne Vesti, Olimpias: Toaleti za radnike ostaju zaključani werden, die „der besten Tradition der jugoslawi- (Toiletten bleiben für Arbeiter geschlossen), 14. 9. 2017, www. schen Geisteswissenschaften“ folgen. 10 Für die b92.net/biz/vesti/srbija.php?yyyy=2017&mm=09&dd=14&nav_ id=1303499; AP, Dosta je bilo: Obrenovac krši pravo građana na tajnost podataka o zdravlju (Genug: Obrenovac verletzt Recht 08 Dedić (Anm. 1), S. 172. auf Schutz von Gesundheitsdaten, 8. 8. 2016, www.novimagazin. 09 Siehe die Selbstbeschreibung des Projekts unter http://novi. rs/vesti/dosta-je-bilo-obrenovac-krsi-pravo-gradjana-na-tajnost- uciteljneznalica.org. podataka-o-zdravlju. 10 Ebd.

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Mitwirkenden ist ein solches Archiv für die oh- den vergangenen Jahren bei ideologischen Ausei- nehin in der akademischen Wissensproduktion nandersetzungen häufig als Anschuldigung vor- marginalisierten Geisteswissenschaften unent- gebracht. 13 behrlich. Denn diese Texte, denen in den postju- Sowohl von den politischen und ökonomi- goslawischen Gesellschaften keine intellektuelle schen Eliten im öffentlichen Diskurs vor Ort als Aufmerksamkeit zuteilwird, transportieren ihrer auch im „Westen“ wird die Jugonostalgie als eher Ansicht nach die Alternative zum existierenden unangenehme Überraschung wahrgenommen, als System in Serbien und weltweit und sind für ein geradezu unerwartet von diesen Gesellschaften, Verständnis des 20. Jahrhunderts der jugoslawi- die gerade begonnen haben, die Vorzüge einer schen Nationen essenziell. pluralistischen Demokratie und kapitalistischer Ferner setzt sich eine sehr produktive Kul- Märkte zu genießen, und endlich, nach mehr als turszene in den postjugoslawischen Gesellschaf- 50 Jahren „künstlicher Einheit im Sozialismus“ ten reflexiv und kritisch mit dem Erbe des sozi- zu ihrem „wahren Wesen“ und ihren „histori- alistischen Jugoslawien und seiner gewaltsamen schen Wurzeln“ zurückgekehrt seien. Im euro- Auflösung auseinander. Schriftsteller, Künstler, päischen Kontext, wo das Paradigma der beiden Architekten, Theaterregisseure arbeiten zusam- europäischen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts men und überwinden dabei nationale Grenzen. stark präsent ist, das den Sozialismus auf eine Ihre Produktionen, die bereits als postjugoslawi- Ebene mit dem Nationalsozialismus setzt, begeg- scher Film, Literatur, Theater und so weiter be- nen EU-Vertreter und Politiker positiven Erinne- kannt sind, sorgen dafür, dass die postjugoslawi- rungen an den Sozialismus nicht mit Wohlwol- schen Räume bei der künstlerischen Verarbeitung len. Vielmehr betrachten sie jegliche Nostalgie als der gemeinsamen Vergangenheit miteinander ver- Folge eines Gefühls, beim Übergang vom Kom- bunden bleiben. 11 munismus zur Demokratie schlecht weggekom- men zu sein, 14 oder lehnen sie mit dem moralis- UMSTRITTENE tischen Argument ab, dass es unhaltbar sei, sich NOSTALGIE positiv zu einem totalitären System zu äußern. Nationale politische Eliten in den postsozialis- Schon ein flüchtiger Blick in regionale Medien- tischen Staaten neigen dazu, den Sozialismus als portale, Meinungsumfragen und soziale Netz- eine Ideologie zu behandeln, die im Grunde un- werke zeigt, dass über diese Entwicklungen hi- europäisch ist, ihren Ursprung in Asien hatte, naus recht viele „Durchschnittsbürger“ der ihnen aufgezwungen wurde und dabei ihre an- Nachfolgestaaten Jugoslawiens trotz der zeitli- sonsten tief verankerte europäische Identität be- chen Distanz und intensiven Nationalisierung drohte. Deshalb wird der Beitritt zur EU fast im- des postjugoslawischen Raums lieb gewonne- mer als „Heimkehr“ dargestellt. ne positive Erinnerungen an das Leben im ge- Sogar Aktivisten, Künstler und Wissenschaft- meinsamen sozialistischen Land pflegen. 12 Die- ler, die sich bei ihrer Kritik an der gegenwärtigen ses Phänomen der sogenannten Jugonostalgie ist Politik selbst auf Jugoslawien beziehen, sehen die eng verknüpft mit der jugoslawischen Devise der „Mainstream-Jugonostalgie“ mitunter als pro- „Brüderlichkeit und Einheit“. Es steht in schar- blematisch und politisch schädlich an. Norma- fem Kontrast zu nationalistischen Diskursen in lerweise als Überbegriff für die nachdrückliche den neu gegründeten Staaten und wurde daher in emotionale Erinnerung an verschiedene Aspekte des Lebens im Sozialismus verwendet, wird die Jugonostalgie fast ausschließlich im Lichte von 11 Vgl. etwa Dino Murtić, Post-Yugoslav Cinema: Towards a Konsumpraktiken interpretiert, von Produkten Cosmopolitan Imagining, London 2015; Gordana Crnković, Post- Yugoslav Literature and Film: Fires, Foundations, Flourishes, Lon- mit Symbolcharakter für den jugoslawischen All- don–New York 2012; Dijana Jelača, Dislocated Screen Memory: Narrating Trauma in Post-Yugoslav Cinema, New York 2016. 12 Vgl. etwa Sven Milekić, Rise of Yugo-Nostalgia „Reflects 13 Vgl. Dejan Kršić, Work in Progress, Radonja Leposavić (Hrsg.), Contemporary Problems“, 14. 3. 2017, www.balkaninsight.com/ VlasTito iskustvo Past Present, Belgrad 2004, S. 31. en/article/yugonostalgia-as-result-of-unfinished-nation-building- 14 Vgl. Joakim Ekman/Jonas Linde, Communist Nostalgia and processes-03-14-2017; „Yugo-Nostalgia“ Is Widespread in Serbia the Consolidation of Democracy in Central and Eastern Europe, and Bosnia – Survey, 26. 5. 2017, www.b92.net/eng/news/ in: Journal of Communist Studies and Transition Politics 3/2005, world.php?yyyy=2017&mm=05&dd=26&nav_id=101379. S. 354–374, hier S. 357.

35 APuZ 40–41/2017 tag wie das Cockta-Getränk, die Zastava-Autos, schung in Serbien gesammelt habe, zwar tief im YU-Rock und Popmusik – „Mode, Lebensmit- persönlichen Erleben verankert. Aber sie reflek- tel und andere solche Dinge“. 15 Nach dieser Auf- tieren mehr als die physische Erfahrung der In- fassung sind etwa Balkan-Partys und ritualisierte dustriearbeit in Jugoslawien und die unmittelba- Besuche im „Haus der Blumen“, Titos Mausole- re körperliche Demütigung in der Zeit nach dem um in Belgrad, und in Titos Geburtsort Kumro- Sozialismus. Denn diese Erinnerungen sind im vec an seinem Geburtstag am 25. Mai Ausdruck Grunde Narrative der sozialistischen Moderni- von Jugonostalgie. sierung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Statt durchdachte und politisch relevante An- und der scharfe Kontrast, den sie verdeutlichen, sprüche zu artikulieren, belebt diese Art der Ju- ist auch einer zwischen der Vergangenheit, in gonostalgie der Anthropologin Svetlana Slapšak der Arbeiter sich als Akteure der Modernisie- zufolge nur jene Aspekte der jugoslawischen rung wahrnahmen, und der Gegenwart, in der Kultur wieder, die am sichtbarsten und zugäng- sie keine gesellschaftliche Handlungsmächtig- lichsten waren, aber auch am banalsten und kit- keit haben. 18 schigsten. Daher optiert sie für eine andere, intel- Mehrere kollektive Aktionen der vergange- lektuell legitimierte Sehnsucht nach Jugoslawien nen Jahre bestätigen diese Verknüpfung zwischen und „seinen realen, produktiven und immer noch jugoslawischen Erfahrungen und der Wahrneh- wichtigen Errungenschaften, von denen manche mung von Autonomie und Handlungsmächtig- direkt in die gegenwärtige Weltkrise eingeschrie- keit: Im Februar 2014 entstanden aus landeswei- ben sind: Gleichheit, das Recht auf Arbeit, Kran- ten Protesten in Bosnien-Herzegowina zahlreiche kenversicherung, Gleichberechtigung“. 16 Eine sogenannte Plena. Diese Volksversammlungen reflektierte Auseinandersetzung mit der Erfah- waren nach mehr als zwei Jahrzehnten der Ver- rung des Sozialismus ist aber nicht Intellektuel- fangenheit in ethnisch definierter Politik der ers- len vorbehalten und sollte auch kein Privileg der te nennenswerte Versuch, eine staatsbürgerliche Elite sein. Form von Nationalität wiederherzustellen. Die Bezeichnung „Plena“ bezieht sich sogar direkt SEHNSUCHT NACH auf die in der sozialistischen Zeit erfahrene Ge- HANDLUNGSMÄCHTIGKEIT meinschaft und die kollektive Handlungsmäch- tigkeit, die im Transformationsprozess verloren Folgt man der Aufforderung des Anthropolo- gegangen ist. gen Dominic Boyer, positive Bezugnahmen auf Ein weiteres Beispiel ist die überwältigend Jugoslawien durch die Bürgerinnen und Bürger rasche und leidenschaftliche Reaktion von Bür- der postjugoslawischen Gesellschaften ernster gerinnen und Bürgern im gesamten postjugosla- zu nehmen, 17 so ist festzustellen, dass die Men- wischen Raum bei den Überschwemmungen in schen weder ausschließlich über die banalsten, Serbien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina im unmittelbarsten und „konsumierbarsten“ Aspek- Mai 2014: Kroaten, Serben, Slowenen und Ma- te ihrer sozialistischen Erfahrung sprechen, noch zedonier organisierten nicht nur die Sammlung ausschließlich über den Verlust von Sicherheit, und den Transport von enormen Mengen Hilfs- gesellschaftlicher Unterstützung und der Gewiss- gütern in die betroffenen Gebiete, auch Leute aus heit, dass sich um alles gekümmert wird. dem einen Teil des ethnisch geteilten Bosnien hal- So sind etwa die Erinnerungen der Arbei- fen Menschen im anderen Teil, Asylbewerber ret- ter an ihre Tätigkeit in einer großen sozialisti- teten Bürger in Not und beteiligten sich bei den schen Fabrik, die ich während meiner Feldfor- Aufräumarbeiten, während chinesische Ladenbe- sitzer kostenlose Gummistiefel verteilten. Diese

15 Primož Krašovec, (Yugo)Nostalgia, Atlas of Transformation, Solidarität ging mit Bezugnahmen auf das sozi- 2011, http://monumenttotransformation.org/atlas-of-transformati- alistische Jugoslawien und sein Erbe einher, und on/html/n/nostalgia/yugonostalgia-primoz-krasovec.html. noch ehe das Wasser völlig zurückgegangen war, 16 Svetlana Slapšak, Jugonostalgija i smeh (Die Jugonostalgie und das Lachen), 13. 12. 2008, http://pescanik.net/jugonostalgija-i-smeh. 17 Vgl. Dominic Boyer, From Algos to Autonomos: Nostalgic 18 Für eine detaillierte Erörterung vgl. Tanja Petrović, „When We Eastern Europe as Postimperial Mania, in: Maria Todorova/Zsuzsa Were Europe“: Socialist Workers in Serbia and Their Nostalgic Gille (Hrsg.), Post-Communist Nostalgia, New York–Oxford 2010, Narratives, in: Maria Todorova (Hrsg.), Remembering Communism: S. 17–28. Genres of Representation, New York 2010, S. 127–153.

36 Jugoslawien APuZ hatten sich die Freiwilligen für den Wiederaufbau Diese These der politischen Relevanz einer in „Arbeitsbrigaden“ organisiert. emotionalen Auseinandersetzung mit der Ver- Diese Beispiele legen nahe, dass die Jugonos- gangenheit stützt auch der Philosoph Boris Bu- talgie Ausdruck eines verlorenen Gefühls ist, so- den. Ihm zufolge bildet die soziale Anästhesie, wohl Akteur des eigenen Lebens als auch breiter die die mit der Ausradierung der sozialistischen angelegter ökonomischer und sozialer Prozesse Vergangenheit einher gehende soziale Amnesie zu sein. Sie verweist auf jene Sehnsucht, „ein Fak- ermöglicht, die Grundlage für die Transitions­ ­ tor in der Welt“ zu sein, wie sie Tomaž Mastnak ideo­logie: „Die gesellschaftlichen Widersprüche artikuliert. Anders als die vorherrschenden neoli- des Postkommunismus – die immer weiter aufrei- beralen und „transitionalen“ politischen Diskur- ßende Kluft zwischen Arm und Reich, die Auf- se zum Sozialismus suggerieren, nahmen sich die lösung aller Formen sozialer Solidarität, die him- Bürgerinnen und Bürger im Sozialismus offenbar melschreiende soziale Ungerechtigkeit, das weit stärker als gesellschaftlich Handelnde wahr als verbreitete soziale Leid, usw. – bleiben affektiv heute, da sie sich gegenwärtig nicht in der Lage unbesetzt. (…) Die Rede ist von einer Art sozi- sehen, ihre Wünsche und Visionen in die Tat um- aler Anästhesie, die zu den auffälligsten und zu- zusetzen. 19 gleich rätselhaftesten Phänomenen der postkom- Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist die munistischen Transformation gehört.“ 21 Jugonostalgie kein reaktionäres, irrationales und Die emotional aufgeladene Nostalgie verhin- prototalitäres Gefühl, sondern eine mobilisie- dert, dass Ruinen des sozialistischen Jugoslawi- rende, legitimierende und sogar emanzipatori- en und seiner modernistischen Utopie friedlich sche Praxis. Im Gegensatz zur vorherrschenden „eingebürgert“ und zum Teil der Geschichte ge- Ansicht, postsozialistische Nostalgie verhinde- macht oder schlicht als Zeichen der „unangemes- re eine selbstständige Reflexion über die Ver- senen sozialistischen Vergangenheit“ ignoriert gangenheit und dränge so bereits marginalisierte und vergessen werden. Durch die Nostalgie blei- Subjekte in postjugoslawischen Gesellschaften ben sie „unruhig und beunruhigend“. 22 Denn von zusätzlich an den Rand, scheint ihr eine affektive ihr belebt, werden diese Ruinen zur Erinnerung Kraft innezuwohnen, die sich aus einem tiefer- nicht nur an die Vergangenheit, sondern auch an gehenden Wissen über gesellschaftliches Leben die Werte, die für Zukunftsvorstellungen not- speist. 20 Obwohl ihr sentimentaler Charakter in wendig sind, etwa Solidarität, Verantwortung, den dominanten Diskursen das Hauptargument Gemeinschaft, die Arbeit an sich sowie, vielleicht ist, um der Jugonostalgie jegliche Relevanz für am wichtigsten, an das Gefühl persönlicher und politisches und gesellschaftliches Handeln abzu- kollektiver Autonomie. sprechen, ist es gerade diese affektive Dimensi- on, die Bezüge zur jugoslawischen Erfahrung zu Übersetzung aus dem Englischen: Sandra H. Lustig, legitimen politischen Argumenten macht. Denn Hamburg. die emotionale Verbundenheit und Auseinan- dersetzung beziehungsweise ihre Möglichkeit legen nahe, dass Bürgerinnen und Bürger Jugos- lawiens sich als autonome und handlungsfähige Subjekte wahrnahmen.

19 Diesen Verlust der Handlungsmächtigkeit diskutieren auch Jes- sica Greenberg, On the Road to Normal: Negotiating Agency and State Sovereignty in Postsocialist Serbia, in: American Anthropo- logist 1/2011, S. 88–100; Maja Petrović Šteger, Parasecurity and Paratime in Serbia, in: Morten Axel Pedersen/Martin Holbraad (Hrsg.), Times of Security: Ethnographies of Fear, Protest and the Future, London 2013, S. 141–162. TANJA PETROVIĆ 20 So Elisabeth Blackmar, Modernist Ruins, in: American Quarter- ist promovierte Linguistin und Anthropologin und ly 2/2001, S. 324–339, hier S. 328. 21 Boris Buden, Zone des Übergangs: Vom Ende des Postkommu- leitet das Institute of Culture and Memory Studies nismus, Frank­furt/M. 2009, S. 69. in Ljubljana, Slowenien. 22 Blackmar (Anm. 20), S. 333. [email protected]

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MYTHOS TITO Marc Halder

Das kurze 20. Jahrhundert mit seinen Wirren, durchstreifen, oder war es schlicht der Wille zur Verwerfungen, Innovationen und radikalen Um- Macht? Für das Verständnis der möglichen Moti- brüchen brachte Karrieren hervor, die heute nur ve ist es entscheidend, sich vor Augen zu führen, schwer vorstellbar erscheinen. Eliten vergingen dass die kommunistische Bewegung in den 1920er – etwa die Königshäuser nach dem Ersten Welt- Jahren noch weitgehend unverbraucht war. Noch krieg –, und neue Klassen von Funktionseliten konnte sie – je nach Perspektive – für eine strah- bildeten sich heraus, ob in den neu entstande- lende Zukunft, für eine wahrhafte Moderne stehen. nen Demokratien oder den sogenannten Volksre- Je weniger das serbisch dominierte König- publiken nach dem Zweiten Weltkrieg. Nur vor reich es verstand, einen Ausgleich der widerstre- diesem Hintergrund ist der Aufstieg des 1892 im benden Nationalinteressen der in ihm vereinigten Habsburger Reich in kleinbäuerliche Verhältnisse Völker zu finden, umso repressiver setzte es sich hineingeborene Josip Broz zu verstehen. 01 seinen Widersachern zur Wehr. In den Strudel der Bildung war dabei nicht der Schlüssel: Die we- Repression geriet auch Josip Broz: 1928 wurde er nigen Jahre in der Volksschule und auch die an- wegen kommunistischer Agitation zu einer fünf- schließende Schlosserlehre waren wohl kaum jährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Diese brachte geeignet, Josip Broz mit einem breiten Wissen aus- ihn im berüchtigten Gefängnis Lepoglava in die zustatten und seine intellektuelle Brillanz zu entfal- unmittelbare Nähe zu kommunistischen Ideolo- ten. Die Bildung erfolgte auf anderen Wegen: Zu- gen und dem Führungszirkel der KPJ. Man kann nächst durch arbeitsbedingte „Wanderjahre“ durch diese Zeit als eine sehen, in der er entscheiden- die Industrielandschaften Deutschlands und Ös- de Kontakte knüpfte und zu einem tieferen Ver- terreichs, womöglich durch den Einsatz im Ersten ständnis der kommunistischen Ideologie gelang- Weltkrieg, nach dessen Ende er – nach eigenen An- te. Anders ließe es sich auch kaum erklären, dass gaben aus russischer Gefangenschaft befreit – Zeu- er kurz nach seiner Entlassung in das Zentralko- ge der Oktoberrevolution wurde. War dies (s)ein mitee der KPJ aufstieg. „Erweckungserlebnis“, wie es in die später revolu- Nach Schulungen in Moskau und mehreren tionär aufgeladene Biografie passte? Aufenthalten im legendären Hotel Lux, wo Netz- Fest steht, dass Josip Broz nach seiner Rück- werke geknüpft und künftige Führungseliten für kehr in das nach dem Ersten Weltkrieg aus der die nach dem Zweiten Weltkrieg entstehenden Konkursmasse des Habsburger Reiches neu ge- „Volksdemokratien“ ausgebildet wurden, wurde gründete Königreich der Serben, Kroaten und Broz nach einer von Stalin initiierten Säuberung Slowenen begann, im Gewerkschaftsumfeld und des Zentralkomitees der KPJ 1934 zum General- später auch in der ab 1921 als staatsfeindlich ver- sekretär der Partei ernannt. Zwar war er im Land botenen Kommunistischen Partei Jugoslawiens selbst kaum bekannt und auch die Mitgliederzahl (KPJ) politisch tätig zu werden. Hier erhielt er eine der Kaderpartei hatte sich in der Illegalität nicht zweite Sozialisation­ als kommunistischer Agita- nennenswert vergrößert, aber dennoch hatte er tor, als Untergrundkämpfer für eine „gerechte Sa- nun eine Position erlangt, die ihm in den kom- che“. Vom „Ende der Geschichte“ her betrachtet, menden Jahren zur Macht verhelfen sollte. mag man sich fragen: Was suchte ein Mitte 30-Jäh- riger in diesen geheimen, verschwörerischen Zir- AUS DEM PARTISANENKAMPF keln einer in Jugoslawien marginalisierten Partei GEBOREN mit kaum mehr als einigen Tausend, vielleicht auch nur einigen Hundert Mitgliedern? 02 War es der Als das Deutsche Reich das Königreich Jugosla- Wunsch, die Welt zu verändern, war es der Ner- wien am 6. April 1941 angriff, zeigte sich schnell venkitzel, mit falschen Identitäten das Land zu die Zerbrechlichkeit des südslawischen Einheits-

38 Jugoslawien APuZ staats: Die Armee zerfiel innerhalb weniger Tage, reits im September 1941, dass für jeden aus dem da nicht nur Kroaten und Slowenen massenhaft Hinterhalt getöteten deutschen Soldaten 50 bis desertierten – sie wollten ihr Leben nicht für das 100 Zivilisten zu töten seien. Diese Gewaltwill- ungeliebte Königreich aufs Spiel setzen. Nach elf kür trieb den Widerstandsbewegungen erst recht Tagen kapitulierte Jugoslawien. Das Staatsgebiet neue Anhänger in die Arme. wurde zwischen dem Deutschen Reich und sei- Josip Broz, der bereits in den 1930er Jahren nen Verbündeten, Italien und Bulgarien, aufge- den Parteinamen „Tito“ angenommen hatte, wur- teilt. Auf dem Gebiet Kroatiens entstand mit dem de mit dem Wachsen der Partisanenbewegung Unabhängigen Staat Kroatien ein faschistisches immer bekannter und zunehmend zur Gallionsfi- Marionettenregime, dessen Führer Ante Pavelić gur des kommunistischen Widerstands. Ab Mit- sofort dazu überging, unliebsame Volksgruppen te 1943 fahndete schließlich auch die Wehrmacht und Religionsgemeinschaften – allen voran Ser- mit Plakaten nach ihm und setzte eine Belohnung ben und Juden – brutal verfolgen zu lassen. In von 1000 Goldmark auf seine Ergreifung aus. Die Serbien konnten sich Teile der Zwischenkriegse- Popularisierung nahm nun ihren Anfang: Un- liten nicht mit der bestürzenden Niederlage ab- ter den Partisanen, oft waren es sehr junge Men- finden und kämpften als Tschetniks unter dem schen, kursierten an südslawische Heldenepen vormaligen Oberst der königlich-jugoslawischen angelehnte Geschichten und Lieder über Titos Armee Dragoljub Draža Mihailović gegen die besonderen Mut und kämpferisches Geschick. deutsche Besatzung. Hierbei wurden bewusst oder unbewusst tradier- Als wenige Monate später das Deutsche te Mythen revitalisiert. Der erfolgreiche Kampf Reich die Sowjet­ ­union überfiel, begann auch Jo- gegen den militärisch fast übermächtigen Gegner sip Broz, eine Widerstandsbewegung zu organi- und dessen glücklose Versuche, den Partisanen- sieren. Zwar hatte die KPJ nach wie vor eine ge- anführer zu ergreifen, luden das Charisma ­Titos ringe Mitgliederzahl, dafür aber war sie in allen nach und nach mit dem Nimbus des genialen Teilen des früheren Königreichs aktiv. Das bru- Kriegshelden auf. 03 tale Besatzungsregime insbesondere der Wehr- Folgt man dem Begründer der deutschen So- macht, aber auch die unsäglichen Repressionen ziologie, liegt darin ein Schlüssel zum Verständ- des Pavelić-Regimes in Kroatien entfachten den nis des „Mythos Tito“: Max Weber definiert Cha- Widerstandsgeist vor allem in Teilen der jungen risma nicht als eine Eigenschaft, die jemand hat, Generation, die den gesellschaftsutopischen Visi- sondern als ein soziales Konstrukt, das die Basis onen kommunistischer Prägung nicht grundsätz- für eine herrschaftsanerkennende Beziehung bil- lich ablehnend gegenüberstand. det. Charisma wird einer Person dabei durch die Broz operierte erneut aus dem Untergrund Anhängerschaft zugeschrieben. Den Ausgangs- heraus und konnte – dank seiner Seilschaften aus punkt bilden besondere Leistungen, aber die Zu- der Zeit im Gefängnis – erste Partisaneneinheiten schreibung bleibt dynamisch: Der charismatische aufstellen. Diese waren zumeist schlecht ausgebil- Führer muss sich in den Augen seiner Anhän- det und noch schlechter ausgerüstet, agierten aber ger bewähren, sonst endet der Zuschreibungs- mit einigem Geschick sowohl gegen die Okku- prozess, und das Charisma verliert seine Wir- pationsmächte als auch gegen die einheimischen kungsmächtigkeit in der „Veralltäglichung“ der Kontrahenten, allen voran die serbisch-nationa- Herrschaft. Weber geht also davon aus, dass sich listischen Tschetniks. Je erfolgreicher die Parti- charismatische Herrschaft nur dann stabilisieren sanen mit ihren Anschlägen gegen die deutsche kann, wenn sie dauerhaft Vorteile für die Anhän- Besatzung waren, umso repressiver reagierte das gerschaft bringt, die er als „Bewährungsmomen- Besatzungsregime. Im sogenannten Sühnebefehl te“ bezeichnet. 04 Die Theorie Webers lässt sich verfügte das Oberkommando der Wehrmacht be- hervorragend auf die Beziehung zwischen Tito

01 Vgl. die einschlägigen Biografien von Stevan K. Pavlowitch, 03 Vgl. Marc Halder, Der Titokult, München 2013. Tito, Ohio 1992; Jasper Ridley, Tito, London 1994; Richard West, 04 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1976; Tito and the Rise and Fall of Yugoslavia, New York 1994; Pero Dirk Käsler, Eine Theorie postrevolutionärer Prozesse, München Simić, Tito, Zagreb 2009; Jože Prijevec, Tito, München 2016. 1977; Frank Möller, Zur Theorie des charismatischen Führers im 02 Vgl. Srećko M Džaja, Die politische Realität des Jugoslawis- modernen Nationalstaat, in: ders. (Hrsg.), Charismatische Führer mus, München 2002. der deutschen Nation, München 2004, S. 1–18.

39 APuZ 40–41/2017 und den Partisanen anwenden. Die Zuschreibung fen – und die militärischen Erfolge der Partisa- von Charisma erfolgte hier durch die Partisanen, nen gegen den übermächtigen Gegner lieferten und der Widerstandskampf wurde zum ersten die wesentliche Grundlage für die Mythologi- Bewährungsmoment der im Entstehen begriffe- sierung Titos. nen Herrschaft Titos. 1944 sicherten die Partisanen ihre militärische Position und konnten weitere Gebiete befreien. MYTHOLOGISIERUNG UND Anders als in den späteren sozialistischen Nach- PERSONENKULT barstaaten gelang den Partisanen die Befreiung ohne nennenswerte Hilfe der Roten Armee, die 1943/44 wurden die Partisanen zur stärksten Wi- daher nach Kriegsende auch nicht im Land sta- derstandsgruppe auf dem Gebiet des früheren tioniert war. In diesem Umstand liegt auch das Königreichs Jugoslawiens. Die Alliierten erkann- Selbstbewusstsein der jugoslawischen Kommu- ten ihre strategische Bedeutung und begannen, nisten begründet, das wenige Jahre später eine die Bewegung materiell und logistisch zu unter- entscheidende Rolle im Konflikt mit der Sowjet­ ­ stützen. Dabei spielten die Briten eine heraus- union spielen sollte. Zunächst jedoch gerierte sich ragende Rolle, die Verbindungsoffiziere in das die KPJ als treue Schülerin Stalins, und auch der Hauptquartier der Partisanen entsandten, wäh- Personenkult um Tito wurde nach sowjetischem rend die Unterstützung des „großen Bruders“ Muster entworfen und umgesetzt. So­wjet­union kaum eine Rolle spielte. Den Parti- Deutlich wird dies in Anweisungen, die in sanen gelang es zunehmend, in befreiten Gebie- postjugoslawischen Archiven einsehbar sind: ten eigene Verwaltungsstrukturen aufzubauen, Der Kult um Tito wurde ab 1945 von Partei und etwa auf dem Gebiet Bosniens. Auch der Tito- Propa­ganda­apparat gezielt entwickelt. Einen be- Mythos gewann damit an Kontur. sonderen Ausdruck fand dieser in sogenannten Am 29. November 1943 versammelten sich Stafettenläufen, die zu Titos (vermeintlichem) Delegierte aus allen Landesteilen in der bosni- Geburtstag am 25. Mai 1945 erstmals mit großem schen Stadt Jajce. Die Sitzung des sogenann- Aufwand veranstaltet wurden. Sie führten quer ten Antifaschistischen Rates der Volksbefrei- durch das Land in die Hauptstädte der neu ge- ung Jugoslawiens (AVNOJ) legte nicht nur die gründeten Volksrepublik Jugoslawien, während Grundlagen für die spätere Nachkriegsordnung als Höhepunkt eine Parade mit Abschlusskund- – Jugoslawien sollte in einer sozialistischen und gebung in Belgrad stattfand. Hier huldigte die Be- föderativen Form wieder entstehen – sondern völkerung ihrem „geliebten Marschall“, die Stadt implementierte auch den Kult um den Partisa- war mit jugoslawischen Fahnen und Tito-Bildern nenführer, der bei dieser Gelegenheit seine ers- geschmückt. Der ebenfalls praktizierte Kult um te dokumentierbare Form erhielt: 05 Hinter dem Stalin spielte dabei eine erkennbar untergeordne- Rednerpult wurde eine Büste Titos platziert und te Rolle. der Partisanenführer in den Rang eines Mar- Der Titokult wurde der jugoslawischen Nach- schall erhoben. Dass der jugoslawische Kom- kriegsgesellschaft somit von Beginn an einge- munistenführer damit nun Stalin gleichgestellt schrieben und Josip Broz dabei zur Symbolfigur war, wurde in Moskau als Affront gewertet. der nach Kriegsende mantraartig beschworenen Der Ablauf der Sitzung war zwar choreografiert „Brüderlichkeit und Einheit“ des neuen jugos- worden, gleichwohl scheint die Anerkennung, lawischen Föderalstaats. Gewiss teilten nicht alle die Titos Herrschaft dort erhielt, keine rein in- die Begeisterung für das sozialistische Gesell- szenierte gewesen zu sein. Die soziale Basis der schaftsexperiment. Die faschistischen kroatischen Partisanen war bereit, ihrem Anführer das herr- Ustascha-Anhänger, slowenische Domobrancen­ schaftsstiftende Charisma zuzusprechen und (Heimatverteidiger), die nationalistischen serbi- verehrte ihn in authentischer Weise. Der Nim- schen Tschetniks und Kollaborateure der Besat- bus des Unbesiegbaren – tatsächlich waren alle zungsmächte hatten erbitterten Widerstand gegen Versuche der Wehrmacht gescheitert, Tito in die Partisanen geleistet. Nun wurden sie verfolgt großangelegten Kommandoaktionen zu ergrei- und fielen den als „Abrechnung mit einheimi- schen Feinden“ bezeichneten Aktionen wie dem 05 Zur politischen Geschichte Jugoslawiens vgl. Holm Sundhaus- Massaker von Bleiburg zum Opfer. Damit war sen, Geschichte Jugoslawiens. 1918–1980, Stuttgart 1982. der letzte Schritt zur Festigung der Herrschaft

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Abschlussveranstaltung des Stafettenlaufs zu Titos Geburtstag 1948. Quelle: Getty Images (Walter Sanders) der jugoslawischen Kommunisten getan, die sich führung unruhig. Stalin war unter keinen Umstän- nunmehr ganz dem Wiederaufbau und der Sowje- den bereit, dem jugoslawischen Marschall einen tisierung des massiv zerstörten Landes widmeten. größeren Einfluss zuzugestehen, und ließ daher die Geheimdienstaktivitäten in Jugoslawien inten- BRUCH MIT sivieren. Gleichzeitig wurde deutlich, dass die So­ DER SO WJET UNION wjetunion­ kein besonderes Interesse an einer for- cierten Industrialisierung Jugoslawiens zeigte. Das Selbstbewusstsein, mit dem Tito sowohl ge- Die aus dieser Gemengelage resultierenden genüber Moskau als auch mit Blick auf die Alliier- Spannungen nahmen in der ersten Hälfte des Jahres ten auftrat, speiste sich aus der eigenen Machtbasis 1948 zu, bis Tito eine Einladung des Kominform- und seinen guten Verbindungen etwa zu den Kom- Büros ausschlug, mit dem die Sowjet­ union­ ihren munistenführern Albaniens, wo die Partisanen die Einfluss in Ost- und Südosteuropa auszudeh- Befreiungsbewegung unterstützt hatten, und Bul- nen versuchte. Es liegt nahe, dass er befürchtete, gariens. Als Tito dazu überging, offen von einer dort verhaftet zu werden, während gleichzeitig die Balkanföderation zu sprechen, wurde die Sowjet- moskautreue Fraktion der jugoslawischen Kom-

41 APuZ 40–41/2017 munisten die Macht in Jugoslawien übernommen mähliche Wiederannäherung an die Sowjet­ union­ hätte. Der Eklat führte am 28. Juni 1948 zum Aus- möglich. Tito verstand es außenpolitisch exzel- schluss Jugoslawiens aus dem sowjetischen Macht- lent, sowohl mit dem Ostblock als auch mit der bereich und damit zu einer sofortigen Beendigung westlichen Welt Geschäfte zu machen, von de- aller Handelsbeziehungen zu den östlichen Nach- nen Jugoslawien profitieren konnte. Tito selbst barstaaten. Die jugoslawischen Kommunisten re- bewegte sich mehr und mehr auf internationalem agierten geschockt, aber dem Machtzirkel um Tito Parkett und schien sich in der Rolle des weltge- gelang es mit repressiven Mitteln, den innenpoli- wandten Staatsmanns zu gefallen. Er knüpfte au- tischen Einfluss Moskaus zu brechen. Dennoch ßerdem wichtige Kontakte jenseits von Europa, stürzte das sowjetische Verdikt den wirtschaftlich etwa zu Ägyptens Staatschef Gamal Abdel Nas- schwachen jugoslawischen Staat in eine tiefe poli- ser, zu Indiens Premierminister Jawaharlal Neh- tische und ökonomische Krise. Trotz erheblicher ru oder dem indonesischen Machthaber Sukarno. Anstrengungen – zum Staatsgründungstag Jugo- Die Kontakte zwischen diesen Staaten, die alle- slawiens am 29. November 1948 rief die Komin- samt eine Politik der Unabhängigkeit von den form offen zum Sturz Titos und zum Kampf gegen beiden Machtblöcken in Ost und West und eige- den „Titoismus“ auf – gelang es Stalin aber nicht, ne Modernisierungskonzepte verfolgten, mün- Tito abzusetzen. deten 1961 in einen beeindruckenden Erfolg der Diese erste große Krise der charismatischen titoistischen Außenpolitik: Im September 1961 Herrschaft Titos mündete vielmehr in einen zwei- kamen Vertreter von 25 Staaten in Belgrad zu- ten Bewährungsmoment: Aus der Not heraus sammen und gründeten die „antiimperialistisch“ mussten sich die jugoslawischen Kommunisten ausgerichtete Organisation der Blockfreien Staa- nun von Moskau distanzieren, und dies machte ten, in der Jugoslawien fortan eine Führungsrolle den Weg frei für eine Neuinterpretation der mar- übernehmen sollte. xistischen Theorie jenseits stalinistischer Doktrin. Tito selbst intensivierte die außenpolitischen So wurde der Ausschluss Jugoslawiens aus dem so- Beziehungen Jugoslawiens durch eine intensi- wjetischen Machtblock zum Ausgangspunkt für ve Reisetätigkeit, auch in die neu entstandenen die Entstehung des jugoslawischen Selbstverwal- postkolonialen Staaten der „Dritten Welt“. Zwi- tungssozialismus und führte auch dazu, dass sich schen 1944 und 1980 absolvierte er 170 Staats- Jugoslawien neue Verbündete suchen musste, da besuche im Ausland. 07 Die Reisen Titos und der es aus eigener Kraft nicht dauerhaft überlebensfä- pompöse Empfang ausländischer Staatschefs in hig gewesen wäre. Vor dem Hintergrund des be- Jugoslawien wurden zu einem neuen Signum der ginnenden Kalten Krieges erkannte Tito in der An- titoistischen Herrschaft und zu einem neuen Be- näherung an den Westen eine Chance. Die USA währungsmoment: Die Anerkennung, die Jugos- witterten demgegenüber in der Unterstützung Ti- lawien hierbei zuteilwurde, wirkte in die Gesell- tos die Gelegenheit, einen Keil in den sowjetischen schaft zurück, die sich ab den 1960er Jahren zu Hegemonialbereich zu treiben. Dank westlicher öffnen begann. Eine Rolle spielte dabei auch der Militär- und Wirtschaftskrise, aber auch dank des Massentourismus an die Adria, der zahlreiche Ju- Rückhalts, den die charismatische Herrschaft Titos goslawen mit Besuchern aus Ost und West zu- in der jugoslawischen Bevölkerung hatte, konnte sammenbrachte, sowie die Arbeitsmigration von sich Tito über Wasser halten. 06 Jugoslawen nach Deutschland. Zudem genossen die Jugoslawen im Gegensatz zu den Bewohnern AUF DEN BÜHNEN der Ostblockstaaten Reisefreiheit. DER WELT Wirtschaftlich waren die 1950er und 1960er Jahre eine Phase des stabilen Wachstums der ju- In den 1950er Jahren zeigten Wiederaufbau und goslawischen Volkswirtschaft, von dem die Be- Industrialisierung des Landes erste Erfolge, und völkerung profitierte. Konsumgüter wurden nachdem Stalin im März 1953 gestorben war, produziert und waren dank staatlich regulierter wurde ab Mitte des Jahrzehnts auch eine all- Preise auch für Durchschnittsverdiener einiger- maßen erschwinglich. Dem Selbstverwaltungsso-

06 Die westliche Politik gegenüber Jugoslawien wurde damals treffend mit keeping Tito afloat charakterisiert. Vgl. Ann Lane, 07 Vgl. Drago Zdunić et al. (Hrsg.), Drug Tito, Ljubljana 1981, Yugoslavia, Basingstoke 2004. S. 385–406.

42 Jugoslawien APuZ zialismus titoistischer Prägung schien es weitaus HÖHEPUNKT UND besser als den zentralistisch geführten Planwirt- SCHICKSALSSTUNDE schaften zu gelingen, die Konsumbedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Lange Schlangen vor Als die Krise ihren Lauf nahm, war Tito bereits und leere Regale in den Geschäften waren hier die 79 Jahre alt. Zwar funktionierte die charismati- Ausnahme. sche Beziehungsstruktur zwischen Tito und sei- Vor diesem Hintergrund bildete sich ein ge- ner Anhängerschaft noch, und jenseits der po- wisses jugoslawisches Selbstbewusstsein heraus. litischen Säuberungen gab es durchaus liberale Das „jugoslawische Modell“ strahlte in die Welt Freiräume in der jugoslawischen Gesellschaft, aus und fand nicht zuletzt in der westlichen Stu- aber der Kern der „charismatischen Botschaft“, dentenbewegung Sympathisanten und Anhän- die „Brüderlichkeit und Einheit“, hatte erste Ris- ger. Gleichzeitig wuchs jedoch auch in Jugosla- se bekommen. Die politische Klasse reagierte mit wien die Unzufriedenheit der jungen Generation: einer Ausweitung des Titokults. Die Feiern zu Ti- Trotz der guten Wirtschaftslage standen im Land tos 80. Geburtstag wurden in einem gigantischen selbst nicht genügend qualifizierte Arbeitsplätze Massenspektakel ins­ze­niert, die Huldigungen zur Verfügung, und auch die Divergenzen zwi- überschlugen sich förmlich, und die Person Tito schen der Rhetorik des Selbstverwaltungssozi- wurde mehr und mehr mit dem Staat Jugoslawi- alismus und seiner realen, oftmals bürokratisch en gleichgesetzt. überformten Umsetzung waren die Gründe. So Auch wenn es ein Tabu blieb, über eine mög- kam es 1968 in Jugoslawien zu zahlreichen, meist liche Nachfolge für Tito auch nur nachzudenken, aus der Studentenschaft heraus organisierten so versuchte der alternde Staatschef dennoch, Massendemonstrationen und der Besetzung etwa eine Nachfolgeregelung zu finden. Diese wurde der Universität von Belgrad. Indem sich Tito in schließlich in der neuen Verfassung von 1974 ko- einer Fernsehansprache hinter die Forderung der difiziert und legte fest, dass die Macht nach Ti- Studenten nach einer Eindämmung der Bürokra- tos Tod – er war Präsident auf Lebenszeit – auf tie und einer Weiterentwicklung des Selbstver- ein nach ethnischem Proporz zusammengesetztes waltungssystems stellte, anstatt der Bewegung Staatspräsidium übergehen sollte, dessen Vorsitz ein gewaltsames Ende zu setzen, gelang es ihm, jährlich zwischen den sechs Teilrepubliken und die Kritik in Zuspruch zu verwandeln und die Si- zwei autonomen Gebieten rotieren würde. Damit tuation rasch zu beruhigen. Einmal mehr konn- war klar: Einen starken Nachfolger für Tito wür- te sich seine Herrschaft in einer Krisensituation de es nicht geben können. bewähren. Die Verfassung legte außerdem ein hochkom- Dass die als staatserzeugender Mythos ge- plexes System für die wirtschaftlichen Beziehun- pflegte „Brüderlichkeit und Einheit“ der jugosla- gen der selbstverwalteten Betriebe fest. 08 Gleich- wischen Ethnien durchaus nicht unverbrüchlich zeitig geriet die Wirtschaft in eine Krise, deren war, wurde zu Beginn der 1970er Jahre deutlich. Auswirkungen auf den Lebensstandard der Be- Unter den Kommunisten der Nachkriegsgenera- völkerung durch die Aufnahme von Auslands- tion regte sich Unzufriedenheit über den ethni- krediten abgemildert und in weiten Teilen auch schen Proporz. Der Devisenschlüssel, mit dem die verdeckt wurden. Der Enthusiasmus, den die Einnahmen aus dem Tourismus über das gesam- Partisanengeneration für das sozialistische Pro- te Land, das nach wie vor von einem starken Ent- jekt aufgebracht hatte, verflog zusehends, und wicklungsgefälle von Nord nach Süd gekennzeich- es wurde spürbar, dass der Selbstverwaltungsso- net war, umverteilt wurden, stand in der Kritik der zialismus zunehmend in bürokratischen Regula- kroatischen Kommunisten. Als Forderungen nach rien erstarrte, ohne seine Versprechungen gehal- einer staatlichen Eigenständigkeit Kroatiens mit ten zu haben. Auch das Charisma Titos erstarrte eigener Armee aufkamen, griff Tito ein. Nun setz- in jener Zeit in den immer gleichen Ritualen und te er allerdings auf Repression und ließ Tausende Beschwörungen. Die unausgesprochene Frage: Anhänger der Reformbewegung verhaften. Auch „Was wird nach Tito?“ stand wie der berühmte wenn das „Krisenmanagement“ vordergründig rosa Elefant im Raum. zu einer Stärkung seiner Machtposition führte, so wurden doch bereits die Bruchlinien deutlich, an 08 Vgl. Pedro Ramet, Jugoslawien nach Tito, in: Osteuropa denen der Staat später zerbrechen sollte. 32/1982, S. 292–303.

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Als die Nachricht vom Tod des Staatschefs politischen Eliten zur Projektionsfläche für Feh- am 4. Mai 1980 gegen 20 Uhr verkündet wurde, ler und Versäumnisse. Aber die Stigmatisierung reagierte die Bevölkerung mit einer an Schock seiner Person führte dennoch nicht dazu, dass grenzenden Bestürzung. Die Bilder der Trauern- sein Charisma vollkommen schwand. den zeigten eine authentische Anteilnahme. Die Beerdigung des Partisanenführers wurde zu ei- WAS VOM MYTHOS nem letzten Triumph Titos umgedeutet und ist GEBLIEBEN IST bis heute einer der größten Staatsakte der neu- esten Geschichte: In den Tagen zwischen dem Nach den gewaltsamen Auseinandersetzungen, 5. und 8. Mai nahmen im Belgrader Parlaments- die den Zerfall Jugoslawiens begleiteten, schien gebäude mehr als eine halbe Million Menschen zunächst nicht viel vom Glanz des Charismati- Abschied von Tito. Unter den Trauergästen, die kers übrig. In den vergangenen Jahren zeigt sich am Sarg Titos vorbeizogen, befanden sich auch jedoch ein Phänomen, das als „Jugonostalgie“ zahlreiche Staatschefs und ausländische Delega- bezeichnet wird: 11 Die Vergangenheit wird da- tionen. Innerhalb von zwei Tagen waren allein bei zum Identitätsanker für Teile der Erlebnis- 1208 Personen aus 121 Staaten auf dem Belgrader generation und deren unmittelbare Nachfahren. Flughafen gelandet, um den Trauerfeierlichkeiten Trotz aller Abgrenzungsbemühungen der ehe- beizuwohnen. 09 maligen jugoslawischen Teilrepubliken und der Das Staatspräsidium, das in den kommenden widersprüchlichen erinnerungspolitischen Kon- Jahren von farblos wirkenden Bürokraten geführt stellationen verweist die nostalgische Erinnerung wurde, verschrieb sich einer Politik des „weiter an das sozialistische Jugoslawien auf ein kommu- so“ beziehungsweise in jugoslawischer Diktion nikatives Gedächtnis, das quer durch alle Ethni- „Posle Tita, Tito!“ (Nach Tito, Tito!). Am Perso- en und sozialen Schichten verläuft und dessen nenkult wurde festgehalten, insbesondere durch übergreifendes Element die Person Titos ist. In die weiterhin jährlich stattfindenden Stafettenläu- der Erinnerung an die sozialistische Vergangen- fe, deren Abschlussveranstaltungen in einen im- heit werden die positiv empfundenen Leistungen mer abstruseren Gigantomanismus abgleiteten. 10 des Systems nach wie vor mit seiner Herrschaft Mit dem Aufstieg von Slobodan Milošević assoziiert. Die Jugonostalgie verweist allerdings zum Vorsitzenden der serbischen Kommunisten kaum in die Sphäre des Politischen, sondern ver- begann der Abschied vom Kult um den früheren schafft dem Charisma Titos eher einen popkul- Staatschef. Milošević verfolgte eine serbisch-nati- turellen Nachklang. Was von Tito bleibt, ist we- onalistische Agenda, die maßgeblich zum allmäh- niger ein politisches Vermächtnis als sein Gesicht lichen Zerfall des Gesamtstaates beitrug. Ab 1987 auf Kaffeetassen, T-Shirts und Kühlschrank­ fanden die Stafettenläufe nicht mehr auf gesamt- magneten. 12 staatlicher Ebene statt, und 1990 erfolgte schließ- lich auch die offizielle Abkehr vom Kult um Tito, als an seinem Todestag die serbischen Medien den Personenkult kritisierten und es zu Demonstra- tionen gegen Tito kam. Tito wurde nunmehr für Teile der jugoslawischen Öffentlichkeiten und

09 Vgl. Maja Brkljačić, The Ritual of the Funeral of Josip Broz Tito, 2001, http://limen.mi2.hr/limen1-2001/maja_brkljacic.html; Sead Saračević et al. (Hrsg.), Bilo je časno živjeti s Titom (Es war eine Ehre, mit Tito zu leben), Zagreb 1980. 10 Vgl. Marc Živojinović, Der 25. Mai als Festtag des Titokultes, in: Südost-Forschungen 67/2008, S. 253–276. 11 Siehe auch den Beitrag von Tanja Petrović in dieser Ausgabe MARC HALDER (Anm. d. Red.). wurde mit einer Arbeit über den Titokult als Historiker 12 Vgl. Svetlana Boym, The Future of Nostalgia, New York 2001, S. 51 ff.; Ulf Brunnbauer/Stefan Troebst, Vorwort, in: dies. (Hrsg.), promoviert und ist Referent bei der Studienstiftung Die Erinnerung an den Kommunismus in Südosteuropa, Köln 2007, des Deutschen Volkes. S. 1–24. [email protected]

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