Die Haltung Der Berliner Universität Im Nationalsozialismus
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Bei seiner Berufung an die Universität Stockholm 1948 hielt der Slavist Max Vasmer (1886 - 1962) einen Vortrag über „Die Haltung der Berliner Universi- tät“ im Nationalsozialismus. Das politische Porträt von Universität und Preu- ßischer Akademie der Wissenschaften aus der Sicht eines Mitbeteiligten, aber keines Nationalsozialisten, ist – neben dem Bericht des emigrierten Bonner Orientalisten Paul Kahle 1940 – das bislang einzige bekannte Dokument sei- ner Art von einem Ordinarius jener Zeit. Die hier erstmals veröffentlichte Rede führt das Verhalten der Berliner Professorenschaft im Nationalsozialis- Marie-Luise Bott mus zurück auf deren politisches Profil vor 1933 und mündet zuletzt in eine Die Haltung der Berliner Universität im ethische Kategorisierung, womit sie Möglichkeiten des Widerstandes in den Blick nimmt. Neues aus der Geschichte der HU Nationalsozialismus. Max Vasmers Rückschau 1948 Bott: Max Vasmers Rückschau 1948 Bild Rückseite: Reichsführer der Deutschen Studentenschaft Andreas Feickert auf Neues aus der Geschichte der dem Balkon der Berliner Universität 1935 Humboldt-Universität zu Berlin Vorderseite: Schlafender Benutzer in der Preußischen Staatsbibliothek Berlin 1936 Band 1 Berlin 2009 | ISBN 978-3-9813135-6-7 Band 1 Marie-Luise Bott Die Haltung der Berliner Universität im Nationalsozialismus. Max Vasmers Rückschau 1948 Neues aus der Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin 1 Neues aus der Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin Band 1 Marie-Luise Bott: Die Haltung der Berliner Universität im Nationalsozialismus. Max Vasmers Rückschau 1948 Band 2 Reimer Hansen: Von der Friedrich-Wilhelms-Universität zur Humboldt-Universität zu Berlin. Die Umbenennung der Berliner Universität 1945 bis 1949 und die Gründung der Freien Universität Berlin 1948 Herausgeber: Der Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin Band 1 ISBN 978-3-9813135-6-7 B erlin 2009 Reihenherausgeber: Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte, Marie-Luise Bott Auflage: 600 Redaktion & Thomas Richter Herstellung Öffentlichkeitsarbeit der Humboldt-Universität zu Berlin Unter den Linden 6 10099 Berlin www.hu-berlin.de/pr Schutzgebühr: 5 EUR Fotonachweis: Werner Conitz, b p k (1. Umschlagseite) b p k (4. Umschlagseite) Nachlass Frank Siegmann (S. 187, 203) Nachlass Herbert Bräuer (S. 5, 197) Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Faksimile S. 24ff., S. 87) Dieser Band ist auch auf dem Dokumenten- und Publikationsserver der Humboldt-Universität zu Berlin edoc.hu-berlin.de erhältlich. Das Manuskript der Rede 7 Einführung 23 Faksimile und Transkription 89 Kommentar 1. Politisches Profil der Berliner Professorenschaft, Hoffnungen und „Fehler“ (Bl. 1 - 5) 2. Personelle Taktiken nationalsozialistischer Einflußnahme auf die Professoren (Bl. 6 - 9) 3. Organisatorische Maßnahmen nationalsozialistischer Hoch- schulpolitik zur Entmachtung der Professorenschaft (Bl. 10 - 13) 4. Verhaltensspielräume kollegialer Solidarität und Gründe für besondere Verfolgung (Bl. 14 - 17) 5. Nationalsozialistische Berufungspolitik und Teilerfolge der Philosophischen Fakultät (Bl. 18 - 20) 6. Formen persönlich widerständigen Verhaltens (Bl. 21 - 23) 7. Bilanz: Die Berliner Universität – ein „Widerstandszentrum“? (Bl. 24 - 31) 189 Resümee 199 Klaus Zernack Nachwort Vorstand der Sprachwissenschaftlichen Gesellschaft, St. Petersburg 1909. Von l. nach r.: Ljudmila Aleksandrovna Mervart, geb. Levi- na (1888 - 1965, Sprachwissenschaftlerin und Ethnographin, 1930 - 35 in Lagerhaft), Max Vasmer (Vorsitzender), Iosif Abgarovič Orbeli (1887 - 1961, Orientalist und Kaukasiologe, 1934 - 51 Di- rektor der Leningrader Eremitage, 1943 - 47 Präsident der Ar- menischen Akademie der Wissenschaften), Cezaria Baudouin de Courtenay (1885 - 1967, Vasmers erste Ehefrau 1910 - 13, ab 1927 Professorin für Ethnographie und Ethnologie in Wilna, Warschau und an der Polnischen Exiluniversität in London), Kazimieras Buga (1879 - 1924, Baltologe). Das Manuskript der Rede Einführung Die Zugriffe nationalsozialistischer Politik auf die Universität sind von der Forschung seit den 1980er Jahren immer wieder als ein Zweistufenprozeß organisatorischer und personeller Maßnahmen beschrieben worden: als institutionelle Umstrukturierung der Universität nach dem „Führerprinzip“ und als soziale Umgestaltung durch Entlassung bzw. Vertreibung rassenideologisch oder politisch unerwünschter und Neuberufung politisch zuverlässiger Mitglieder. Dem folgte auf einer dritten Ebene die Einflußnahme auf kognitive Strukturen von Wissenschaft durch die Orientierung auf „völkische“ Konzepte und die Instrumentalisierung wissenschaftlicher Forschung für den „Kriegseinsatz“.1 Es ist interessant, dem einmal die Binnensicht eines Ordinarius jener Zeit gegenüberzustellen und zu prüfen, wie seine Wahrnehmung die Vorgänge strukturiert. Die Untersuchung ist also personenzentriert. Außerdem setzt sie voraus, daß das Kategoriensystem des zurückblickenden Wissenschaftlers kurz nach Kriegsende im Wesentlichen dasselbe ist, das auch vor 1933 für ihn maßgeblich war.2 1 Vgl. Peter Lundgreen, „Hochschulpolitik und Wissenschaft im Dritten Reich“, in: ders. (Hg.), Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt a. M. 1985, 9 - 30, hier 10; ebenso Michael Grüttner, „Die deutschen Universitäten unterm Hakenkreuz“, in: John Conelly, Michael Grüttner (Hg.), Zwischen Autonomie und Anpassung: Universitäten in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, Paderborn etc. 2003, 67 - 100, hier 80f. 2 Dem ersten Leser meines Kommentars, Mathias Niendorf, danke ich für wichtige Anregungen. Einführung zu Max Vasmers Rückschau 1948 7 Bei dem hier edierten Dokument kritischer Selbstreflexion aus der Berliner Pro fessorenschaft handelt es sich um das stichwortartige Redemanuskript „Die Haltung der Berliner Universität“ des Slavisten Max Vasmer (St. Petersburg 1886 – West-Berlin 1962). Der Sohn eines Altonaer Kaufmanns absolvierte sein Studium in Petersburg und lehrte nach Auslandsstudien in Krakau, Wien, Graz und Athen ab 1912 an der Petersburger Frauenhochschule. Im Oktober 1917 trat er ein Ordinariat für vergleichende Sprachwissenschaft und Slavistik an der neu gegründeten Philoso phischen Fakultät von Saratov an. Nach der Oktoberrevolution floh er 1918 an die Universität Dorpat. 1921 folgte er einem Ruf nach Leipzig und 1925 nach Berlin. Hier gab Vasmer ab demselben Jahr die in Westeuropa bald führende „Zeitschrift für slavische Philologie“ mit internationalem Autorenkreis heraus, baute den seit 1874 bestehenden Lehrstuhl zum bedeutendsten Slavischen Institut Deutschlands aus und wurde 1931 als erster Slavist ordentliches Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Weder er noch seine beiden Assistenten waren Parteigänger des Na- tionalsozialismus. Vasmer gehörte in Berlin zum Freundeskreis um Friedrich Meinecke.3 Seine Ausnahmehaltung kritischer Re- sistenz suchte die in den 1980er Jahren beginnende Fachgeschichtsschreibung in Ost- und Westdeutschland zum Re gelfall für die deutsche Slavistik im Nationalsozialismus zu stilisieren, was unhaltbar ist.4 Bis 1947 lehrte Vasmer an der Universität Berlin. Nach einer Gastprofessur in Stockholm folgte er im Herbst 1949 einem Ruf an die Freie Universität Berlin. Bei 3 Zum politischen Profil Vasmers vgl. Marie-Luise Bott, „Ein Forschungsinstitut für Slavistik in Berlin? Max Vasmers Denkschrift 1928“, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 2/1999, 151 - 180. 4 Vgl. den Forschungsüberblick bei Marie-Luise Bott, „’Die streng philologische Grundlage bewah ren’. Zur Resistenz des Berliner Slavischen Instituts gegen einen semantischen Umbau des Faches 1933 - 1945“, in: Georg Bollenbeck, Clemens Knobloch (Hg.), Resonanzkonstellationen: Die illu sionäre Autonomie der Kulturwissenschaften, Heidelberg 2004, 133 - 161. 8 Neues aus der Geschichte der HU | Bd. 1 Vasmers Tod 1962 waren sieben Ordinariate in Westdeutschland mit Schülern von ihm besetzt. Das vorzustellende Dokument fand sich undatiert und ohne Kontext in Vasmers Nachlaß.5 Dem Beginn der Rede „Meine Herren!“ und ihrem Schluß zufolge, der die aktuelle Aufgabe ausländischer Kollegen gegenüber deutschen Wissenschaftlern be tont, hielt er sie nicht allgemein öffentlich (die „Damen“ fehlen), sondern im engeren Kollegenkreis im Ausland. Aus dem Text selbst heraus (Bl. 28) ist sie auf 1948 zu datieren. Damit fällt sie in die Zeit von Vasmers Gastprofessur an der Universität Stockholm ab Oktober 1947. Im Frühjahr 1946 hatte er bereits einen Ruf nach Wien erhalten und abgelehnt. Die Einladung zu einer Gastprofessur in Stockholm dagegen, die ihm im August 1946 durch Generalkonsul Lundberg aus Hamburg übermittelt wurde6, nahm er an. Dafür gab es zweierlei Gründe. Die schlechte Ernährungslage in Berlin hatte Vasmers Gesundheit beeinträchtigt. Er brauchte aber gute Arbeits- und Lebensbe- dingungen, um sein „Russisches etymologisches Wörterbuch“ vollenden zu können. 1944 hatte eine Brandbombe alle Vor arbeiten dazu und Vasmers gesamte Bibliothek zerstört. In den beiden Stockholmer Jahren arbeitete er an der Restitution des Manuskripts, das er 1950 abschloß und ab 1953 in Heidelberg zum Druck brachte. Ab 1964 erschien das erste etymologische Wörterbuch des Russischen, verfaßt von einem Deutschen, in russischer 5 Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (AAW), NL Vasmer, Nr. 48. Für den Hinweis danke ich Ursula Stegelmann, Freie Universität Berlin. – Der Nachlaß Max Vasmers befand sich bis zum Februar 2001 am Osteuropa-Institut der FU Berlin. Dann kam er auf meine Vermittlung ins Archiv der Akademie der Wissenschaften. 6 AAW, NL Vasmer: