SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen - Manuskriptdienst

Poesie und Komik Die Lyrik Robert Gernhardts

Autor: Eberhard Falcke Redaktion: Anja Brockert Regie: Alexander Schuhmacher Sendung: Donnerstag, 13.12. 2012, 8.30 Uhr, SWR 2 ______

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ZITATOR: Menschen schauen mich an: Da kommt der Gernhardt, Mann!

Menschen schauen mir zu: Da ist der Gernhardt, du!

Menschen schauen mir nach: Da war der Gernhardt, ach!

Menschen schauen sich an: Der wird auch nicht jünger!

ERZÄHLERIN: Den Robert Gernhardt, nach dem man sich umdrehen kann, gibt es leider nicht mehr. Der andere „Gernhardt“ jedoch hat an Präsenz nichts verloren. Er wird verkörpert durch sein Werk, das aufzuschlagen nach wie vor eine Freude ist. Wie auch sein Dichterkollege Steffen Jacobs meint:

O-TON 1 (Steffen Jacobs) Da würde ich sagen hat der Gernhardt zumindest für mich etwas gemacht, wo ich dachte „Boahh“, also da hatte ich früher schon mal zeitgenössische Gedichte gelesen als Jugendlicher, und so gezündet hat das nicht. Und ich weiß auch noch, dass ich sofort dachte: Ja, das ist auch Kunst, Gott sei Dank, das kann ja auch heiter sein, das muss Kunst sein, sonst ist Kunst für mich einfach zu dröge.

ANSAGE: Poesie und Komik. Die Lyrik Robert Gernhardts. Eine Sendung von Eberhard Falcke.

ERZÄHLERIN: Robert Gernhardt war Zeichner, Satiriker, Fernseh- und Filmautor. Was von ihm aber mehr als alles andere bleibt, so steht zweifelsfrei fest, das stiftete er als Dichter. Trotzdem möchte ihn Professor Lutz Hagestedt keineswegs zum Denkmal versteinert sehen.

O-TON 2 (Lutz Hagestedt) Ich würde ihn nicht auf den Sockel stellen, sondern ich würde den Gernhardt mit ins Bett nehmen. Der gehört einfach auf den Nachttisch, und wenn man ihn dort liegen hat und gelesen hat, dann werden die Träume schäumen.

ERZÄHLERIN: Robert Gernhardt wurde heute vor 75 Jahren, am 13. Dezember 1937 als Sohn einer deutsch-baltischen Familie im estländischen Reval alias geboren. Gestorben ist er als verdientes Multitalent und großer deutscher Dichter am 30. Juni 2006 in am Main. Als ein Poet, bei dem das Publikum stets viel zu lachen und zu jauchzen hatte, einer

2 nach dem man sich eben auch umdrehte. Und keiner kann behaupten, Gernhardt hätte die höchsten Stellen vor dem Verlust durch seinen frühen Tod nicht gewarnt.

ZITATOR Mich gibt es doch nur einmal Mich kann man doch nicht abserviern Mich will man halten, nicht verliern Und - Teufel auch! - begraben.

Ich bin bei Gott ein Einzelstück So'n Stück gibt man doch nicht zurück Das hebt man auf und preist sein Glück: Wie schön, daß wir dich haben!

ERZÄHLERIN: Mit Robert Gernhardt verließ einer die Szene, der beim Seltenheitswettbewerb jeden weißen Elefanten ausgestochen hätte: ein Schriftsteller, der Gedichte schrieb und der trotz Ausübung dieser verrufenen Minderheitenkunst wahre, gründliche und weitverbreitete Popularität genoss. Wie konnte es dazu kommen? Es begann jedenfalls nicht mit schmalen Lyrik-Bändchen eines scheuen Nachwuchspoeten. Gernhardt studierte Malerei an den Kunstakademien in und Berlin, er arbeitete als Zeichner und Karikaturist. Vor allem aber wirkte er bald federführend an satirischen Presseorganen mit, wie den für die geistige Entwicklung der Nation zweifellos unentbehrlichen Satiremagazinen „Pardon“ und „Titanic“.

O-TON 3 (Lutz Hagestedt) Also es waren zunächst die Pardon-Leser, die ihn entdeckt haben.

ERZÄHLERIN ... erinnert sich Lutz Hagestedt, Professor für Neuere und Neueste deutsche Literatur an der Universität Rostock, Gernhardt-Liebhaber seit je und einer der besten Kenner von Autor und Werk.

O-TON 4 (Lutz Hagestedt) Seit Anfang, Mitte der Sechziger Jahre hat Gernhardt ja für das Satiremagazin «Pardon» gearbeitet und 1981 erschien dann im Zweitausendeins Versand sein Gedichtband „Wörtersee“. Das ist der Beginn, wo sich Gernhardt ernsthaft als Lyriker versteht. Bei Zweitausendeins haben sich dann auch seine früheren Bücher „Die Wahrheit über Arnold Hau“, „Die Blusen des Böhmen“, „Besternte Ernte“ zu Steady-Sellern, teilweise sind diese Bücher seit vierzig und mehr Jahren lieferbar, entwickelt.

ERZÄHLERIN Wie es sich nach Avantgarde-Vorbild damals gehörte, gründete Gernhardt in den sechziger Jahren einen furchtlosen Künstler-Stoßtrupp, gemeinsam mit F.W. Bernstein, Bernd Eilert, Eckhard Henscheid, Peter Knorr, Chlodwig Poth, Hans Traxler und F.K. Waechter. Ansässig in Frankfurt am Main nannte sich die Gruppe „Neue Frankfurter Schule“, mit ironischer Reverenz an die Frankfurter Schule von Max Horkheimer und

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Theodor W. Adorno. Allerdings waren die kritischen Spaßmacher in gewissem Sinne erfolgreicher als die Kritischen Theoretiker. Denn sie konnten die deutschen Humorverhältnisse stärker verändern als jene die gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie hatten, so ließe sich sagen, das strenge Diktum, mit dem Adorno in die Sackgasse fuhr, auf befreiende Weise weitergedacht: Wenn es schon kein richtiges Leben im falschen geben kann - ein richtiges Lachen gibt es trotzdem. Und wo es mit der Philosophie nicht weiter ging, konnte Robert Gernhardt jederzeit die befreienden Kräfte des Nonsens mobilisieren. Besonders hochprozentig gelang ihm das in seinem Gedicht „Theke - Antitheke - Syntheke“.

O-TON A Robert Gernhardt (1) (aus: CD „Im Glück und anderswo“)

Beim ersten Glas sprach Husserl: »Nach diesem Glas ist Schlusserl.«

Ihm antwortete Hegel: »Zwei Glas sind hier die Regel.«

»Das kann nicht sein«, rief Wittgenstein, »Bei mir geht noch ein drittes rein.«

Worauf Herr Kant befand: »Ich seh ab vier erst Land.«

»Ach was«, sprach da Marcuse, »Trink ich nicht fünf, trinkst du se.«

»Trinkt zu«, sprach Schopenhauer, »Sonst wird das sechste sauer.«

»Das nehm ich«, sagte Bloch, »Das siebte möpselt noch.«

Am Tisch erscholl Gequietsche, froh trank das achte Nietzsche.

»Das neunte erst schmeckt lecker!« »Du hast ja recht, Heidegger«, rief nach Glas zehn Adorno: »Prost auch! Und nun von vorno!«

ERZÄHLERIN Wie gesagt, der Zeichner, Satiriker und Spaßvogel Gernhardt machte Karriere. Doch obwohl er schon bald Verse schmiedete und reimte, was das Zeug hielt, oft in vollendeter Verbindung mit seinen Zeichnungen, passte er lange Zeit einfach nicht zu den üblichen

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Vorstellungen von einem ernsthaften Lyriker. Doch mancher jüngere Poet wie Steffen Jacobs war bereits hellhörig geworden.

O-TON 5 (Steffen Jacobs) Was mich persönlich angeht erinnere ich mich, daß 1987 der Gedichtband „Körper in Cafés“ von Gernhardt für mich so eine Art kleiner Weckruf, ja vielleicht sogar ein Erweckungserlebnis war. Und das war das erste Buch von Gernhardt, das ich überhaupt bewusst gelesen habe und da fiel natürlich auf, das da mit Formen gearbeitet wird. Und dann kamen drei Jahre später 1990 diese «Gedanken zum Gedicht», das war so ein kleines Büchlein bei Haffmans und das waren sozusagen diese ersten poetologischen Äußerungen von Gernhardt, wo er eben sich für Merkbarkeit ausgesprochen hat.

ERZÄHLERIN Schließlich musste eben doch ein kleiner Putsch, eine Revolte sein, damit Gernhardt sein Dichten und Trachten durchsetzen konnte. Das kleine Büchlein „Gedanken zum Gedicht“ war nichts Geringeres als ein Angriff auf die Herrschaftsverhältnisse im Poetenwinkel der Nation. Lutz Hagestedt erinnert sich an die Attacke Gernhardts, bei der er Reim, traditionelle Gedichtformen und schlagkräftige Argumente ins Feld führte. Gegen wen und was war dieser Vorstoß im Einzelnen gerichtet?

O-TON 6 (Lutz Hagestedt) Also es ging in keinem Fall gegen das Experiment, Gernhardt war sehr für das Experiment. Ging es gegen hermetische Tendenzen oder den müden Parlandoton der Nachkriegslyrik? Ich glaube beides trifft zu. Und es ging gegen Beliebigkeit. Das vor allem. Und das kritisiert er bei prominenten Kollegen wie Ingeborg Bachmann.

ERZÄHLERIN Gernhardt liebte es, außer mit der Sprache, mit den Worten auch mit den Formen zu spielen. Mit dem gewagten, ironischen, überraschenden Reim, mit den Rhythmen, den Versen und Strophen. Doch das setzte voraus, dass diese - anders als im Mainstream der damaligen Gegenwartslyrik - auch zur Anwendung kamen. Die zeitgeisttypische Absage an die klassischen Formen und Regeln parodierte er denn auch hitverdächtig bereits 1981 in seinem Gedichtband „Wörtersee“:

O-TON B Robert Gernhardt (aus: CD „Spaßmacher - Ernstmacher“)

Sonette find ich sowas von beschissen, so eng, rigide, irgendwie nicht gut; es macht mich ehrlich richtig krank zu wissen, dass wer Sonette schreibt. Dass wer den Mut hat, heute noch so'n dumpfen Scheiß zu bauen; allein der Fakt, dass so ein Typ das tut, kann mir in echt den ganzen Tag versauen. Ich hab da eine Sperre. Und die Wut darüber, dass so'n abgefuckter Kacker

5 mich mittels seiner Wichserein blockiert, schafft in mir Aggressionen auf den Macker.

Ich tick nicht, was das Arschloch motiviert. Ich tick es echt nicht. Und wills echt nicht wissen: Ich find Sonette unheimlich beschissen.

ERZÄHLERIN Mit diesem Sonett hat Gernhardt großartig, um nicht zu sagen: tödlich, zweierlei getroffen: die bis in die achtziger Jahre im Namen des Kunstfortschritts grassierende Geringschätzung traditioneller Formen. Und den empfindelnd-aggressiven Ton der Siebziger-Jahre-Aufmüpfigkeit. Steffen Jakobs bewertet Gernhardts Vorstoß zugunsten von Reim und Regel allerdings vor allem als ein Angebot.

O-TON 7 (Steffen Jacobs) Der Gernhardt, der musste ja überhaupt erst mal in die Lyrik-Szene rein, denn bis dahin war er ja eigentlich vorrangig als „Komischer Mensch“ wahrgenommen worden und zwar nicht unbedingt nur als komischer Lyriker sondern auch als Texter für Otto Waalkes und Mitverfasser der Drehbücher zu den Otto-Filmen und dergleichen. Insofern war für Gernhardt das gar nicht unbedingt eine Attacke, denke ich, auf den Literaturbetrieb sondern eher ein Angebot. Ein Angebot, zu sagen, guckt mal wie ironisch und fein und auch kenntnisreich ich quasi alles, was so in den letzten Jahrhunderten an Lyrik produziert ist, evaluieren kann mit leichter Ironie und doch auch mit einem Plädoyer für eine neue alte Sangbarkeit.

ERZÄHLERIN Was aber heißt Sangbarkeit? Wer einmal Gedichte auswendig gelernt oder Rezitationen gelauscht hat, weiß es. Reim, Rhythmus, Metrum und formale Regeln machen aus einem Textkunstwerk zugleich ein Klangkunstwerk, sie machen es einprägsam, sie reizen zum Nachsprechen und Zitieren, sie können Gedichtverse in geflügelte Worte verwandeln. Diese Qualitäten machte Gernhardt erneut zu Kriterien für gute Gedichte, und das in einer Zeit, in der die Lektüre von Lyrik weitgehend zu einem stillen Tüfteln, Analysieren und Bedeutungshaschen geworden war. Da gab es nicht wenige Dichterkollegen, denen er mit seinen nassforschen Thesen schlichtweg die Berufsunfähigkeit bescheinigte:

ZITATOR Wer es als Lyriker im Laufe seines Dichterlebens nicht schafft, auch nur eine im Gedächtnis der Mit- und Nachwelt bleibende, sich entweder eindrücklich am schlechten Bestehenden reibende oder nachdrücklich das erwünschte Bessere betreibende oder eindringlich die conditio humana beschreibende oder ganz einfach hinlänglich Trauer und Grillen vertreibende Zeile zu ersinnen: Wer dazu nicht in der Lage ist - es sind leider die wenigsten, je heutiger, desto weniger -, der hat seinen Beruf leider, leider verfehlt, von seiner Berufung ganz zu schweigen, die da lautet: »Was bleibet aber, stiften die Dichter« - danke, Herr Hölderlin!

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Mit Vergnügen schockierte Gernhardt poetische Feingeister, wenn er von Lyrik-Hits oder Evergreens schwärmte und mit solchen Kategorien der Popkultur in den stillen Lyrik- Kabinetten Rabatz machte. Fündig wurde er bei Jakob van Hoddis und anderen Expressionisten, bei , Gottfried Benn oder Peter Rühmkorf, dem er sehr viel verdankte. Obwohl Gernhardts Angriffe einen Affront darstellten, hatten sie auch etwas Befreiendes: Sie lockerten den Zwang zum immerwährenden avantgardistischen Voranstürmen, das sich teilweise längst im Kreis drehte. Zugleich aber stellten sie auch die dichterischen Pathosformeln der fünfziger und sechziger Jahre mit sachlichem Blick auf den Prüfstand.

O-TON 8 (Lutz Hagestedt) Auf Adornos Verdikt, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben sei barbarisch, antwortet Gernhardt mit einem Gedicht „Frage“ und das lautet so: “Kann man nach zwei verlorenen Kriegen/ Nach blutigen Schlachten, schrecklichen Siegen / Nach all dem Morden, all dem Vernichten /Kann man nach diesen Zeiten noch dichten?/ Die Antwort kann nur folgende sein /Dreimal NEIN!

ERZÄHLERIN Niemand hatte bis dahin mit solch respektvoller Ironie den Widerspruch hervorgehoben, dass Adornos Wort von der Unmöglichkeit des Gedichts nach Auschwitz zwar oft ehrfürchtig zitiert, aber von niemandem befolgt wurde. Robert Gernhardt entmystifizierte die Dichtung und holte sie aus den Sphären ästhetischer Heiligtümer wieder zurück ins Leben. Gefesselt oder gefangengenommen soll seiner Auffassung nach die Leserschaft von Gedichten sein. Sie soll es mit den Versen nicht hauptsächlich schwer haben, sondern ein ähnliches Rezeptionsprickeln empfinden können wie bei spannenden Krimis oder fesselnden Fußballspielen. In den neunziger Jahren hatte Gernhardt den Durchbruch vom humoristischen Reimeschmied zum anerkannten Poeten geschafft. Sein Ruhm wuchs in Popularitäts- Dimensionen, wie sie in der Gegenwartsliteratur nur dem Großdichter Hans Magnus Enzensberger und für kurze Zeit dem Polit-Poeten Erich Fried oder dem Szene-Barden Wolf Wondratschek zu Teil wurde. Welche waren Gernhardts Trümpfe bei diesem Pokern um Dichterruhm? Lutz Hagestedt kann sie alle benennen:

O-TON 9 (Lutz Hagestedt) Einmal die Komik, die Fallhöhe, die große Spannweite und Vielfalt der Themen. Wir erfahren viel über unsere ganz konkrete Lebenswelt. Dann auch die Einfachheit. Hier traut sich plötzlich jemand, Gedichte zu schreiben, die verständlich sind. Dann natürlich die formale Virtuosität, Reim, Rhythmus, Klang, tradierte Formen aber auch neue Stimmen. Und dann, was kaum jemand zur Kenntnis nimmt, zum poetischen Werk von Gernhardt gehört auch die Dichtungstheorie, seine Poetikvorlesungen, seine Kritiken, seine Empfehlungen sein produktiver Umgang mit dem lyrischen Repertoire insgesamt.

ERZÄHLERIN Ein weiteres Scharmützel hatte Gernhardt allerdings noch auszufechten, um seinen dichterischen Rang abzusichern. Schließlich kam er aus der Humorbranche und das verzeiht ein in U- und E-Kultur oder, wie er es selber nannte, in „Ernstmacher und Spaßmacher“ ordentlich sortierter Kulturbetrieb nicht so ohne weiteres. Also hob er den

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Gegensatz zwischen der Komik, mit der man ihn etikettierte, und dem Ernst, der ihn erfüllte, mit einem wahren Handstreich auf.

ZITATOR Die These aber lautet, dass alle Gedichte komisch sind, da das Gedicht die Komik vom ersten Tag an mit der Muttersprache eingesogen hat und bis auf den heutigen Tag von ihr durchtränkt ist, wenn auch manchmal in kaum mehr nachweisbarer Verdünnung bzw. Vergeistigung. (...) Sich heute noch ernsthaft auf das uralte Reim- und Regelspiel einzulassen, ist, meine ich, schon mal per se komisch.

O-TON 10 (Steffen Jacobs) Vorher war er vorwiegend der Witz-Reimer, der sich auf sehr, sehr virtuose und bewundernswerte Weise aber eben doch immer an diesen Vorbildern einer humanistischen Gymnasialbildung abgearbeitet hat, dieses Veralbern in tradierten Formen, an tradierten Göttern sozusagen, Themen wie Religion oder Philosophie, hier also diese „Paulus schrieb an die Apatschen, Ihr sollt nicht nach der Predigt klatschen, Paulus schrieb den Irokesen, Euch schreib ich nichts, lernt erst mal lesen“, also das ist jetzt natürlich die Religion.

ERZÄHLERIN Formal betrachtet war Gernhardt ein Unzeitgemäßer. Was dagegen seine Stoffe, die Tonlagen, den Jargon und die Empfindungsweisen anging, war er ein Genosse seiner Zeit wie selten einer. Und wenn auch die durchschnittlichen Stimmungswerte seiner Gedichte eher ins Helle, munter Funkelnde tendieren, gelang ihm auch die finstere Brillanz. Besonders wenn er von unsinnigem Optimismus draußen in der Welt dazu angestachelt wurde, wie im Falle seines Gedichts „Cocktail »MILLENNIUM« oder Unser Getränkevorschlag für die Silvesterfeier 1999“:

O-TON C Robert Gernhardt (aus: CD «Im Glück und anderswo»)

Man nehme reichlich Macht, Wahn, Gier und Glauben und mixe das mit Lug, Trug, Witz und Wissen: Schon füllen Blut, Schweiß, Tränen, Rotz und Pissen, erpreßt durch Krieg, Brand, Folter, Mord und Rauben, aufschäumend das Gefäß. Den Sud gut rühren, mit Gott aufgießen und mit Kunst abschmecken, mit Höllenangst und Heilsversprechen strecken und nach Bedarf mit Weg, Zweck, Sinn und Ziel garnieren -

Mensch, welch Gebräu! Bevor wir es probieren, bleibt letzte Zeit für allerletzte Fragen: Wird's uns vergotten? Wird es uns vertieren?

So oder so — gleich wird die Stunde schlagen! Die Gläser her und keine Zeit verlieren: Brühwarm einschenken und eiskalt servieren.

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ERZÄHLERIN Wer Gernhardts Stoffe und Themen überblickt, muss die überbordende Fülle bewundern. Wer dagegen versuchen wollte, diese Vielfalt zu ordnen, kann leicht verzweifeln. Darum empfiehlt es sich der Einfachheit halber festzustellen: Gernhardt hat eigentlich über alles gedichtet, jedenfalls über alles Mögliche. Wenn Peter Rühmkorf die Erweiterung und Belebung der poetischen Möglichkeiten zu den Aufgaben zeitgemäßer Lyrik zählte, dann hat Gernhardt jedenfalls auch auf diesem Gebiet Außerordentliches geleistet.

O-TON 11 (Lutz Hagestedt) Es sind einmal die Stofffelder also Gegenstände, die Lyriker vor Gernhardt nicht kennen konnten, die er sich erschlossen hat und dann auch Sprechweisen, also das, was Rühmkorf „Volksvermögen“ nennt. Was frühere Poeten noch nicht kennen konnten, das hat Gernhardt aufgegriffen und dem hat er eine Stimme gegeben, zum Beispiel diesem modernen Linksintellektuellen Jargon. Da hört er im Kirchenfunk das folgende Zitat „Die Kirche muss endlich jene frauenfeindlichen Erblasten aufarbeiten, die durch spätantike Männerkreise in die ursprünglich frauenfreundliche Botschaft Jesu hineingetragen worden ist.“ Und diesen betulichen, sich aufgeklärt fortschrittlich gebenden Jargon, den hat er dann ins Gedicht gepackt, in sein «Couplet von der Erblast».

(Hagestedt liest:)

Spätantike Männerkreise haben Jesu Wort verbogen haben seine Frohe Botschaft korrumpiert und umgelogen korrigierten Evangelien kujonierten die Gemeinden überließen Führungsposten unverstellten Frauenfeinden Herr, wer ritt uns in die Scheiße? Spätantike Männerkreise!

Spätantike Männerkreise Eure Stunde hat geschlagen in der Kirche haben Chauvies Gott sei Dank nichts mehr zu sagen Mußte in der Spätantike alles um die Männer kreisen wirft man Eure Erblast heute hohnlachend zum alten Eisen und wer spuckt euch in die Suppen? Postmoderne Frauengruppen!

ERZÄHLERIN Danke, Professor Hagestedt! Wer Gedichte wie dieses anhört, begreift schnell, dass formale Regeln keine Einengung sein müssen, sondern im Gegenteil als außerordentlich

9 produktive Methode bei der Textverfertigung dienen können. Trotzdem sind Gernhardts Verse, die häufig so leicht daherkommen, oft durchaus schwer erarbeitet.

O-TON 12 (Lutz Hagestedt) Er hat die Formel gebracht 5 Prozent Inspiration, 95 Prozent Transpiration also es steckt sehr viel Arbeit drin und das erklärt sich daraus, dass er auf Formales so großen Wert gelegt hat. Die Form, die war ihm Richtschnur, die Form, die war zwar einerseits ein Korsett, in das er sich hineinbegeben hat, aber andererseits hat dieses Korsett dann auch Freiheiten produziert. “Ich leide an Versagensangst/ besonders wenn ich dichte /die Angst die machte mir bereits / manch schönen Vers zuschanden.” Da sieht man das, ja, die Form, es ist eine Reimerwartung da und die wird unterlaufen also immer dieses Wechselspiel von einer Form, die zu bedienen ist, und einer Freiheit, die man sich als Lyriker nimmt. Und die muss oftmals schwer erarbeitet werden.

ERZÄHLERIN Gernhardt war als Dichter ein vorwiegend frohgemuter Generalist, dem es sogar noch gelang, seine höchstpersönlichen Leidenserfahrungen mit lebensbedrohenden Krankheiten in ebenso geist- wie humorvolle Verse zu fassen. Ganz voraussetzungslos geschah das natürlich nicht. Neben der „Neuen Subjektivität“ der siebziger Jahre hebt Steffen Jacobs noch eine andere Quelle der Anregung hervor:

O-TON 13 (Steffen Jacobs) Er konnte auch einfach bei Heine anknüpfen. Heine hat ja auch zu seiner Zeit Dinge, die als sehr privat empfunden wurden, als frivol, was wir heute schon gar nicht mehr als frivol empfinden, sondern höchsten falls als so heiter tändelnd, aber die damals durchaus kühn waren, hat das ja auch thematisiert. Und vielleicht ist wirklich auch das eine der großen Aufgaben der Lyrik, dass es eben doch nicht die ganz großen Fragen sind, die uns niederdrücken sondern mehr so die kleinen Unzulänglichkeiten, die täglich an uns nagen. Man steht doch nicht morgens auf und sagt: „Warum bin ich?“ Viel schlimmer ist doch, was einem dann im Verlauf des Tages passiert Und da soll man bitteschön auch drüber schreiben.

ERZÄHLERIN Robert Gernhardt hat die lyrische Tradition entschlossen wieder in die aktuellen Debatten hereingeholt. Nach seinem poetologischen Putsch im Jahr 1990 betrieb er die literaturkritische und essayistische Auseinandersetzung mit dem Dichten fast ebenso emsig wie das Gedichteschreiben. Natürlich hieß das auch, dass er damit für seine eigenen Positionen warb, sie festigte und ausbaute. Selbstsicher und rampentauglich, wie er war, machte sich Gernhardt ausgezeichnet als Fürsprecher in eigener Sache.

O-TON 14 (Lutz Hagestedt) Die Fülle seiner Lyrik-Kritik auch seiner Lyrik-Vorlesungen, die ist etwa seit 2010 sichtbar geworden und die muss erst noch rezipiert werden. Da gibt es noch einiges zu entdecken.

ERZÄHLERIN Lutz Hagestedt hat gemeinsam mit Johannes Möller Gernhardts Texte zur Poetik herausgegeben. Was in den darin abgedruckten Poetik-Vorlesungen ausgeführt wird,

10 bringt der Titel des Bandes kurz und knapp auf den Punkt: „Was das Gedicht alles kann: Alles“.

ZITATOR Das Gedicht kann Mama sagen, Großeltern verlachen, Werbung verscheissern, Inhalte aller Art memorieren, Dichter sozialisieren und Elchkritiker kritisieren.

ERZÄHLERIN Trotzdem sei nun die Frage gestattet: Wenn das Gedicht alles kann und wenn Gernhardt, was seine überbordende Produktion vermuten lässt, von dem Gefühl beschwingt war, dass er das alles ebenfalls kann, dann möchte man doch wissen: Ob das auch alles gutgehen konnte? Immerhin ist sein lyrisches Werk riesengroß und Komik kann manchmal ja auch ein bisschen läppisch und der berühmte Nonsens gelegentlich etwas albern ausfallen. Gibt es da womöglich Schwächen? O-TON 15 (Lutz Hagestedt) Also für die Schwächen bin ich nicht zuständig. Und als Nonsens-Dichter ist Gernhardt überragend. Ich finde ihn da auch großartig, wo er die Schwächen anderer auf den Arm nimmt, also wenn er so wie Weiland Horaz zur Schwätzersatire anhebt, wenn er die Schwachheiten der Redeformen der anderen sich zum Thema macht, da ist er großartig.

ERZÄHLERIN Sagt Lutz Hagestedt. Der Schriftsteller Steffen Jacobs dagegen meint:

O-TON 16 (Steffen Jacobs) 17:47-18:41 Gernhardt wollte ein populärer Dichter sein. Das ist natürlich auch der Hintergrund des Komikers, der auf Lacher angewiesen ist, wo der Witz zünden muss oder er ist kein guter. Also da war er eben nicht nur der Lyriker, der sich in seine Toga hüllt, sondern da wollte er ein populärer Dichter sein und dafür ist, fürchte ich, dann letztlich ein Preis zu zahlen.

ERZÄHLERIN Vielleicht bestand tatsächlich die einzige nennenswerte Schwäche des Dichters Gernhardt in der Schwäche, die er dafür hatte, alles zu machen. In der Gesamtbilanz aber herrscht bei unseren beiden Experten wieder Einigkeit. Demnach besteht kein Zweifel, dass es Gernhardt dorthin geschafft hat, wohin er sich in seinem Gedicht „Gesang vom Hundchen“ einst schon hinauf fantasierte:

O-Ton D Robert Gernhardt (aus: CD „Im Glück und anderswo“)

Will am End der Pegasus Zum Parnaß mich tragen Schreckt mein Anstandswauwau auf Fängt als an zu klagen:

Trag mich mit zum Parnaß rauf! Wir machen dort ein Faß auf Den lieben langen Tag! Trag, trag!

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O-TON 17 (Steffen Jacobs) Als komischer Dichter gehört er für mich jedenfalls in die erste Reihe der komischen Dichtung des gesamten Zwanzigsten und auch neunzehnten Jahrhunderts neben Busch, Ringelnatz, Morgenstern, also der ersten Garde. Und als Lyriker überhaupt, wenn man so etwas trennen kann, dann würde ich sagen ...? Also eine repräsentative Anthologie, die von Gernhardt nicht ähnlich viele Gedichte wie von Jandl, Rühmkorf, und Enzensberger und deutlich mehr als von Mayröcker oder gar Grünbein enthält, die macht etwas falsch.

O-TON 18 (Lutz Hagestedt) Ich glaube man wird erkennen das Lustvolle seines Nachdenkens über Gedichte. Er wird eingehen als jemand, der unsere Zeit ins Gedicht gefasst hat, vielleicht wie kaum ein anderer, es gibt da wenige Stimmen, die mir noch einfallen würden, Peter Rühmkorf ist genannt worden, Hans Magnus Enzensberger wären zu nennen, einige Jüngere, die sich trauen in die Form zu gehen wie Durs Grünbein, also als jemand, der auch für seinesgleichen anregend gewesen ist.

ERZÄHLERIN Auch Geister, die sich bei Grünbein scheiden, kommen also bei Gernhardt zusammen: Er ist einer der ganz Großen. Gernhardt selber mag es geahnt haben.

O-Ton E Robert Gernhardt (aus: CD „Im Glück und anderswo“)

Also faktisch durchgehend Dichter gewesen zu sein: Das alter Knabe, soll dir erst einmal jemand nachmachen!

* * * * * Quellen und Literaturliste:

1.) O-Töne Robert Gernhardt: CD «Im Glück und anderswo» , Der Hörverlag 2003, ISBN-10: 3899400836 ISBN-13: 978-3899400830

CD «Spaßmacher - Ernstmacher», Langen/Müller Audio-Books; ISBN-10: 3784440851 ISBN-13: 978-3784440859

OT A Robert Gernhardt (CD „Im Glück und anderswo“, Track 31) OT B Robert Gernhardt (CD „Spaßmacher - Ernstmacher“, Track ?) OT C Robert Gernhardt (CD «Im Glück und anderswo», Track 34)

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OT D Robert Gernhardt (CD „Im Glück und anderswo“, Track 11, Gedichtschluss) OT E Robert Gernhardt (CD „Im Glück und anderswo“, Track 23 bei 02:24, Gedichtschluss)

2.) Zitatquellen: -«Menschen schauen mich an»: (Lesung, In: R.G., Weiche Ziele, Gedichte 1989-1994, Zürich: Haffmans 1994) -«Mich gibt es doch nur einmal»: (Nicht mit mir, In: R.G., Die K-Gedichte. S. Fischer, Frankfurt am Main 2004, S. 37) -„Beim ersten Glas sprach Husserl ...“ (Theke - Antitheke -Syntheke, In: R.G., Im Glück und anderswo, S. Fischer, Frankfurt/M. 2002, S. 248) -«Sonette find ich sowas von beschissen» :(Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs, in: R.G. Wörtersee, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 2006, S. 164) -„Wer es als Lyriker im Laufe seines Dichterlebens nicht schafft...“(Die mit dem Hammer dichten, in: R.G., Was das Gedicht alles kann: Alles, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 2012, S. 47) -«Kann man nach zwei verlorenen Kriegen» (Frage, In: Die Wahrheit über Arnold Hau, Frankfurt/M. 1966) -„In dem Maße, in dem Liebhaber von Lyrik...“ (Leben im Labor, in: R.G., Was das Gedicht alles kann: Alles, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 2012, S. 118) -„Die These aber lautet, dass alle Gedichte komisch sind“ (R.G., Reim und Zeit. Gedichte. Reclam, Stuttgart 1996, S. 109 u. 115) -„Man nehme reichlich Macht, Wahn, Gier und Glauben“ (in: R.G. Im Glück und anderswo. Gedichte. S. Fischer, Frankfurt/M. 2002, S. 169) -„Spätantike Männerkreise...» (Couplet von der Erblast, In: -«Ich leide an Versagensangst...»,(Bekenntnis, In: R.G., Reim und Zeit. Gedichte. Reclam, Stuttgart 1990, S. 19) -„Das Gedicht kann Mama sagen...“ (Von nichts kommt nichts, in: R.G., Was das Gedicht alles kann: Alles, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 2012, S. 32) -„Will am End der Pegasus...“ (Gesang vom Hundchen, In: R.G. Im Glück und anderswo. Gedichte. S. Fischer, Frankfurt/M. 2002, S. 266) -„Also faktisch durchgehend Dichter gewesen zu sein“ (Morgen eines Dichters, In: R.G. Im Glück und anderswo. Gedichte, S. Fischer, Frankfurt/M. 2002, S. 235)

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3.) Literaturliste: Robert Gernhardt: Weiche Ziele, Gedichte 1989-1994, Zürich: Haffmans 1994 Robert Gernhardt: Reim und Zeit. Gedichte. Reclam, Stuttgart 1996 Robert Gernhardt: Im Glück und anderswo, S. Fischer, Frankfurt/M. 2002 Robert Gernhardt: Die K-Gedichte. S. Fischer, Frankfurt am Main 2004 Robert Gernhardt: Wörtersee, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 2006 Robert Gernhardt: Körper in Cafés, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 2006 Robert Gernhardt: Was das Gedicht alles kann: Alles, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 2012

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