Plenarprotokoll 18/225

Deutscher

Stenografischer Bericht

225. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 23. März 2017

Inhalt:

Gedenken an die Opfer des Anschlags in Lon- Drucksachen 18/9791, 18/9100, don am britischen Parlament...... 22485 A 18/11647...... 22488 D Benennung von Gebäuden des Deutschen c) Beschlussempfehlung und Bericht des Bundestages in Otto-Wels-Haus und Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Matthias-Erzberger-Haus­ ...... 22485 B Bau und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeordneten , Eva Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Bulling-Schröter, , weiterer Ab- nung ...... 22486 B geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Absetzung der Tagesordnungspunkte 6, 15 a Umgang mit Atommüll – Defizite des und 15 b ...... 22487 C Entwurfs des Nationalen Entsorgungs- programms beheben und Konsequenzen Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 22487 D aus dem Atommülldesaster ziehen Drucksachen 18/5228, 18/7275...... 22488 D Dr . Barbara Hendricks, Bundesministerin Tagesordnungspunkt 3: BMUB...... 22489 A a) Zweite und dritte Beratung des von den Hubertus Zdebel (DIE LINKE) ...... 22490 D Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Steffen Kanitz (CDU/CSU)...... 22491 D Entwurfs eines Gesetzes zur Fortent- , Ministerpräsident wicklung des Gesetzes zur Suche und (Baden-Württemberg)...... 22494 C Auswahl eines Standortes für ein Endla- ger für Wärme entwickelnde radioakti- Dr . (SPD)...... 22496 A ve Abfälle und anderer Gesetze Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ Drucksachen 18/11398, 18/11647...... 22488 C DIE GRÜNEN)...... 22497 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE)...... 22497 C Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Dr . Georg Nüßlein (CDU/CSU)...... 22498 C – zu dem Antrag der Abgeordneten (SPD)...... 22501 A Hubertus Zdebel, Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und Dr . (CDU/CSU)...... 22502 B der Fraktion DIE LINKE: Exportver- (CDU/CSU) ...... 22503 A bot für hochradioaktive Abfälle – zu dem Abschlussbericht der Kom- mission Lagerung hoch radioaktiver Tagesordnungspunkt 4: Abfallstoffe: Verantwortung für die Zukunft: Ein faires und transparen- Antrag der Abgeordneten , tes Verfahren für die Auswahl eines Dr ., Brigitte Pothmer, nationalen Endlagerstandortes weiterer Abgeordneter und der Fraktion II Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . , Donnerstag, den 23 . März 2017

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Arbeit 4.0 – b) Erste Beratung des von der Bundesregie- Arbeitswelt von morgen gestalten rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Drucksache 18/10254...... 22504 D zes zu dem Abkommen vom 11. Juli 2016 zwischen der Regierung der Bundesre- Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ publik Deutschland und der Regierung DIE GRÜNEN)...... 22505 A der Arabischen Republik Ägypten über Uwe Lagosky (CDU/CSU)...... 22506 B die Zusammenarbeit im Sicherheitsbe- reich (DIE LINKE) ...... 22508 A Drucksache 18/11508...... 22535 D (SPD)...... 22509 C c) Erste Beratung des von der Bundesregie- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- DIE GRÜNEN)...... 22510 C zes zu dem Abkommen vom 26. Septem- ber 2016 zwischen der Regierung der (SPD) ...... 22511 B Bundesrepublik Deutschland und der (CDU/CSU)...... 22512 A Regierung der Tunesischen Republik über die Zusammenarbeit im Sicher- Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 22514 A heitsbereich Kai Whittaker (CDU/CSU)...... 22514 C Drucksache 18/11509...... 22535 D Dr . (DIE LINKE)...... 22515 B d) Erste Beratung des von der Bundesre- (SPD) ...... 22516 A gierung eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Strafge- (CDU/CSU)...... 22517 B setzbuches – Stärkung des Schutzes von Vollstreckungsbeamten und Rettungs- René Röspel (SPD)...... 22518 C kräften (CDU/CSU)...... 22519 D Drucksache 18/11547...... 22536 A Dr . Hans-Joachim Schabedoth (SPD)...... 22521 A e) Erste Beratung des von der Bundesregie- Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD)...... 22521 D rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zu dem Abkommen vom 29. Au- gust 2016 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und zur Tagesordnungspunkt 5: Vermeidung der Doppelbesteuerung auf Erste Beratung des von der Bundesregierung dem Gebiet der Steuern vom Einkom- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur men und vom Vermögen besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht Drucksache 18/11557...... 22536 A Drucksache 18/11546...... 22523 B f) Erste Beratung des von der Bundesregie- Dr .Thomas de Maizière, Bundesminister rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- BMI...... 22523 B zes zu dem Abkommen vom 8. Dezem- (DIE LINKE)...... 22525 A ber 2016 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Dr . (SPD)...... 22526 A Europäischen Agentur für Flugsicher- (BÜNDNIS 90/ heit über den Sitz der Europäischen DIE GRÜNEN)...... 22528 A Agentur für Flugsicherheit Drucksache 18/11558...... 22536 A Dr . (CDU/CSU)...... 22529 A g) Erste Beratung des von der Bundesregie- (SPD)...... 22530 B rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- (Köln) (BÜNDNIS 90/ setzes zur Änderung des Gesetzes zur DIE GRÜNEN)...... 22532 A Verbesserung der personellen Struktur beim Bundeseisenbahnvermögen und (Altötting) (CDU/CSU). . . . . 22533 A in den Postnachfolgeunternehmen sowie (CDU/CSU) ...... 22534 C zur Änderung weiterer Vorschriften des Postdienstrechts Drucksache 18/11559...... 22536 B Tagesordnungspunkt 34: h) Erste Beratung des von der Bundesregie- a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines … Ge- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- setzes zur Änderung des Strafgesetzbu- zes zur Modernisierung des Rechts der ches – Ausweitung des Maßregelrechts Umweltverträglichkeitsprüfung bei extremistischen Straftätern Drucksache 18/11499...... 22535 C Drucksache 18/11584...... 22536 B Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 III

i) Antrag der Abgeordneten Inge Höger, eines Gesetzes zur Neuordnung der Auf- Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite- bewahrung von Notariatsunterlagen rer Abgeordneter und der Fraktion DIE und zur Einrichtung des Elektronischen LINKE: Atomwaffen aus Deutschland Urkundenarchivs bei der Bundesnotar- abziehen und Neustationierung stoppen kammer Drucksache 18/6808...... 22536 C Drucksachen 18/10607, 18/11636...... 22537 B j) Antrag der Abgeordneten , b) Beschlussempfehlung und Bericht des Caren Lay, , weiterer Ab- Ausschusses für Wirtschaft und Energie geordneter und der Fraktion DIE LINKE: zu der Verordnung der Bundesregierung: Abschaffung der Zeitumstellung Siebte Verordnung zur Änderung der Drucksache 18/10697...... 22536 C Außenwirtschaftsverordnung k) Antrag der Abgeordneten Klaus Drucksachen 18/10829, 18/10924 Nr . 2 2,. Ernst, Matthias W . Birkwald, Susanna 18/11214...... 22537 C Karawanskij, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Einen armuts- c)–h) festen gesetzlichen Mindestlohn sicher- Beratung der Beschlussempfehlungen des stellen Petitionsausschusses: Sammelübersich- Drucksache 18/11599...... 22536 C ten 416, 417, 418, 419, 420 und 421 zu Petitionen Drucksachen 18/11422, 18/11423, Zusatztagesordnungspunkt 1: 18/11424, 18/11425, 18/11426, 18/11427 . 22537 D a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- Zusatztagesordnungspunkt 2: setzes zur Ausführung der Anlage VI des Umweltschutzprotokolls zum Ant- Zweite und dritte Beratung des von der Bun- arktis-Vertrag vom 14. Juni 2005 über desregierung eingebrachten Entwurfs eines die Haftung bei umweltgefährdenden … Gesetzes zur Änderung des Gesetzes Notfällen (Antarktis-Haftungsgesetz – über die internationale Rechtshilfe in Straf- ­AntHaftG) sachen Drucksache 18/11529...... 22536 D Drucksachen 18/11140, 18/11638...... 22538 B b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Anlage VI des Umweltschutz- Zusatztagesordnungspunkt 3: protokolls zum Antarktis-Vertrag vom 14. Juni 2005 über die Haftung bei um- Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion weltgefährdenden Notfällen (Antark- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 60 Jahre Rö- tis-Haftungsannex) mische Verträge Drucksache 18/11530...... 22536 D Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 22538 D c) Antrag der Abgeordneten , Nicole Maisch, , (CDU/CSU)...... 22539 D weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einrich- (DIE LINKE)...... 22540 D tung eines Bundesprogramms „Zugang Michael Roth, Staatsminister AA...... zu Land – Chancen für neue Betriebe 22542 A ermöglichen“ Ursula Groden-Kranich (CDU/CSU)...... 22543 D Drucksache 18/11601...... 22537 A (DIE LINKE) ...... 22544 D d) Antrag der Abgeordneten Kordula Schulz- Asche, Maria Klein-Schmeink, Dr .Harald Joachim Poß (SPD)...... 22546 A Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (BÜNDNIS 90/ Arzneimittelversorgung an Bedürfnis- DIE GRÜNEN)...... 22547 A sen der Patientinnen und Patienten ori- entieren – Heute und in Zukunft (CDU/CSU)...... 22548 B Drucksache 18/11607...... 22537 A Dr . Dorothee Schlegel (SPD)...... 22549 A Iris Eberl (CDU/CSU)...... 22550 A Tagesordnungspunkt 35: Norbert Spinrath (SPD)...... 22551 B a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Dr . (CDU/CSU)...... 22552 C IV Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Tagesordnungspunkt 32: Dr . , Parl . Staatssekretär BMF ...... 22569 D Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Richard Pitterle (DIE LINKE)...... 22571 A Erleichterung unternehmerischer Initiati- Dr . Jens Zimmermann (SPD)...... 22571 D ven aus bürgerschaftlichem Engagement und zum Bürokratieabbau bei Genossen- Dr . (BÜNDNIS 90/ schaften DIE GRÜNEN)...... 22573 A Drucksache 18/11506...... 22553 D Dr. (CDU/CSU)...... 22574 A Christian Lange, Parl . Staatssekretär (Heidelberg) (SPD)...... 22575 B BMJV...... 22553 D Dr . h . c . (CDU/CSU). . . . . 22576 C Dr . Petra Sitte (DIE LINKE)...... 22554 D (CDU/CSU)...... 22555 D Tagesordnungspunkt 9: (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 22557 B a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie Dr . (SPD)...... 22558 B zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU)...... 22559 B Kotting-Uhl, , Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Tagesordnungspunkt 7: Europaweiten Atomausstieg voranbrin- gen – Euratom-Vertrag reformieren Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann oder aussteigen (Zwickau), Matthias W . Birkwald, Klaus Drucksachen 18/8242, 18/8439...... 22577 C Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kreis der Anspruchsberechtig- b) Antrag der Abgeordneten Alexander Ulrich, ten und die Bezugsdauer in der Arbeitslo- Hubertus Zdebel, Wolfgang Gehrcke, wei- senversicherung erweitern terer Abgeordneter und der Fraktion DIE Drucksache 18/11419...... 22560 B LINKE: EU-Förderung von Atomener- gie stoppen – EURATOM-Vertrag been- Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 22560 C den Dr . h . c . (CDU/CSU) ...... 22562 A Drucksache 18/11595...... 22577 C Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ c) Antrag der Abgeordneten Hubertus Zdebel, DIE GRÜNEN)...... 22563 C Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE (SPD)...... 22564 D LINKE: Ausfuhr von Uran-Brennstof- Dr . (CDU/CSU)...... 22565 B fen für den Betrieb störanfälliger Atom- kraftwerke im Ausland stoppen (CDU/CSU)...... 22566 C Drucksache 18/11596...... 22577 D Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 22567 A Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD)...... 22568 C in Verbindung mit

Tagesordnungspunkt 8: Zusatztagesordnungspunkt 4: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- a) Erste Beratung des von der Bundesregie- schusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeord- zes zur Umsetzung der Vierten EU-Geld- neten Sylvia Kotting-Uhl, Annalena Baerbock, wäscherichtlinie, zur Ausführung der Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und EU-Geldtransferverordnung und zur der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Neuorganisation der Zentralstelle für Brennstofflieferungen für belgische Atom- Finanztransaktionsuntersuchungen kraftwerke stoppen Drucksache 18/11555...... 22569 C Drucksachen 18/9676, 18/10934 ...... 22577 D b) Antrag der Abgeordneten Dr .Sahra Dr . (SPD)...... 22577 D Wagenknecht, Dr ., Dr . Petra Sitte und der Fraktion DIE Alexander Ulrich (DIE LINKE)...... 22579 D LINKE: Anonyme Briefkastenfirmen Barbara Lanzinger (CDU/CSU)...... 22581 A verbieten – Transparenzregister einrich- ten Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ Drucksache 18/8133...... 22569 D DIE GRÜNEN)...... 22582 C Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 V

Steffen Kanitz (CDU/CSU)...... 22583 D Tagesordnungspunkt 13: Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- DIE GRÜNEN)...... 22584 C schusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, (Augsburg), Uwe Tagesordnungspunkt 10: Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rechte in- Erste Beratung des von der Bundesregierung digener Völker stärken durch Ratifikation eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum der ILO-Konvention 169 weiteren quantitativen und qualitativen Drucksachen 18/4688, 18/11569...... 22606 A Ausbau der Kindertagesbetreuung Drucksache 18/11408...... 22586 A (SPD)...... 22606 B , Bundesministerin (DIE LINKE) ...... 22607 A BMFSFJ ...... 22586 B (CDU/CSU) ...... 22608 A Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE). . . . 22587 C Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ () (CDU/CSU) . . . 22588 C DIE GRÜNEN)...... 22608 C Dr . (BÜNDNIS 90/ Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 22590 C DIE GRÜNEN)...... 22610 A Sönke Rix (SPD)...... 22591 C (CDU/CSU)...... 22592 C Tagesordnungspunkt 14: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Tagesordnungspunkt 11: die Verarbeitung von Fluggastdaten zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/681 Antrag der Abgeordneten , (Fluggastdatengesetz – FlugDaG) Sigrid Hupach, Klaus Ernst, weiterer Abgeord- Drucksache 18/11501...... 22611 A neter und der Fraktion DIE LINKE: Prekäre Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft Dr . Günter Krings, Parl . Staatssekretär wirksam bekämpfen BMI...... 22611 B Drucksache 18/11597...... 22594 B (DIE LINKE)...... 22612 B Nicole Gohlke (DIE LINKE)...... 22594 B Wolfgang Gunkel (SPD)...... 22613 A Alexandra Dinges-Dierig (CDU/CSU). . . . . 22595 B Dr . Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 22614 B DIE GRÜNEN)...... 22596 D (CDU/CSU)...... 22615 B Dr . Simone Raatz (SPD)...... 22598 A

Dr. (CDU/CSU) ...... 22600 A Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Inge Höger, Tagesordnungspunkt 12: Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Erste Beratung des von der Bundesregierung sowie der Abgeordneten , eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Jürgen Trittin, , weiterer Abge- Umsetzung der Zweiten Zahlungsdienste- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ richtlinie DIE GRÜNEN: Verhandlungen über einen Drucksache 18/11495...... 22601 B Atomwaffenverbotsvertrag aktiv unterstüt- Dr . Michael Meister, Parl . Staatssekretär zen BMF ...... 22601 B Drucksache 18/11609...... 22616 D Susanna Karawanskij (DIE LINKE)...... 22602 B Inge Höger (DIE LINKE)...... 22617 A Christian Lange, Parl . Staatssekretär Dr . (CDU/CSU) ...... 22618 A BMJV...... 22603 A Dr .Alexander S . Neu (DIE LINKE). . . . . 22618 D Dr . Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 22603 D DIE GRÜNEN)...... 22619 D (CDU/CSU)...... 22604 C Dr . Ute Finckh-Krämer (SPD) ...... 22620 D Dr . Jens Zimmermann (SPD)...... 22605 B Dr .Alexander S . Neu (DIE LINKE). . . . . 22621 D VI Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Tagesordnungspunkt 16: Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des von der Bundesregierung Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und eingebrachten Entwurfs eines Ersten Geset- SPD: Innovationskraft von kleinen und zes zur Änderung des Europol-Gesetzes mittleren Unternehmen stärken – Anreize Drucksache 18/11502...... 22622 B für mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung schaffen Drucksache 18/11594...... 22630 B Tagesordnungspunkt 17: Andreas G . Lämmel (CDU/CSU)...... 22630 C Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Geset- (DIE LINKE) ...... 22631 B zes zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes (SPD)...... 22632 A Drucksache 18/11493...... 22622 C Dr .Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 22633 A Tagesordnungspunkt 18: Dr . Stefan Kaufmann (CDU/CSU)...... 22634 A Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Tagesordnungspunkt 23: Vermögensabschöpfung Drucksachen 18/9525, 18/10146, 18/10307 Erste Beratung des von der Bundesregierung Nr . 7, 18/11640...... 22622 D eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der Netzentgeltstruktur (Netzentgeltmodernisierungsgesetz) Tagesordnungspunkt 19: Drucksache 18/11528...... 22635 B Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Tagesordnungspunkt 24: Gesetzes zur Umsetzung der Berufsaner- kennungsrichtlinie und zur Änderung wei- Erste Beratung des von der Bundesregierung terer Vorschriften im Bereich der rechtsbe- eingebrachten Entwurfs eines Ersten Geset- ratenden Berufe zes zur Änderung des Gesetzes über den Drucksachen 18/9521, 18/9948, 18/10102 Deutschen Wetterdienst Nr . 13, 18/11468...... 22623 A Drucksache 18/11533...... 22635 B Christian Flisek (SPD) ...... 22623 A Jörn Wunderlich (DIE LINKE)...... 22625 A Tagesordnungspunkt 25: (CDU/CSU) ...... 22626 A Erste Beratung des von der Bundesregierung Katja Keul (BÜNDNIS 90/ eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur DIE GRÜNEN)...... 22627 B Fortschreibung der Vorschriften für Blut- Alexander Hoffmann (CDU/CSU)...... 22628 C und Gewebezubereitungen und zur Ände- rung anderer Vorschriften Drucksache 18/11488...... 22635 C Tagesordnungspunkt 20: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Tagesordnungspunkt 26: Gesetzes zur Änderung von Vorschriften im Bericht des Ausschusses für Bildung, For- Bereich des Internationalen Privat- und Zi- schung und Technikfolgenabschätzung gemäß vilverfahrensrechts § 56a der Geschäftsordnung: Technikfolgen- Drucksachen 18/10714, 18/11637...... 22629 D abschätzung (TA) – Synthetische Biologie – Die nächste Stufe der Bio- und Gentechno- logie Tagesordnungspunkt 21: Drucksache 18/7216...... 22635 D Zweite und dritte Beratung des von der Bun- (CDU/CSU)...... 22636 A desregierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Wein- Ralph Lenkert (DIE LINKE) ...... 22637 A gesetzes Drucksachen 18/10944, 18/11284, 18/11472 Harald Ebner (BÜNDNIS 90/ Nr . 1 .2, 18/11635...... 22630 A DIE GRÜNEN)...... 22637 D Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 VII

Tagesordnungspunkt 27: Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Europol-Gesetzes Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- (Tagesordnungspunkt 16)...... 22644 B ausschusses – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU). . . . 22644 B CSU und SPD: Innovativer Staat – Po- (SPD)...... 22645 A tenziale einer digitalen Verwaltung nutzen und elektronische Verwaltungs- (DIE LINKE)...... 22646 A dienstleistungen ausbauen (BÜNDNIS 90/ – zu dem Antrag der Abgeordneten Dieter DIE GRÜNEN)...... 22646 D Janecek, Dr . Konstantin von Notz, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: BMI...... 22647 C Stillstand beim E-Government behe- ben – Für einen innovativen Staat und eine moderne Verwaltung Anlage 5 Drucksachen 18/9788, 18/9056, 18/10865. . . . 22639 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Nächste Sitzung ...... 22639 C Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Ände- rung des Energiesteuer- und des Stromsteuer- gesetzes (Tagesordnungspunkt 17)...... 22648 B Anlage 1 Norbert Schindler (CDU/CSU)...... 22648 B Liste der entschuldigten Abgeordneten. . . . . 22641 A (SPD)...... 22649 C (SPD)...... 22650 B Anlage 2 Herbert Behrens (DIE LINKE)...... 22650 D Erklärung nach § 31 GO der Abgeordne- ten Dr ., , (BÜNDNIS 90/ , und Marco DIE GRÜNEN)...... 22651 C Wanderwitz (alle CDU/CSU) zu der Abstim- Dr. Michael Meister, Parl. Staatssekretär mung über den von den Fraktionen CDU/CSU, BMF ...... 22652 C SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurf eines Gesetzes zur Fortent- wicklung des Gesetzes zur Suche und Auswahl Anlage 6 eines Standortes für ein Endlager für Wärme entwickelnde radioaktive Abfälle und anderer Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Gesetze des von der Bundesregierung eingebrachten (Tagesordnungspunkt 3)...... 22641 D Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der straf- rechtlichen Vermögensabschöpfung (Tagesordnungspunkt 18)...... 22653 B Anlage 3 Alexander Hoffmann (CDU/CSU) . . . . . 22653 C Erklärungen nach § 31 GO zu der Abstim- Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU). . . . . 22653 D mung über den von den Fraktionen CDU/CSU, Dr. (SPD) ...... 22655 B SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurf eines Gesetzes zur Fortent- Jörn Wunderlich (DIE LINKE)...... 22656 A wicklung des Gesetzes zur Suche und Auswahl Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ eines Standortes für ein Endlager für Wärme DIE GRÜNEN)...... 22656 D entwickelnde radioaktive Abfälle und anderer Gesetze (Tagesordnungspunkt 3)...... 22642 A Anlage 7 Dr. (BÜNDNIS 90/ Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung DIE GRÜNEN)...... 22642 B des von der Bundesregierung eingebrachten Dr. (CDU/CSU)...... 22643 C Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften im Bereich des Internationalen Privat- und Zivilverfahrensrechts (Tagesordnungspunkt 20)...... 22658 A Anlage 4 Dr. (CDU/CSU) ...... 22658 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten (CDU/CSU)...... 22659 A VIII Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Sonja Steffen (SPD)...... 22660 A Anlage 11 (Havelland) (DIE LINKE). . 22661 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN). . 22662 A Entwurfs eines Gesetzes zur Fortschreibung der Vorschriften für Blut- und Gewebezuberei- tungen und zur Änderung anderer Vorschriften Anlage 8 (Tagesordnungspunkt 25)...... 22676 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Dr. Roy Kühne (CDU/CSU) ...... 22676 A des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Ände- (CDU/CSU)...... 22677 B rung des Weingesetzes (SPD)...... 22678 A (Tagesordnungspunkt 21)...... 22662 D (DIE LINKE)...... 22679 D (CDU/CSU)...... 22662 D Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU)...... 22663 D DIE GRÜNEN)...... 22680 B (SPD)...... 22664 D (DIE LINKE)...... 22665 C Anlage 12 Harald Ebner (BÜNDNIS 90/ Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung DIE GRÜNEN)...... 22666 A des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ge- mäß § 56a der Geschäftsordnung: Anlage 9 Technikfolgenabschätzung (TA) – Syntheti- sche Biologie – Die nächste Stufe der Bio- und Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Gentechnologie des von der Bundesregierung eingebrachten (Tagesordnungspunkt 26)...... 22681 A Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung Dr. Philipp Lengsfeld (CDU/CSU). . . . . 22681 B der Netzentgeltstruktur (Netzentgeltmoderni- sierungsgesetz) René Röspel (SPD)...... 22681 D (Tagesordnungspunkt 23)...... 22667 B Thomas Bareiß (CDU/CSU)...... 22667 B Anlage 13 (CDU/CSU)...... 22668 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: (SPD)...... 22669 B – der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses zu dem Antrag der Ralph Lenkert (DIE LINKE)...... 22670 B Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Inno- (BÜNDNIS 90/ vativer Staat – Potenziale einer digitalen DIE GRÜNEN)...... 22671 B Verwaltung nutzen und elektronische Ver- waltungsdienstleistungen ausbauen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dieter Janecek, Dr . Konstantin von Notz, Kerstin Anlage 10 Andreae, weiterer Abgeordneter und der Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: des von der Bundesregierung eingebrachten Stillstand beim E-Government beheben – Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung Für einen innovativen Staat und eine mo- des Gesetzes über den Deutschen Wetterdienst derne Verwaltung (Tagesordnungspunkt 24)...... 22672 A (Tagesordnungspunkt 27)...... 22682 D Günter Lach (CDU/CSU)...... 22672 A (CDU/CSU)...... 22683 A (SPD)...... 22673 B Dr. (CDU/CSU)...... 22683 C Ralph Lenkert (DIE LINKE)...... 22673 C (SPD)...... 22684 A Stephan Kühn () (BÜNDNIS 90/ Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD). . . . . 22684 D DIE GRÜNEN)...... 22674 B Dr. Petra Sitte (DIE LINKE)...... 22685 D Dorothee Bär, Parl. Staatssekretärin Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ BMVI...... 22675 A DIE GRÜNEN)...... 22686 C Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22485

(A) (C)

225. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 23. März 2017

Beginn: 9 .01 Uhr

Präsident Dr. : des von vielen als „Friedensdiktat“ empfundenen Ver- Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. sailler Vertrags eintrat, wurde Ziel übelster Schmähun- gen und Verleumdungen und im August 1921 das Opfer Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon wieder hat eines Mordanschlags . ein fürchterlicher Anschlag Menschen mitten aus dem Leben in den Tod gerissen und andere schwer verletzt, 1933, unmittelbar vor dem Ermächtigungsgesetz, ge- diesmal in London ganz in der Nähe des britischen Par- währte Reichspräsident Paul von Hindenburg mit einer laments . Unsere Gedanken sind in diesen Stunden bei Verordnung für „Straftaten, die im Kampfe für die nati- den Angehörigen der Opfer, den Getöteten und den Ver- onale Erhebung des Deutschen Volkes, zu ihrer Vorbe- letzten, denen unser Mitgefühl gilt und denen wir eine reitung oder im Kampfe für die deutsche Scholle began- möglichst schnelle Genesung wünschen . Unseren Freun- gen sind“, Straffreiheit und damit auch den ins Ausland den im Vereinigten Königreich versichern wir unsere geflüchteten Attentätern Matthias Erzbergers, für deren uneingeschränkte Solidarität im Kampf gegen jede Form Rückkehr sich Hitler persönlich aussprach . Sie hatten (B) von Terror und Gewalt . einer nationalistisch-antisemitischen Terrororganisation (D) angehört, hervorgegangen aus einem Putsch konterrevo- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf den lutionärer Kräfte gegen die Republik, der im März 1920 Tribünen! Heute jährt sich das Ermächtigungsgesetz vom an einem Generalstreik gescheitert war . Dieser war da- 23 . März 1933 . Die Selbstaufgabe des Parlaments bahn- mals organisiert und initiiert von Otto Wels . te – wie man damals ahnen musste und heute weiß – den Weg unumkehrbar in die nationalsozialistische Diktatur . Dieser war es auch, der als SPD-Vorsitzender am Der Reichstag tagte nach dem großen, mysteriösen Brand 23 . März 1933 in einem Akt demokratischer Selbstbe- schon nicht mehr in diesem Gebäude; ein Parlament wur- hauptung seine Stimme gegen die Auslieferung der De- de fortan auch nicht mehr gebraucht . mokratie an ihre Feinde erhob, als Einziger, mutig und mit bestechender Klarheit . Durch die Kraft der Rede ließ Der 23 . März verweist als ein Wendepunkt der deut- sich die Entwicklung nicht mehr verändern, die Trans- schen Geschichte auf die persönlichen Schicksale zweier formation einer labilen Demokratie in einen autoritären, herausragender Parlamentarier, die der Deutsche Bun- schließlich totalitären Staat . Und doch wurde das Wort destag von heute an mit der Benennung prominenter zur Tat: zum Widerstand gegen die Anmaßung der neuen Liegenschaften hier in Berlin ehren wird: und Otto Wels Machthaber, zum Signal, zur Botschaft an die Nachwelt,

Matthias Erzberger. dass auch unter eskalierendem Terror Widerstand nötig Mit ihnen verbinden sich die dramatischen Anfänge und möglich war . Diese historische Erfahrung verdient und das tragische Ende der ersten deutschen Republik, nicht nur in Deutschland in Erinnerung bewahrt und po- beginnend mit dem Waffenstillstand im Wald von Com- litisch bewusst zu bleiben. Ähnliche Versuchungen gibt piègne 1918, den zu unterschreiben der Zentrumsab- es offenkundig auch heute. geordnete Matthias Erzberger als Leiter der deutschen Verhandlungsdelegation auf sich nahm, um das sinnlose Bei allen Unterschieden in Herkunft und politischer Gemetzel in Europa nach vier entsetzlich langen Jahren Sozialisation eint Otto Wels und Matthias Erzberger, dass endlich zu beenden . ihr Wirken in der Rückschau auf die existenziellen Kri- senmomente reduziert wird . Dabei zeigten sich in ihnen Als Folge der berechnenden Feigheit verantwortlicher wie in einem Brennglas Charakter und demokratische Generäle, ihre militärische Niederlage selbst einzuge- Gesinnung, die ein viel längeres politisches Leben aus- stehen, blieb nicht nur der Ruf der jungen, gerade neu zeichneten . Beide gehörten dem Reichstag jeweils fast gegründeten Republik und der parlamentarischen Demo- zwei Jahrzehnte an . Sie organisierten an herausgehobe- kratie nachhaltig beschädigt; auch Erzberger persönlich, ner Position den schwierigen Übergang von der Monar- der für die Idee eines Völkerbundes und die Annahme chie zur Republik und formten deren Grundfeste mit – 22486 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Otto Wels von 1919 an als Vorsitzender seiner Partei, den Notfällen (Antarktis-Haftungsgesetz – (C) deren führender Kopf er auch im Exil bis zu seinem Tod AntHaftG) zwei Wochen nach Kriegsbeginn blieb . Drucksache 18/11529 Erzberger wiederum personifiziert das im Kaiserreich Überweisungsvorschlag: gewachsene Selbstbewusstsein des Parlaments . Auch Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor­ wenn die von ihm initiierte Friedensrevolution, in der sich sicherheit (f) der Reichstag vor genau 100 Jahren mehrheitlich für ei- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz nen Verständigungsfrieden ohne Annexionen aussprach, Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen­ abschätzung folgenlos blieb, erwies sich das damals geschmiedete parlamentarische Bündnis aller demokratischen Kräfte b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- als tragfähig für die spätere, die Republik stützende so- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anlage genannte Weimarer Koalition . In der kurzen Zeitspanne, VI des Umweltschutzprotokolls zum Antark- die Erzberger blieb, um diese Republik mitzugestalten, tis-Vertrag vom 14. Juni 2005 über die Haf- ist ihm Beachtliches gelungen . Er organisierte ein reichs­ tung bei umweltgefährdenden Notfällen (Ant- einheitliches Bahnsystem und schuf als Finanzminister arktis-Haftungsannex) eine der größten Steuerreformen der Geschichte, deren Drucksache 18/11530 Grundlagen bis in die heutige Zeit reichen, und das übri- gens innerhalb von neun Monaten . Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor­ Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir Persön- sicherheit (f) lichkeiten ehren, die in ihrem Kampf um Demokratie Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz und Parlamentarismus scheiterten und dafür sogar mit Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen­ dem Leben bezahlten, ist keine deutsche Besonderheit, abschätzung der Schleier des Vergessens aber, der vielfach über den Wegbereitern unserer Demokratie liegt, schon . So gibt c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Friedrich es in Berlin einen Hindenburgdamm, aber bis heute kei- Ostendorff, Nicole Maisch, Harald Ebner, wei- ne Straße und keinen Platz, die bzw . der an Matthias terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- ­Erzberger erinnert . Deshalb freue ich mich, dass der NIS 90/DIE GRÜNEN Ältestenrat meinem Vorschlag gefolgt ist, Gebäude und Einrichtung eines Bundesprogramms „Zu- Säle des Bundestages nach bedeutenden Parlamentariern gang zu Land – Chancen für neue Betriebe und Parlamentarierinnen zu benennen . Möglichst bald ermöglichen“ wollen wir so auch eine herausragende Frau des deut- (B) (D) schen Parlamentarismus würdigen . Drucksache 18/11601 Mit der Benennung des Gebäudes Unter den Lin- Überweisungsvorschlag: den 50 in „Otto-Wels-Haus“ und Unter den Linden 71 in Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft „Matthias-Erzberger-Haus“ setzt der Deutsche Bundes- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten tag ein überfälliges Zeichen im öffentlichen Raum. Kordula Schulz-Asche, Maria Klein-Schmeink, Dr .Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und der (Beifall im ganzen Hause) Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir erinnern an die Lebensleistung zweier herausra- Arzneimittelversorgung an Bedürfnissen der gender Parlamentarier, die beispielgebend moralische Patientinnen und Patienten orientieren – Heu- Größe und demokratische Haltung bewiesen – zu einer te und in Zukunft Zeit, als es auch in Deutschland tatsächlich Mut brauch- te, um für seine Überzeugungen einzutreten. Ihr Ver- Drucksache 18/11607 mächtnis ist und bleibt uns anvertraut . Überweisungsvorschlag: Vielen Dank für Ihre Zustimmung. Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie (Beifall im ganzen Hause) ZP 2 Weitere abschließende Beratung ohne Aus- Ich möchte Sie vor Eintritt in unsere Tagesordnung sprache darauf aufmerksam machen, dass es eine interfraktionel- (Ergänzung zu TOP 35) le Vereinbarung gibt, die Tagesordnung um die in der Zu- satzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erweitern: Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines … Ge- ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- setzes zur Änderung des Gesetzes über die in- fahren ternationale Rechtshilfe in Strafsachen (Ergänzung zu TOP 34) Drucksache 18/11140 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aus- ses für Recht und Verbraucherschutz (6. Aus- führung der Anlage VI des Umweltschutzpro- schuss) tokolls zum Antarktis-Vertrag vom 14. Juni 2005 über die Haftung bei umweltgefährden- Drucksache 18/11638 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22487

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion – Bericht des Haushaltsausschusses (8 .Aus - (C) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung 60 Jahre Römische Verträge Drucksache 18/11644 ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Müller-Gemmeke, Kerstin Andreae, Brigitte Bau und Reaktorsicherheit (16 .Ausschuss) zu Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn, weiterer Kein Sachgrund – Keine Befristung Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Drucksache 18/11608 Brennstofflieferungen für belgische Atom- Überweisungsvorschlag: kraftwerke stoppen Ausschuss für Arbeit und Soziales Drucksachen 18/9676, 18/10934 Der Tagesordnungspunkt 6 – hier geht es um die Neu- regelung des Mutterschutzrechts – wird heute abgesetzt . ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge Stattdessen soll der Tagesordnungspunkt 32 – Gesetzent- Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite- wurf zu Unternehmungen aus bürgerschaftlichem En- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE gagement – unter Beibehaltung der vereinbarten Debat- sowie der Abgeordneten Agnieszka Brugger, tenzeit aufgerufen werden . Jürgen Trittin, Katja Keul, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ebenso sollen die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b abgesetzt werden – hier geht es um Anträge zum Atom- Verhandlungen über einen Atomwaffenver- waffenverbotsvertrag – und stattdessen der gemeinsame botsvertrag aktiv unterstützen Antrag der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/11609 mit dem Titel „Ver- Drucksache 18/11609 handlungen über einen Atomwaffenverbotsvertrag aktiv Überweisungsvorschlag: unterstützen“ ebenfalls mit unveränderter Debattenzeit Auswärtiger Ausschuss (f) beraten werden . Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Anstelle des Tagesordnungspunktes 28 sollen die Be- schlussempfehlungen auf der Drucksache 18/11646 zu ZP 6 – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- dem Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des (B) desregierung eingebrachten Entwurfs eines (D) Infrastrukturabgabengesetzes sowie die Beschlussemp- Ersten Gesetzes zur Änderung des Infra- fehlung auf der Drucksache 18/11643 zum Entwurf eines strukturabgabengesetzes Gesetzes zur Änderung des Zweiten Verkehrsteuerände- Drucksachen 18/11237, 18/11536 rungsgesetzes in verbundener Beratung mit einer Debat- tenzeit von 60 Minuten aufgerufen werden . Die nachfol- – Zweite und dritte Beratung des von den Ab- genden Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen geordneten Herbert Behrens, , rücken entsprechend nach hinten . Caren Lay, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs Schließlich mache ich noch auf mehrere nachträgli- eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes che Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatz- über die Erhebung einer zeitbezogenen In- punkteliste aufmerksam: frastrukturabgabe für die Benutzung von Der am 17 .Februar 2017 (219 . Sitzung) überwiesene Bundesfernstraßen (Infrastrukturabgaben- nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus- aufhebungsgesetz – InfrAGAufhG) schuss für Gesundheit (14 .Ausschuss) zur Mitberatung Drucksache 18/11012 überwiesen werden: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ schusses für Verkehr und digitale Infrastruktur CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge- (15 . Ausschuss) setzes zur Neustrukturierung des Bundeskri- minalamtgesetzes Drucksache 18/11646 Drucksache 18/11163 ZP 7 – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Überweisungsvorschlag: desregierung eingebrachten Entwurfs eines Innenausschuss (f) Gesetzes zur Änderung des Zweiten Ver- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz kehrsteueränderungsgesetzes Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Gesundheit Drucksachen 18/11235, 18/11560 Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss Digitale Agenda Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO nanzausschusses (7. Ausschuss) Der am 9 . März 2017 (221 . Sitzung) überwiesene Drucksache 18/11643 nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus- 22488 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) schuss für Gesundheit (14 .Ausschuss) zur Mitberatung Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (C) überwiesen werden: Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu- Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Vereinbarungen ein- strukturierung des Bundeskriminalamtgeset- verstanden sind .– Das sieht ganz danach aus . Dann kön- zes nen wir so verfahren . Drucksache 18/11326 Ich rufe unsere Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf: Überweisungsvorschlag: a) Zweite und dritte Beratung des von den Frakti- Innenausschuss (f) onen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und Energie GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ge- Ausschuss für Gesundheit setzes zur Fortentwicklung des Gesetzes zur Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Ausschuss Digitale Agenda Endlager für Wärme entwickelnde radioakti- Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO ve Abfälle und anderer Gesetze Der am 9 .März 2017 (221 . Sitzung) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus- Drucksache 18/11398 schuss für Recht und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- sowie dem Ausschuss für Wirtschaft und Energie (9 .Aus - ses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsi- schuss) zur Mitberatung überwiesen werden: cherheit (16 .Ausschuss) Erste Beratung des von der Bundesregierung Drucksache 18/11647 eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammen- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- hang mit Rechteüberlassungen richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Drucksache 18/11233 Bau und Reaktorsicherheit (16 .Ausschuss) Überweisungsvorschlag: – zu dem Antrag der Abgeordneten Hubertus Finanzausschuss (f) Zdebel, Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Ausschuss für Wirtschaft und Energie Haushaltsausschuss LINKE (B) Der am 9 . März 2017 (221 . Sitzung) überwiese- Exportverbot für hochradioaktive Abfälle (D) ne nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – zu dem Abschlussbericht der Kommission La- (13 . Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden: gerung hoch radioaktiver Abfallstoffe Erste Beratung des von der Bundesregierung Verantwortung für die Zukunft eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- Ein faires und transparentes Verfahren für derung der materiellen Zulässigkeitsvoraus- die Auswahl eines nationalen Endlager- setzungen von ärztlichen Zwangsmaßnahmen standortes und zur Stärkung des Selbstbestimmungs- rechts von Betreuten Drucksachen 18/9791, 18/9100, 18/11647 Drucksache 18/11240 c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Überweisungsvorschlag: richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Bau und Reaktorsicherheit (16 .Ausschuss) zu Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit dem Antrag der Abgeordneten Hubertus Zdebel, Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, weiterer Abge- Der am 10 .März 2017 (222 .Sitzung) überwiesene ordneter und der Fraktion DIE LINKE nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus- schuss für Wirtschaft und Energie (9 .Ausschuss) so- Umgang mit Atommüll – Defizite des -Ent wie dem Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft wurfs des Nationalen Entsorgungsprogramms (10 . Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden: beheben und Konsequenzen aus dem Atom- mülldesaster ziehen Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fort- Drucksachen 18/5228, 18/7275 entwicklung der haushaltsnahen Getrennter- fassung von wertstoffhaltigen Abfällen Zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen liegt ein Entschlie- Drucksache 18/11274 ßungsantrag der Fraktion Die Linke vor . Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor­ Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für sicherheit (f) die Aussprache 77 Minuten vorgesehen . – Auch dazu gibt Innenausschuss es offensichtlich Einvernehmen. Also verfahren wir so. Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22489

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- Atomenergie zählt für mich zu den großen Leistungen (C) nächst der Bundesministerin Frau Dr .Barbara Hendricks . der Demokratie in Deutschland . (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem CDU/CSU) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- geordneten der CDU/CSU) Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um- Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass der Atomaus- welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit: stieg politisch richtig war, ist den meisten von uns mitt- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- lerweile wohl klar . Im vergangenen Dezember hat uns gen! Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwick- das Bundesverfassungsgericht bestätigt, dass er verfas- lung des Standortauswahlgesetzes wird der Fahrplan zur sungskonform ist . Es gibt also glücklicherweise keinen Endlagersuche jetzt mit Leben erfüllt, wenn wir heute Weg mehr zurück . Aber auch wenn die Nutzung der dieses Gesetz verabschieden. Das Gesetz legt das Ver- Atomkraft bald Geschichte sein wird, bleibt uns und fahren fest, an das sich künftig jeder zu halten hat, der an unseren Nachkommen der Atommüll erhalten und alle der Suche nach einem Endlagerstandort für hochradioak- damit verbundenen Risiken . Deshalb war es dringend tive Abfälle beteiligt ist . Es ist meine tiefe Überzeugung, erforderlich, das Chaos in Sachen Atommüll zu ordnen, dass nur mit festen Regeln und mit absoluter Transparenz und dafür haben wir die vergangenen Jahre dieser Legis- eine ergebnisoffene und bundesweite Suche nach einem laturperiode intensiv genutzt . Endlagerstandort gelingen kann . Erstens . Wir haben uns ehrlich gemacht . Mit dem erst- mals von einer Bundesregierung vorgelegten Nationalen Dem Gesetzentwurf ist die Arbeit der Endlagerkom- Entsorgungsprogramm haben wir eine langfristige Stra- mission vorausgegangen, in die Mitglieder des Deut- tegie zur Entsorgung der Brennelemente beschlossen . schen Bundestages, Vertreterinnen und Vertreter der Länder, der Wissenschaft und gesellschaftlicher Gruppen Zweitens . Wir haben das Hickhack um die verbleiben- eingebunden waren . Mein besonderer Dank gilt heute den Castoren aus der Wiederaufarbeitung beendet und dieser Kommission . sie eben nicht nach geschickt, sondern sie auf andere Zwischenlager bundesweit verteilt . (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Drittens . Wir haben das seit zwei Jahrzehnten dis- kutierte Thema der Atomrückstellungen angepackt und Sie hat in den letzten Jahren mit schwieriger Detail- sichergestellt, dass die Stromkonzerne ihre finanziellen arbeit und in oft kontroverser Debatte einen fundierten Pflichten bei der Stilllegung und beim Rückbau tatsäch- (B) Bericht erstellt . Die Kommission hat damit die Grund- lich erfüllen werden . (D) lage für das Verfahren gelegt, für das ich Sie heute um Zustimmung bitte . Viertens. Wir haben die oftmals kritisierten Zustän- digkeiten für die Endlagerung neu und transparent gere- Die Herausforderung könnte kaum größer sein . Hoch- gelt . Wir sind dort im Umsetzungsprozess . radioaktive Abfälle aus den Atomkraftwerken müssen für 1 Million Jahre sicher von der Umwelt ferngehalten Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind also ein werden . So steht es im Gesetz, obwohl natürlich die Zahl großes Stück vorangekommen . Was bleibt, ist die Frage: von 1 Million eine gegriffene Größe ist. Aber gehen wir Wohin mit dem Atommüll? Mit dem Gesetz, das Ihnen von 1 Million Jahre aus: Mehr als 30 000 Generationen heute zur Entscheidung vorliegt, leiten wir einen Prozess werden in diesem Zeitraum noch von den Folgen der ein, an dessen Ende in einigen Jahrzehnten ein deutsches Atomtechnologie betroffen sein, die bei uns gerade ein- Endlager stehen soll . Wir – damit meine ich auch viele mal 60 Jahre in Betrieb gewesen ist . Seit Christi Geburt derer, die die Atomkraft lange bekämpft haben – stellen sind übrigens rund 60 Generationen vergangen – um ein- uns der schwierigen und unangenehmen Verantwortung, mal die Dimension deutlich zu machen, mit der wir es die aus dem Erbe des Atomzeitalters herrührt. Diese Ver- hier zu tun haben . antwortung ist auch nicht delegierbar, zum Beispiel an andere Länder oder an andere Generationen . Alle diese Zahlen zeigen noch einmal überdeutlich, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ welch ein Irrweg die Nutzung der Atomenergie gewesen DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ist . CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- Der Export von Abfällen ins Ausland wäre das kom- KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- plette Gegenteil einer verantwortlichen Lösung . Der Ge- NEN) setzentwurf schränkt den Export zu Recht sogar weiter Es wird Zeit, dass das letzte deutsche Atomkraftwerk im ein, indem er einen entsprechenden Vorschlag der End- Jahr 2022 vom Netz geht . lagerkommission aufgreift . Künftig ist eine Entsorgung im Inland nicht nur für bestrahlte Brennelemente aus Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich Atomkraftwerken, sondern grundsätzlich auch für solche bei allen bedanken, die sich zum Teil seit Jahrzehnten für aus Forschungsanlagen vorgesehen . Dieser Grundsatz den Atomausstieg engagiert haben – in Wyhl, in Brok- wird ausschließlich durchbrochen, wenn die Brennele- dorf, in Wackersdorf, in Kalkar, im Wendland und an mente noch nicht in ein deutsches Zwischenlager ver- vielen anderen Orten . Der friedliche Protest gegen die bracht worden sind und der Export aus schwerwiegenden 22490 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks (A) Gründen der Proliferation oder der Versorgung deutscher unsere Nachfolger im Deutschen Bundestag die Ver- (C) Forschungsanlagen mit Kernbrennstoff erforderlich ist. antwortung dafür werden übernehmen müssen . Es kann schlechterdings nicht der kommunalen Planungshoheit Lassen Sie mich aber eindeutig klarstellen: Entgegen überlassen bleiben; denn dann würden wir zu keinem Er- dem, was von manchen aktuell behauptet wird, eröffnet gebnis kommen können . diese Regelung keine Hintertür, die Brennelementeku- geln aus Jülich oder Hamm-Uentrop in die USA zu ent- Liebe Kolleginnen und Kollegen, einen Standort für sorgen . Das geht gerade nicht . die Endlagerung zu finden, ist, wie ich finde, ein Test- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ fall für die Demokratie . Ein handlungsfähiger Staat muss DIE GRÜNEN) sich daran messen lassen, ob eine Lösung gelingt, die wissenschaftlich begründet ist und auch von einer brei- Liebe Kolleginnen und Kollegen, das novellierte ten Mehrheit des Landes getragen wird . Daraus folgt eine Standortauswahlgesetz legt fest, wie und nach welchen Verpflichtung für uns alle. Einfach nur zu sagen: „Nicht Kriterien das Standortauswahlverfahren ablaufen wird . vor meiner Haustür!“, das wird als Argument nicht aus- Dabei sind alle infragekommenden Wirtsgesteine ein- reichen . zubeziehen, und es sind umfangreiche Bewertungen der geologischen Verhältnisse an den Standorten durchzu- Uns alle eint der Gedanke, dass wir diese Herausfor- führen . derung jetzt gemeinsam angehen wollen . Wir alle zusam- men müssen uns auf den Weg machen, einen jahrzehnte- Der wichtigste Maßstab für die Auswahl des Endla- langen tiefen Konflikt in unserer Gesellschaft zu lösen. gerstandorts wird die Sicherheit sein . Davon wird sich Ich hoffe deshalb auf Ihre breite Unterstützung für den während des Prozesses die gesamte Öffentlichkeit über- vorgelegten Gesetzentwurf . zeugen können . Das Standortauswahlverfahren sieht deshalb neue Gremien für die Öffentlichkeitsbeteiligung Herzlichen Dank . vor – vor Ort in den fraglichen Gebieten, aber auch über- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem regional . Zusätzlich werden die Möglichkeiten gestärkt, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) das Verfahren von den Bürgerinnen und Bürgern gericht- lich überprüfen zu lassen . Präsident Dr. Norbert Lammert: Liebe Kolleginnen und Kollegen, es liegt in unserer Hubertus Zdebel ist der nächste Redner für die Frak- Verantwortung, den Standort für ein Endlager zu finden, tion Die Linke . das für eine nach menschlichen Maßstäben unvorstellbar lange Zeit größtmögliche Sicherheit bietet und das damit (Beifall bei der LINKEN) (B) die Bürde dieses Erbes für die kommenden Generationen (D) so klein wie eben möglich hält . Hubertus Zdebel (DIE LINKE): Damit korrigieren wir auch die Entscheidung aus dem Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Las- Jahr 1977, Gorleben zum Endlagerstandort zu machen . sen Sie mich heute eines vorweg sagen: Auch wenn es in Die Proteste gegen das Endlager Gorleben sind Teil des der Sache gravierende Differenzen gibt – für die faire und kollektiven Gedächtnisses unseres Landes geworden . kooperative Zusammenarbeit zum Thema „Standortaus- Wir müssen uns eingestehen, dass die Kritik der Gorle- wahlgesetz und Kommission Lagerung hoch radioaktiver ben-Gegnerinnen und ‑Gegner zumindest in weiten Tei- Abfallstoffe“ möchte ich mich bei allen Berichterstatte- len berechtigt war . rinnen und Berichterstattern aus den anderen Fraktionen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ausdrücklich ganz herzlich bedanken . Das gilt für Sylvia sowie bei Abgeordneten der SPD und der Kotting-Uhl, für Matthias Miersch, aber auch für Steffen LINKEN) Kanitz . Das Verfahren damals entsprach weder den Anforderun- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- gen der Wissenschaft noch den berechtigten Forderungen NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- der Bürgerinnen und Bürger nach Transparenz . ten der CDU/CSU und der SPD) Das neue Auswahlverfahren geht einen anderen, einen Es ist ja nicht der Regelfall, dass trotz so unterschiedli- besseren Weg . Es startet mit einer weißen Landkarte . Wir cher Auffassungen sachlich gestritten wird. betrachten das ganze Bundesgebiet, ohne einzelne Regi- In der Sache aber stehen wir als Fraktion Die Linke onen zu bevorzugen und ohne bestimmte Standorte von als einzige Opposition im Bundestag einer Koalition vornherein auszuschließen . Stück für Stück werden wir aus Grünen, SPD und CDU/CSU gegenüber, und wie- auf Basis wissenschaftlicher Fakten Standorte ausschlie- der einmal geht es um Atomfragen . Zuletzt haben im ßen und andere dann jeweils näher untersuchen . Wir wer- Dezember die Grünen gemeinsam mit den Regierungs- den dabei transparent arbeiten und die Bürgerinnen und fraktionen den Atomkonzernen eine milliardenschwere Bürger einbeziehen – und das von Beginn an und nicht Last abgenommen und die Risiken für die Finanzierung erst am Ende der Suche . der Atommülllagerung den Bürgerinnen und Bürgern in Gleichwohl ist mir bewusst: Wenn es darum geht, Deutschland aufgeladen . Jetzt soll ein weiterer vermeint- einen Standort festzulegen, wird dies nicht ohne Wider- licher Atomkonsens auf den Weg gebracht werden, der sprüche gehen – um es vorsichtig auszudrücken . Deswe- aber nicht hält, was Regierung und die Fraktionen der gen ist es klar, dass wir als Deutscher Bundestag bzw . Grünen, SPD und CDU/CSU versprechen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22491

Hubertus Zdebel (A) Natürlich sind die jetzt zur Abstimmung stehenden und Bürgern bereits bei der Entscheidung zur Auswahl (C) Veränderungen eine Verbesserung gegenüber dem bis- der obertägig zu erkundenden Regionen eine gerichtliche herigen Gesetz zur Endlagersuche . In der Kommission Prüfung ermöglicht werden muss . „Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“ haben meine Fraktion und ich selbst in den letzten Jahren aktiv daran (Beifall bei der LINKEN) mitgearbeitet . Das soll aber nun nicht erfolgen . (Beifall bei der LINKEN) Auch die in der Kommission deutlich benannte Tat- Richtig ist aber auch: Die grundsätzlichen Mängel an sache, dass die Standortentscheidung – im Gesetz wird diesem Gesetz werden mit dieser Gesetzesnovelle nicht nun wieder eine Frist bis zum Jahre 2031 genannt – und beseitigt. Wer den jahrzehntelangen Großkonflikt um die die Inbetriebnahme eines Endlagers später kommen wer- Atomenergie und die hochradioaktiven Hinterlassen- den – womit die Zwischenlagerung deutlich, vermutlich schaften beenden will, der muss aus der Vergangenheit über Jahrzehnte, länger dauern wird, als bislang geneh- Konsequenzen ziehen, um verlorengegangenes Vertrau- migt –, bleibt weitgehend ausgeblendet . Das ist eines der en zurückzugewinnen . Kern- bzw . Kardinalprobleme der Arbeit in der Kommis- sion gewesen. Diese defizitäre Umsetzung des Kommis- (Beifall bei der LINKEN) sionsberichts durch den Gesetzentwurf hat die Fraktion Dem hier zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf ist Die Linke während der parlamentarischen Beratungen das bis heute nicht gelungen . Es sollte doch zu denken durch einen Änderungsantrag zu beheben versucht, der geben, dass das Verfahren zu diesem Gesetz und seine aber gestern von den anderen Fraktionen leider abgelehnt Ergebnisse bis heute von nahezu allen Teilen der Anti- wurde . atombewegung und ihren Organisationen heftig bzw . Für uns ist sonnenklar: Die Halbwertzeit dieser Ge- massiv kritisiert werden . Nur mit ihnen als ein entschei- setzesnovelle wird nicht besonders lang sein; denn die dender Vertrauenspartner, aber nicht gegen sie kann das Probleme bleiben . Für einen tatsächlichen Neustart bei Ziel eines gesellschaftlichen Konsenses beim Neustart der Endlagersuche mit dem Ziel eines gesellschaftlichen der Endlagersuche gelingen . Konsenses muss das Verfahren vom Kopf auf die Füße (Beifall bei der LINKEN) gestellt werden . Es braucht eine möglichst sichere Lö- sung, und diese muss in Deutschland gefunden werden . Es mag einen Fraktionskonsens zwischen Grünen, Dafür setzen wir Linke uns weiterhin ein . SPD und CDU/CSU geben, aber selbst in Bezug auf die- sen wissen wir Linken, dass er sehr brüchig – um nicht Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit . gleich „faul“ zu sagen – ist . Dieser Konsens beruht näm- (Beifall bei der LINKEN) (B) lich darauf, dass Gorleben als einziger Standort für ein (D) Endlager für hochradioaktive Abfälle im Rennen bleibt . Statt hier im Bundestag politisch einen klaren Schluss- Präsident Dr. Norbert Lammert: strich unter Gorleben zu ziehen und damit ein überzeu- Für die CDU/CSU-Fraktion erhält der Kollege Steffen gendes Signal für einen tatsächlichen Neustart zu geben, Kanitz das Wort . wird der Streit um Gorleben erneut in das Verfahren zur (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Endlagersuche verschoben . Das, meine Damen und Her- ordneten der SPD) ren, schafft kein Vertrauen, sondern begründet erneut Zweifel . Deswegen lehnen wir Linken dieses Gesetz und diese Novelle weiterhin ab . Steffen Kanitz (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei der LINKEN) Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kolle- Wie brüchig bzw. belastet das Vertrauen in der Bevöl- ge Zdebel, Sie haben gestern im Ausschuss Demut und kerung beim staatlichen Umgang mit den radioaktiven Nachdenklichkeit in der Debatte angemahnt . Wenn ich Abfällen ist, können wir auch bei der Umsetzung des Ihren Worten so folge, muss ich sagen: Sie sind Ihrem Exportverbots sehen . Statt klipp und klar in das Gesetz eigenen Anspruch nicht gerecht geworden . zu schreiben: „Exporte von hochradioaktivem Atommüll (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- aus Jülich in die USA wird es nicht geben“, findet sich im ordneten der SPD) Gesetzentwurf eine derart kryptische Formulierung, dass zu Recht Hintertüren vermutet werden können . Auch das Man kann doch nicht ernsthaft alles dafür tun, um da- trägt nicht dazu bei, Vertrauen zu schaffen. für zu sorgen, dass es in Deutschland kein Endlager für hochradioaktive Abfallstoffe gibt, und gleichzeitig be- (Beifall bei der LINKEN – Dr . Philipp mängeln, dass wir uns zu wenig um die Zwischenlager Lengsfeld [CDU/CSU]: Gnadenlosigkeit ist kümmern . da fehl am Platze!) (Dr . Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Typisch Der vorliegende Gesetzentwurf beansprucht, die Linke!) Empfehlungen der Kommission „Lagerung hoch radio­ aktiver Abfallstoffe“ eins zu eins umzusetzen. Er greift Das ist ein Widerspruch, den man immer wieder deut- auch dabei an vielen Stellen noch zu kurz . Die Klage- lich machen muss . Wir als diejenigen drei Fraktionen in rechte für Bürger bleiben auch nach der Neuregelung un- diesem Deutschen Bundestag, die sich darum kümmern, zureichend . Wir sind der Meinung, dass den Bürgerinnen eine Lösung für dieses Menschheitsproblem zu finden, 22492 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Steffen Kanitz (A) haben diesen Widerspruch aufgedeckt . Und wir fangen Ich selbst habe aus der Arbeit in der Kommission viel (C) mit dem ersten Schritt an, nämlich ein Endlager für hoch- gelernt . Ich habe gelernt, dass das Angebot, an einem radioaktive Abfallstoffe zu finden. Insofern ist es ein gu- Diskurs teilzunehmen, nicht von jedem selbstverständ- ter Gesetzentwurf, den wir heute auf den Weg bringen lich wahrgenommen wird . Die Umweltverbände sind wollen . angesprochen worden . Sie sind ja sozusagen kein mono- lithischer Block, sondern agieren sehr unterschiedlich . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Wir als Fraktion haben uns lange darum bemüht, dass ordneten der SPD) auch zwei Vertreterinnen bzw. Vertreter der Umweltver- bände in die Kommission kommen und ihre Kompetenz Meine Damen und Herren, ich glaube, dass die Arbeit einbringen, um eine Lösung zu finden. Am Ende hat das der Kommission in der Tat der letzte Versuch ist, diese zum Glück auch funktioniert . Was ich gelernt habe, ist Menschheitsaufgabe „Suche nach einem Endlager für außerdem, dass es unter den Umweltverbänden in Tei- hochradioaktive Abfallstoffe“ zu lösen. Das ist ja auch in len – in Teilen – ein Demokratieverständnis gibt, das je- der Rede der Ministerin deutlich geworden . Dass es eine denfalls nicht meins ist und das dem Motto folgt: Nur Menschheitsaufgabe ist, zeigt der Anspruch, dass wir ein wenn meine eigene Meinung akzeptiert wird, dann ma- Endlager finden wollen, das Sicherheit für 1 Million Jah- che ich mit . – Ich glaube, wer diesem Credo folgt, der re garantieren soll . Das mag dem einen oder anderen nur taugt nicht zum Diskurs, meine Damen und Herren . ein müdes Lächeln abringen . Aber ich glaube, dieser An- spruch macht deutlich, dass wir ein Endlager finden wol- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- len, bei dem wir eben nicht nachfolgenden Generationen ordneten der SPD) die Last aufbürden, sich darum kümmern zu müssen, wie Ich will hier auch sehr deutlich sagen: Was es dort an wir mit den Hinterlassenschaften der Kernenergie umge- persönlichen Anfeindungen gegeben hat, insbesondere hen, sondern das robust ist gegenüber geologischen, kli- gegenüber unserer Kollegin Sylvia Kotting-Uhl, ist nicht matischen, aber auch gesellschaftlichen Veränderungen, fair, nicht sachgerecht und dem Dialog auch nicht zuträg- das so robust ist, dass es wartungsfrei aufgestellt werden lich . Was Sie da aushalten mussten, war schon eine ganze kann, wohl wissend, dass wir heute nicht über absolutes Menge . Deswegen Ihnen persönlich vielen Dank für Ihre Wissen verfügen. Deswegen haben wir im Verfahren die Standhaftigkeit in dem Verfahren! Möglichkeit von Rücksprüngen eingebaut . Wir haben ein lernendes Verfahren aufgestellt, das wahrscheinlich ein- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem zigartig ist . Wir haben vereinbart, dass 500 Jahre lang die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Rückholbarkeit garantiert sein soll, weil wir eben nicht wissen, ob nachfolgende Generationen anders mit den Trotzdem – ich glaube, das bleibt auch weiterhin un- (B) Hinterlassenschaften umgehen . Aber wir wollen ihnen sere Aufgabe – bleibt unsere Hand ausgestreckt . Das ist (D) eben nicht die Bürde auferlegen, sich noch einmal da- sie während des Verfahrens immer auch geblieben, bei mit beschäftigen zu müssen . Insofern ist der Anspruch, öffentlichen Anhörungen, bei öffentlichen Veranstaltun- ein sicheres Endlager für eine sehr lange Zeit zu finden, gen, bei Hintergrundgesprächen und bei den folgenden völlig richtig . Öffentlichkeitsbeteiligungsverfahren. Selbstverständ- lich – das hat die Ministerin zum Ausdruck gebracht – Die nackten Zahlen: Wir haben 124 Sitzungen der würdigen wir die Arbeit der Umweltbewegung und der Endlagerkommission und der verschiedenen Arbeits- Umweltverbände . Gleichzeitig will ich, weil das in der gruppen gehabt, über 550 Kommissionsdrucksachen Debatte zu kurz kam, den Mitarbeiterinnen und Mitarbei- sind entstanden, und wir haben einen Abschlussbericht tern der Energieversorgungsunternehmen Danke sagen, von fast 600 Seiten vorgelegt . Das zeigt: Die Kommissi- die dafür gesorgt haben, dass wir in Deutschland in über on hat sich in den letzten knapp drei Jahren große Mühe 50 Jahren Kernenergie keinen signifikanten Störfall hat- gegeben, eine gute und konsensuale Lösung zu finden. ten. Vielen Dank dafür, dass das ordentlich funktioniert Ich möchte mich herzlich bedanken bei den beiden Vor- hat! sitzenden der Endlagerkommission, bei Michael Müller (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und und Ulla Heinen-Esser, die unterschiedlicher nicht hät- der SPD) ten sein können . Aber ich glaube, dass gerade diese Un- terschiedlichkeit ein Teil des Erfolges gewesen ist . Ich Die Aufgabe der Kommission war es, dem Bundestag möchte mich herzlich bedanken bei meinen Kobericht- Vorschläge für eine transparente, ergebnisoffene und an erstatterinnen und ‑berichterstattern Sylvia Kotting-Uhl, wissenschaftlichen Kriterien orientierte Endlagersuche zu unterbreiten . Ich glaube, das ist mit dem Abschluss- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- bericht gelungen . Deswegen ist es auch nur konsequent, SES 90/DIE GRÜNEN) dass der Gesetzgeber diesem Kommissionsbericht in ganz großen Teilen folgt . Matthias Miersch und, lieber Herr Zdebel, auch bei Ih- nen, der Sie am Ende mit Ihrer Fraktion nicht dabei sind, Dort, wo er es nicht tut, ist das das Ergebnis der An- aber der Sie lange mitgearbeitet haben . Es hat insgesamt hörung, beispielsweise bei dem Wort „insbesondere“ . große Freude gemacht . Wir haben im Gesetzesauftrag bisher gehabt, dass wir uns um ein Endlager für „insbesondere“ hochradioaktive (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Abfallstoffe kümmern. Das Nationale Begleitgremium, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- aber auch viele Umweltverbände haben darauf hinge- geordneten der LINKEN) wiesen, dass es schwierig wird, ein Kombilager zu fin- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22493

Steffen Kanitz (A) den, das für schwach- und mittelradioaktive Abfallstoffe Ja, Herr Kollege Zdebel, es ist völlig richtig: Wir wer- (C) wie für hochradioaktive Abfallstoffe gleichermaßen die den uns um die Zwischenlager kümmern müssen; auch bestmögliche Sicherheit garantiert . Deswegen ist es nur wir sehen dieses Problem . Damit werden wir uns sicher- konsequent, dass wir uns auf die hochradioaktiven Ab- lich in der nächsten Legislaturperiode noch einmal be- fallstoffe konzentrieren. Das zeigt, dass wir die Öffent- schäftigen müssen . Wenn wir es den Menschen an den lichkeitsbeteiligung sehr ernst nehmen . Zwischenlagerstandorten recht machen wollen, dann müssen wir das Verfahren jetzt zeitnah starten. Besten- Das Verfahren, das wir Ihnen vorschlagen, ist in drei falls direkt nach Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes Phasen unterteilt . Wir werden jetzt, in Phase eins, mit der muss der Vorhabenträger mit der obertägigen Erkundung obertägigen Erkundung beginnen, von der wir hoffen, starten, damit wir den Zeitplan einhalten können . dass wir sie 2022 abschließen können . Wir haben einen Kriterienkatalog aufgestellt, der in einem breiten Diskurs (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie gemeinsam mit Wissenschaft und Forschung entstanden bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE ist, wo wir erst einmal die Ausschlusskriterien anwen- GRÜNEN) den . Wir werden kein Endlager in Regionen suchen, die erdbebengefährdet sind oder in denen es Vulkanismus Das Thema Gleichbehandlung aller Wirtsgesteine ist gibt . Wir werden Mindestanforderungen anwenden . Zu uns gemeinsam wichtig . Wir schließen kein Wirtsgestein den Mindestanforderungen gehört, dass das Wirtsgestein, und keinen potenziellen Standort im Vorhinein aus. Wir in das wir die hochradioaktiven Abfallstoffe einlagern werden in den drei potenziellen Wirtsgesteinen suchen möchten, eine ausreichende Mächtigkeit hat . Wir haben und werden politisch nichts ausschließen . Schweden uns über Abwägungskriterien unterhalten . Dazu gehört zeigt, dass es auch möglich ist, ein Endlager zu bauen beispielsweise die Schutzfunktion des Deckgebirges, ein mit einer technischen und einer geotechnischen Barriere . Kriterium, das kein Gorleben-K -o. -Kriterium. ist, son- Gleichzeitig – das impliziert der natürliche Menschen- dern ein Abwägungskriterium darstellt . In dem Moment, verstand – gehen wir davon aus, dass die über Jahrmilli- in dem wir zwei Standorte haben, die ansonsten völlig onen gewachsene Geologie gegenüber einer technischen gleich sind, wird derjenige Standort vorgezogen, der ein oder einer von Menschen gemachten Barriere eine besse- intaktes Deckgebirge hat . Aber das ist ein Abwägungs- re Schutzfunktion hat . Deswegen ist es richtig, dass wir kriterium und kein Ausschlusskriterium . Im Anschluss in allen Wirtsgesteinen gleichermaßen suchen und – hier gibt es planungswissenschaftliche Abwägungskriterien, bin ich ganz entspannt – am Ende aber nach Sicherheits- beispielsweise die Siedlungsdichte, die Frage also: Le- kriterien entscheiden . Wir werden denjenigen Standort auswählen, der die bestmögliche Sicherheit für 1 Million ben dort viele Menschen? Jahre garantiert . (B) Um diese Suche vollziehen zu können, brauchen wir (D) In Richtung der niedersächsischen Freunde muss ich Sicherungsvorschriften, die sich nicht nur auf Gorleben sagen: Es ist wohlfeil, Bayern und Sachsen dafür zu kri- beziehen, sondern auf ganz Deutschland . Das ist nur tisieren, dass sie auf die Gleichbehandlung aller Wirts- richtig und konsequent . Sie sind auch absolut notwendig . gesteine drängen . Gleichzeitig aber darauf hinzuweisen, Wir wollen dabei gleichzeitig Deutschland industriepo- dass es falsch ist, Gorleben im Verfahren zu halten, funk- litisch nicht lahmlegen . Deswegen gibt es auch Ausnah- tioniert nicht . Weiße Landkarte bedeutet: inklusive aller men: für Bohrungen bis 100 Meter, auch bis 200 Meter, potenziellen Standorte . Es kann doch nicht richtig sein, wenn nachgewiesen wird, dass kein Wirtsgestein geschä- dass als Ergebnis des Verfahrens herauskommt, dass der- digt wird. Das gilt auch für diejenigen Vorhaben, die im jenige aus dem Verfahren ausscheidet, der lange genug engen räumlichen Zusammenhang mit bereits durchge- protestiert. Vielmehr werden wir denjenigen aus dem führten Maßnahmen stehen . Verfahren nehmen müssen, der aufgrund der geologi- schen Situation für ein Verfahren nicht geeignet ist. Das Bergbau wird weiterhin möglich bleiben . Das ist auch schafft Vertrauen, und das schafft Verlässlichkeit, meine deshalb möglich, weil wir wissen, dass wir in Bergbau- Damen und Herren . regionen, wo die Erde durchlöchert ist wie ein Schweizer Käse, sehr wahrscheinlich kein sicheres Endlager fin- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den können . Ich glaube, es ist auch richtig, dass wir als neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gesetzgeber gemeinsam mit dem Ministerium schauen, dass diese Regelung praxistauglich bleibt . Das Exportverbot ist angesprochen worden . Ich halte es für völlig richtig, dass wir dem Grundsatz der Inlands- Phase zwei ist die Ermittlung der Standorte für die entsorgung folgen . Die bei uns in Deutschland entstande- untertägige Erkundung . Phase drei ist die Einengung auf nen radioaktiven Abfälle sollen auch bei uns in Deutsch- einen Standort, der 2031 gefunden werden kann . Das ha- land entsorgt werden . ben wir jetzt in der Hand . Wir können jetzt nicht mehr auf die Konzerne schauen und sagen: „Ihr seid schuld, Gleichzeitig ist es völlig richtig, dass wir die For- dass es nicht nach vorne geht“, sondern der Bund ist im schung in Deutschland nicht kaputtmachen wollen . Wir Moment in der Verantwortung. Wir haben die vollstän- haben in München – dafür hat sich der Kollege Florian dige Organisationshoheit . Wir werden ab dem 1 .Juli Oßner sehr eingesetzt – den Forschungsreaktor FRM II, sämtliche Finanzmittel haben, die wir brauchen, um ein einen von weltweit drei Forschungsreaktoren, in denen Endlager zu finden. Insofern liegt es auch in unserer Ver- Radioisotope für die Krebsdiagnostik hergestellt werden . antwortung, diesen Zeitrahmen einzuhalten . Es wäre fahrlässig, wenn wir den Reaktor mit diesem Ge- 22494 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Steffen Kanitz (A) setzentwurf kaputtmachten . Insofern ist es richtig, dass Winfried Kretschmann, Ministerpräsident (Ba- (C) es Ausnahmen gibt . den-Württemberg): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Abgeordnete! Heute ist ein Tag der Verantwortung. Mit dem Standort­ Gleichzeitig sage ich auch: Wir wollen, dass der ge- auswahlgesetz schaffen wir die Grundlage dafür, einen nehmigungslose Zustand in Jülich in Nordrhein-Westfa- sicheren Endlagerstandort für hochradioaktive Abfälle len beendet wird . Wir brauchen dringend und unverzüg- zu suchen, und das ist eine wahrhaft epochale Aufgabe . lich – so ist es ja auch angekündigt – eine Lösung, die Es geht um das schwierigste Infrastrukturprojekt in der dem Sicherheitsbedürfnis der Anwohnerinnen und An- Geschichte unseres Landes; denn wir müssen einen Ort wohner gerecht wird . Deswegen ist es richtig, dass wir finden, an dem wir den Atommüll für 1 Million Jahre si- mit dem Gesetzentwurf auch da Druck machen, damit es cher lagern können – ein unvorstellbarer Zeitraum, der zu einer Lösung kommt . im Grunde das menschliche Maß überschreitet . Ich bedanke mich ganz herzlich bei Wir übernehmen also nicht nur Verantwortung für uns, und beim Staatssekretär Schütte aus dem BMBF, die bei- auch nicht nur für unsere Kinder und Enkel, sondern wir de gemeinsam mit uns Berichterstatterinnen und Bericht- stellen uns der Verantwortung für viele Tausend künftige erstattern daran gearbeitet haben, dass wir bei diesem Generationen, soweit das überhaupt in der Möglichkeit Thema einen tragfähigen Kompromiss entwickeln . des Menschen liegt . Deswegen bin ich dankbar, dass wir diesen Gesetzentwurf in einem nationalen Konsens ver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und abschieden, in einem Konsens zwischen Bund und Län- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie dern, aber auch in einem parteiübergreifenden Konsens . der Abg . [SPD]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mir persönlich ist wichtig, meine Damen und Herren, sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und dass wir uns um das Thema Fachkräfte kümmern . Die der SPD) alten Schlachten sind geschlagen und sind Vergangen- heit; aber es geht jetzt darum, dass wir uns der Aufga- Denn so wichtig zivilisierter Streit als Normalmodus der be des Rückbaus und der Entsorgung der radioaktiven Demokratie ist, so wichtig ist der Konsens bei solch fun- Abfallstoffe widmen. Ich würde mich freuen, wenn es damentalen Fragen . uns in einer nationalen Kraftanstrengung gelänge, für Ich sage aber auch ganz deutlich: Die größte Aufgabe den Wissenserhalt bei Nuklearthemen zu stehen und bei liegt noch vor uns . Der Suchprozess wird von uns allen jungen Menschen dafür zu werben, dass wir noch über noch sehr viel Mut, Disziplin und Verantwortungsbe- Jahrzehnte gute Beschäftigungsmöglichkeiten in diesen wusstsein verlangen; ansonsten wird er scheitern . (B) technologisch anspruchsvollen Gebieten haben, dass das (D) auch ein Exportschlager für Deutschland werden kann, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weil weltweit viele Reaktoren in das Alter kommen, in sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und dem sie langsam vom Netz genommen werden . Da hat der SPD) Deutschland eine einzigartige Kompetenz . Meine Damen und Herren, nach der schrecklichen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Reaktorkatastrophe von Fukushima haben wir gemein- sam, im Konsens zwischen Bund und Ländern, im Som- Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist jetzt eine mer 2011 den Ausstieg aus der Atomenergie beschlos- Zeit, in der die Protestkultur schweigen muss und in der sen, wobei ich mir an dieser Stelle natürlich nicht ganz wir eine Kultur der Verantwortung brauchen, die auch verkneifen kann, daran zu erinnern, dass wir zehn Jahre umfasst, dass wir diejenigen Gemeinden honorieren und zuvor mit dem grünen Umweltminister Trittin den Atom- es ihnen nicht schwer machen, sondern leicht machen, ausstieg schon einmal durchgesetzt hatten . die sich der schwierigen Aufgabe stellen, ein Endlager für hochradioaktive Abfallstoffe zu finden. In der Tat, lie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN be Kollegen von den Linken, darf man da nicht Partiku- sowie bei Abgeordneten der SPD – Volker larinteressen folgen, sondern muss dem großen Ganzen Kauder [CDU/CSU]: Aber nicht im Konsens!) gerecht werden . Aber es ist immer gut, wenn man sich durch Katastro- Ich bedanke mich bei Ihnen allen für die gute Zusam- phen auch belehren lässt . Besser ist natürlich, man lässt menarbeit, auch beim BMUB, das kräftig daran mitgear- sich durch Vernunft belehren. beitet hat, dass es funktioniert . Ich glaube, dass wir jetzt eine gute Lösung gefunden haben, und bitte deswegen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN herzlich um Ihre Zustimmung zum Gesetzentwurf . und bei der SPD – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist eine Eigenschaft der Mi- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie nisterpräsidenten!) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Eine zweite fundamentale Frage war noch offen: Wo- hin mit den radioaktiven Abfällen, die im Laufe der Jahr- zehnte angefallen sind und noch weiterhin anfallen? Das Präsident Dr. Norbert Lammert: war eine Frage, bei der wir uns in einer Sackgasse befan- Für den Bundesrat erhält nun der baden-württembergi- den . Ich erinnere mich noch genau, wie das damals war, sche Ministerpräsident Winfried Kretschmann das Wort . als ich 2011 als frischgebackener Ministerpräsident den Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22495

Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Baden-Württemberg) (A) Vorstoß für eine neue, ergebnisoffene Endlagersuche un- wird, während ein anderer Standort zuvor aus politischen (C) ternommen habe. Viele haben den Kopf geschüttelt und Gründen ausgeschlossen wurde . gefragt: Warum ziehst du dir den Schuh an, wo du und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN deine Partei doch jahrzehntelang gegen die Atomkraft ge- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und kämpft habt? Warum bringst du dein eigenes Bundesland der SPD) als möglichen Standort ins Spiel und riskierst damit den Unmut deiner Landsleute? – Es ist ganz einfach: Ich habe Wir setzen zudem neue Maßstäbe in der Qualität des das damals getan, weil wir vom Sankt-Florians-Prinzip Suchverfahrens. Wir legen das Verfahren in staatliche zum Prinzip der Verantwortung kommen mussten Hände. Wir schaffen maximale Transparenz. Alle rele- vanten Daten und Unterlagen kommen auf den Tisch . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Wir beteiligen die Bürgerinnen und Bürger und die Öf- bei der CDU/CSU und der SPD) fentlichkeit umfassend und von Anfang an . Ein gesell- schaftliches Begleitgremium wacht über den gesamten und die Endlagerdebatte aus einer Sackgasse holen muss- Suchprozess. Das Verfahren sieht weitgehende Rechts- ten . Die Entwicklung zeigt: Das war der richtige Weg . schutzmöglichkeiten vor . Über jede einzelne Etappe des Mit dem 2013 verabschiedeten Standortauswahlgesetz Verfahrens entscheiden Bundestag und Bundesrat. Das ist es gelungen, einen Neustart bei der Endlagersuche zu sichert die demokratische Legitimation der Endlagersu- erreichen . che . Der erste Schritt auf diesem neuen Weg war, dass Dabei ist klar: Die endgültige Entscheidung über ei- die Endlagerkommission über zwei Jahre hinweg in- nen Endlagerstandort fällen der Bundestag und die Län- tensiv gearbeitet hat . Sie hat Empfehlungen zu den wis- derkammer und eben nicht die betroffene Region; denn senschaftlichen Grundlagen für das Auswahlverfahren es handelt sich dabei um eine nationale Aufgabe . Damit entwickelt und geeignete Formate zur Beteiligung der werden wir dem Anspruch gerecht, ein ergebnisoffenes, Öffentlichkeit erarbeitet, die in diesem Umfang und in streng wissenschaftsbasiertes, transparentes und lernen- dieser Qualität nie da gewesen sind . des Auswahlverfahren zu entwickeln . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Am wichtigsten ist dabei – das möchte ich noch ein- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) mal betonen –, dass wir mit dem Gesetz neues Vertrauen in unseren Umgang mit der Endlagerfrage schaffen, oder Darauf dürfen wir wirklich stolz sein . Deswegen möch- besser: schaffen können; denn das bislang gewonnene te ich auch den beteiligten Kommissionsmitgliedern und Vertrauen ist noch ein zartes Pflänzchen. Machen wir uns Bürgern sehr herzlich für ihre hervorragende Arbeit dan- nichts vor: Die größten Herausforderungen liegen noch (B) (D) ken . vor uns; denn im Laufe des Prozesses wird sich die Suche auf einen immer kleineren Kreis von Regionen konzen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, trieren . Es kann vor Ort verständlicherweise zu Protesten bei der CDU/CSU und der SPD) und Widerständen kommen . Die lokale und regionale Po- litik kann dabei massiv unter Druck geraten . Deswegen Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden werden wir alle ein starkes Rückgrat benötigen . Die Ent- Gesetzentwurf werden die Empfehlungen der Endla- scheidungen werden nur dann in der Öffentlichkeit ins- gerkommission nun umgesetzt . Damit setzen wir neue gesamt auf Akzeptanz stoßen, wenn bis dahin ein stabiles Maßstäbe bei der Suche . Wir suchen nicht irgendeinen Vertrauen in das Verfahren selbst gewachsen ist. Standort, sondern den Standort mit der bestmöglichen Si- cherheit, und zwar ausschließlich auf Basis wissenschaft- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN licher Erkenntnisse . Das ist, glaube ich, in dieser Zeit, sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und in der die Verbreitung faktenfreier Meinungen um sich der SPD) greift, ganz wichtig. Wir treffen keine Vorfestlegungen. Deswegen müssen sich alle Beteiligten an das jetzt Ausgangspunkt ist eine weiße Landkarte . Die Suche er- vereinbarte Verfahren halten, und zwar ohne Wenn und folgt anhand gesetzlich festgelegter Kriterien . Entschei- Aber. Entscheidend sind alleine die Vorgaben der Wis- dend ist die Geologie und nicht die politische Geografie. senschaft . Die Politik muss sich zurückhalten und der Versuchung widerstehen, bestimmte Standorte von vorn- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN herein für ungeeignet zu erklären; denn mit politischer sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Taktiererei würde das Vertrauen schnell wieder zerstört. SPD und der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Dass die Menschen im Wendland nach der Historie SES 90/DIE GRÜNEN) von Gorleben lieber heute als morgen einen Schlussstrich wollen, ist mehr als verständlich . Als junger Abgeordne- Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und ter habe ich selbst dort vor 37 Jahren demonstriert . Kollegen, lassen Sie uns deshalb unserer gemeinsamen Verantwortung gerecht werden und das Suchverfahren (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aha!) sorgfältig durchführen . Lassen Sie uns eigene Interes- sen zugunsten des gesamtgesellschaftlichen Interesses Aber man könnte den Menschen in all den Regionen, auf zurückstellen . Lassen Sie uns auch bei den weiteren die der Blick jetzt neu fallen wird, nicht vermitteln, dass Schritten in den kommenden Jahren den größtmöglichen bei ihnen nach rein wissenschaftlichen Kriterien geprüft Konsens bewahren . Nur so können wir die Endlagersu- 22496 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Baden-Württemberg) (A) che zum Erfolg führen . Das sind wir den künftigen Ge- breitet, die auch in unserem Sinne sind . Dafür ein herzli- (C) nerationen schuldig; denn wir haben die Erde nur von ches Dankeschön . unseren Kindern geborgt . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herzlichen Dank . der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD) Da das alles ja nicht nur eine Einheitssoße sein soll, möchte ich als niedersächsischer Abgeordneter, lieber Ministerpräsident Kretschmann, dann doch betonen: Präsident Dr. Norbert Lammert: Das, was und hier in den Matthias Miersch ist der nächste Redner für die letzten Jahren angestoßen haben, auch mit Ihnen zusam- SPD-Fraktion . men, ist, glaube ich, das gewesen, was als größtmögli- cher Konsens erreichbar war . (Beifall bei der SPD) Aber ich sage ganz bewusst, auch deshalb, weil ich als Anwalt viele Menschen aus dem Wendland vertreten Dr. Matthias Miersch (SPD): habe und ich mich nach wie vor verantwortlich fühle: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu- „Weiße Landkarte“ kann man so einfach sagen; aber wir nächst muss man, glaube ich, an einem solchen Tag be- haben Erkenntnisse – wir hatten in diesem Haus auch ei- tonen, auch angesichts der Debatten, die wir in den letz- nen Untersuchungsausschuss, und ich sage das nach wie ten Jahren anlässlich der Jahrestage von Fukushima und vor, auch wenn Gorleben erst einmal im Topf drin ist –, Tschernobyl geführt haben: Der Weg in die Atomkraft die allemal ausreichen, um festzustellen, dass Gorleben war und ist eine Sackgasse . nicht geeignet ist, liebe Kolleginnen und Kollegen . (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zwar wird heute immer noch über die Atomenergie Es war ganz interessant: Als wir vor einigen Wochen philosophiert und mancher sagt, dass das doch eigentlich den Gesetzentwurf vorgestellt haben, habe ich einen eine sichere und vor allem günstige Technologie ist; aber Kommentar gelesen, der zum Ausdruck brachte: Das, am Thema Endlagerung zeigt sich: Wenn wir die Kosten, was wir hier machen, ist eine Falle für die Bürgerinnen die mit der Endlagerung verbunden sind, von vornherein und Bürger. Wir würden Öffentlichkeitsbeteiligung da eingepreist hätten, wäre die Atomenergie alles andere als herstellen, wo sie eigentlich überhaupt nicht angezeigt (B) günstig und verantwortbar . wäre . Die Überschrift lautete: „Lasst Experten entschei- (D) den“ . (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist spannend, dass GRÜNEN) nach wie vor – wir haben Meinungsfreiheit – so etwas geschrieben wird . Aber gerade die Atomtechnologie, ge- Ich habe noch sehr genau im Ohr, was einige Kolle- rade die Frage der Endlagerung ist doch ein Beispiel da- ginnen und Kollegen von der CDU/CSU hier angesichts für, dass Experten sich absolut irren können . Was haben der Gedenktage gesagt haben . Deshalb sage ich: Lassen sie gesagt? „Die Asse ist sicher “. Jetzt sehen wir 10 000 Sie uns heute wirklich den absoluten Schlussstrich zie- Liter Wasser am Tag . Es kann doch nicht sein, dass man hen und festhalten: Es darf nie wieder darüber geredet jetzt einfach blind Experten vertraut! werden, dass AKWs über 2022 hinaus in Deutschland (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem betrieben werden sollten . BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr .Philipp (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Lengsfeld [CDU/CSU]: Ich hoffe, das gilt für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Klima auch, ebenso für das EEG!) Ich darf mich dem Dank meiner Kolleginnen und Kol- – Herr Lengsfeld, Sie sind ja noch dran; dazu können Sie legen an Steffen Kanitz, auch an Hubertus Zdebel und gleich noch etwas sagen . vor allen Dingen an Sylvia Kotting-Uhl anschließen . (Dr . Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Na klar! Sylvia, ich finde, es wäre gerecht gewesen, dir heute ein Mache ich auch; werde ich tun!) paar Minuten Redezeit einzuräumen . Umso größer ist der Dank an dich für das, was du geleistet hast . Stattdessen haben wir hier verschiedene Institutionen im- plementiert, die nicht ganz unumstritten gewesen sind . (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Präsident Lammert, ich erinnere mich noch: Als ich mit den Vorschlag zur Einrichtung Ich lobe hier und heute ganz bewusst auch das Bun- einer Kommission gemacht habe, gab es zumindest bei desumweltministerium . Ich möchte meinen Dank zum Ihnen sehr große Skepsis . Ich glaube, nach zwei Jahren Ausdruck bringen . Das, liebe Barbara Hendricks, was Arbeit dieser Kommission können wir feststellen, ver- deine Leute und du in den letzten Jahren geleistet haben, bunden mit einem herzlichen Dank an Michael Müller war eine Herkulesaufgabe . Wir konnten uns immer da- und Ulla Heinen-Esser, dass es sich gelohnt hat, bei die- rauf verlassen, dass ihr konstruktive Vorschläge unter- ser großen Menschheitsaufgabe neben dem Parlament Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22497

Dr. Matthias Miersch (A) ein kontinuierlich tagendes Sachverständigengremium der Pflicht, diese Aufgabe anzunehmen, sonst wird die- (C) zu implementieren, dessen Mitglieder aus den unter- se große Aufgabe scheitern .– Dafür bin ich Winfried schiedlichsten Gruppen der Zivilgesellschaft und der Kretschmann sehr dankbar . Wissenschaft kamen . Ich bin jedenfalls dankbar, dass wir diesen Weg gegangen sind . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der der SPD) CDU/CSU)

Zum anderen haben wir jetzt ein Gremium in den Ge- Präsident Dr. Norbert Lammert: setzentwurf geschrieben, das Nationale Begleitgremium, über das ebenfalls viel philosophiert worden ist: Wollen Eva Bulling-Schröter erhält nun das Wort für die Frak- wir einen Wächterrat, der über Bundestag und Bundesrat tion Die Linke . steht? So wurde mir von einem Rechtsprofessor sogar Verfassungsbruch vorgeworfen. Das, liebe Kolleginnen (Beifall bei der LINKEN – Dr . Philipp und Kollegen, ist meines Erachtens altes Denken . Wenn Lengsfeld [CDU/CSU]: Warum redet keiner wir etwas aus dieser Geschichte der Atomkraft lernen, aus dem Osten?) dann ist es doch, dass wir ein bisschen demütig im Hin- blick auf Entscheidungskulturen und auf die Art und Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Weise sind, wie transparent und hinterfragend wir an eine solch große Frage herangehen . Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bezüglich des Neustarts der Suche nach einem Deswegen finde ich es richtig, dass die nachfolgen- Lager für atomare Abfälle sprach Minister Habeck von den Bundestage und auch der Bundesrat weiterhin von einer Art nationaler Versöhnung. Ich muss sagen: Leider einem Gremium begleitet werden, das auch die Macht ist es das nicht . Dies kann man an den heutigen Protesten hat, Alarm zu schlagen, wenn es das Gefühl hat, hier geht der Antiatombewegung vor dem Reichstag sehen, auch etwas unfair zu . Transparenz und Rechtfertigungsdruck wenn ich zugebe, dass wir schon ein bisschen weiterge- werden die einzigen Möglichkeiten sein, die Konflikte, kommen sind . Trotzdem muss ich heute in der Wunde die in den nächsten Jahrzehnten in dieser Frage vor uns bohren . liegen, zu bewältigen . Mitte Dezember haben Union, SPD und Grüne in die- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit . sem Haus den Finanzierungsdeal der Atomfolgekosten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auf den Weg gebracht . Die Linke hat das sehr kritisiert, (B) der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- und zwar mit Recht . Man hätte wissen können, was nun (D) NISSES 90/DIE GRÜNEN) klar ist: Vattenfall zieht seine 4,3-Milliarden-Klage in Washington eben nicht zurück . Einige Abgeordnete ha- ben damals gesagt, der Staat würde sich lächerlich ma-

Präsident Dr. Norbert Lammert: chen, wenn die beiden letzten kostspieligen Klagen nicht Für eine Kurzintervention erhält die Kollegin Kotting- zurückgezogen würden . Ich sage: Die Kolleginnen und Uhl das Wort . Kollegen der Union, der SPD und auch der Grünen, die sich hier vor drei Monaten für diesen Deal gelobt haben, Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): haben sich leider lächerlich gemacht . Vielen Dank, Herr Präsident. – Ja, Matthias, ich wollte das jetzt nicht so stehen lassen, dass du es angemessen (Beifall bei der LINKEN – Sylvia Kotting-Uhl gefunden hättest, wenn meine Fraktion auch mir ein paar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Abwarten!) Minuten Redezeit gegeben hätte . Ich danke dir zwar für Es ist ungefähr die gleiche Gruppe von Abgeordneten, das Lob, das dahintersteckte . Aber es war gar nicht mein die heute das novellierte Standortauswahlgesetz auf den Wunsch, ein paar Minuten zu bekommen, sondern es war Weg bringt. Dieses Gesetz beinhaltet wesentliche Ver- mein Wunsch, dass Winfried Kretschmann diese zehn besserungen . Es ist aber unzureichend geblieben – leider . Minuten spricht . Denn ich halte es in dieser Debatte – im Hinblick auf das, was nach dem Beschluss des Gesetzes (Beifall bei der LINKEN) und mit Beginn des Verfahrens auf uns als Gesamtgesell- schaft zukommt – für sehr notwendig, dass ein Minister- Einige aus dem Unionslager streiten bereits heftig dafür präsident hier noch einmal klarmacht, dass es – natür- bzw . argumentieren, dass gerade das bayerische Kristal- lich neben der Gesamtgesellschaft, den Bürgerinnen und lingestein für Endlagerzwecke nicht geeignet sei . Bürgern – in ganz großer Verantwortung die Länder sein werden, die diese Aufgabe dann schultern müssen, und (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Quatsch!) dass sie diese Aufgabe annehmen müssen . Da wird aus dem Ökonomen Herrn Nüßlein plötzlich ein Wir Berichterstatter wissen sehr gut, dass das nicht bei versierter Geologe, der weiß, dass Granit im Bayerischen allen Ländern von Anfang an gleichermaßen auf Bereit- Wald für die Endlagerung nicht taugt . Er wird uns das schaft gestoßen ist . Deswegen halte gerade ich – alle, die vielleicht nachher erklären . mit mir gearbeitet haben, wissen, wie wichtig mir die- ses Gesetz ist – es für sehr wichtig, dass wir hier heute (Zuruf des Abg . Dr .Georg Nüßlein eine Stimme hören, die sagt: Ja, die Länder sind jetzt in [CDU/CSU]) 22498 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Eva Bulling-Schröter (A) Unter dem Motto „Bayern first“ möchte man keine Ver- Herr Kanitz, Sie reden von einer Kultur der Verant- (C) antwortung übernehmen . Schließlich war ja auch Franz wortung und sagen, die Leute sollen nicht mehr protestie- Josef Strauß derjenige, der die AKWs forciert hat . ren . Ich sage Ihnen: Wer sich einmischt, wer protestiert, auch einmal Nein sagt und nachdenklich ist, der trägt (Dr .Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Ganz so Verantwortung. einfach ist das nicht!) Aber immerhin ist Kristallin mit dabei. Vor der eige- (Beifall bei der LINKEN – Steffen Kanitz nen Gartentür hört bei Ihnen der Konsens auf . Das ist [CDU/CSU]: Wer nur Nein sagt, trägt kei- schon seit 1970 so . So wurde übrigens damals das Zo- ne Verantwortung! – Dr. Philipp Lengsfeld nenrandgebiet Gorleben ausgewählt . [CDU/CSU]: Sie tragen hoffentlich nie -Ver antwortung in diesem Land! Niemals!) (Zurufe von der CDU/CSU) – Ich weiß gar nicht, wieso Sie sich so aufregen . Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Das Wort erhält nun der Kollege Georg Nüßlein für die CDU/CSU-Fraktion . Eigentlich war ein Standort im Emsland für geeignet ge- halten worden . Dieser lag aber in den CDU-Wahlkreisen (Beifall bei der CDU/CSU) von Werner Remmers und Rudolf Seiters . Gorleben war einfach weit genug davon entfernt . Wir alle kennen das Bild vom grinsenden Ministerpräsidenten Albrecht, der Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): vor exakt 40 Jahren auf der Landkarte auf den damals Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Das, völlig unbekannten Ort Gorleben deutete . Also nichts mit was wir heute beraten, ist Schlusspunkt und Neuan- wissenschaftlich! fang zugleich . Ich möchte betonen, lieber Herr Kollege Miersch, dass der dickste Punkt, nämlich der Ausstieg (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) aus der Kernenergie, schon vor einer ganzen Weile be- Bis heute geben CDU und CSU nicht wirklich zu, dass schlossen wurde . Ich habe mich eben schon ein bisschen Gorleben politisch ausgewählt wurde und dass es vor al- echauffiert, weil Sie versucht haben, die Diskussionen lem deshalb im Spiel gehalten werden musste, weil man von gestern wieder anzustoßen . An dieser Stelle wäre Gorleben als Entsorgungsnachweis für die laufenden das, glaube ich, nicht notwendig gewesen . Atomkraftwerke brauchte, die man sonst vom Netz hätte nehmen müssen . Das muss man einmal sagen . (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist (B) typisch SPD! Vergangenheitsbewältigung statt (D) (Beifall bei der LINKEN) Zukunftsgestaltung! – [SPD]: In den 1990er-Jahren lehnte die Bundesregierung die Herr Nüßlein, der Ausstieg aus dem Ausstieg Suche nach einem alternativen Standort ab, weil man an kommt von Ihnen!) anderen Standorten nie den gleichen hohen Erkundungs- Im Übrigen war das, was Sie gesagt haben und was die stand erreichen könne wie in Gorleben . Kollegin Bulling-Schröter gerade ergänzt hat, auch etwas (Dr .Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Sie dür- unfair gegenüber den Altvorderen aus Ihrer Partei . Denn fen dieses Land nie regieren! Niemals!) natürlich ist es Leuten wie Helmut Schmidt damals auch darum gegangen, dieses Land mit Strom zu versorgen, Heute argumentiert die Mehrheit genau andersherum . damit unser Wohlstand wächst und die Industrie funktio- Gorleben müsse im Verfahren bleiben, sonst wäre das niert; das muss man einmal deutlich sagen . nicht gerecht. Wir, die Linken, finden, dass das überhaupt nicht zusammenpasst . (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und was genau hat das mit (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) dem Thema Atomenergie zu tun?) Gorleben steht für eine große Wunde, falsche Entschei- dungen, Manipulationen, Unwahrheiten und Polizeiprü- Eigentlich sollte uns jetzt die Frage umtreiben, was denn gel . nach dem Ausstieg kommt . Entscheidend ist nämlich die Frage: Wie schaffen wir es, dieses Land zuverlässig und (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) kostengünstig mit Strom zu versorgen? Darüber sollten Gorleben im Verfahren zu belassen, ist daher eine Art wir diskutieren, nicht aber über das Vorgestern philoso- Erbsünde dieses Standortauswahlgesetzes. Dieses Vorge- phieren . hen ist nicht geeignet für eine Art nationale Versöhnung. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) Ich glaube, beim Thema Kernausstieg ist es dieser Heute war die Demo . Es waren auch Leute von der Großen Koalition gelungen, zwei weitere Schlusspunkte BI Gorleben da . Eine Frau hat gesagt: Wenn jemand ein zu setzen . Dabei geht es um die Finanzierung und Or- Auto mit Zündschlüssel stehen lässt und es geklaut wird, ganisation des Rückbaus und um die Suche nach einem ist das Verleitung zum Diebstahl. Wenn Gorleben nicht Endlager . Das, Herr Miersch, war übrigens sehr wohl ausgeklammert wird, ist das Verleitung zur Lagerung von einkalkuliert . Deshalb werden wir auch auf die Rückstel- Atommüll in einem nicht geeigneten Lager . lungen der Kernkraftversorger zurückgreifen . Insofern Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22499

Dr. Georg Nüßlein (A) ist es objektiv falsch, wenn Sie sagen, das sei nicht ein- rischen Beratungsprozesses, weil es das Verfahren strin- (C) kalkuliert gewesen . genter macht . (Dr .Matthias Miersch [SPD]: Wir sprechen Es ist, wie alle Redner vorher betont haben, ein gro- uns noch!) ßer gemeinsamer Erfolg, und ich will mich dem Dank Das war einkalkuliert . Wir greifen, wie gesagt, auf die an die Berichterstatter, die Mitarbeiter – insbesondere im Rückstellungen zurück, gehen mit dem Geld verursa- Ministerium – und die Ministerin anschließen . Der Dank chergerecht um und werden dafür sorgen, dass die End- an die Ministerin wäre noch ein bisschen euphorischer lagerung ohne zusätzliches Risiko für die Steuerzahler ausgefallen, wenn sie, Frau Ministerin – das sage ich organisiert wird . ganz ehrlich –, die Seele der Atomkraftgegner nicht gar so massiert hätten . Trotzdem will ich ganz ausdrücklich Zu diesem Zweck gehen wir heute einen entscheiden- betonen, dass das auch Ihr Erfolg ist, weil Sie mit Be- den Schritt, indem wir die formalen Voraussetzungen harrlichkeit immer überzeugend dargelegt haben, warum für ein Standortauswahlverfahren sichern . Das ist ganz dieser Gesetzentwurf an dieser Stelle Erfolg verspricht . wichtig . Das oberste Gebot, meine Damen und Herren, Vielen Dank dafür. muss dabei lauten: bestmögliche Sicherheit . (Beifall bei der CDU/CSU) Dass dies parteiübergreifend, ja geradezu überpartei- lich und auch gesamtgesellschaftlich fundiert gelingt, ist Dieser Kompromiss – das haben wir gehört – verlangt etwas ganz Besonderes. Ich gebe ganz offen zu, dass ich allen etwas ab . Ich bin der Überzeugung, dass mit diesem kein Fan von Kommissionen bin – überhaupt nicht –; Ergebnis keiner so unzufrieden sein kann, dass er dem denn ich glaube, niemand repräsentiert die Gesellschaft Gesetzentwurf nicht zustimmen kann . in diesem Land besser als der Deutsche Bundestag . Aber in den zwei Ausnahmefällen, über die wir heute reden, Wenn ich sage, dass alle an dieser Stelle Kröten schlu- war es, glaube ich, vernünftig, so vorzugehen . Es war cken müssen, dann gilt das natürlich auch mit Blick auf auch erkenntnisreich . Gewundert hat mich allerdings die die Anforderungen an eine weiße Landkarte . Nur so wird Pontius-Pilatus-Strategie einiger Umweltverbände, die dieser Prozess unangreifbar, das ist richtig, und nur so ihre Hände dauerhaft in Unschuld waschen wollten und kann man dem Argument, Gorleben sei nur aus politi- ursprünglich überhaupt nicht geneigt waren, sich an den schen Gründen in den Fokus geraten, entgegenwirken . Diskussionen über dieses schwierige Thema zu beteili- Das heißt aber auch: Wenn wir das Verfahren so durch- gen . führen, wie wir es jetzt vorhaben, dann wird Gorleben (Dr . [BÜNDNIS 90/DIE aber nicht unwahrscheinlicher, sondern wahrscheinli- cher, und deshalb sind ein paar im linken Lager an dieser (B) GRÜNEN]: Ganz besondere Verantwortung (D) hat aber bestimmt immer die CSU übernom- Stelle so aufgeregt; das muss man ganz klar sagen . men, was?) (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE – Jetzt wollte ich Sie gerade loben; wenn Sie nicht da- GRÜNEN]: Das überlassen Sie mal denen!) zwischenschreien, tue ich es auch noch .– Umso bemer- kungswerter finde ich, dass die Grünen – die Rolle von Zum heutigen Zeitpunkt gibt es wissenschaftlich – um Frau Kotting-Uhl ist bereits gewürdigt worden – hier das zu wissen, muss man kein Geologe sein, sondern nur Verantwortung übernehmen. Dafür herzlichen Dank und lesen können – keine wirklichen technischen Einwände meine Anerkennung! gegen Gorleben, weshalb wir darauf gedrungen haben, dass Gorleben im Fokus bleibt . Wir haben an dieser Stel- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . le bisher 2 Milliarden Euro an Vorinvestitionen getätigt. Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE Eine weiße Landkarte wäre ohne Gorleben, wie Minis- GRÜNEN]) terpräsident Kretschmann das richtig und seriös darge- Herrn Miersch und anderen von der SPD möchte ich stellt hat, nicht möglich . an dieser Stelle sagen: Schauen Sie sich an, wie sich die (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE Linke verhält . Das ist, glaube ich, mit Blick auf die Zu- GRÜNEN]: Ohne Bayern auch nicht!) kunft aufschlussreich, und das sollte man durchaus ein- mal tun . Deshalb danke ich Ihnen, Herr Ministerpräsident (Matthias W . Birkwald [DIE LINKE]: Oh! Kretschmann, für diese Klarheit, auch weil ich weiß, dass Habt ihr schon Angst? Habt ihr schon Muf- man sich hier nach Shakespeare die Pfeil’ und Schleu- fensausen? Gut so!) dern des wütenden Geschicks auf sich ziehen wird, wenn man das als grüner Ministerpräsident so klar sagt . Das Gestern haben wir vom neuen Bundespräsidenten zeichnet Sie hier in ganz besonderer Weise aus . gelernt, dass es in der politischen Orthografie keinen Schlusspunkt, sondern nur Kommas gibt . Nach einem (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE solchen Komma steht eines ganz klar, nämlich Verant- GRÜNEN]: Wo ist der Seehofer? – Jürgen wortung, und das in einer Zeit, die nicht ganz einfach Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ba- werden wird . Für die Standortsuche nehmen wir uns bis den-Württemberg hat das Glück, so einen zum Jahr 2031 Zeit . Ich halte es auch für richtig, dass Ministerpräsidenten zu haben! Anders als wir den Fokus auf die hochradioaktiven Abfälle legen . Bayern! – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE Das war sicher auch ein gutes Ergebnis des parlamenta- GRÜNEN) 22500 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Dr. Georg Nüßlein (A) – Machen Sie sich keine Sorgen um Bayern . Das Glück Ich glaube, dass wir alle miteinander intelligente For- (C) Bayerns machen wir nicht an Personen, sondern am Er- mulierungen gefunden haben, um klarzustellen, was das folg fest . zweitbeste Konzept ist . (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Dr .Matthias Miersch [SPD]: Die aber nicht Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- das aussagen!) NEN]: Haben Sie Seehofer zum Abschuss freigegeben? Söder-Fan, oder was?) Mit Rücksicht auf politische Formulierungen kann man vielleicht an der einen oder anderen Stelle Klarheit ent- Lieber Herr Kollege, wenn wir am Ende der Regierungs- behren . Aber das war eben dem Thema „weiße Landkar- zeit Bayern und Baden-Württemberg vergleichen und te“ geschuldet: Alle sind mit dabei . Alle Bundesländer eine Erfolgsbilanz ziehen, dann werden wir sehen, wer nehmen ihre Verantwortung wahr und sehen das auch ein. am Schluss besser dasteht . Ich weiß, wie es ausgehen (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wird, und Sie werden es erleben . NEN]: Was ist denn jetzt mit Bayern?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Alle unterziehen sich der Anfangsprüfung . Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Da kommen Sie nicht mehr heraus, (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE Herr Nüßlein!) GRÜNEN]: Kommt jetzt Bayern?) Ich danke allen, die hier über ihren Schatten gesprun- Wir werden uns dann an dem wissenschaftlichen Ergebnis gen sind, auch wenn ich merke, wie schwer es ihnen orientieren, so wie das Ministerpräsident Kretschmann fällt . Ich spreche jetzt nicht vom Krötenschlucken, weil vorhin beschrieben hat . ich weiß, dass insbesondere die Grünen an dieser Stelle ein paar naturschutzrechtliche Bedenken hätten . Aber ich (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE glaube schon, dass man davon sprechen kann, dass der GRÜNEN]: Aber das war ein deutlich anderer Gesetzentwurf uns tatsächlich Ehre macht . Duktus als bei Ihnen!) Ich will aber auch sagen, dass auch unsere Seite eine Entscheidend am Schluss ist die Frage: Wofür ent- solche Kröte schlucken musste . Ich hätte mir gewünscht, scheiden wir uns? Wir wählen nicht politische Maßstäbe dass wir das Thema Granitgestein von vornhinein klar und nicht Maßstäbe des Protests, sondern die Maßstäbe ausschließen, weil dieses Gestein zerklüftet ist und des- der Wissenschaftlichkeit, die hier zum Ausdruck kom- halb keinen Sinn macht . men . Ich glaube, dass das richtig ist . (B) (D) (Dr .Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE Es ist wichtig und richtig, die Schritte, so wie sie heute GRÜNEN]: Ja, ja!) beschrieben wurden, zu gehen. Wir haben die finanziel- len und organisatorischen Voraussetzungen zur Endla- Wir haben gesagt, wir lassen es im Topf und im Fokus, gersuche geschaffen, die dazu führen, dass wir ab 1. Juli weil wir uns nicht einem politischen Vorwurf aussetzen dieses Jahres 23,6 Milliarden Euro an Geldern von den wollten, der hier sofort reflexartig gemacht worden wäre. EVU bekommen, um das Ganze finanzieren zu können. Trotzdem glaube ich, dass in diesem Gesetzentwurf – ich Dies verpflichtet uns natürlich dazu, heute diesen Schritt bitte, jetzt genau hinzuhören – ganz klar zum Ausdruck zu gehen . Man kann nicht erst das Geld einnehmen und kommt, dass eine Endlagerung in kristallinem Gestein, dann sagen: Wir können uns aber nicht entscheiden, wie das, wie gesagt, zerklüftet ist und deshalb auf technische wir jetzt weiter verfahren wollen . – Das wäre falsch . Barrieren angewiesen wäre, nur die zweitbeste Möglich- Die Tatsache, dass wir bereits die Bundesgesellschaft keit sein könnte . Das will ich an dieser Stelle ganz klar für Endlagerung geschaffen haben, stellt eine weitere unterstreichen . Verpflichtung dar, heute diesen Schritt zu gehen und die- (Dr . Matthias Miersch [SPD]: Da müssen Sie sem Gesetzentwurf zuzustimmen . Darüber hinaus – auch Ihre Fassung aber noch einmal überprüfen!) das halte ich für ganz wichtig; da spreche ich für meinen Wahlkreis, in dem Gundremmingen liegt – sind wir auch Wer das nicht glaubt, der soll mir an dieser Stelle doch gegenüber denen verpflichtet, bei denen es mittlerweile einmal genau erklären, wie man bei dem angesprochenen Zwischenlager gibt . Ihnen müssen wir eine Perspektive Zeitraum von 1 Million Jahren einen Langzeit-Sicher- geben und sagen, wie es weitergeht und wie lange das heitsnachweis für irgendwelche technischen Behältnisse dauert . Das tun wir mit dem heutigen Tag . Das ist ganz erbringen will . wichtig, was ich deutlich unterstreichen möchte . Mit einem auf der Geologie beruhenden Konzept ist Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. es einfacher, zu begründen, trotz der Schwierigkeiten, die keiner bestreiten will . Aber ich jedenfalls halte es für (Beifall bei der CDU/CSU) wahrscheinlicher, dass ein einschlusswirksames Wirtsge- stein Vorteile hat, wenn man über die Frage diskutiert: Präsident Dr. Norbert Lammert: Was kann und wird in der Zeit von 1 Million Jahren pas- Ich erteile das Wort der Kollegin Hiltrud Lotze für die sieren? Es wäre schon eine Hybris, die zu dem, was Sie SPD-Fraktion . immer kritisieren, überhaupt nicht passt, wenn man sag- te: Wir lösen dieses Problem an dieser Stelle technisch . (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22501

(A) Hiltrud Lotze (SPD): haben wir noch einmal überprüft, und wenn es nötig war, (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und haben wir sie herausgenommen . Kollegen! Ich komme aus dem Wahlkreis Lüchow-Dan- (Beifall bei der SPD) nenberg–Lüneburg . Dort liegt Gorleben . Gorleben wur- de vor 40 Jahren von der Politik und allen voran vom Und natürlich: Als Abgeordnete aus der Region hätte damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst ich es gut gefunden, wenn Gorleben von vornherein aus Albrecht willkürlich als Endlagerstandort benannt – dem Verfahren genommen worden wäre. Dafür gibt es auch gute Gründe, Herr Nüßlein . (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch gar nicht!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) gegen jeden wissenschaftlichen Rat und ohne jegliche Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger . Die Menschen Wenn Sie Gutachten lesen, dann lesen Sie auch die geo- im Wendland haben diese Entscheidung nicht hinge- logischen Gutachten, die eine klare Sprache sprechen nommen und sich ihr widersetzt . Damit begann ein ge- und in denen festgestellt wird, dass dieser Standort nicht sellschaftlicher Großkonflikt, der hauptsächlich hier im geeignet ist . Deswegen bin ich auch sehr sicher, dass Wendland ausgetragen wurde . Gorleben im Verfahren sehr frühzeitig ausscheiden wird. Mit dem Standortauswahlgesetz lassen wir diese Art (Dr .Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Dann pas- der Auseinandersetzung jetzt hoffentlich hinter uns. Wir siert doch nichts!) machen einen Neustart in der Endlagersuche . Der natio- nale Endlagerstandort soll in einem fairen und transpa- Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal die Men- renten Verfahren ausgewählt werden. Die Öffentlichkeit schen ansprechen, ohne die wir nach meiner Überzeu- wird im Standortauswahlverfahren frühzeitig und dauer- gung heute hier nicht über dieses Gesetz sprechen und haft beteiligt. Wir suchen bundesweit und ergebnisoffen. abstimmen würden . Ich meine damit die Antiatombe- wegung und ganz besonders natürlich die Menschen im Meine Damen und Herren, trotz alledem ist es so: Die Wendland . Ich habe Marianne Fritzen, die Grande Dame Geschichte um Gorleben, die ich eben nur ganz kurz an- der Antiatombewegung, kennengelernt, kurz bevor sie gerissen habe, hat dazu geführt, dass die Menschen vor im vergangenen Jahr verstorben ist . Sie war das, was Ort wenig Vertrauen in den Neustart der Endlagersuche unsere Ministerin heute Morgen als eine demokratische haben . Ich verstehe das, und ich bedaure zutiefst, dass es Kraft bezeichnet hat . Sie hat sich aufrichtig und bis zum so ist. Ich habe es auch sehr bedauert, dass Vertreter aus Ende für die Antiatombewegung eingesetzt, und sie hat Lüchow-Dannenberg nicht in der Endlagerkommission mich sehr beeindruckt . An dieser Stelle ist, glaube ich, (B) mitgearbeitet haben, nicht konnten oder nicht wollten . wirklich ein Dank an alle erforderlich, die sich 40 Jahre (D) Dennoch sind ihre Anliegen in der Kommission disku- lang in dieser Bewegung engagiert haben . tiert worden, und sie sind auch im Gesetzentwurf berück- sichtigt worden . (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) In der vorletzten Woche haben wir noch einmal in einer öffentlichen Anhörung den Entwurf des Gesetzes Viele, die ich hier sehe, sind öfter in Gorleben bei diskutiert, und ich sage hier deutlich: Es war gut, dass Castortransporten gewesen . mit Martin Donat ein Experte aus der Bürgerinitiative (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Nur Lüchow-Dannenberg dabei war . In dieser Anhörung, bei der Besichtigung!) bei der auch Herr Töpfer, der Vorsitzende des Nationa- len Begleitgremiums, anwesend war, wurde noch einmal Da waren auch immer viele Polizistinnen und Polizisten . sehr deutlich, dass die zentrale Herausforderung bei der Das war vor Ort kein Vergnügen, und ich denke, es ist Umsetzung des Standortauswahlverfahrens ist, dass Ver- heute angemessen, auch einmal an die Einsatzkräfte zu trauen wieder aufgebaut wird und dass – es ist hier schon denken, die dort den Kopf für eine falsche politische Ent- mehrfach gesagt worden, aber ich sage es gern noch ein- scheidung hinhalten mussten . mal – ein Endlager wirklich nur in einem breiten gesell- schaftlichen Konsens erreicht werden kann . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – (Beifall bei der SPD sowie des Abg . Hubertus Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Demo- Zdebel [DIE LINKE]) kratie in Deutschland!) Das Gesetz, das wir heute verabschieden, legt dafür eine Und noch eine Gruppe will ich ansprechen, die von gute Grundlage, davon bin ich überzeugt . unseren Entscheidungen betroffen ist, die wir aber sel- ( [CDU/CSU]: Eine sehr gute!) ten im Blick haben . Das sind die Beschäftigten im Er- kundungsbergwerk Gorleben . Rund 100 von ehemals Wir gehen hier einen neuen Weg und lassen damit 240 Bergleuten arbeiten jetzt noch dort . Sie bauen nach auch die Tricks und Täuschungen der Vergangenheit hin- dem Erkundungsstopp das Bergwerk zurück und bereiten ter uns . Wir haben noch etliche Anmerkungen aus der es für den Offenhaltungsbetrieb vor. Dieser soll am 1. Ja- Anhörung aufgenommen . Es wurde zum Beispiel präzi- nuar 2018 beginnen. Viele Bergleute haben ihren Job dort siert, dass wir einen Standort für hochradioaktiven Müll schon verloren, und etliche werden ihn noch verlieren . suchen und nicht für ein Kombilager . Formulierungen, Das wissen sie, und sie haben sich damit abgefunden . Sie die eine Priorisierung von Gorleben beinhaltet hätten, akzeptieren die politischen Entschlüsse . 22502 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Hiltrud Lotze (A) Sie erwarten aber – und das fordere ich als örtliche Der Gesetzentwurf basiert – das ist schon gesagt wor- (C) Abgeordnete auch ein –, dass sie von ihrem Arbeitgeber den – auf den Empfehlungen der Kommission „Lagerung über die zukünftige Entwicklung frühzeitig informiert hoch radioaktiver Abfallstoffe“, die ich im Kern richtig werden, dass sie erfahren, wie viele Leute ab dem 1 .Ja - finde. Ich möchte den wissenschaftlichen Anspruch noch nuar noch vor Ort verbleiben und wo die anderen eine einmal herausstellen und ausdrücklich begrüßen . Verwendung finden. Sie erwarten Information über al- Die langfristige Lagerung in tiefen geologischen les, was damit zusammenhängt, und dass man bis zum Formationen ist nach Abwägung aller bislang weltweit letzten Arbeitstag respektvoll und würdevoll mit ihnen betrachteten Optionen die beste . Es gab durchaus auch umgeht . Ich bin mir hier der Unterstützung unserer Um- andere Ansätze . weltministerin sicher . Sie ist schon dort gewesen und hat Gespräche geführt . Das ist mir ein wichtiges Anliegen . Das Konzept soll reversibel sein . Diesen Punkt will ich noch einmal vertiefen, weil er sehr wichtig ist . Zentrale (Beifall bei der SPD sowie des Abg . Hubertus Elemente sind hierbei im Rahmen der Offenhaltungspha- Zdebel [DIE LINKE]) se des Endlagers die Rückholung der Abfälle und nach Meine Damen und Herren, das Standortauswahl- Verschluss des Lagers die Möglichkeit der Bergbarkeit gesetz ist ein Meilenstein . Die eigentliche Arbeit liegt der Abfälle bis zu 500 Jahren . Diese 500 Jahre scheinen noch vor uns . Der Weg wird sicherlich nicht immer kon- mir – bei allem Respekt vor der Kommission – ein viel fliktfrei sein. Ich hoffe und vertraue aber darauf, dass wir realistischerer Zeithorizont zu sein als die im Bericht ge- als Gesamtgesellschaft diese Aufgabe im respektvollen nannte Vorgabe von 1 Million Jahren. Das hat mit Wis- Umgang miteinander und mit Mut gemeinsam meistern senschaftlichkeit nichts zu tun . Diese Bemerkung sei mir werden . erlaubt . Deshalb halte ich die Bezeichnung „Endlager“ auch nicht für ganz glücklich . Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Ziel des neuen Suchverfahrens ist, einen Standort für (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die hochradioaktiven Abfallstoffe mit bestmöglicher Si- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und cherheit – auch das ist schon gesagt worden – in einem des Abg . Hubertus Zdebel [DIE LINKE]) Verfahren zu finden, welches nach klaren Kriterien ab- läuft . Als Ziel für die Standortfestlegung – davon war Präsident Dr. Norbert Lammert: noch nicht so oft die Rede – wird das Jahr 2031 ange- Philipp Lengsfeld erhält nun das Wort für die CDU/ strebt . Gerade als Berliner muss ich sagen: Das ist doch CSU-Fraktion . einmal ein halbwegs realistischer Zeithorizont in diesem Land . (Beifall bei der CDU/CSU) (B) Ich möchte noch einen letzten Aspekt aus Sicht ei- (D) nes Forschungspolitikers ansprechen – das ist auch Dr. Philipp Lengsfeld (CDU/CSU): der Grund, warum ich zu diesem Punkt spreche –: In Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland herrscht ein Exportverbot für hochradio- Meine Damen und Herren! Meine letzte Rede zur Atom- aktive Abfälle aus Leistungsreaktoren . Ich begrüße im kraft habe ich mit einem Bekenntnis gestartet, nämlich Namen meiner AG, der AG Bildung und Forschung, dem, dass ich schon immer Atomkraftgegner war, Kolle- ausdrücklich, dass dieses Exportverbot eben nicht aus- ge Miersch . Dafür gibt es zwei Kernargumente, die Sie nahmslos auf Forschungsreaktoren ausgeweitet wurde . auch genannt haben: die Sicherheitsfrage und die Lage- Hier ist ideologische Unerbittlichkeit – und übrigens rungsfrage . Beide sind nicht wirklich zufriedenstellend auch deutsche Rechthaberei, Kollege Miersch – falsch . zu lösen . Deshalb ist es richtig, dass Deutschland aus dieser Technologie aussteigt . Bei allem Respekt, Frau Ministerin: Ich finde, das Umweltministerium sollte seine Kraft auf die Hauptauf- (Beifall des Abg . Jürgen Trittin [BÜND- gabe konzentrieren, nämlich auf die Identifikation eines NIS 90/DIE GRÜNEN] – Ulli Nissen [SPD]: für die Lagerung von Abfällen aus Leistungsreaktoren Oh, Herr Lengsfeld!) geeigneten Standorts, statt auf die Frage, was wir mit den Kügelchen der AVR Jülich machen. Das ist die Aufgabe Wir beschäftigen uns heute mit der zweiten Thematik, des BMBF . Wir brauchen Optionen, um diese Frage zu und ich möchte ausdrücklich feststellen, dass auch ich lösen . froh bin, dass es diese Koalition zusammen mit Bünd- nis 90/Die Grünen geschafft hat, ein Gesetz für die lang- (Zuruf des Abg . Jürgen Trittin [BÜND- fristige Lagerung von hochradioaktiven Atomabfällen NIS 90/DIE GRÜNEN]) aus deutschen Kernkraftwerken in Deutschland auf den – Herr Trittin, ich mache nachher in Erinnerung Ihrer po- Weg zu bringen . Denn natürlich ist es richtig, dass wir litischen Leistungen eine Dose auf .– Dabei helfen uns unsere Abfälle aus unseren Kraftwerken nicht in andere ideologische Vorgaben ganz sicherlich nicht weiter. Länder exportieren, selbst wenn es sicher Regionen in der Welt gibt, die für eine langfristige Lagerung atomarer Wir brauchen Optionen . Das ist Forschung, und da Abfälle bessere Voraussetzungen haben als das dichtbe- werden eben auch Fehler gemacht, Herr Miersch . Wenn siedelte Deutschland . Ich halte es für politisch klug, dass wir in Deutschland immer schon vorher wüssten, was das wir auch diesen Teil des Umgangs mit der Technologie in Ergebnis von Forschung ist, dann wären wir sehr viel bes- unserem eigenen Land nach unseren eigenen Regeln und ser als alle anderen Länder dieser Welt . Aber das ist nun unter unserer Kontrolle gestalten . einmal nicht der Charakter von Forschung; Forschung ist Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22503

Dr. Philipp Lengsfeld (A) auch Trial and Error . Man darf auch einmal Fehler ma- Die Union hat einen großen Schritt gemacht . Wir (C) chen . Das sollte einem nicht in dieser rechthaberischen haben aus Ereignissen, ja vielleicht auch aus den Feh- Art und Weise jahrzehntelang vorgehalten werden . Da lern der vergangenen Jahrzehnte gelernt; denn auf dem wir Forschungsreaktoren haben, müssen wir das Problem Weg hin zu einer akzeptablen Lösung war es für uns ein lösen . Das hat aber nichts mit der Endlagersuche zu tun . unumgänglicher Schritt, auch einmal über den eigenen Deshalb begrüße ich, dass wir das Exportverbot nicht Schatten zu springen, und das zum Wohle aller . Dieses gnadenlos und ausnahmslos auf die Forschungsreaktoren Verhalten hätte ich mir von allen Beteiligten gewünscht, ausgeweitet haben . Herr Zdebel, auch und gerade von den Linken . Dass Sie den gefundenen Kompromiss auch bei der letzten Ab- Wie Sie sehen, bin ich mit dem vorgelegten Gesetzent- stimmung nicht mittragen, ist der Sache sicherlich nicht wurf insgesamt zufrieden . Ich kann deshalb – auch aus dienlich, vor allem da Sie die ganze Zeit aktiv mitgear- forschungspolitischer Sicht – um Unterstützung werben . beitet haben . Vielen Dank. Noch mehr habe ich mich geärgert über diejenigen, (Beifall bei der CDU/CSU) die gar nicht bereit waren, sich dem Austausch verschie- dener Standpunkte zu stellen . Dazu gehören die schon er- wähnten Umweltverbände und sogar die Bürgerinitiative Präsident Dr. Norbert Lammert: Umweltschutz Lüchow-Dannenberg aus dem Landkreis, Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat in dem Gorleben liegt . Statt konstruktiv an einer Lösung der Kollege Eckhard Pols für die CDU/CSU das Wort . der Endlagerfrage mitzuarbeiten, haben sie sich aus der Verantwortung gestohlen und nur von außen versucht, (Beifall bei der CDU/CSU) alles zu kritisieren . Daher frage ich mich: Wie dreist ist man denn, ein Ergebnis zu kritisieren, wenn man doch die Eckhard Pols (CDU/CSU): Mitwirkung an eben jenem bewusst ausgeschlagen hat? Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aber selbstverständlich ist es immer leichter, mit dem Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dass wir heute Finger auf andere zu zeigen, als sich an einer gemeinsa- in letzter Lesung über den Entwurf eines Standortaus- men arbeitsamen Kompromissfindung zu beteiligen. wahlgesetzes debattieren, ist keine Selbstverständlich- Fakt ist aber: Wir legen heute den Grundstein, damit keit . Nach Jahren der Tatenlosigkeit haben wir uns in wir unseren Kindern und Kindeskindern nicht die Beant- dieser und der vorangegangenen Legislaturperiode der wortung der Frage nach der Lagerung hochradioaktiver Verantwortung gestellt und des Themas Endlagerung Abfallstoffe übertragen. Wir tragen die Verantwortung. hochradioaktiver Abfallstoffe angenommen. Die Arbeit Wir stehen heute aber erst am Anfang der Suche nach ei- (B) der Standortauswahlkommission hat allen Beteiligten in nem Endlager . Wir beginnen – das macht mich besonders (D) den vergangenen drei Jahren viel abverlangt . Es war ein froh – mit einem neutralen Ausgangspunkt, der soge- Ringen um einen Kompromiss, bei dem alle Seiten die nannten weißen Landkarte . Es ist kein Geheimnis – das eine oder andere Kröte schlucken mussten . Eines hatten haben wir schon gehört –, dass manch einer den Stand- wir alle aber gemeinsam: Wir wollten endlich die Suche ort Gorleben gern von vornherein ausgeschlossen hätte . nach einem Endlager voranbringen und die Grundlage Ich bin, ehrlich gesagt, froh, dass dies nicht gelungen ist . dafür noch in dieser Legislaturperiode schaffen. Denn wie sollten wir es – das hat der Ministerpräsident Während der Arbeit der Kommission wurde viel auf- vorhin schon gesagt – den Menschen an anderen poten- gearbeitet . Es wurde auch viel gestritten . Es wurde um ziellen Standorten erklären, dass wir eben doch nicht alle Formulierungen gerungen . Im Bewusstsein der heiklen Standorte auf Eignung überprüft haben? Gorleben wird Situation forderten die Experten in der Endlagerkommis- in dem Verfahren, das wir nun verabschieden, ein Ort sion in ihrem Abschlussbericht schließlich ein selbsthin- unter vielen sein . Der Standort wird sich den Kriterien terfragendes, lernendes System für die Standortauswahl . und dem Vergleich mit anderen Standorten stellen müs- In diesem Zuge ist eine gute Kommunikation unter Ein- sen . Wie am Schluss das Ergebnis sein wird, kann nur das beziehung aller Meinungen unerlässlich . Deshalb hat die Verfahren zeigen. Kommission auch ein neues und umfangreiches Öffent- Wir haben die Veränderungssperre, die jetzt für den lichkeitsbeteiligungskonzept zur Begleitung der Stand- Standort Gorleben und alle anderen Orte jenen Zweck ortsuche erarbeitet und vorgeschlagen . Dieses Prinzip erfüllt . Die Union hat sich dafür starkgemacht, dass kein der Kommunikation und Partizipation gilt auch nach der Ort den anderen gegenüber bevorzugt oder benachteiligt Festlegung eines Standorts . So wird die Ausgestaltung wird . Auch wenn einige es immer noch nicht wahrhaben eines entsprechenden Ausgleichskonzepts bei der zustän- wollen: Das Verfahren zur Standortauswahl ist und bleibt digen Regionalkonferenz angesiedelt sein, also bei jenen transparent, fair und ergebnisoffen. Es besteht keine Vor- Menschen, die ihre Region am besten kennen und am festlegung . besten wissen, wo Unterstützung nötig ist . Ja, ein Endlager könnte am Standort Gorleben, in All diese Maßnahmen zur Förderung von Kommu- meinem Wahlkreis, entstehen . Es könnte aber auch in nikation und Austausch sollen Fehlentwicklungen vor- einem der anderen 298 Wahlkreise entstehen, die wir beugen und die Offenheit des Prozesses erhalten. Aber in Deutschland haben . Als Kind dieser Region bereitet wichtig ist aus meiner Sicht auch, dass die betroffenen mir der Zustand keine schlaflosen Nächte. Schlaflose Standortregionen kein Vetorecht haben. Am Schluss ent- Nächte, Frau Lotze, bereitet mir eigentlich nur, was mit scheidet der Gesetzgeber . den vielen Arbeitnehmern im Erkundungsbergwerk und 22504 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Eckhard Pols (A) deren Familien passiert; denn die werden auf diese Art Bündnis 90/Die Grünen der Gesetzentwurf angenom- (C) und Weise arbeitslos und wissen nicht, wie ihre Zukunft men . aussieht . Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent- (Hiltrud Lotze [SPD]: Das habe ich ja ange- schließungsantrag der Fraktion Die Linke auf der Druck- sprochen!) sache 18/11648 . Wer stimmt für diesen Entschließungs- antrag? – Die Antragsteller . Wer stimmt dagegen? – Alle Das ist nicht die soziale Verantwortung, die Ihre Partei anderen . Dann ist der Entschließungsantrag abgelehnt . sonst immer gerne zeigt . Tagesordnungspunkt 3 b . Wir setzen die Abstimmung (Hiltrud Lotze [SPD]: Was?) zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Um- Mit dem Kriterienkatalog haben wir dafür gesorgt, welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit auf der dass die Entscheidung über ein Endlager wissenschaft- Drucksache 18/11647 fort . Unter Buchstabe b seiner lich profund getroffen wird und vor allen Dingen die Bür- Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ab- ger und Bürgerinnen gehört werden . Aber bis dahin ist lehnung des Antrages der Fraktion Die Linke auf der noch ein weiter Weg . Drucksache 18/9791 mit dem Titel „Exportverbot für hochradioaktive Abfälle“ . Wer stimmt dieser Beschluss- empfehlung zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Präsident Dr. Norbert Lammert: sich? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stim- Herr Kollege . men der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen . Eckhard Pols (CDU/CSU): Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss, den Ab- Wir legen heute, wie gesagt, den Grundstein . Ich bitte schlussbericht der Kommission „Lagerung hoch radioak- um eine breite Zustimmung zu diesem Gesetz . tiver Abfallstoffe“, den es auf Drucksache 18/9100 gibt, Vielen Dank. zur Kenntnis zu nehmen. Er hat den Titel „Verantwortung für die Zukunft – Ein faires und transparentes Verfahren (Beifall bei der CDU/CSU) für die Auswahl eines nationalen Endlagerstandortes“ . Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – Das sieht Präsident Dr. Norbert Lammert: nach Einmütigkeit aus . Ist jemand dagegen oder enthält Ich schließe die Aussprache . sich der Stimme? – Das ist nicht der Fall . Dann ist diese Beschlussempfehlung einstimmig angenommen . Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak- Tagesordnungspunkt 3 c . Hier geht es um die Be- (B) tionen der CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen (D) eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwick- schlussempfehlung des gleichen Ausschusses zum An- lung des Gesetzes zur Suche und Auswahl eines Standor- trag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Umgang mit tes für ein Endlager für Wärme entwickelnde radioaktive Atommüll – Defizite des Entwurfs des Nationalen Ent- Abfälle und anderer Gesetze . sorgungsprogramms beheben und Konsequenzen aus dem Atommülldesaster ziehen“. Hier empfiehlt der Aus- Hierzu liegen mir einige persönliche Erklärungen zur schuss in seiner Beschlussempfehlung auf der Druck- Abstimmung vor, die wir unserem üblichen Verfahren 1) sache 18/7275, den Antrag der Fraktion Die Linke auf entsprechend dem Protokoll beifügen . der Drucksache 18/5228 abzulehnen . Wer stimmt dieser Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Beschlussempfehlung zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer Reaktorsicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- enthält sich? – Dann ist diese Beschlussempfehlung ge- schlussempfehlung auf der Drucksache 18/11647, den gen die Antragsteller mit den übrigen Stimmen des Hau- Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und ses angenommen . Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/11398 Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf: in der Ausschussfassung anzunehmen . Ich bitte diejeni- gen, die dem Gesetzentwurf in dieser Fassung zustim- Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin men wollen, um das Handzeichen . – Wer stimmt dage- Andreae, Dr . Konstantin von Notz, Brigitte gen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion zweiter Beratung mit den Stimmen der antragstellenden BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke Arbeit 4.0 – Arbeitswelt von morgen gestalten angenommen . Drucksache 18/10254 Wir kommen zur Überweisungsvorschlag: dritten Beratung Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem Ausschuss für Wirtschaft und Energie Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen­ zu erheben . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – abschätzung Damit ist mit dem gleichen Abstimmungsverhalten bei Ausschuss Digitale Agenda einer Stimmenthaltung aus den Reihen der Fraktion Nach einer Vereinbarung der Fraktionen sind auch für diese Aussprache 77 Minuten vorgesehen .– Dazu stelle 1) Anlagen 2 und 3 ich Einvernehmen fest . Wir können also so verfahren . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22505

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Und weiter: (C) Kerstin Andreae für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen . . am Ende des Prozesses werden wir genauer wis- das Wort . sen, wie wir in Zukunft arbeiten möchten und was wir tun müssen . Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir sind am Ende des Prozesses; aber ich habe nicht Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das den Eindruck, dass Sie die gewünschten Antworten ha- Wirtschaftsmagazin brand eins hat in seiner Märzausga- ben . Das Weißbuch sollte Lösungen liefern; aber es be getitelt: „Neue Arbeit . . ist mehr als alte Arbeit mit bleibt im Konjunktiv: hätte, müsste, sollte . Internetanschluss“ . Digitalisierung verändert nicht nur die Art, wie wir produzieren grundlegend, sondern auch Dort, wo es konkret werden muss, da fehlt Ihnen der unsere Arbeitsweise . Arbeit wird technischer, vernetzter Mut für konkrete Antworten; aber wir brauchen eine mu- und flexibler. Das bietet auch eine Chance für humanere tige Bundesregierung . und selbstbestimmtere Arbeit . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Aber was wir uns fragen müssen, ist, ob das Neue Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Haben auch in das Alte passt . Die Motivation für unseren An- wir!) trag war, sich dieser Frage zu stellen: Wie verändert sich Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Die Menschen wollen flexi- eigentlich die Arbeitswelt? Wie gehen wir damit um, bler arbeiten, Arbeit und Familie besser verbinden, aber wenn die Menschen Angst davor haben, dass die Digita- nicht im Goodwill des Arbeitgebers . Beschäftigte brau- lisierung ihren Arbeitsplatz gefährdet? Wer verliert über- chen eine echte Wahlarbeitszeit – Selbstbestimmung und haupt? Wir sind uns ganz sicher: Wir können und wollen Freiheit, größere Freiheit hinsichtlich Ort und Zeit der diese Entwicklung nicht aufhalten; aber wir können und eigenen Arbeit . müssen sie gestalten und dafür sorgen, dass niemand ab- gehängt wird . Was machen Sie jetzt? Sie bieten eine dreijährige Experimentierklausel für ausgewählte Betriebe an und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch nur für Beschäftigte mit Tarifvertrag . Das ist we- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der ein klarer Rahmen noch eine klare Ansage . Beschäf- der SPD) tigte wollen ein Recht auf Homeoffice. 74 Prozent der Beschäftigten geben heute an, sie wollten mehr von zu Die Voraussetzungen dafür sind, dass wir alle Men- Hause arbeiten . Wir wollen, dass hier ein Rechtsrahmen schen mitnehmen, befähigen, fördern, qualifizieren. Di- geschaffen wird, dass Rechtssicherheit besteht. Das nutzt gitalisierung schafft bessere Möglichkeiten, sich zu in- auch der Motivation der Menschen . Das hat viel mit ver- (B) formieren und weiterzubilden . Das reicht aber nicht aus . änderten Arbeitswelten zu tun und viel mit der Frage der (D) Schulen brauchen bessere Ausstattungen . Lehrer müssen Vereinbarkeit von Familie und Beruf. geschult werden . Weiterbildungsangebote, gerade für Geringqualifizierte, Ältere und Menschen mit Migrati- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – onshintergrund, sind vonnöten . Kai Whittaker [CDU/CSU]: Dann müsste das Auto von zu Hause aus gebaut werden! – Zu- Weiterbildung und Qualifizierung dürfen nicht vom ruf des Abg . Dr .Philipp Lengsfeld [CDU/ Geldbeutel der Menschen abhängen . CSU]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Natürlich, Herr Lengsfeld, kann die Bäckerin nicht von zu Hause ihre Brötchen verkaufen. Homeoffice funktio- Wenn Weiterbildung daran scheitert, dass das Geld dafür niert natürlich nur da, wo es betriebsbedingt möglich ist . nicht aufgetrieben werden kann, dann ist das ein Fehler . Was wir Ihnen vorschlagen, ist, dass Agenturen und Job- Aber wenn nur 12 Prozent der Betriebe dies in An- center zu Zukunftsagenturen für Arbeit und Weiterbil- spruch nehmen, obwohl es bei 40 Prozent der Betriebe dung ausgebaut werden . Arbeitsuchende und Erwerbstä- möglich wäre und 74 Prozent der Menschen das wollen, tige bei der Weiterbildung aktiv zu unterstützen, das ist dann ist da eine Schieflage. Das ist das, was wir meinen, unser konkreter Vorschlag. wenn wir sagen: Wir brauchen hier Rechtssicherheit . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Zweite ist, dass wir Regeln für diesen digitalen Digitalisierung schafft mehr Selbstständigkeit. Wir Grü- Wandel brauchen. Das betrifft den Beschäftigtendaten- ne unterstützen das . Selbstständigkeit ist eine Graswurzel schutz . Da geht es um Regeln, um der Entgrenzung ent- unserer Wirtschaft, eine wichtige Quelle für Innovation . gegenzuwirken . Das nimmt im Übrigen auch die Arbeit- Aber ihre Stärke kann sie nur ausspielen, wenn sie sich geber in die Pflicht. Wo hört Selbstbestimmung auf, und nicht im sozial luftleeren Raum bewegt . 50 Prozent aller wo fängt Ausbeutung an? Solo-Selbstständigen haben weder eine gesetzliche noch eine private Altersversicherung . Deswegen sagen wir: Wir Nun hat die Ministerin Nahles mit dem Grünbuch im müssen die Versicherungen zu Bürgerversicherungen wei- Jahr 2015 die richtigen Fragen gestellt . Dort steht: terentwickeln, wobei alle mitgenommen werden . Mit Arbeiten 4 0. wollen wir eine wichtige Debatte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – eröffnen und Fragen stellen, gemeinsame Antworten Zuruf des Abg . Matthias W . Birkwald [DIE finden. LINKE]) 22506 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Kerstin Andreae (A) Wir brauchen gerade für Gründer und für diejenigen muss natürlich in entsprechendes gesetzliches Handeln (C) in diesen neuen Beschäftigungsformen einen bezahl- in der Zukunft einmünden . baren Zugang zu den Sozialversicherungssystemen . Es (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kann doch nicht sein, dass die Sorge um die soziale Ab- NEN]: Welches denn?) sicherung dazu führt, dass man sich nicht in dieser neu- en Arbeitswelt zurechtfindet, dass Existenzsicherung die In immer kürzeren Intervallen steigt die Leistungsfä- eigene Kreativität so hemmt, dass man seinen Platz nicht higkeit der Rechnersysteme, der Speicher und natürlich findet. Hier brauchen wir Antworten von Ihnen. auch der Anwendungen, die damit verbunden sind . Auto- matisierungsprozesse finden in allen Betrieben statt. Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) verändert die Arbeitswelt . Ob im Maschinenbau oder in Schließlich müssen wir Arbeit neu denken . Dazu ge- der Elektro- oder Automobilindustrie, im Handwerk oder hören neue Beschäftigungsformen wie Crowdworking . auch im Dienstleistungsbereich – in allen Bereichen fin- Es gibt digitale Plattformen . Da verdienen sich viele ein det durch die Digitalisierung bereits eine grundlegende paar Euro oder auch mehr dazu; das ist gut . Das Problem Veränderung statt. ist, dass dieser neue Markt 24 Stunden jeden Tag global Deutschland nutzt diese Entwicklung bereits heute . im Wettbewerb steht . Nicht ohne Grund sind wir mit weniger als 1 Prozent (Kai Whittaker [CDU/CSU]: Das ist kein der Weltbevölkerung die viertgrößte Volkswirtschaft. Problem! Das ist gut!) Deutschlands Know-how ist in der ganzen Welt gefragt und begehrt . Mit 43,6 Millionen Arbeitnehmerinnen und Hier ist ganz deutlich erkennbar, dass das Neue nicht Arbeitnehmern generieren wir heute ein Bruttoinlands- mehr in das Alte passt . Deswegen müssen wir darüber produkt von über 3 Billionen Euro . nachdenken . Wir können nicht einfach stehen bleiben . Plattformen dürfen kein rechtsfreier Raum sein . Auch da Das haben wir den Menschen in unserem Land zu ver- brauchen wir Lösungen von Ihnen . danken, die es immer wieder geschafft haben, unser Land durch Innovationen leistungsfähig zu machen . Durch un- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ser starkes Bildungs- und Hochschulwesen sowie unsere sowie des Abg . Klaus Ernst [DIE LINKE]) duale Ausbildung, die unser Land stark gemacht haben, Wir befinden uns mitten in einem gigantischen Um- sind wir ein Land von Facharbeitern, Akademikern und bruch . Manche sprechen von einer digitalen Revolution qualitativ hochwertigen Arbeitsplätzen. Viele Arbeitneh- mit ähnlich umwälzenden Folgen wie denen der indust- merinnen und Arbeitnehmer sind Experten in dem, was riellen Revolution vor 200 Jahren . Die Geschwindigkeit sie tun . Laut einer Allensbach-Studie aus dem letzten der Veränderungen stellt jeden Einzelnen, aber auch die Jahr sehen sich drei Viertel der Bevölkerung den künf- (B) (D) Gesellschaft insgesamt vor große Herausforderungen . tigen Anforderungen gut gewachsen. Viele sehen in der Die Politik ist gefordert, hier Antworten zu liefern . Digitalisierung einen Vorteil für sich selber. Deswegen legen wir Ihnen den Antrag „Arbeit 4 0“. Wir wollen die Chancen der Digitalisierung nutzen . vor . Ich möchte, dass wir in die Diskussion über Instru- Die digitalisierte Arbeitswelt soll dabei explizit in den mente gehen, die dazu beitragen, dass die Menschen mit Dienst der Menschen gestellt werden . Das ist unsere An- dieser Digitalisierung und mit dieser Veränderung am Ar- forderung . beitsplatz, in der Arbeitswelt klarkommen, sich sicherer (Beifall bei der CDU/CSU) fühlen und an dieser Veränderung teilnehmen. Gehen wir in die Diskussion! Wichtig ist mir dabei aber auch, dass wir die Menschen mitnehmen, die in Bezug auf die Anforderungen der Zu- Vielen Dank. kunft immer noch Ängste haben . Auch daran müssen wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – arbeiten . Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wir Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben im letzten diskutieren mit!) Jahr gemeinsam mit einigen Mitgliedern des Ausschus- ses für Arbeit und Soziales die USA bereist und zahl- Präsident Dr. Norbert Lammert: reiche Gespräche geführt . Ich fasse die bei dieser Reise Uwe Lagosky ist der nächste Redner für die CDU/ gewonnenen Erkenntnisse zusammen: CSU-Fraktion . Erstens . Welchen Bildungsstand und welche Ausbil- (Beifall bei der CDU/CSU) dung man in den USA erhält, hängt maßgeblich von den finanziellen Möglichkeiten des Einzelnen ab. Ich finde, Uwe Lagosky (CDU/CSU): mit unserem System der dualen Ausbildung und der Hochschulausbildung haben die Menschen in unserem Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Land ein hervorragendes Fundament für ihr gesamtes ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Digitalisie- Berufsleben . rung entwickelt sich in einer Geschwindigkeit, die alle Entwicklungen am Arbeitsmarkt in den vergangenen Zweitens. Die USA haben uns im Silicon Valley und Jahren in den Schatten stellt . Das haben wir gerade auch an anderen Stellen bei den Unternehmensneugründungen von Ihnen gehört, liebe Kollegin . Allerdings ist die Dis- durchaus einiges voraus . Circa jeder dritte Student der kussion um dieses Thema bereits voll entfacht worden, Stanford University gründet eine eigene Firma . In den und viele Dinge sind bereits auf den Weg gebracht . Das USA ist auch wesentlich mehr Venture Capital, Risikoka- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22507

Uwe Lagosky (A) pital, vorhanden, als es in Deutschland der Fall ist . Auch Lassen Sie mich etwas zu dem sagen, was in Ihrem (C) ist dort die Bereitschaft der Menschen viel ausgeprägter, Antrag zur Wahlarbeitszeit steht. Viele Manteltarifver- in eine Selbstständigkeit zu gehen. Ich finde, an dieser träge, Betriebs- und Dienstvereinbarungen nutzen die Baustelle müssen wir in Deutschland in erheblichem Möglichkeiten, die innerhalb der Leitplanken unseres Maße arbeiten . Arbeitszeitgesetzes gegeben sind . Damit wird die Ar- beitszeit, die von den Sozialpartnern in den Unternehmen Drittens . Auf die Frage, wie man die wachsende Un- verhandelt wird, auf die Erfordernisse der Beschäftigten gleichheit in den USA in den Griff bekommt und wie man und des Betriebes zugeschnitten . Gleichzeitig geht es die Menschen in einer sich rasant ändernden Arbeitswelt aber auch darum, die als Leitplanken vereinbarten Rege- mitnimmt, haben uns die 14 Professoren der Stanford lungen im Arbeitszeitgesetz – dabei geht es insbesondere University keine Antwort geben können . Die Rahmen- um die Ruhe- und Tageshöchstarbeitszeiten –, die dem bedingungen, die wir durch unsere Regelungen zum Ar- Arbeitsschutz und damit dem Schutz der Gesundheit der beitsschutz haben, spielen dort eine eher untergeordnete Beschäftigten dienen, entsprechend umzusetzen . Inso- Rolle . Deshalb ist es gut, wenn wir uns auf das besinnen, fern sind weitere Gestaltungsspielräume zur Vereinbar- was Deutschland stark gemacht hat, nämlich auf unsere keit von Familie und Beruf, wie Sie sie vorschlagen, nur soziale Marktwirtschaft . Die müssen wir entsprechend möglich, wenn sie dem Schutz der Beschäftigten nicht weiter aufbauen und pflegen. widersprechen . (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was heißt das jetzt konkret?) Deshalb lohnt es sich, darüber nachzudenken, ob man mit tariflichen Öffnungsklauseln im Arbeitszeitgesetz da- Insofern sind Ihre Ansätze durchaus diskutabel . Wir für sorgen kann, dass man diesem Anspruch gerecht wird werden über diese auch in der Zukunft sprechen . Denn und gleichzeitig eine bessere Vereinbarkeit hinbekommt. letztlich geht es darum, die Entwicklungsmöglichkeiten Ein Beispiel: Wenn eine Mutter am Vormittag vier Stun- eines jeden, den Freiraum und den Schutz der Beschäf- den im Betrieb gearbeitet hat und nach Kinderbetreuung tigten sowie die Wirtschaft zu stärken . All diese drei und Freizeit am Nachmittag gegebenenfalls am Abend Punkte unter einen Hut zu bekommen, ist Aufgabe und noch einmal zwei Stunden arbeiten möchte, verstößt das Herausforderung . Und das macht die CDU/CSU-geführ- nach heutiger Rechtslage möglicherweise gegen das Ar- te Bundesregierung, wie ich finde, in hervorragender Art beitszeitgesetz wegen der Ruhezeit, die eingehalten wer- und Weise . den muss . Hieran wollen wir arbeiten und entsprechend (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . dafür sorgen, dass wir hier Rechtssicherheit schaffen – Dr . Hans-Joachim Schabedoth [SPD] – Beate zum Wohle der Beschäftigten und der Arbeitgeber . Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) NEN]: In welcher Form?) (D) Unser deutsches Arbeitsrecht gibt Leitplanken vor, Gleichzeitig möchten wir, dass Arbeitgeber ihre Ar- zwischen denen sich Beschäftigte und Arbeitgeber frei beitnehmer umfassend über Gesundheitsrisiken und prä- bewegen können. Diese Bewegungsfreiheit schafft ventive Maßnahmen aufklären . Sie merken also an den Wachstum und Sicherheit . Sie zeichnet unsere soziale vielen Punkten, die wir hier vorschlagen und miteinander Marktwirtschaft aus. Wir haben also beste Vorausset- diskutieren, dass wir an den gleichen Themen arbeiten, zungen, um auch in Zukunft wirtschaftlich erfolgreich nämlich an den Handlungsfeldern, die uns das Weißbuch zu sein und in diesem Land eine gute soziale Absiche- vorgibt . Allerdings ist die Herangehensweise an vielen rung zu garantieren . Dass dies so bleibt, ist natürlich kein Stellen durchaus unterschiedlich, so auch im Bereich Selbstläufer . Deshalb müssen wir die Anforderungen, vor des Arbeitsschutzes . Sie treten für eine Reform der Ar- die uns die Digitalisierung stellt, mit Bedacht entspre- beitsschutzverordnung bei psychischer Gefährdung ein, chend in unser System einbauen . wissen aber genau, dass die Ergebnisse der Studien, die bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsme- Die Bundesregierung hat dazu – das wurde eben dizin in Auftrag gegeben wurden, erst im Mai dieses Jah- auch schon erwähnt – im April 2015 den Dialogprozess res vorgestellt werden . Wäre es nicht besser, erst einmal „Arbeiten 4 0“. gestartet . Dessen Ergebnisse wurden auf diese Ergebnisse zu warten, bevor man einen Antrag im vergangenen November durch das BMAS in einem stellt? Weißbuch vorgestellt . Durch zahlreiche Workshops und Stellungnahmen sowie durch einen wissenschaftlichen Beirat wurden in breitem Umfang Ideen gesammelt und Präsident Dr. Norbert Lammert: Handlungsempfehlungen gegeben . Es gilt, diese jetzt in Herr Kollege . entsprechender Form umzusetzen . Darüber diskutieren wir ja auch, und wir werden das auch weiterhin tun . Uwe Lagosky (CDU/CSU): Liebe Grüne, uns also in Ihrem Antrag zu sagen, die Bundesregierung habe in diesem Bereich in den vergan- Zum Schluss noch etwas zum Thema „Q wie Qualifi- genen Jahren zu wenig getan, ist schlichtweg falsch . zierung“ . Aus unserer Sicht muss Weiterbildung in erster Linie im Job erfolgen und nicht erst dann, wenn jemand (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und arbeitslos geworden ist . der SPD – Beate Müller-Gemmeke [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wurde denn ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . macht?) Dr . [SPD]) 22508 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Uwe Lagosky (A) Es gilt, die Weiterbildung in den Betrieben praxisnah zu Das bedeutet, dass in erster Linie der Arbeitgeber darü- (C) organisieren und den Beschäftigten damit das Rüstzeug ber entscheidet, was eingesetzt wird und wie es einge- für die aktuelle und zukünftige Arbeit zu geben . Dafür setzt wird . Dabei geht es natürlich um die Senkung von werden wir uns einsetzen . So gestaltet sich der Wandel in Kosten – das ist das Ziel –, sonst würde der Arbeitgeber der Arbeitswelt zum Wohle der Arbeitnehmerinnen und es nicht machen . Arbeitnehmer . Digitalisierung ist nichts anderes als ein weiteres Ele- Herzlichen Dank . ment, um den Produktionsprozess mit neuen technischen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Möglichkeiten rationeller zu gestalten . Das Ziel der Ar- ordneten der SPD) beitgeber allerdings ist – jetzt wird es für uns, das Par- lament, spannend –, dass sich die Beschäftigten an die technischen Möglichkeiten anpassen sollen, und leider Präsident Dr. Norbert Lammert: nicht, wie es im Antrag der Grünen impliziert ist, dass Das Wort erhält nun der Kollege Klaus Ernst für die Freiräume für die Beschäftigten geschaffen werden sol- Fraktion Die Linke . len . Das Ziel der Arbeitgeber ist etwas ganz anderes . Ich (Beifall bei der LINKEN) zitiere aus der Stellungnahme der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände: Klaus Ernst (DIE LINKE): Wichtig ist, dass die Flexibilität, die die Digitali- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und sierung durch neue Arbeitsabläufe und neue Kom- Herren! Der Antrag der Grünen gibt uns die Möglichkeit, munikationsinstrumente mit sich bringt, nicht durch wichtige Fragen im Zusammenhang mit Veränderungen Regulierung behindert wird . Positive Wettbewerbs- in der Arbeitswelt zu diskutieren . Prinzipiell geht der An- und Beschäftigungseffekte können nur mit einem trag in die richtige Richtung . flexiblen Rahmen ausgeschöpft werden. (Dr .Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Hört! Hört!) GRÜNEN]: Aber natürlich nicht weit genug!) Dort steht klar, was sie wollen: Ausweitung der Wochen- Zu Herrn Lagosky: Ihr Beispiel von der Frau, die vier endarbeit, Ausweitung der Feiertagsarbeit, Abschaffung Stunden am Vormittag und zwei Stunden am Abend ar- der gesetzlich geregelten Höchstarbeitszeit, Anpassung beitet, passt nicht . Das hat mit Digitalisierung nichts zu der Ruhezeiten an Betriebsabläufe, und Beschäftigte tun . Solche Beispiele hat es immer schon gegeben . Wir sollen auch kurzfristig von zu Hause abberufen werden, müssen also aufpassen, dass wir nicht alle Ideen, die wir um ihre Arbeit verrichten zu können . Das, liebe Kolle- (B) jetzt diskutieren, in Zusammenhang mit neuer Technik ginnen und Kollegen, ist die absolute Unterordnung der (D) bringen . Beschäftigten unter die Produktion . Das müssen wir ver- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) hindern und regeln . Vieles von dem, was wir fordern und diskutieren, ist ja (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg . gar nichts Neues . Aber trotzdem einige grundsätzliche Dr . Hans-Joachim Schabedoth [SPD]) Bemerkungen . Die Interessen der Beschäftigten stehen denen der Worum geht es, wenn wir uns als Parlament hier über Arbeitgeber diametral gegenüber . Da will man von Teil- die Folgen der Digitalisierung unterhalten? Die Grund- zeit wieder in Vollzeit. Richtig. Da will man nach acht fragen, die sich stellen, sind: Wem kommen die Produk- Stunden auch aufhören können, ohne durch entspre- tivitätsgewinne, die dabei entstehen, zugute? Wer be- chenden Druck dazu gezwungen zu werden, länger zu kommt sie? arbeiten . Da will man Beginn und Ende der Arbeitszeit selbst definieren und sich nicht der Technik anpassen. Da (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) will man – das ist sehr wichtig; hier bin ich wieder beim Kommen diese Produktivitätsgewinne einseitig dem Un- Kollegen Lagosky –, wenn man kleine Kinder hat, raus ternehmen zugute, oder gelingt es uns, durch gesetzliche aus der Schichtarbeit und hin zur Normalschicht, damit Regelungen dafür zu sorgen, dass auch die Beschäf- man sich um die Kinder kümmern kann . Das alles gibt tigten, zum Beispiel durch kürzere Arbeitszeiten, zum es momentan noch nicht . Dazu brauchen wir einen ge- Beispiel durch mehr Bildungszeiten, davon profitieren? setzlichen Rahmen, weil es sonst in der Praxis nicht dazu Profitiert vielleicht sogar die Gesellschaft davon, dass kommt . freiwerdende Beschäftigte in den Bereichen eingesetzt (Beifall bei der LINKEN) werden können, wo wir sie brauchen, zum Beispiel im Pflege- oder Gesundheitsbereich? Das sind die Fragen, Jetzt komme ich zu den Grünen . Das ist mir wichtig: die uns beschäftigen müssen und mit denen wir uns hier Wenn man die Interessen der Beschäftigten durchset- auseinandersetzen müssen . zen will, muss man aufpassen, wenn man in den Antrag schreibt „sofern dem keine wichtigen betrieblichen Be- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg . lange entgegenstehen“ . Aus meiner langjährigen Praxis Dr . Hans-Joachim Schabedoth [SPD]) in Betrieben kann ich Ihnen sagen: Immer wenn dies for- Meine Damen und Herren, der Einsatz von Technik muliert wird, ist es äußerst unwahrscheinlich, dass sich findet bei uns unter kapitalistischen Bedingungen statt. die Beschäftigten durchsetzen, weil der Arbeitgeber im- Das kann man gut oder schlecht finden, aber so ist es. mer einen Punkt findet, dass dem betriebliche Interessen Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22509

Klaus Ernst (A) entgegenstehen . Wir brauchen daher einklagbare Rechte Vizepräsidentin Dr. h. c. : (C) für die Beschäftigten . Darüber müssen wir reden . Als nächste Rednerin spricht Katja Mast für die SPD-Fraktion . (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD sowie der Abg . Antje Wir können es aber nicht dem Arbeitgeber überlassen . Lezius [CDU/CSU])

Meine Damen und Herren, Digitalisierung – da ha- Katja Mast (SPD): ben Sie Recht; das ist auch der Grundsatz – fordert mehr Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen Schutzrechte für abhängig Beschäftigte . Es geht darum, und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! das Direktionsrecht des Arbeitgebers, zu verfügen, wann, Es ist klar: Unsere Welt befindet sich in einem grundle- wie und wo was im Betrieb passiert, weiter einzuschrän- genden Wandel . Auch die Arbeit wandelt sich natürlich . ken . Dann müssen wir es aber auch tun und nicht nur Arbeiten 4.0 wird vernetzter, digitaler, flexibler sein. Wir appellieren . Auch die Bundesregierung muss in dieser stehen natürlich vor großen Herausforderungen, bei de- Frage reagieren und nicht nur appellieren, weil sich sonst nen es darum geht, wer am Wohlstand teilhaben wird, nichts ändert . Das ist ein wichtiger Punkt . wie sich Chancengleichheit und soziale Sicherheit in un- (Beifall bei der LINKEN) serem Land zukünftig entwickeln . Es geht in dieser Debatte um Chancen und Risi- Ich stimme den Grünen in dem Aspekt zu, dass Arbeit ken; das haben meine Vorredner mit unterschiedlichen zunehmend in rechtsfreien Räumen stattfindet. Sie haben Schwerpunktsetzungen schon deutlich gemacht . Aber über Vermittlungsplattformen gesprochen. Ja, aber wie wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten füh- können wir das regeln? Was passiert in diesen Vermitt- ren an dieser Stelle keine Angst-, sondern eine Gestal- lungsplattformen? In rechtsfreien Räumen wird zuneh- tungsdebatte . mend Arbeit vermittelt von anonymen Organisationen, bei denen man sich um Aufträge bemüht, vollkommen (Beifall bei der SPD sowie der Abg . Antje unabhängig von den Fragen: Wie lange wird dort gear- Lezius [CDU/CSU] – Lachen des Abg . beitet? Was wird für diese Aufträge bezahlt? Wir haben Dr .Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE also eine Aushebelung geltender Bestimmungen in der GRÜNEN]) Bundesrepublik Deutschland durch den Fakt . Das ist nur Bestes Beispiel dafür ist das Weißbuch Arbeiten 4.0 un- ein Aspekt . Wie können wir das regeln? Wir müssen über serer Bundesarbeitsministerin . die Begriffe „Arbeitgeber“ und „Arbeitnehmer“ reden. (B) Wenn jemand einen Menschen über eine Plattform ver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Kerstin (D) mittelt, wie Sie richtig sagen, ohne Sozialversicherung Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da und ohne Absicherung: Ist er dann nicht ein Arbeitgeber? steht aber nichts drin!) Ein Arbeitgeber in einem Betrieb macht auch nichts an- Alle, die behaupten, wir eröffneten heute die Debatte da- deres . Jemand kommt, er beschäftigt ihn, er vermittelt rüber, sollten vielleicht zunächst einmal dieses Buch le- ihm Arbeit . Der andere macht im Prinzip dasselbe . sen. Dann sähen sie, dass es in der öffentlichen Debatte schon viele Vorschläge gibt. Die Ministerin skizziert da- (Zuruf des Abg . Kai Whittaker [CDU/CSU]) rin die zentralen Gestaltungsaufgaben . – Sie haben wirklich wenig Ahnung davon . Ich würde Ich will auf einen Aspekt eingehen – es kommen ja mich ein bisschen zurückhalten . Sie brüllen zwar dazwi- noch viele Rednerinnen und Redner der SPD –, den ich schen, aber Sie haben wirklich keine Ahnung . als zentralen Zukunftsaspekt bei der Gestaltung von Ar- beiten 4.0 empfinde: die Qualifizierung. Sie entscheidet (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN so- aus meiner Sicht im Kern über die Verteilungsgerech- wie der Abg . Katja Mast [SPD] und Dr .Anton tigkeit in Zeiten der Digitalisierung . Es gibt düstere Be- Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) schäftigungsszenarien, Studien, die von millionenfachen Jobverlusten ausgehen . Aber das Bundesarbeitsministe- Deshalb sage ich: Wir müssen den Begriff des Arbeitge- rium geht davon aus, dass es sich um einen Wandel von bers neu regeln . Ist derjenige, der einen Menschen ver- Kompetenzen und Berufen handelt . Wenn sich Berufe mittelt, nicht Arbeitgeber? Müsste er dann nicht auch die und Kompetenzen wandeln, also der Arbeitsmarkt sich Sozialversicherungsbeiträge zahlen, wenn er jemanden wandelt, dann heißt das doch ganz klar: Wir müssen in vermittelt? Qualifikationen investieren, wir müssen in die Köpfe der Menschen investieren, damit sie auch in Zukunft an der (Beifall bei der LINKEN) Verteilung des Wohlstands, an der Verteilung des Ku- chens teilhaben . Das sind Aspekte, die wir in die weitere Beratung auf- nehmen sollten . Ich freue mich darauf . Insofern ist der Klar ist: Wandel von Kompetenzen und Qualifikatio- Antrag der Grünen durchaus hilfreich . nen gab es schon immer . Die Digitalisierung macht das alles aber viel schneller, als wir es jemals gekannt haben . (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . Das heißt, wir brauchen einen Paradigmenwechsel . Ja, es Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE gibt eine Verantwortung von Arbeitnehmern und Arbeit- GRÜNEN]) gebern für die Qualifizierung; aber es gibt natürlich auch 22510 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Katja Mast (A) eine gesellschaftliche Verantwortung, also eine Verant- Bevölkerung wirklich an den Chancen der Digitalisie- (C) wortung staatlicher Akteure für den Wandel der Arbeits- rung und der sich daraus ergebenden Wertschöpfung teil- welt und für die Qualifizierung. Nur mit diesem Dreieck haben wird . Deshalb: Unsere Konzepte liegen auf dem der Verantwortungen – Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Tisch . Ich freue mich auf die Debatte . Gesellschaft – wird es am Schluss das richtige Modell . Alle müssen zusammen an einem Strang ziehen – davon Vielen Dank. sind wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten (Beifall bei der SPD) überzeugt . Ansonsten kommt es zu einer Entwertung von Qualifikationen. Wenn wir da nicht ansetzen, bekämpfen wie keine Arbeitslosigkeit . Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Brigitte GRÜNEN]: Wie soll es jetzt konkret gehen?) Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort . – Weil meine geschätzte Kollegin von den Grünen laut ruft: „Was heißt das denn jetzt konkret, liebe Katja (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mast?“ – ich ergänze gerne den Zwischenruf –, sage ich: Brigitte Pothmer und Andrea Nahles haben ein Konzept Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, es vorgelegt . ist richtig: Es gibt sehr viele Menschen, die sich durch die Digitalisierung neue große Chancen ausrechnen . Es (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe gibt aber auch Menschen, die sich vor den daraus resul- von der CDU/CSU: Oh! – Michael Grosse- tierenden Veränderungen fürchten. Sie haben Sorge, dass Brömer [CDU/CSU]: Seit wann? Das ist ja sie mit dem Tempo nicht mitkommen, sie haben Sorge, ein Witz!) dass sie den Anforderungen nicht gerecht werden, und Wir schaffen ein Recht auf Weiterbildung. Wir schaffen sie haben auch Sorge um ihren Arbeitsplatz . Ich bin der ein Arbeitslosengeld für Qualifizierung. festen Überzeugung, dass man diesen Ängsten und die- sen Sorgen am besten damit begegnet, dass man unter (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das Beweis stellt, dass man dort, wo die Veränderungspro- weiß Herr Schulz aber noch nicht!) zesse bereits begonnen haben, wo die Zukunft der Arbeit Wir wollen die Schutzfunktion der Arbeitslosenversiche- längst Realität ist, tragfähige Antworten gibt, dass man rung ausdehnen, indem wir die Rahmenfristen ausdeh- Chancen eröffnet und damit verhindert, dass Verlierer nen . produziert werden . (B) (Zurufe von der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) – Ihr Unmut sagt mir: Sie haben es schon mal gehört, Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Ko- aber noch nicht durchdrungen . alition, einen Dialogprozess zu führen, ist gut und schön, (Beifall bei der SPD – Kai Whittaker [CDU/ ein Weißbuch vorzulegen, ist auch gut und schön, aber CSU]: Ja, und Sie haben es noch nicht verstan- das reicht bei weitem nicht aus . den!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir wollen die Bundesagentur für Arbeit zu einer und bei der LINKEN) Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung ausbauen. Was wir brauchen, sind konkrete Antworten . Wir brau- Das ist genau der richtige Weg . Was steckt dahinter? chen Entscheidungen . Wir brauchen gesetzliche Rege- Wir wollen mit Weiterbildungsberatung, Förderung von lungen . Weiterbildung, Zeit für Weiterbildung dafür sorgen, dass Menschen nicht erst qualifiziert werden, wenn sie den Ich will Ihnen das am Beispiel der Arbeitslosenversi- Job verloren haben, wir wollen früher im Erwerbsleben cherung einmal deutlich machen . Die Zukunft der Arbeit ansetzen . hat längst begonnen . Es gibt doch längst diese unste- ten, diese kurzfristigen Beschäftigungsverhältnisse . Die (Beifall bei der SPD) Menschen, die sich darin befinden, zahlen in die Arbeits- Denn wahr ist doch auch, Kolleginnen und Kollegen: Ob losenversicherung ein, fallen aber im Falle der Arbeits- Aufstieg durch Bildung gelingt, ob das große sozialde- losigkeit direkt in Hartz IV. Das liegt daran, dass Sie die mokratische Versprechen in Erfüllung geht – die Kinder Arbeitslosenversicherung für diese Menschen gerade sollen es besser haben als die Eltern –, entscheidet sich nicht zukunftsfest gemacht haben . nicht mehr nur am Lebensanfang, sondern die ganze Er- werbsbiografie hindurch. Daran müssen sich auch staat- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN liche Institutionen anpassen . Deshalb brauchen wir eine sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Katja Weiterentwicklung der Bundesagentur für Arbeit zu ei- Mast [SPD]: Ausbildung und Weiterbildung!) ner Agentur für Arbeit und Qualifizierung. Jeder vierte dieser Erwerbstätigen zahlt ein und bekommt (Dr .Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE nichts heraus . Das sind inzwischen 580 000 Menschen . GRÜNEN]: Das ist lächerlich!) Was bieten Sie diesen Menschen mit Ihrer „enormen Nur so können wir dafür sorgen – da hat Herr Klaus Ernst Gestaltungskraft“ an, Frau Mast? Eine Sonderregelung, recht; das Spannende ist die Verteilungsfrage –, dass die durch die im ganzen Jahr 239 Menschen gestützt wurden . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22511

Brigitte Pothmer (A) Was für ein Bild des Jammers! Was für ein Missverhält- kurzzeitig Beschäftigten zum Beispiel im Kultur- und (C) nis! Medienbereich helfen . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) 580 000 Menschen zu 239 Menschen, wo ist da Ihre Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gestaltungskraft, Frau Mast, wo ist da Ihr Gestaltungs- Sehr geehrter Herr Kapschack, nur um Ihrer Erinne- dialog? Was haben Sie gemacht? Anstatt diese Hürden rung auf die Sprünge zu helfen: Ich habe mich auf eine endlich abzubauen, haben sie die Dauer dieser Regelung Pressemitteilung bezogen, die Sie und Ihr Kollege zu für kurzzeitig Beschäftigte, die nichts taugt, einfach ver- der Verlängerung dieser völlig wirkungslosen Sonder- längert . Herr Kapschack hat sich dafür auch noch gefei- regelung abgegeben haben . Darin haben Sie behauptet, ert. Ich finde, das ist wirklich armselig. dadurch hätten Sie weiteres Vertrauen geschaffen. Ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN glaube, Sie haben einfach nur jede Hoffnung begraben. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ Dabei wissen wir alle, dass sich durch die Digitalisierung DIE GRÜNEN – Beifall bei Abgeordneten der diese Formen der Erwerbstätigkeit noch weiter entwi- CDU/CSU) ckeln werden . Ich wusste nicht, Herr Kapschack, dass hier Wahl- Gerade diese Menschen brauchen aber doch mehr und kampfversprechen der Grünen zur Debatte stehen . nicht weniger Sicherung . Bilden Sie sich doch nicht ein, (Dr .Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Wahl- dass Sie mit einer solchen Sonderregelung Vertrauen in kampfversprechen nicht der Grünen, der die Arbeit 4.0 schaffen. Wenn Sie das schon nicht gere- SPD!) gelt bekommen, dann bekommen Sie die Gestaltung der Zukunft erst recht nicht geregelt . Meiner Ansicht nach geht es in dieser Debatte um einen Antrag der Grünen und um das Handeln der Bundesre- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gierung . Ich habe nicht mitbekommen, dass Sie nicht sowie des Abg . Harald Petzold [Havelland] mehr Teil der Bundesregierung sind, sondern inzwischen [DIE LINKE] – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] in der Opposition sind . [SPD]: Große Worte!) Meine Damen und Herren, ja, die Digitalisierung bie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tet eine Menge Chancen . Insbesondere Frauen könnten sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – (B) davon profitieren. Darauf hat meine Kollegin Kerstin Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Wir ha- (D) Andreae hingewiesen; deswegen möchte ich das hier ben den Eindruck schon manchmal! – Michael nicht weiter ausführen . Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Manche versu- chen, den Eindruck zu erwecken!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Lassen Sie mich jetzt noch etwas zur Weiterbildung Frau Kollegin Pothmer, lassen Sie eine Zwischenfrage sagen, weil Frau Mast dieses Thema in besonderer Weise des Kollegen Kapschack zu? hervorgehoben hat . Wir wissen alle, dass die Halbwert- zeit von Wissen durch die Digitalisierung noch weiter (Ralf Kapschack [SPD]: Überraschung!) abnehmen wird . Das heißt, dass Weiterbildung für alle, für wirklich alle dringend notwendig ist . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das Gerne . hat Frau Mast gesagt!)

Ralf Kapschack (SPD): Aber die Hartz-IV-Empfänger – Frau Mast, hören Sie jetzt bitte einmal zu – werden bei Ihnen fast vollständig Liebe Kollegin Pothmer, erst einmal herzlichen Dank abgehängt . Sie betonen die Bedeutung der Weiterbil- dafür, dass Sie die Zwischenfrage zulassen . Ich kann dung; aber im SGB II gilt nach wie vor der Vorrang der mich, ehrlich gesagt, an keine Feier erinnern. Vielleicht Vermittlung vor Qualifizierung. waren Sie bei einer Feier, zu der ich nicht eingeladen war . (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) (Zuruf der Abg . Katja Mast [SPD]) Das aber nur nebenbei . Diejenigen brauchen Ihrer Meinung nach offensichtlich keine Weiterbildung . Ich frage Sie: Wo bleibt Ihre Wei- Nehmen Sie zur Kenntnis, dass es in den Vorschlägen terbildungsoffensive? Wann wird das Meister-BAföG des Kanzlerkandidaten und der Arbeitsministerin zum tatsächlich zu einem Gesetz zur Förderung lebenslangen Thema „Zugang zum Arbeitslosengeld“ eine deutliche Lernens umgebaut? Veränderung zum jetzigen Zustand gibt? Die Rahmen- frist soll nämlich auf drei Jahre erweitert werden . Inner- (Zuruf der Abg . Katja Mast [SPD]) halb dieser drei Jahre müssen zehn Monate Beschäfti- Nein, Sie sind immer noch im Modus der Sonntagsreden; gung nachgewiesen werden. Das ist im Vergleich zum aber den müssen wir jetzt dringend verlassen . gegenwärtigen Zustand eine deutliche Verbesserung und würde – solche Gespräche führen Sie ja auch – vor allem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 22512 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Brigitte Pothmer (A) Lassen Sie mich zum Schluss kommen . Wer es in ei- Liebe Kollegen von der SPD, herzlich willkommen in (C) ner ganzen Amtszeit nicht geschafft hat, überzeugende der Bundesregierung! Das machen wir seit vier Jahren . Antworten auf die bereits eingetretenen Veränderungen Unser Minister Dobrindt hat gerade diese Woche wieder der Arbeitswelt zu geben – die Zukunft der Arbeit hat be- entsprechende Förderbescheide übergeben . reits begonnen –, der wird kaum das Vertrauen der Men- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – schen dafür gewinnen, Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ein ganz schlechtes Beispiel! – Zurufe NEN]: Genau! Das ist nämlich der Punkt!) von der SPD) eine so grundlegende Veränderung wie die, die vor uns Das Schöne an der Digitalisierung ist ja, dass sie liegt, zu gestalten. Dieses Vertrauen brauchen wir aber, Transparenz ermöglicht: Man sieht große Zusammenhän- wenn der Weg in die Digitalisierung und die Zukunft der ge und sieht, worüber geredet worden ist . Da gibt es die Arbeit gelingen soll . Möglichkeit, sogenannte Wortwolken zu erstellen, und dann sieht man, wo der Schwerpunkt einer Rede lag . Das Ich danke Ihnen . habe ich natürlich mit der Rede vom vergangenen Sonn- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – tag gemacht . Sie kann man auf meiner Facebook-Page Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Schauen sehen; aber ich habe sie auch einmal mitgebracht . Wenn wir mal, wem sie vertrauen werden!) man sich die Worte einmal zusammensucht und daraus einen Satz bildet, dann kommt aus den wichtigsten Wör- Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: tern der letzten Rede folgender Satz heraus: Liebe Ge- nossinnen und Genossen, Deutschland hat Menschen .– Als nächster Redner hat Kai Whittaker für die CDU/ Ein beeindruckendes Programm für die Zukunft unseres CSU-Fraktion das Wort . Landes! (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Kai Whittaker (CDU/CSU): Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Ich nehme diese Debatte nicht als Gestaltungsdebatte wahr, sondern eher Herr Whittaker, lassen Sie eine Zwischenfrage des als Angstdebatte . Kollegen Ernst zu?

(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Kai Whittaker (CDU/CSU): GRÜNEN]: Dann müssen Sie mal richtig zu- Nein . Ich würde jetzt gerne mit der Rede fortfahren . (B) hören!) (D) Meines Erachtens sollten wir hinsichtlich der Digita- Führen wir uns einmal die Schlagwörter vor Augen, lisierung drei Dinge feststellen . Erstens . Die Digitalisie- die in dieser Debatte und in vielen anderen Diskussio- rung hat doch schon längst angefangen . nen benutzt werden: Da geht es um „Ausbeutung“, um „Entgrenzung“, um „Verdichtung von Arbeit“ und um (Dr . Martin Rosemann [SPD]: Wir sind nicht „ständige Erreichbarkeit“ . Arbeit 4 0. heißt für die linke auf dem CDU-Parteitag!) Seite des Hauses: vier Ängste und null Lösungen . Das Die Menschen nehmen das doch nicht als eine Revoluti- ist ein Lehrstück, wie man den Leuten erst Angst einjagt on wahr, die kommt, sondern als etwas, in dem wir schon und sich dann zum Heilsbringer aufschwingt, um sie zu mittendrin sind: Wir buchen unsere Urlaube online, wir beschützen . bekommen Tickets für die Deutsche Bahn online, wir ha- Dass die Menschen von links nichts zu erwarten ha- ben Maschinen, die sich miteinander vernetzen . Wir ar- ben, konnte man meiner Meinung nach, liebe Frau Mast, beiten mit dem Laptop von überall aus . Die Firmen haben am vergangenen Sonntag erleben . mehr Wissen über die Kunden und können sich deshalb besser auf sie einstellen . In Zukunft werden Drohnen die (Lachen der Abg . Katja Mast [SPD]) Arzneimittel zu den älteren Menschen bringen, und sie Das deutsche Silicon Valley liegt definitiv nicht bei Wür- müssen nicht mehr den langen Weg zur Apotheke gehen . selen . Aber es bedeutet auch, dass jetzt schon über die Hälfte (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der der Deutschen online arbeitet . So hat es zumindest das SPD: Oh! – Katja Mast [SPD]: Aber auch Institut der Deutschen Wirtschaft herausgefunden . Es ist nicht in Baden-Baden!) auch keine böse Revolution, die da aus Amerika über uns hereinschwappt . Die Menschen haben doch keine Angst Wer das nicht glaubt, dem empfehle ich – das gilt auch davor, weil sie ja tagtäglich mit diesen Themen umgehen . für die Zuschauerinnen und Zuschauer an den Fernsehge- Die Menschen fühlen sich nicht unter Druck gesetzt, son- räten –, einfach einmal online zu gehen und sich die Rede dern sie sind wesentlich produktiver . Das hat übrigens Ihres sogenannten Spitzenkandidaten herauszusuchen, das Bundesarbeitsministerium für das Weißbuch heraus- den Text herunterzuladen und nach dem Wort „Digita- gefunden . lisierung“ zu fahnden . Wissen Sie, wie oft er es benutzt hat? Ein einziges Mal kommt das Wort vor, und er benutzt Die Digitalisierung führt eben auch nicht zu einer es noch nicht einmal im Zusammenhang mit Arbeit 4 0,. Massenverelendung durch Crowd- und Click-Working . sondern im Zusammenhang mit dem Breitbandausbau .– Das betrifft die absolute Minderheit. Lediglich 4,2 Pro- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22513

Kai Whittaker (A) zent in der IT-Wirtschaft arbeitet danach . Die weit über- mit dem 3‑D-Drucker von zu Hause aus Gegenstände (C) wiegende Mehrheit der Deutschen sieht, dass die Vorteile ausdrucken können, dann bedeutet das weniger Warten, die Nachteile überwiegen. Selbst bei den Geringqualifi- weniger Transportkosten, weniger Ressourcenverbrauch . zierten, die ja am ehesten skeptisch gegenüber der Digi- Sprich: Vieles wird für die Menschen erschwinglicher talisierung eingestellt sein müssten, sagt über die Hälfte, und besser . dass sie sich von der Digitalisierung Positives verspre- chen und durch sie in ihrer körperlichen Arbeit entlastet Wir können diese Dinge nur ermöglichen, wenn wir werden . – Auch das stammt nicht von mir, sondern wurde uns auf zwei Punkte konzentrieren . vom BMAS festgestellt . Der erste Punkt ist: Wir müssen den Menschen mehr Die Menschen in Deutschland sind viel weiter als zutrauen, was ihre Arbeitszeiten und Arbeitsformen an- manch einer hier in diesem Saal . Wir müssen anfangen, diese Debatte als Chance zu begreifen; aber wir werden – geht . Ich sehe das in meinem eigenen Freundeskreis; das bringt mich zum zweiten Punkt – diese Chance nicht Kollege Lagosky hat es schon angesprochen . Es ist nun mit den alten Mustern nutzen können . einmal der Fall, dass man morgens die Kinder in den Kindergarten bringt und vormittags in der Firma arbeitet . Herr Ernst, ich finde schon, es ist ein falsches Bild, Nachmittags kommt man nach Hause und verbringt Zeit wenn man glaubt, dass es auf der einen Seite den bösen mit der Familie . Nachts wird dann die zweite Arbeits- Arbeitgeber gibt, der seine Mitarbeiter wie im 19 .Jahr - schicht von zu Hause aus eingelegt . Dadurch kommen hundert ausbeuten möchte, während auf die andere Seite die Menschen, auch heute schon, mit unseren Arbeits- eventuell der faule Arbeitnehmer gesetzt wird, der Neues zeitgesetzen in Bedrängnis . Deshalb: Wenn die Leute so blockieren will . Beide Bilder sind Zerrbilder . erwachsen sind, eine Entscheidung zu treffen, wo und (Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]: Das hat auch wie sie arbeiten wollen, dann sollten wir es ihnen auch keiner gesagt!) ermöglichen und nicht verbieten . Es wird in Zukunft nur gemeinsam gehen . Wenn sich (Beifall bei der CDU/CSU) diese Menschen eben nicht gemeinsam als Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammentun, dann werden wir noch Der zweite Punkt ist: Wir müssen den Menschen mehr solche Negativbeispiele wie vor fünf Jahren haben, helfen, diesen Wandel mitzugestalten . Dabei geht es als Kodak einfach vom Markt gefegt wurde, obwohl es um ihre Qualifikation. Ja, einige Tätigkeiten werden die Digitalkamera erfunden hat . Kodak hat es nicht ge- verschwinden; das ist die bittere Wahrheit . Aber dafür schafft, auf die neuen Zeichen der Zeit zu setzen. entstehen genauso viele, wenn nicht sogar noch mehr (B) Wir sollten ebenso nicht den Fehler machen, zu be- neue Jobs: 3‑D-Druckspezialisten, Webentwickler, Mo- (D) werten, was gut oder schlecht ist, sondern wir sollten ver- bile Developer, Scrum Master, das alles sind Jobs, die suchen, die Dinge zu ermöglichen . Wer sagt denn, dass es vor zehn Jahren noch gar nicht gab . Was braucht man die Menschen in Zukunft alle sozialversicherungspflich- dafür? Wir brauchen digitale Kompetenzen in der Schu- tig arbeiten wollen? Die Mitarbeiter werden in Zukunft le . Estland zum Beispiel ist uns da voraus . Dort gibt es nicht nur für einen Arbeitgeber, sondern für mehrere tätig bereits das Fach Programmieren . Wir brauchen das di- sein, als Dienstleister beim Kunden, in mehreren Betrie- gitale Know-how auch in unseren Ausbildungsberufen, ben, auf längere Zeit, in gemischten Teams, über viele weil die duale Ausbildung nun einmal die Stütze unse- Länder hinweg . rer mittelständischen Wirtschaft in Deutschland ist . Wir müssen auch unsere Einstellung ändern . Man hat eben Wir haben in dieser Legislaturperiode die Zeitarbeits- nicht mehr mit 18 oder Mitte 20 ausgelernt, sondern es und Werkverträge reformiert, vor allem mit Blick auf diejenigen Branchen, die damit Schindluder getrieben geht immer weiter . Wir müssen Anreize setzen, um die haben, gar keine Frage . Aber ich bin mir nicht sicher, ob Menschen in Weiterbildung zu bringen . Frau Mast, ich wir uns damit nicht vielleicht auch die eine oder andere finde, Ihr ALG Q ist großer Quatsch; denn Sie versuchen, Chance für die Zukunft verbaut haben, dieser Entwick- die Leute erst dann zu qualifizieren, wenn sie schon ar- lung gerecht zu werden . beitslos sind, Der dritte Punkt, den ich anführen möchte, ist, dass (Dr . Martin Rosemann [SPD]: Stimmt doch die Digitalisierung kein Selbstzweck ist. Vielmehr müs- gar nicht!) sen wir den Menschen erklären, warum wir die Digitali- sierung brauchen . Die Antwort lautet eben nicht, dass es wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist . darum geht, dass Deutschland in 20 Jahren wirtschaftlich weiterhin so stark ist . Das ist allenfalls das Ergebnis einer Wir müssen vorher ansetzen, wir müssen die Men- guten Politik, die wir heute machen . Die Menschen wol- schen qualifizieren, bevor es so weit kommt. len doch mit ihrer Arbeit etwas bewirken, ihre Umwelt verändern . Das sehen wir beim automatisierten Fahren . (Beifall bei der CDU/CSU – Katja Mast Was bedeutet das? Es bedeutet in Zukunft weniger Staus, [SPD]: Wie billig!) effizienteres Fahren, weniger Unfälle, also eine bessere Lebensqualität . Wenn die Maschinen sich vernetzen und Deshalb sollten wir eher darüber nachdenken, welche sich melden, bevor sie kaputtgehen, dann erspart uns das steuerlichen Anreize wir geben können, damit die Men- in Zukunft nervenaufreibende Wartezeit, oder wenn wir schen die Zeit und das Geld haben, sich weiterzubilden . 22514 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Kai Whittaker (A) Arbeit 4.0 bedeutet für uns: Vier weitere Jahre mit der durchsetzen können, dann muss ich Ihnen sagen: Sie ha- (C) Union ergibt null Probleme bei der Digitalisierung . Das ben von der betrieblichen Realität so viel Ahnung wie ist unsere Agenda 2020 für Deutschland . eine Kuh vom Fußballspielen . Das muss ich Ihnen wirk- lich einmal sagen . (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD) Ich kann nur an Sie appellieren: Stellen Sie sich der Realität, gehen Sie in einen Betrieb, und reden Sie mit den Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Leuten! Wenn es uns nicht gelingt, diese Dinge zu regeln, Eine Kurzintervention ist gewünscht von Klaus Ernst . dann werden die Menschen den technischen Möglichkei- ten, die künftig üblich sind, unterworfen . Dann gehen die Löhne nach unten, dann gehen die Arbeitszeiten hoch, Klaus Ernst (DIE LINKE): dann ist das freie Wochenende passé, und immer mehr Herr Whittaker, Sie haben von Angst gesprochen, da- Leute fragen sich hinterher: Was haben wir eigentlich von, man würde den Leuten Angst machen . Wissen Sie, falsch gemacht? Warum haben wir Berufskrankheiten? wenn Sie solch eine Debatte über die Zukunft der Arbeit, Warum sind wir psychisch krank? Warum fallen wir der über Risiken und Chancen der Arbeit 4 0. – das ist das Allgemeinheit zur Last? – Denn die Allgemeinheit muss Thema dieser Debatte – dazu nutzen, über die Arbeitslo- diese Menschen über die Gesundheitssysteme versorgen . senversicherung zu reden, dann merke ich, wie groß bei Ihnen die Angst vor dem Vorschlag der SPD ist. Das ist das Problem . Ich bitte Sie einfach, die Realität (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und ein wenig zur Kenntnis zu nehmen . der SPD – Michael Grosse-Brömer [CDU/ CSU]: So sensibel kenne ich Sie gar nicht, (Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse- Herr Ernst!) Brömer [CDU/CSU]: So viel Arroganz hat man selten!) Mir liegt es ja fern, die SPD zu verteidigen – das ist auch gar nicht mein Job –, aber eines muss ich Ihnen schon sa- gen: Wenn Ihnen nichts anderes einfällt, als festzustellen, Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: dass Würselen nicht Silicon Valley ist, dann haben Sie Herr Whittaker . zumindest beim Geografieunterricht nicht geschlafen. Das ist ein Punkt, der für Sie spricht, lieber Kollege . Kai Whittaker (CDU/CSU): (Beifall bei der LINKEN) (B) Ich hatte gedacht, Aschermittwoch ist vorbei und die (D) Jetzt noch einmal zum Inhalt . Es geht überhaupt nicht Faschingsreden auch. Aber offensichtlich können Sie darum, dass man nicht möchte, dass Menschen ihre Ar- sich in Ihren Reden zum Großteil nur mit Sprüchen unter beitszeit selber bestimmen . Nur: Als Assistent der Ge- der Gürtellinie profilieren. schäftsführung zu arbeiten, ist etwas anderes, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Dr .Petra Sitte [DIE LINKE]: Ja, ja! Und jetzt zum Thema, bitte! – Michael Grosse-Brömer als im Betrieb an einer Maschine zu stehen . Dann merkt [CDU/CSU]: Oder mit schlechten Witzen! – man nämlich, dass das, was die Menschen an Arbeitszei- Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie haben doch ten und an Selbstbestimmung wollen, nichts Neues ist . keinen Gürtel! Sie wissen nicht, was drüber Das gab es auch früher schon . und was drunter ist!) Auch Frauen haben diese Probleme und sagen: Wir wollen wieder in Vollzeit wechseln. Auch Menschen mit Ich sage Ihnen nur eines: Vor dem Vorschlag der So- kleinen Kindern sagen: Die Arbeitszeiten sollten nicht so zialdemokraten zum ALG Q haben ich und die Unions- verändert werden, dass wir sie mit der Kindererziehung fraktion keine Angst . Diese Diskussion führen wir gerne . nicht mehr in Einklang bringen können . Ihr Beispiel, Menschen, die 30, 40 Jahre lang in einem Betrieb gear- mein Gott! Der eine arbeitet früh, der andere spät . Ich beitet haben – das gilt vor allem für tarifgebundene Be- habe auf Betriebsversammlungen erlebt, wie Frauen den triebe –, müssen eigentlich am wenigsten Angst haben, Ablauf ihres Familienlebens geschildert haben: Beide ar- innerhalb weniger Monate in Hartz IV zu landen. Hier beiten in Schicht . Der Mann schreibt, wenn er geht, auf sind nämlich sehr, sehr viele Netze dazwischengeschal- einen Zettel: Ich komme heute Abend später . Wenn er tet, auf tariflicher und betrieblicher Ebene und auf der morgens aufsteht, ist die Frau wieder weg . Sie hat dann Ebene des Sozialstaates . Diese Menschen werden am auf den Zettel geschrieben: Ich habe es gemerkt .– Das ehesten aufgefangen, bevor sie in Hartz IV landen. Tat- kann nicht die Zukunft sein, Herr Whittaker . Das müssen sächlich etwas tun müssen wir allerdings für Langzeitar- wir regeln . beitslose und alleinerziehende Frauen . Wenn es um diese Menschen geht, können wir diese Debatte gerne führen . Ich habe nichts dagegen, dass wir Freiräume nutzen, auch die, die durch Technik entstehen . Aber bitte schön, (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ja, da auch!) wenn Sie verneinen und verleugnen, dass es notwendig ist, dass wir diese Regelungen schaffen – durchaus im Aber die Klientel, die Sie im Blick haben, muss in die- Sinne des Antrages der Grünen –, dass wir gesetzliche sem Land am wenigsten Angst vor Hartz IV haben. Sie Regelungen brauchen, damit die Menschen ihre Rechte versuchen, diesen Menschen Angst einzureden, damit sie Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22515

Kai Whittaker (A) Sie nachher wählen . Das ist der Grund, weshalb Sie diese des klassischen Antriebssystems, andere müssen ange- (C) Debatte anstoßen . passt oder neue entwickelt werden . Es sind also erhebli- che Investitionen zu tätigen, und insbesondere die Zulie- (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE ferer werden die Risiken und Kosten dieser Umstellung LINKE]: Alles, was Sie haben, ist keine Ah- zu tragen haben . Die Beschäftigten wiederum stehen vor nung! Aber davon haben Sie viel!) einem erheblichen Weiterbildungs- und Qualifikations- Glauben Sie mir: Als Assistent der Geschäftsleitung erfordernis . Ein Drittel von ihnen droht nach jetzigen Einschätzungen sogar den Arbeitsplatz zu verlieren . Da- (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Oh ja!) gegen muss in sozialer Verantwortung gearbeitet werden. bin ich sicherlich nicht auf der Fischsuppe daherge- (Beifall bei der LINKEN) schwommen . Natürlich habe auch ich gesehen, was die Menschen im Betrieb machen . Der zweite innovative Bruch ist die Einführung von Fahrerassistenzsystemen oder selbstfahrenden Modellen, (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ja, ja!) für die eine massenhafte Verarbeitung von Daten not- Ich habe mich bei meiner Arbeit von Anfang an nicht nur wendig ist . Dafür werden leistungsfähige digitale Platt- an den Schreibtisch gesetzt, sondern auch an die Maschi- formen als Intermediäre benötigt, und über diese verfü- nen, um den Leuten über die Schulter zu schauen und zu gen die Automobilkonzerne heute nicht . Das Auto selbst sehen, was sie tun . wird zur Plattform . Es muss mit anderen Fahrzeugen kommunizieren und hat ganz neue Funktionen . (Zuruf von der LINKEN: Was für Maschinen waren denn das? Schreibmaschinen?) Die Konkurrenz der deutschen Automobilkonzerne, Ich muss schon sagen: Die betriebliche Wirklich- beispielsweise in Amerika, ist genau den anderen Weg keit ist eine andere als die, die Sie hier beschreiben . Sie gegangen . Sie haben ihre eigenen Plattformen für neue versuchen, sich mit Ihrem alten Klassenkampf aus dem Mobilitätskonzepte und neue Mobile genutzt . Wir ken- 19. Jahrhundert zu profilieren, weil Sie damit Ihre Exis- nen bereits Googles Self Driving Car, wir wissen, dass tenz sichern können . Aber die Realität ist eine andere . Es Apple an einem iCar arbeitet, Tesla dringt massiv in den geht in Zukunft nur partnerschaftlich zwischen Arbeit- Markt, und in den Garagen von Silicon Valley wird an gebern und Arbeitnehmern . Wenn wir das nicht ermög- ganz neuen Fahrzeugkonzepten gearbeitet . Ab 2025 sol- lichen und diesen beiden nicht zutrauen, über Arbeits- len eigentlich nur noch Elektromobile und Selbstfahrer zeiten, Arbeitsformen und Gesundheitsschutz neu zu verkauft werden . debattieren und entsprechende Regelungen auszuverhan- Wenn BMW, Daimler, Audi und VW zukünftig also deln, sondern alles von Berlin aus regeln, dann werden (B) nicht nur Hardware an Google, Apple und andere Daten- (D) wir den Kampf um die Digitalisierung nicht gewinnen . konzerne liefern wollen, dann müssen sie diese Plattform (Beifall bei der CDU/CSU) gemeinsam entwickeln . Schließlich gibt es in Europa keine solche Plattform .

Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Drittens. Die Nutzungsmodelle ändern sich. Viele Jetzt hat Dr . Petra Sitte für die Fraktion Die Linke das Leute wollen heute gar kein Auto mehr besitzen . Carsha- Wort . ring gehört in diesem Land zum Alltag . Die Ökonomie des Teilens lässt die Nachfrage nach Fahrzeugen, insbe- (Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse- sondere in Städten, schon heute deutlich sinken . Auch da- Brömer [CDU/CSU]: Jetzt aber Schluss mit durch drohen Arbeitsplatzverluste . Das heißt, im Prozess Klassenkampf!) „Arbeit 4 .0“ muss vorausschauend gehandelt werden . Die Bundesregierung muss mit den Gewerkschaften, (DIE LINKE): Dr. Petra Sitte den Unternehmen und den Plattformbetreibern neue Mo- Danke . – Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- delle zur Beschäftigung und Beschäftigtenqualifikation ren! Wir können ja zu einem Beispiel kommen . Ich habe entwickeln. Da stehen wir hier selbst in der Verantwor- das Beispiel der deutschen Automobilindustrie heraus- tung, und dazu gehören dann eben beispielsweise auch gesucht, um zu zeigen, wie gravierend die innovativen branchenbezogene Mindest- bzw . Basishonorare für Brüche unter Arbeit 4 .0 in den nächsten zehn Jahren sein Selbstständige und Solo-Selbstständige . werden . Aus der Sicht der Beschäftigten ist klar, dass in diesem Prozess nicht nur Automobilkonzerne und Ge- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- werkschaften, sondern eben auch die Politik eine maß- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gebliche soziale Verantwortung hat. Die Automobilin- Wenn in diesem Umfang menschliche Arbeit in allen dustrie stellt in Deutschland die Schlüsselindustrie dar . Branchen entfällt und mehr und mehr digitale Güter mit Laut IG Metall sind in diesem Zweig 2,3 Millionen Men- anderen ökonomischen Eigenschaften als materielle Gü- schen direkt und indirekt sogar 9,8 Millionen Menschen ter in die Nutzung drängen, brauchen wir Ideen, wie So- beschäftigt . Der Anteil ihres Umsatzes an der deutschen zial-, Sicherungs- und auch Steuersysteme konditioniert Industrieproduktion betrug 2013 21 Prozent . und vor allem gestärkt werden . Darüber haben wir hier Im Kern geht es um drei innovative Brüche: auch zu diskutieren . Der erste innovative Bruch ist die Einführung der (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Elektromobilität . Das heißt, es entfallen Komponenten neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 22516 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Dr. Petra Sitte (A) Abschließend: Ja, wir müssen auch darüber reden, dass macht . Gerade beim Thema „Arbeit 4 0“. sind wir unter (C) es in diesem Prozess die Chance gibt, eine geschlechter- der Leitung von Arbeits- und Sozialministerin Andrea gerechte Verteilung von Arbeit zu praktizieren. Das soll- Nahles ein gutes Stück vorangekommen . „Arbeit wei- ten wir auch tun . Herr Ernst hat es ja schon gesagt: Es ter denken“, das Weißbuch aus dem Arbeitsministerium, geht um die Arbeitszeit und um neue Arbeitszeitmodelle, welches seit November letzten Jahres vorliegt, stellt kon- aber vor allem um die Sicherung der Beschäftigten . krete Maßnahmen vor . Insbesondere die Zwischenschrit- te hin zur Arbeitsversicherung überzeugen mich . (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Uwe Lagosky hat unser Bildungssystem bereits dar- Die digitale Arbeits- und Lebenswelt muss schließlich gestellt . Das ist allerdings der Istzustand . Um auf die Ar- demokratisch gestaltet werden . Das ist eine gesellschaft- beitswelt von morgen vorzubereiten, haben wir in dieser liche Herausforderung. Vor allem müssen wir an dieser Legislaturperiode die Verbesserung des Meister-BAföG Stelle Politik für das Gemeinwohl machen . Unter dem und das Weiterbildungsstärkungsgesetz umgesetzt . wird es nicht zu machen sein . (Beifall bei der SPD sowie der Abg . Antje Danke schön . Lezius [CDU/CSU] und Uwe Lagosky [CDU/ (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- CSU]) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das Meister-BAföG schafft Anreize für den berufli- chen Aufstieg . Teilnehmer erhalten nunmehr einen ein- Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: kommensabhängigen Zuschuss zu den Maßnahmekosten Michael Gerdes hat als nächster Redner für die und bei Vollzeitmaßnahmen einen Unterhaltszuschuss. SPD-Fraktion das Wort . Das stärkt vor allem diejenigen, die bereits eine Familie gegründet haben und bisher gezögert haben, den Schritt (Beifall bei der SPD) zum Meister zu wagen . Im Übrigen haben wir eine Wei- terbildungsprämie eingeführt . Michael Gerdes (SPD): (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu- der CDU/CSU) nächst einmal: Lieber Kai Whittaker, Martin Schulz be- dankt sich bei dir für die gute Werbung . Das Weiterbildungsstärkungsgesetz richtet sich an die Gruppe von Arbeitnehmern, denen Grundkompetenzen (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und oder ein Berufsabschluss fehlen . Wir schreiben nieman- der LINKEN) den ab, erst recht nicht, wenn es um grundlegendes Hand- (B) Nun aber zum Thema „Arbeit 4 0“. . Über ein so zen- werkszeug wie Lesen, Schreiben oder Rechnen geht . (D) trales Thema, wie die Gestaltung unserer Arbeitswelt, Wie stark sich die Arbeit der Zukunft aufgrund der kann man gar nicht oft genug sprechen. Arbeit schafft in Digitalisierung verändern wird, können wir nicht zu vieler Hinsicht Werte, Arbeit sorgt für Teilhabe, Arbeit 100 Prozent voraussehen . Aber wir können sagen, dass stiftet Sinn . Das geschieht aber nur dann, wenn die Be- die Menschen dann gut gewappnet sind, wenn sie sich dingungen für gute Arbeit erfüllt sind . Andernfalls verlie- auf lebenslanges Lernen einstellen und einlassen . Hier- ren wir den Anschluss an die Gesellschaft; sonst macht zu müssen wir als Staat stetig die Rahmenbedingungen Erwerbsarbeit krank . überprüfen . Wir müssen zur Weiterbildung animieren . Das, was gute Arbeit ausmacht, muss zu Teilen neu So gesehen sind das Meister-BAföG und das Weiterbil- definiert werden: So verstehe ich den Dialogprozess „Ar- dungsstärkungsgesetz zunächst einmal Teilerfolge . Hier beit 4 0“. . Wir werden Arbeit 4 0. nicht aufhalten können, müssen wir noch zulegen . aber wir können Arbeit 4 .0 gestalten . Die Journalistin Ursula Weidenfeld hat die Notwen- Die Herausforderungen, die sich aus der Digitali- digkeit der beruflichen Weiterbildung in ihrem Kommen- sierung ergeben, betreffen fast alle Facetten des- Ar tar im Tagesspiegel vom 5. Februar 2017 sehr treffend beitslebens: zum Beispiel das sich rasant verändernde beschrieben – Zitat –: Fachwissen und den Wechsel zwischen abhängiger und Lastwagenfahrer und Ärzte, Rechtsanwälte und selbstständiger Erwerbsarbeit. Mit der Verlagerung von Sachbearbeiterinnen werden die Erfahrung machen, Arbeitszeiten, Arbeitstagen und Arbeitsorten kommen dass nicht mehr zählt, was sie gelernt haben . Wich- große Herausforderungen auf die Sozialpartner zu . tig wird dagegen, ständig dazuzulernen, ganz neu zu Wie werden die Einhaltung von Arbeitsschutzvor- lernen, ein neues Berufsfeld zu erobern . Die besten schriften und der Gesundheitsschutz demnächst kontrol- Chancen haben dabei dummerweise diejenigen, die liert? Wie wird sich das Verhältnis von Arbeitszeit und schon obenauf sind . Die Studierten, . . sie haben ge- Ruhezeit – Stichwort: Work-Life-Balance – künftig ver- lernt, wie man lernt . . . Die anderen, die eher lustlos ändern? Welchen Einfluss haben Gewerkschaften in der zur Schule gegangen sind und nach der Lehre genug Welt von Arbeit 4 .0? – All das muss gründlich durchdacht vom Lernen hatten, werden die ersten echten Opfer werden, und als Bergmann und Schichtarbeiter weiß ich, der digitalen Revolution . Sie werden ihre Jobs ver- wovon ich rede . lieren . Es sei denn, sie ändern sich . Womit ich nicht einverstanden bin, ist der Vorwurf, Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen weder die Bundesregierung habe ihre Hausaufgaben nicht ge- Opfer noch Verlierer. Das politische Ziel heißt Befähi- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22517

Michael Gerdes (A) gung . Staat, Arbeitgeber und Arbeitnehmer sollen sich einander schaffen können. Homeoffice-Lösungen oder (C) allesamt der Weiterbildung widmen . Bildung ist zentral flexiblere Arbeitszeitmodelle könnten mehr Möglichkei- für unser Leben, egal in welchem Alter . ten für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf schaffen, und in vielen Unternehmen gibt es hierzu be- Hier in dieser Debatte steht vor allem die Bildung von reits Betriebsvereinbarungen, von denen alle profitieren Erwachsenen im Fokus . Nach Schule, Ausbildung oder und die gern genutzt werden . Studium darf auf keinen Fall Schluss sein . Weiterbildung muss alltäglich und selbstverständlich sein . Ähnlich wie Durch die Digitalisierung verändert sich aber nicht bei der Gesundheit zählt die Prävention . Wer rechtzeitig nur das Arbeitsleben, sondern auch unser gesamtes All- Veränderungen am Arbeitsplatz wahrnimmt, ist besser tagsleben: die Art, wie wir miteinander kommunizieren vorbereitet, wenn er neue Fähigkeiten und neues Wissen und in der modernen Welt unseren Alltag organisieren . braucht. Diese Vorausschau können nur wenige alleine Menschen werden heute schon in Echtzeit über Konti- bewältigen . Deshalb halte ich eine strukturierte und pro- nente hinweg – ob über E-Mail oder Skype – verbunden . fessionelle Weiterbildungsberatung und die Erfassung Das, was vor ein paar Jahren noch undenkbar schien, ist von Kompetenzen für äußerst sinnvoll . heute gelebte Alltagsrealität . (Beifall bei der SPD) Allerdings ist diese Entwicklung nicht für alle ein- fach; das haben wir schon gehört . Gerade in Gesprächen Momentan ist die Weiterbildung wie ein Dschungel: mit älteren Menschen erfahre ich oft Skepsis darüber, ob intransparente Förderwege, unübersichtliche Angebo- alle technischen Neuerungen, die die moderne Welt be- te . Die Bundesagentur für Arbeit hat an verschiedenen reithält, auch wirklich gebraucht werden . Bei Smartpho- Standorten Pilotprojekte zur Weiterbildungsberatung nes gibt es zum Beispiel Dutzende von Funktionen, von durchgeführt . Erste Erfahrungen machen Mut . Individu- denen nur wenige genutzt werden . Mit digitaler Technik elle Beratung kann den Weg in den Arbeitsmarkt ebnen sind viele Menschen überfordert. Viele wollen sich auch und beugt Arbeitslosigkeit vor . nicht darauf einlassen . Gleichzeitig sind aber mehr ältere Auch das Recht zur Weiterbildung muss Teil unserer Menschen berufstätig als noch vor einigen Jahren, auch Überlegung sein . Bildung als Zukunftsinvestition: Das jenseits der Rente . Laut Statistischem Bundesamt war im von der SPD vorgeschlagene Arbeitslosengeld Q ist ein Jahr 2015 jeder siebte 65- bis 70-Jährige erwerbstätig . weiterer guter Beitrag zur Gestaltung der Arbeitswelt 4 .0 . Diese Zahl hat sich binnen eines Jahrzehnts mehr als verdoppelt auf 225 000 sozialversicherungspflichtig Be- (Beifall bei der SPD) schäftigte über 65 Jahren und fast 1 Million Minijobber . Herzlichen Dank . Glück auf! Das Deutsche Zentrum für Altersfragen stellt dabei (B) (Beifall bei der SPD) erfreulicherweise fest, dass es den meisten arbeitenden (D) Rentnern nicht nur um eine Aufbesserung ihrer Rente geht: Sie wollen weiterarbeiten . Dabei ist es ihnen wich- Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: tig, etwas Sinnvolles zu tun und ihre Erfahrungen wei- Als nächste Rednerin spricht Antje Lezius von der terzugeben . CDU/CSU-Fraktion . Gleichzeitig ist die digitale Arbeitswelt besonders für (Beifall bei der CDU/CSU) Ältere eine große Herausforderung . Es wird viele Umbrü- che in gewohnten Berufsbildern geben . Auf Arbeitgeber Antje Lezius (CDU/CSU): und Arbeitnehmer warten neue Anforderungen, nicht nur Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen in der Digitalisierung. Hier wird die berufliche Weiterbil- und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir als dung zunehmend wichtiger . Betriebe sind darauf ange- Union haben uns auf Parteiebene und innerhalb der wiesen, dass ihre Angestellten sich auf das notwendige Fraktion eingehend und schon lange mit dem wichtigen lebenslange Lernen auch einlassen . Dabei haben nicht Zukunftsthema „Arbeit 4 0“. befasst . Wir haben hierzu nur die Arbeitnehmer einen Wettbewerbsvorteil, die sich zahlreiche Fachgespräche mit allen beteiligten Akteu- weiterbilden, sondern auch für Arbeitgeber sind gute ren geführt . Dabei hat uns die Frage geleitet, wie Arbeit Weiterbildungsangebote ein Alleinstellungsmerkmal, um in Zukunft definiert wird. Das bedeutet auch, die Frage Fachkräfte zu gewinnen und an den Betrieb zu binden . nach dem Sinn der Arbeit zu stellen: Werden wir arbei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ten, um zu leben, oder leben wir, um zu arbeiten? Weiterbildung braucht aber von beiden Seiten Zeit, In den Veränderungen durch die Digitalisierung sehe Geld und Initiative . Hier wirken Anreize unserer Ansicht ich in erster Linie eine Chance, Herr Ernst, und zwar nach besser als gesetzliche Vorgaben. Weiterbildung und nicht nur für Arbeitgeber, sondern gerade auch für Ar- Qualifizierung könnten so bei Modellen der Bildungsteil- beitnehmer; eine Chance, die wir alle gemeinsam wahr- zeit stärker steuerlich entlastet werden . Auch der Einsatz nehmen und zum Wohle aller gestalten werden . von Lebensarbeitszeitkonten könnte für kleine Betriebe Der digitale Wandel ist dazu da, den Menschen zu die- attraktiver gemacht werden . Dabei haben wir als Union nen, ihnen die Arbeit und das Leben zu erleichtern . Wenn auch jene Betriebe im Blick, die nicht tarifgebunden sind . er uns zum Beispiel körperliche Arbeit abnimmt, können (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wir die freiwerdende Zeit anders organisieren, zum Bei- spiel in der Pflege, in der intelligente Assistenzsysteme Staatliche Weiterbildungsoffensiven werden aber vielen nützen und Freiräume für ein menschlicheres Mit- insbesondere von mittelständischen Betrieben oft kri- 22518 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Antje Lezius (A) tisch wahrgenommen . In zahlreichen Gesprächen habe wenn wir den digitalen Veränderungsprozess aktiv mit- (C) ich erfahren, dass auch Mitnahmeeffekte durch nicht gestalten . Wir wollen Befürchtungen der Menschen ab- relevante Weiterbildungsmaßnahmen erwartet werden . bauen und sie sowohl schützen als auch unterstützen . Andererseits fürchten besonders kleinere Unternehmen auch, dass die Mitarbeiter während der Fortbildungsmaß- Wir als CDU/CSU setzen uns für die Stärkung der Al- nahmen an ihrem Arbeitsplatz fehlen . Eine Möglichkeit, lianz für Aus- und Weiterbildung und die bessere Vernet- die gerade die Digitalisierung bietet, wäre hier Training zung aller beteiligten Akteure in der Weiterbildung ein . on the Job . Arbeitgeber könnten mit den passgenauesten Hierfür brauchen wir aufgeschlossene Unternehmen, die Mitteln der beruflichen Weiterbildung experimentieren. Weiterbildung aktiv mit unterstützen . Durch E-Learning könnten sie Zeit und Geld sparen . Das lebenslange Lernen sollte aber für jeden selbst- Uns ist wichtig, dass gerade KMUs Weiterbildungs- verständlich werden . Wir als Union wollen den Prozess möglichkeiten und Qualifizierungsmaßnahmen für ihre der Digitalisierung in unsere soziale Marktwirtschaft Angestellten besser nutzen, und zwar unbürokratisch und einbetten . Uns ist es wichtig, den Wirtschaftsstandort übersichtlich. Hier setzen wir auf bessere Vernetzung der Deutschland so stark zu halten, wie er ist . Deswegen an der Weiterbildungsberatung beteiligten Institutionen . werden wir als Politik mit Maß und Mitte vorgehen und Ein Recht auf Homeoffice, wie Sie es in Ihrem Antrag die Rahmenbedingungen so gestalten, dass die Digitali- fordern, halte ich weder für rechtlich möglich noch für sierung in der Arbeitswelt der Zukunft ein Erfolg wird . praktikabel . Vielen Dank. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- NEN]: Warum?) ordneten der SPD) Zur Qualifizierung gehört zunächst auch die Ausbil- dung . Die Berufswahlvorbereitung sollte bereits in den Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: allgemeinen Schulen beginnen . Dazu könnten Betriebs- praktika und Projektwochen im Austausch mit der Wirt- René Röspel hat als nächster Redner für die SPD-Frak- schaft häufiger angeboten werden. Berufswünsche könn- tion das Wort . ten so besser an die Begabungen des einzelnen Schülers (Beifall bei der SPD) angepasst werden .

Die Arbeitsagenturen nehmen ihren gesetzlichen Auf- René Röspel (SPD): trag dabei in vorbildlicher Weise wahr . In meinem Wahl- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und kreis Bad Kreuznach verfolgt die dortige Arbeitsagen- (B) Herren! Vielen Dank, dass ich für wenige Minuten die (D) tur das Ziel, auf eine möglichst hohe Ausbildungsquote Gelegenheit habe, als Forschungspolitiker zu einem The- hinzuwirken . Durch Berufsberatung und Netzwerke zu ma zu sprechen, das seit 150 Jahren das Kernthema der den Schulen, den Kammern und den Betrieben wird viel Sozialdemokratie ist, nämlich unter welchen Lebens- getan, um jungen Menschen bei der Orientierung zu hel- und Arbeitsbedingungen Menschen leben und wie wir es fen und sie zu vermitteln und um das duale System der schaffen, diese Bedingungen zu verbessern. Immer dann, Berufsbildung zu stärken, zum Beispiel durch Ausbil- wenn wir regierungsführend waren, haben wir dieses dungsbörsen . Thema politisch weiterentwickelt . Im Hinblick auf die berufliche Orientierung halte ich die Einführung eines Schulfachs Wirtschaft für einen (Dr . Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Mit großen Schritt in die richtige Richtung . Schüler würden Hartz IV! Ja!) lebensnah und praxisnah wichtige Kompetenzen für das – Ich glaube, dass das nicht unbedingt ein Beitrag war, spätere Berufsleben lernen . Arbeit zu stärken . Darüber hinaus müssen auch Ausbilder immer weiter (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Aber recht hat fortgebildet werden, damit ihr Wissen auf dem neuesten er! – Dr .Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das Stand ist . Ich habe selbst eine Ausbildereignungsprüfung sieht Martin aber anders!) abgelegt, und ich habe auch ausgebildet . Ich weiß, dass Wissen veralten kann . Aber gerade in der Ausbildung Aber darüber kann man vielleicht an anderer Stelle noch brauchen wir kontinuierliche Fortbildung und erweiterte einmal diskutieren . Möglichkeiten zur Weiterbildung, damit junge Menschen eine zeitgemäße Ausbildung bekommen . Wir haben in den 70er-Jahren unter einem Forschungs- minister der SPD, Herrn Matthöfer, den Ältere vielleicht Liebe Kollegen und Kolleginnen der Grünen, es ist noch kennen, als Antwort auf die Herausforderung ei- nicht alles in Ihrem Antrag übertrieben . Wenn Sie eine ner Computerisierungswelle, wie man sie damals noch Überprüfung der Ausbildungsordnung und bessere Bera- nicht kannte, ein Programm mit dem Titel „Humanisie- tung der Betriebe fordern, bin ich ganz bei Ihnen . rung des Arbeitslebens“ eingeführt . Es ging darum, die (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Lebens- und vor allen Dingen die Arbeitsbedingungen NEN]: Das ist aber schön!) von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern an ihrem Ar- beitsplatz zu verbessern, vor allem aus dem Arbeits- und Um die Chancen der Arbeitswelt von morgen zu nut- Gesundheitsschutz heraus . Seitdem sind Arbeits- und zen, haben wir gesamtgesellschaftlich viel Spielraum, Gesundheitsschutz auch keine esoterischen Forderungen Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22519

René Röspel (A) von Gewerkschaften mehr, sondern etablierter Bestand- stelle mir dabei eine Frau vor – davon werden hauptsäch- (C) teil einer sozialen Marktwirtschaft, die auch funktioniert . lich Frauen betroffen sein –, die zu Hause sitzt,

(Beifall bei der SPD) (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Genau! Mit dem Kind auf dem Schoß!) Das Programm ist übrigens dankenswerterweise von das Kind auf dem Arm hat und gleichzeitig am Computer unter der Union fortgesetzt worden, Homeoffice macht. Eine solche Entwicklung will ich auf aber dann irgendwie versackt . Leider hat Deutschland keinen Fall haben . seine führende Stellung im Bereich Arbeitsforschung verloren . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Umso erfreuter sind wir, dass wir in den Koalitionsver- Das alles muss sehr differenziert betrachtet werden. trag hineinverhandeln konnten, dass wir uns unter dem Stichwort „Forschung für die Arbeit von morgen“ wieder Noch ein anderer Aspekt. Im Pflegeheim gibt es kein damit befassen, welchen Herausforderungen wir in den Homeoffice, sondern Nachtschichten. Wenn wir nicht Bereichen Arbeit, Dienstleistungen, aber auch Produk- wie Japan – dort ist das selbstverständlich – auf Robotik tion in unserer Gesellschaft begegnen werden, um ge- in der Pflege setzen, sondern die Arbeitsbedingungen für wappnet zu sein und in einer modernen arbeitsintensiven die Pflegenden so gestalten wollen, dass sie trotz Schicht- und wohlstandssichernden Gesellschaft und Arbeitsform arbeit 20 Jahre in ihrem Beruf durchhalten und dass der weiterzukommen . Seitdem haben wir beispielsweise für menschliche Aspekt in der Pflege erhalten bleibt, dann den Bereich Arbeits-, Produktions- und Dienstleistungs- müssen wir viel tiefer gehen als der Antrag der Grünen . forschung den Forschungsetat mittlerweile auf 100 Mil- Ich bin ganz froh, dass die Arbeitsministerin Andrea Nahles in die Fußstapfen von Hans Matthöfer tritt und lionen Euro erhöht . Das ist ein wichtiges Signal dafür, dass wir für eine Humanisierung der Arbeit eintreten . sich mit Neuem auseinanderzusetzen und auf Fragen Antworten zu finden. Vielen Dank.

Ich bin sehr dankbar, dass das Arbeitsministerium (Beifall bei der SPD) in eigener Initiative zuerst ein Grünbuch und dann ein Weißbuch vorgestellt hat, in dem es um die Fragestel- Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: lung geht: Arbeit 4 0,. was bedeutet das? Das bedeutet Als nächster Redner hat Stephan Stracke für die CDU/ jedenfalls nicht, Arbeitnehmer an neue technische Ent- CSU-Fraktion das Wort . (B) wicklungen anzupassen, sondern, Arbeitsplätze und (D) -bedingungen so zu gestalten, dass Menschen in diesem (Beifall bei der CDU/CSU) Land weiterhin gesund, zufrieden und glücklich arbeiten können und nicht an ihrer Arbeit kaputtgehen müssen . Stephan Stracke (CDU/CSU): Dieses Grünbuch ist am Ende eines längeren Prozesses Grüß Gott, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten im November 2016 vorgelegt worden . Damen und Herren! Die Art und Weise, wie wir leben und arbeiten, verändert sich zum Teil von Grund auf . Ich bin froh, dass auch die Grünen im November 2016 Die Umbrüche sind zum Teil gravierend . Wir stecken den Antrag, über den wir heute diskutieren, erstmalig schon mitten in diesem Prozess . Maßgeblicher Treiber eingebracht haben . Dort werden einige Punkte aufge- ist das, worüber wir heute diskutieren, nämlich die Di- führt, die ich durchaus für sinnvoll halte, zum Beispiel, gitalisierung . Sie wird die gegenwärtigen Systeme und wenn es um die Arbeitnehmermitbestimmung und den Geschäftsmodelle über viele Jahre – vielleicht sogar un- Beschäftigtendatenschutz geht. Vieles im Antrag der umkehrbar – weiterentwickeln . Sie bietet sicherlich ganz Grünen greift aber zu kurz oder fehlt gänzlich . So heißt neue Möglichkeiten in vielen Bereichen des Lebens . es dort, Aufgabe der Politik sei, „einen Rahmen zu schaf- So können ältere Menschen durch Smart-Home-Tech- fen, der es . . den Beschäftigten ermöglicht, mit dieser nologie länger zu Hause leben oder kann das Wort für Entwicklung Schritt zu halten“ . Das ist uns zu wenig . Gehörlose noch sichtbarer gemacht werden . All das ist Wir wollen Gesellschaft gestalten und immer versuchen, möglich . Wir wissen aber noch gar nicht, wie stark die einen Schritt voraus zu sein . Dazu bedarf es übrigens Auswirkungen auf jeden Einzelnen abstrahlen werden . auch einer vernünftigen Forschung . Für die Arbeitswelt werden einige Punkte kennzeich- nend sein. Die Arbeit wird flexibler werden. Moderne In gewissen Punkten können wir dem Antrag der Grü- Kommunikationsmittel ermöglichen, zeitlich und örtlich nen nicht zustimmen, weil Dinge fehlen, die für die Zu- ungebundener seiner Arbeit nachzugehen . Das ist eine kunft wichtig sind . Wissensintensive Dienstleistungen – große Chance gerade für die Vereinbarkeit von Familie wir kümmern uns darum besonders intensiv und haben und Beruf . Ein familienfreundliches Arbeitsleben ist die dazu schon viel auf den Weg gebracht – und personen- Basis für Motivation und Bindung an ein Unternehmen . bzw . menschennahe Dienstleistungen fehlen komplett . Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird für Arbeit- Sicherlich kann man sich für ein Recht auf Homeoffice nehmer zunehmend zu einem Ausschlusskriterium bei aussprechen . Aber im Hinblick auf die Diskussion über der Entscheidung für oder gegen ein Unternehmen . Des die Entgrenzung von Arbeit sage ich: Das kann auch ein Weiteren wird sich die Bezahlung stärker daran orientie- großer Nachteil im Sinne eines latenten Zwangs sein . Ich ren, welche Arbeitsergebnisse erzielt werden . Die sich 22520 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Stephan Stracke (A) verändernden Organisationsstrukturen erfordern, Arbeit wird auch der Aspekt der Eigenverantwortung in den (C) verstärkt anlass- und themenbezogen zu organisieren Mittelpunkt rücken . Das gilt auch für den Arbeitsschutz . und Teams zusammenzustellen . All das beschreibt die Deswegen müssen wir gerade die Fähigkeit zur Eigen- sich durch die Digitalisierung verändernde Arbeitswelt . verantwortung stärken . Gerade das mobile Arbeiten eröffnet Arbeitnehmern Gute Aus- und Weiterbildung ist mein dritter Punkt . die Chance, eine neue Balance zwischen Erwerbsarbeit Die duale Berufsausbildung hat sich mit ihrer hohen An- auf der einen Seite und Familie und Freizeit auf der an- passungsfähigkeit durchaus bewährt . Sie wird auch bei deren Seite zu finden, mehr Verantwortung, insbesondere der Digitalisierung Erfolgsmodell bleiben müssen . Aus- mehr Eigenverantwortung, zu übernehmen, und es eröff- bildungsordnungen müssen sicherlich überprüft werden, net die Chance, Hierarchien flacher zu gestalten. Das ist insbesondere aber muss die digitale Kompetenz gestärkt doch durchaus attraktiv . Wenn wir endlich von monoto- werden . Ich meine damit die Fähigkeit zur Selbstorgani- ner Arbeit und körperlich belastenden Tätigkeiten durch sation jedes Einzelnen, Eigenschaften wie Selbstbestim- Assistenzsysteme loskommen, dann hilft das vor allem mung, Verantwortungs- und Sicherheitsbereitschaft, aber älteren Arbeitnehmern oder Menschen mit Handicap . auch Zuverlässigkeit . Natürlich müssen wir auch den Wer nun die schöne alte Welt konservieren will, der Grundsatz des lebenslangen Lernens stärker in den Blick wird sicherlich den Anschluss verpassen, der wird die nehmen . Chance der Digitalisierung nicht nutzen, und dann wer- Die Verantwortung hierfür liegt bei jedem Einzelnen, den Wertschöpfung und Wohlstand nicht mehr in diesem bei den Arbeitnehmern wie auch bei den Unternehmen Maße in Deutschland stattfinden. Deshalb hat die Gesell- selbst . Sie wollen wir in ihrer Eigenverantwortung un- schaft die Aufgabe, den Wandel nicht hinzunehmen, son- terstützen . dern aktiv zu gestalten . (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Dabei hilft nicht die Schablone, sondern dabei helfen Die großen Potenziale der Digitalisierung müssen nach passgenaue Lösungen . Dafür wollen wir die Stärken Möglichkeit allen Menschen gleichermaßen zugutekom- der Bundesagentur für Arbeit nutzen . Es gilt, die Unter- men . Dabei setzen wir auf bewährte Prinzipien: Leistung nehmen und die Beschäftigten verstärkt für das Thema und Sozialpartnerschaft, Chancengerechtigkeit und Soli- Weiterbildung zu motivieren . Die Begleitung der Be- darität . Das sind die Prinzipien der sozialen Marktwirt- schäftigten gerade an den Übergängen und Wechseln schaft . Diese bleiben Richtschnur . Wir werden die Digi- im Arbeitsleben ist und bleibt die zentrale Aufgabe der talisierung sozial gerecht gestalten . Bundesagentur für Arbeit, die Beratung und gezielte För- (B) Digitalisierte Arbeitswelt braucht starke Sozialpart- derung . (D) ner, einen fairen Interessensausgleich, und deshalb wer- Transparenz bei den Weiterbildungsangeboten zu den Tarifverträge auch weiterhin eine zentrale Rolle ein- schaffen, darin sehe ich die zentrale Aufgabe der Bundes- nehmen . agentur für Arbeit . Sie muss eine Lotsenfunktion haben, (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aber darf keine staatliche Weiterbildungsbehörde wer- NEN]: Jetzt mal konkret!) den . Das genau wird die Bundesagentur für Arbeit nicht sinnvoll ausfüllen können . Die Betriebe, die Unterneh- Aber natürlich rufen auch die Unternehmen verstärkt men und jeweils der einzelne Mensch brauchen individu- nach Flexibilität . Es ist natürlich etwas daran, Arbeits- elle Lösungen. Das schaffen wir nicht durch Schablonen zeitrecht zu hinterfragen und vorsichtig zu öffnen. Da- und staatliche Behörden . Wir müssen ganz subsidiär bei rauf setzt auch das Bundesarbeitsministerium mit Ex- den Unternehmen ansetzen und diese stärken und weiter- perimentierräumen . Wir könnten da durchaus mutiger entwickeln . sein; aber wir müssen uns immer klar sein: Wir brauchen weiterhin genügend Raum für Familie, für Freizeit und (Beifall bei der CDU/CSU) Erholung . Erwerbsarbeit ist wichtig und gut, aber sie ist Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Digita- im Leben nicht alles . lisierung ist eine große Chance, weil sie vor allem die (Beifall der Abg . Brigitte Pothmer [BÜND- Menschen mit ihren Fähigkeiten, mit ihren Begabungen NIS 90/DIE GRÜNEN]) in den Mittelpunkt rückt . Genau diese Fähigkeiten und Begabungen als Informations- und Wissensarbeiter gilt Deswegen müssen wir darauf achten, dass wir auch ge- es zu stärken. Wir müssen klären, wie wir es schaffen, nügend Räume für Familie, Erholung und Pausen für Informationen stärker zusammenzuführen, Lösungen Kreativität haben . schnell zu entwickeln . Das hat natürlich Auswirkungen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nicht nur auf die Organisation in Betrieben, sondern auch darauf, wie wir miteinander kommunizieren, wel- Nur dann wird Kreativität entstehen . Wir müssen Räume che Fähigkeiten wir in der Kommunikationsstruktur und für individuelle Lösungen eröffnen, für die Unternehmen im Kommunikationsverhalten mitbringen . Die Digita- gleichermaßen wie für die Arbeitnehmer . Das ist unsere lisierung ist eine große Chance für uns, Wertschöpfung große Aufgabe . Ich traue uns zu, dass wir in diesem Rah- in diesem Land zu sichern, zu erhalten und auszubauen, men einen fairen Interessensausgleich hinbekommen . aber auch, mehr Flexibilität gerade im Interesse der Ar- Ein zweiter Aspekt: Arbeitsschutz und Arbeitssicher- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schaffen. Daran heit . Je mehr Freiheiten die Menschen haben, desto mehr arbeiten wir . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22521

Stephan Stracke (A) Ein herzliches Dankeschön . Völlig unterbelichtet im Antrag der Grünen ist, finde (C) ich, die Herausforderung an die Tarifvertragsparteien . (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie des Abg . Uwe Lagosky [CDU/CSU]) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Die neuen Wertschöpfungsnetzwerke und Geschäfts- Als nächster Redner spricht Dr .Hans-Joachim felder vergrößern die privatwirtschaftlich organisierte Schabedoth für die SPD-Fraktion . Reichtumsproduktion. Das eröffnet neue einkommens- (Beifall bei der SPD) und finanzpolitische Teilhabechancen, aber auch nicht von allein . In den gewerkschaftlichen und sozialdemo- kratischen Debatten ist es selbstverständlich, den neu er- Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD): zielten Zuwachs an produziertem Reichtum so zu vertei- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! len, dass alle etwas davon haben . Alle reden von Industrie 4 .0, Arbeit 4 .0, Schalke 4 .0 . (Beifall bei der SPD und der LINKEN) (Heiterkeit) Das sollten, meine ich, auch die Grünen stärker rezipie- Bei Schalke 4 0. bin ich mir nicht so sicher, aber die an- ren . deren Begriffe stehen für eine Entwicklung, die wir mit- Anders als die Grünen glaubt die SPD auch beim einander eher als Chance sehen denn als Risiko . Wer uns Thema Industrie 4 0. und Arbeit 4 0. nicht daran, Gutes zuhört, wird das, glaube ich, als Konsens herausgehört könnte man von oben verordnen, etwa wir als Gesetzge- haben . ber . Aushandlungsprozesse sind nötig, gerne auch, Herr Whittaker, partnerschaftlich . Aber die Erfahrung sagt: Die vernünftige Perspektive im weiteren Verlauf der Wenn es im Konsens nicht geht, muss man den Konflikt Digitalisierung ist nicht die menschenleere Fabrik – da- organisieren . Auch das gehört zu den Prinzipien einer so- rüber sind sich die Fachleute längst einig –, sondern die zialen Marktwirtschaft . menschenfreundliche Fertigung . Dabei könnte gute Ar- beit von der Ausnahme, die es heute leider noch ist, zur Zum Glück sind beim Erarbeiten neuer Verteilungs- Regel werden. Es eröffnen sich neue Perspektiven – mei- regeln die Tarifvertragsparteien oftmals kompetenter als ne Vorredner haben dazu schon viel genannt – für Ar- die Bundesregierung; das gilt im Übrigen für jede Form beitszeitverkürzung, für die Humanisierung der Arbeit, ihrer Zusammensetzung . Wir setzen auf den Erhalt und für neue Beteiligungschancen, für eine Arbeitsorganisati- den Ausbau der deutschen Mitbestimmungskultur; denn (B) on, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wirklich Entscheidungen im System der Industrie 4 0. überschrei- (D) erleichtert . Es geht auch – davon wollen viele nichts hö- ten schon jetzt die herkömmlichen Betriebszuständigkei- ren – um Chancen für eine bessere Bezahlung . ten . Es gibt neuen Regelungsbedarf, meine Kolleginnen und Kollegen von den Grünen . Der Prozess läuft schon (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Richtig! Genau!) und überschreitet den Entscheidungsraum dieser Legis- laturperiode und sogar den der nächsten . Kontinuierlich Den Wegfall monotoner und gesundheitsbelastender Ar- wird es notwendig sein, hier nachzuschärfen . beit wird von uns sicherlich niemand bedauern .

Bei der fortschreitenden Digitalisierung der Arbeit in Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: den Produktions- und Dienstleistungssystemen ist Ar- Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen . beitslosigkeit keine zwangsläufige Entwicklung. Die Be- schäftigten aus der Wirtschaftswunder- und Babyboomer- zeit erreichen in den kommenden Jahren ihr Rentenalter . Dr. Hans-Joachim Schabedoth (SPD): Der vielbeschworene Kollege Roboter könnte hier Lü- Ja, ich komme gern mit der Feststellung zum Schluss: cken füllen . Komplexe Produkte können kostengünstiger Es lohnt sich, darüber intensiver weiter nachzudenken – hergestellt werden . Das bringt das Out für Outsourcing . in jedweder Zusammensetzung des Parlaments und der Doch solche Fortschritte ergeben sich nicht zwangsläu- Regierung . Ich freue mich darauf . fig; darauf komme ich noch einmal zurück. Nur gut – das (Beifall bei der SPD und der LINKEN – entnehme ich dem Antrag der Grünen –, dass ich da kei- Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ne Nachhilfe geben muss . Sie haben das richtig erkannt: NEN]: Das heißt, ihr macht nichts mehr!) Wir müssen etwas tun . Die gesellschaftlichen und poli- tischen Gestaltungsaufgaben warten. Das betrifft not- wendige Veränderungen im Bildungs- und Ausbildungs- Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: system, bei Hochschule und Weiterbildung . Den Schutz Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat Waltraud vor missbräuchlicher Nutzung von Daten will ich noch Wolff für die SPD-Fraktion das Wort. einmal hervorheben; das ist die Achillesferse des Fort- (Beifall bei der SPD) schritts im Bereich Arbeit 4 .0 und Fabrik 4 .0 . Notwendig sind zudem Investitionen in den Breitbandausbau sowie gesetzliche Regulierungen zur Datensicherheit und zum Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Erhalt von Netzneutralität . Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Ende dieser Debatte zum Thema „Arbeit 4 0“. – dazu 22522 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) liegt ein Antrag der Grünen vor – möchte ich mit einem Die Unternehmen, meine Damen und Herren, or- (C) Sprichwort anfangen: In der Kürze liegt die Würze . – Oft ganisieren sich zunehmend anders . In verschiedenen stimmt das, aber bei diesem Antrag der Grünen kann ich Branchen arbeiten immer weniger festangestellte Arbeit- das leider nicht sehen . Auf drei Seiten haben Sie ver- nehmer gemeinsam mit Befristeten, Ausgelagerten und sucht, zusammenzufassen, wie Arbeit 4 0. in der Zukunft Leiharbeitern sowie mit Menschen mit Werkverträgen gestaltet werden soll . Aber Ihr Antrag – ich kann es nicht zusammen . anders sagen – ist noch unzureichend . Übrigens ist es so: Im Bereich des Arbeitslosengel- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- des II haben wir – insofern haben wir ja eine Antwort auf NEN]: Aber es ist wenigstens einer! Von euch etwas gegeben, das wir schuldig geblieben waren – die kommt gar nichts!) Weiterbildungsprämie eingeführt, die bei einem Zwi- schen- oder Abschlusszeugnis gezahlt wird . Ich sage Ihnen auch, woran Ihr Antrag krankt . (Beifall bei der SPD) Neue Technologien verändern unsere Gesellschaft; darüber sind wir uns ganz einig. Aber wie diese Verän- Und was noch viel wichtiger ist: Wir haben eine weitere derungen aussehen, das ist nicht in Stein gemeißelt . Hier Verbesserung hinbekommen. Wer jetzt im Arbeitslosen- können und müssen wir gestalten; das hat die Debatte geld II ist und einen Ausbildungsvertrag hat, dem wird gezeigt . Herr Kollege Whittaker – wo ist er denn über- nicht, wie es bisher der Fall war, automatisch das Ar- haupt? nicht mehr da –, ich jedenfalls stehe nicht dafür, beitslosgengeld II gekürzt . Das ist eine Errungenschaft, dass wir in Deutschland amerikanische Verhältnisse ein- auf die ich auch einmal hinweisen möchte . führen . Das wollen wir als Sozialdemokraten nicht . (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Digitalisierung Wir brauchen eine gesellschaftliche Debatte über Di- führt in Bezug auf die Arbeitsplätze zu einer immer wei- gitalisierung . Deshalb ist es so wichtig, dass der Ar- ter gehenden Forcierung, und wir wissen eigentlich nicht, beit-4 .0-Prozess, den Frau Ministerin Nahles angestoßen wann die Spitze erreicht sein wird . Wir wissen nicht, wo hat, in ganzer Breite diskutiert wird . Dabei werden die das wirklich hinführt . Mein Sohn ist ein hochspezialisier- Chancen genauso aufgezeigt wie die Veränderungen, die ter IT-Techniker und Programmierer . Er arbeitet von zu zu Konflikten führen; das haben wir schon besprochen. Hause aus und findet das toll; aber das gilt doch nicht für Dazu muss ich Ihnen von den Grünen sagen: Sie gehen alle . Gilt das denn auch für den selbstständigen Paketbo- diesem Konflikt mit Ihrem Antrag nicht auf den Grund, ten, der immer weiter unter Druck gerät? Gilt das für den (B) sondern aus dem Weg . Sie leisten nicht, was die Über- Schichtarbeiter oder für die Servicekraft im Hotel? Die (D) schrift sagt . Sie gestalten nicht, sondern zeigen punktuell kann das doch gar nicht mehr aushalten . auf, wo man Anpassungen vornehmen kann . Aber das, meine Damen und Herren, reicht gerade nicht . Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben über Jah- re beobachtet, wie Lohndrückerei durch Minijobs, Leih- (Beifall bei der SPD) arbeit und Werkverträge zur Normalität erhoben worden ist . Ich mache das einmal an Beispielen fest, die heute noch nicht genannt worden sind: Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Mein Kollege Röspel hat auf die Betriebsräte hin- gewiesen und darauf, dass Sie ihnen mehr Befugnisse Frau Kollegin, ich muss auch Sie bitten, zum Schluss im Arbeitsschutz einräumen wollen . Gut – aber nur im zu kommen . Prinzip . Ihre Lösung ignoriert einfach, dass wir ein Pro- blem bei der Mitbestimmung haben: Die Zahl der Arbeit- Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): nehmerinnen und Arbeitnehmer, die durch Betriebsräte Ich komme sofort zum Schluss . – Im Weißbuch „Ar- vertreten werden, sinkt stetig . Gerade in den Beschäfti- beiten 4 0“. steht, dass wir bei aller Notwendigkeit der gungsformen der digitalen Arbeitswelt haben wir zuneh- Flexibilisierung eine systematische Verlagerung der Ri- mend Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die nicht siken und der Verantwortung auf Arbeitnehmer nicht dul- vertreten sind . Dafür bieten Sie keine Lösung an . den können . (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD sowie des Abg . Klaus NEN]: Aber das war doch Ihre Aufgabe! Sie Ernst [DIE LINKE]) regieren doch!) Deshalb glaube ich, dass es wichtig ist, die Chancen Sie stellen zu Recht fest, dass neben den Anforderun- zu nutzen . Dafür brauchen wir aber einen Rahmen; wir gen auch die Formen der Beschäftigung mit der Digi- brauchen eine Grundlage aus dem Weißbuch bzw . Grün- talisierung eine Änderung erfahren . Sie schreiben, dass buch . Das fehlt in Ihrem Antrag . Da haben Sie noch die Grenzen zwischen abhängiger und selbstständiger nachzubessern . Tätigkeit verschwimmen . Richtig . Das haben Sie alles sehr schön dargestellt . Aber hinter dieser Entwicklung Vielen Dank. verbirgt sich doch nicht nur eine freiwillige Selbststän- digkeit . Dazu sagen Sie kein Wort . (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22523

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Auffassung zu Aufnahmeeinrichtungen außerhalb Euro- (C) Das war aber, wenn ich das sagen darf, nicht ein „zü- pas geht, zumal er dort meine Position übernommen hat . gig zum Schluss kommen“ . (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Ich NEN]: Er ist freier Abgeordneter!) entschuldige mich!) Ich weiß, dass das nicht ungeteilte Zustimmung in der Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will aus gege- Sozialdemokratie findet. Meine Zustimmung findet es benem Anlass noch einen kleinen Hinweis geben: Es ge- aber . hört zur guten Debattenkultur in diesem Haus, dem Deut- (Beifall bei der CDU/CSU) schen Bundestag, dass die Redner einer Debatte während der gesamten Debatte anwesend sind . Ich möchte einfach Mit dem Gesetz, das ich hiermit einbringe, werden, nur noch einmal daran erinnern . Das gilt für alle Kolle- wie der Kollege Oppermann völlig zu Recht angemerkt ginnen und Kollegen . Manchmal gibt es einen wichtigen hat, Beschlüsse umgesetzt, die wir am 9 . Februar dieses Grund, dass man nicht anwesend sein kann . Das ist, den- Jahres gemeinsam mit den Ministerpräsidenten der Län- ke ich, akzeptabel . Man teilt das dann den Kolleginnen der getroffen haben. Damit werden wichtige Konsequen- und Kollegen aber mit, und dann wird es auch akzeptiert . zen auch für das Aufenthaltsrecht gezogen – auch aus Ich bitte einfach, das in Zukunft zu berücksichtigen . dem Fall Amri, also dem Terroranschlag auf dem Breit- scheidplatz am 19 . Dezember 2016 in Berlin . (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg . Klaus Ernst [DIE LINKE]) Unser Rechtsstaat lebt davon, dass rechtsstaatliche Verfahren durchgeführt werden, dass diese gerichtlich Damit schließe ich die Aussprache . überprüft werden können und dass getroffene Entschei- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf dungen auch durchgesetzt werden . Das gilt ganz all- Drucksache 18/10254 an die in der Tagesordnung aufge- gemein und in der Flüchtlingspolitik ganz besonders . führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein- Unsere Flüchtlingspolitik beruht darauf, in einem rechts- verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung staatlichen Verfahren festzustellen, ob wegen der Verhält- so beschlossen . nisse im Herkunftsstaat oder aus persönlichen Gründen ein Schutzbedürfnis für den Aufenthalt in Deutschland Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: besteht . Sie beruht darauf, dass diejenigen Schutz erfah- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- ren und integriert werden, die wirklich schutzbedürftig gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur besse- sind . Ob ein Asylverfahren mit einem positiven oder ei- ren Durchsetzung der Ausreisepflicht nem negativen Ergebnis endet, das muss am Ende aber (B) einen Unterschied machen, und zwar hinsichtlich der (D) Drucksache 18/11546 tatsächlichen Bleibeperspektive . Aufenthaltsrechtliche Überweisungsvorschlag: Regelungen sind sinnlos, wenn sie am Ende gar keine Innenausschuss (f) Konsequenzen haben . Deshalb: Ja zu guter Integration Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz der Schutzbedürftigen und Ja zur Rückkehr der Nicht- Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe schutzbedürftigen . Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . die Aussprache 60 Minuten vorgesehen . Wenn es dazu Sebastian Hartmann [SPD]) Widerspruch gibt, dann müsste der jetzt vorgebracht wer- den .– Das ist nicht der Fall . Dann ist das so beschlossen . Rückkehr und Integration sind zwei Seiten ein und derselben Medaille, und beide Seiten nehmen wir ernst . Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in der Ein Beispiel: Allein in diesem Jahr werden wir über Aussprache hat Dr .Thomas de Maizière, der Bundesmi- 400 000 Menschen den Besuch eines Integrationskurses nister des Innern, das Wort für die Bundesregierung . ermöglichen, und gleichzeitig werden wir die Zahl derje- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nigen erhöhen und erhöhen müssen, die freiwillig in ihr ordneten der SPD) Herkunftsland zurückkehren oder abgeschoben werden . Wir haben schon einige Gesetzesänderungen im Bun- Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des In- destag beschlossen, um Vollzugsdefizite bei der Aufent- nern: haltsbeendigung zu beseitigen, etwa noch im Jahre 2015 Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mit dem Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, mit den Regelungen zur Ein schnelles Asylverfahren und eine schnelle Einstufung der Länder des Westbalkans als sichere Her- Rückführung sind wichtige Voraussetzungen für die kunftsstaaten, mit der Abschaffung der Ankündigung von Akzeptanz des Asylrechts in Deutschland . Abschiebungen oder mit der Pflicht zum besseren Nach- Dass ich mit einem Zitat des Kollegen Oppermann be- weis medizinischer Abschiebehindernisse im sogenann- ginne, wird Sie vielleicht überraschen; ten Asylpaket II . (Zurufe von der SPD: Nein!) Diese Maßnahmen greifen auch . Die Zahl der frei- willigen Rückführungen und Abschiebungen steigt . Im aber wo es Einigkeit gibt, sollte man das auch sagen . Ich vergangenen Jahr haben rund 55 000 abgelehnte Asylbe- teile seine Aussage ausdrücklich auch, wenn es um die werber Deutschland freiwillig verlassen, mehr als 25 000 22524 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Bundesminister Dr. Thomas de Maizière (A) wurden abgeschoben . Das ist ein Zuwachs von etwa stände befinden, aus denen auf die private Lebensgestal- (C) 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr; das ist gut. Auch tung Rückschlüsse gezogen werden können . Trotzdem das Verhältnis von freiwilligen Rückführungen zu Ab- hat niemand etwas dagegen, wenn in bestimmten Fällen schiebungen ist gut . Wir wollen diese Entwicklung aber ein Koffer an der Grenze geöffnet wird. Im Übrigen sieht noch besser machen, insbesondere weil das Bundesamt das Gesetz zur Wahrung des Kernbereichs privater Le- für Migration und Flüchtlinge jetzt die Altfälle abarbeitet bensgestaltung weitreichende Schutzvorrichtungen vor . und pro Monat 60 000 bis 70 000 Entscheidungen fällt . Das ist auch richtig so . Das heißt: Die Zahl derjenigen, die integriert werden, steigt ebenso wie die Zahl derjenigen, die unser Land Der Gesetzentwurf enthält weitere Regelungen zur wieder verlassen müssen . besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht. Ausreise- pflichtige, die über ihre Identität und Staatsangehörigkeit Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, ist dafür getäuscht oder ihre Mitwirkung bei der Rückführung ein wichtiger Beitrag . Er fußt auf drei Säulen: erstens verweigert haben, sollen sich fortan nur noch innerhalb Identität besser feststellen, zweitens Abschiebung effek- des Bezirks der jeweiligen Ausländerbehörde aufhalten tiver durchsetzen und drittens gefährliche Ausreisepflich- dürfen. Wir nennen das eine verschärfte Residenzpflicht. tige besser überwachen . Wir ermöglichen künftig auch dann eine Abschiebe- Im Mittelpunkt des Gesetzentwurfs stehen zum einen haft, wenn nicht gesichert ist, dass vollziehbar Ausrei- die ausreisepflichtige Menschen, die über ihre Identität sepflichtige binnen drei Monaten abgeschoben werden oder ihre Staatsangehörigkeit täuschen, die hier nicht zur können . Auch das ist eine Konsequenz aus dem Fall Aufklärung über sich selbst beitragen, die ihre Mitwir- Amri . Man kann lange darüber diskutieren, ob man trotz- kung bei der Rückführung verweigern . Meine Damen dem hätte versuchen sollen, spätestens im Oktober, nach- und Herren, ich finde es nicht zu viel verlangt, wenn man dem die tunesische Regierung dem Verbindungsbeamten gegenüber unseren Behörden seinen Namen und sein der Bundespolizei mitgeteilt hat, dass es sich um einen Herkunftsland korrekt angibt, wenn man von unserem Tunesier handelt, einen Abschiebehaftantrag zu stellen . Land Schutz haben möchte . Darüber wird diskutiert . Wir werden auch noch entspre- chende Berichte bekommen und diese hier diskutieren . (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Klar ist, egal wie man diesen Fall bewertet: Es ist wich- Wenn das nicht so ist, dann muss das eben auch Konse- tig und eine Erleichterung, die Dreimonatspflicht aufzu- quenzen haben. Zum anderen betrifft der Gesetzentwurf heben, damit man in Zukunft strittige Fälle nicht mehr diejenigen, von denen eine erhebliche Gefahr für Leib diskutieren muss . und Leben Dritter oder bedeutende Rechtsgüter der inne- Wir verlängern die Höchstdauer des Ausreisegewahr- (B) ren Sicherheit ausgeht . sams . Bisher wurde das Instrument zur Sicherung der (D) In einem Rechtsstaat können wir es nicht hinnehmen, Abschiebung nur zögerlich genutzt, weil die Frist von dass Asylbewerber scheinbar sanktionslos und nach Be- vier Tagen zu kurz ist . In der Koalition konnten wir uns lieben verschiedene Namen und Staatsangehörigkeiten nun auf zehn Tage einigen . angeben, keine brauchbaren Auskünfte geben und darauf Schließlich verbessern wir das Instrumentarium zur hoffen, dass die Behörden auch bei den Herkunftsstaaten Kontrolle Ausreisepflichtiger, von denen eine besondere bei der Beschaffung von Papieren nicht weiterkommen. Gefährdung ausgeht . Ihr Aufenthalt kann künftig durch Das ändern wir . Auch in Zweifelsfällen und bei mangeln- sogenannte elektronische Fußfesseln überwacht werden, der Kooperation werden wir Identität und Herkunfts- wenn das zur Gefahrenabwehr notwendig ist . Wir wis- land in Zukunft besser aufklären . Dazu nutzen wir alle sen sehr wohl, dass die Fußfessel kein Allheilmittel ist – rechtsstaatlichen Möglichkeiten, am liebsten Ausweise niemand hat das behauptet –; aber es ist ein zusätzliches und Reisedokumente, die mitgebracht werden, aus denen wirksames Mittel, um Gefahren von der Bevölkerung ab- die Identität und die Heimatländer hervorgehen . Fehlen zuwenden . Deswegen wollen wir darauf nicht verzichten diese, lassen aber Smartphones und Tablets Schlussfol- und diese Möglichkeit einführen . gerungen über die Herkunft zu, dann ist es weder über- trieben noch unangemessen, hierüber Erkenntnisse über (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- die Identität zu erlangen . Das ist nur vernünftig und auch ordneten der SPD) fair; denn sonst würden nur die weiterkommen, die am besten verschleiern . Meine Damen und Herren, es ist für alle Beteiligten von Vorteil, wenn Zwangsmaßnahmen gar nicht erst (Beifall bei der CDU/CSU) ergriffen werden müssen. Vorrang hat immer die- frei willige Ausreise . Dafür haben wir mit dem Programm Im Übrigen haben die Ausländerbehörden bereits ein „StarthilfePlus“ einen zusätzlichen Anreiz geschaffen. solches Recht zum Auslesen von Datenträgern zur Iden- Der Bund stellt hierfür in diesem Jahr zusätzliche 40 Mil- titätsbestimmung . Mit diesem Gesetz versetzen wir nun lionen Euro zur Verfügung. Mit der neuen Zentralstelle das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in die glei- zur Unterstützung der Rückführung, einer gemeinsamen che Lage . Dabei handelt es sich nicht, um gleich einem Stelle von Bund und Ländern, verbessern wir auch die möglichen Debattenbeitrag vorzubeugen, um eine Tele- Bund-Länder-Zusammenarbeit . Ich habe sie vor kurzem kommunikationsüberwachung, sondern um eine genauso eröffnet; ab Mai wird sie voll einsatzfähig sein. offene Maßnahme, als würde an der Grenze ein Koffer in Augenschein genommen. Bevor jetzt reflexhaft aufge- Mit dem heute zu beratenden Gesetzentwurf brin- schrien wird: Auch in einem Koffer können sich Gegen- gen wir erhebliche gesetzliche Verbesserungen auf den Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22525

Bundesminister Dr. Thomas de Maizière (A) Weg, die um praktische Verbesserungen ergänzt werden Nun liegen zum Gesetzentwurf zahlreiche Stellung- (C) müssen. Allen ausreisepflichtigen Gefährdern sage ich nahmen unter anderem vom Paritätischen Gesamtver- deutlich: Die Offenheit und Liberalität, die unser Land band, von Pro Asyl, der Diakonie Deutschland und lebens- und liebenswert machen, leisten wir uns gerade anderen vor, also von Verbänden, die über eine ausge- deshalb, weil wir einen starken Staat haben, der Angriffe wiesene rechtliche und auch sachliche Kompetenz ver- auf uns nicht hinnimmt. Die Offenheit gilt nicht für dieje- fügen . Entsprechend kritisch fallen auch deren Urteile nigen, die unsere Offenheit frontal angreifen oder unsere aus . Das beginnt übrigens schon bei den Fristen, die zur Verfahren wissentlich auszutricksen versuchen. Stellungnahme eingeräumt wurden – Respekt vor den Er- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- fahrungsträgern sieht anders aus . ordneten der SPD) Aber die Kritik in der Sache wiegt noch viel schwe- Wir sind und bleiben freundlich und offen, aber wir sind rer . Ganz verkürzt: Mit dem Gesetzentwurf werden Tore und bleiben aufmerksam und handlungsfähig, und wir geöffnet, um mehr abgelehnte Asylbewerber als bislang setzen das Aufenthaltsrecht auch durch – auch wenn es ihrer Freiheit zu berauben und sie länger in Abschiebe- umstritten ist, wenn es wehtut . Es ist erforderlich . Es ist haft zu nehmen . Als Gründe werden nach wie vor recht- die andere Seite der Medaille der Flüchtlingspolitik . In- lich unbestimmte Begriffe wie „Gefährder“ bemüht. Das tegration und Ausreise sind zwei Seiten einer Medaille . halten wir für genauso fragwürdig wie die Tatsache, dass in anderen Debatten „sichere Herkunftsländer“ je nach Ich bitte um zügige Beratung dieses Gesetzentwurfs . Gusto bestimmt werden . (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Mit unangekündigten Abschiebungen nach über einjäh- Petra Pau hat als nächste Rednerin das Wort für die riger Duldung werden Betroffenen obendrein Rechtsmit- Fraktion Die Linke . tel – etwa das Rechtsmittel eines Widerspruchs – geraubt, die ihnen eigentlich zustehen . (Beifall bei der LINKEN) (Rüdiger Veit [SPD]: Das stimmt leider!) Petra Pau (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der nächste Kritikpunkt: Hier wird Asylbewerbern Wir beraten heute einführend einen Gesetzentwurf der ihre Würde genommen. Hinzu kommt der Eingriff in Bundesregierung . Er trägt den Titel „Entwurf eines Ge- verbriefte Bürgerrechte, etwa durch das Auslesen ihrer (B) (D) setzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“. Handys ohne jeden Strafverdacht und richterliche An- Die Linke hätte sich gewünscht, dass die Bundesregie- ordnung. Herr Minister, Ihr Bild vom Koffer, der an der rung mit demselben Eifer ein Gesetz zur besseren Inte- Grenze kontrolliert wird, trägt da nicht . Ich weiß ja nicht, gration von Schutzsuchenden vorgelegt hätte . wie Sie es halten; aber ich pflege weder in meinem Koffer noch in meiner Reisetasche meine ganze private Korre- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- spondenz oder meine intimsten Daten mit mir herumzu- NIS 90/DIE GRÜNEN) tragen . Aber heute ist es so, dass viele von uns ebendiese Aber genau darum geht es heute nicht . Ja, es gab im besonders geschützten Daten auf ihren Handys, Tablets Jahr 2016 nicht nur die Beratungen, sondern auch den oder wo auch immer archiviert haben . Dieses Bild trägt Beschluss zu einem Gesetz zur Integration, aber es war also in keiner Weise . und ist halbherzig; es schloss und schließt viele Geflüch- tete aus statt ein . (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das Gesetz, um das es heute geht, bedient vor allem eine allgemeine Abschiebestimmung . Damit befördert es Damit legt sich der Gesetzentwurf auch mehrfach mit auch eine feindliche Stimmung gegenüber den Schutzsu- Urteilen des Bundesverfassungsgerichts an. Das betrifft chenden . Das beginnt damit, dass die Bundesregierung hohe Hafthürden ebenso wie das Recht auf informa- wiederholt mit überzogenen und falschen Zahlen über tionelle Selbstbestimmung . Der Paritätische Gesamt- Ausreisepflichtige agiert. Ich empfehle hier die Stellung- verband moniert: Er „vermischt in unzulässiger Weise nahme des Paritätischen Gesamtverbandes, der uns heute straf- sowie polizei- und ordnungsrechtliche mit aufent- zu dieser Gesetzesberatung den Hinweis gegeben und ins haltsrechtlichen Aspekten“ . Auch dieser Kritik schließt Stammbuch geschrieben hat, dass angesichts der Rekord­ sich die Linke an . anerkennungsquoten im Asylverfahren – 2016 betrug die bereinigte Schutzquote 71,4 Prozent – die aktuelle He- Hinzu kommt ein grundsätzliches Problem . Ein Drit- rausforderung Schutzgewährung und Integration und tel aller Schutzsuchenden sind unter 18 Jahre alt. Viele nicht Ausgrenzung und Abschiebung lautet . von ihnen leben auch hierzulande unter Bedingungen, die weder kindgerecht noch integrationsfördernd sind . (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Das stellte UNICEF in einer gerade erst veröffentlichten NIS 90/DIE GRÜNEN) Studie fest . Der nun vorliegende Gesetzentwurf, wenn er Sie ahnen es: Die Linke muss den Entwurf in seiner denn in die Tat umgesetzt würde, verschärft die Proble- jetzigen Fassung ablehnen . me, anstatt dafür zu sorgen, dass die Menschen so schnell 22526 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Petra Pau (A) wie möglich dezentral untergebracht werden . Auch das Zurück zum Ernst, der dieser Angelegenheit angemes- (C) ist so nicht hinzunehmen . sen ist . Es gibt Menschen, die hierbleiben dürfen, und es gibt Menschen, die nicht hierbleiben dürfen . (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ( [CDU/CSU]: Dann müssen sie abgeschoben werden!) Ein Schlussgedanke für heute: Etliche Kommentato- ren bezeichnen den vorliegenden Gesetzentwurf als „Lex Wenn diejenigen, die nicht hierbleiben dürfen, trotzdem Amri“ . Sie spielen damit auf den schlimmen Terrorakt hierbleiben, auf dem Berliner Weihnachtsmarkt und den Täter an . Und sie belegen zugleich, dass die jetzt vorgesehenen (Zuruf von der CDU/CSU: Dann stimmt was Regelungen eben nicht verhindern, was Sie vermeintlich nicht!) vorgeben zu verhindern. Vielmehr werden die Geflüchte- dann zeigt das, dass unser Rechtsstaat nicht funktioniert . ten unter Generalverdacht gestellt . Ich halte das für nicht Deswegen müssen wir Ausreisen durchsetzen, wenn die rechtsstaatlich und für würdelos . Pflicht dazu besteht. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (Zuruf von der CDU/CSU: Schleswig-Hol- NIS 90/DIE GRÜNEN) stein zum Beispiel!) Ich führe bei mir im Wahlkreis hin und wieder so- Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: genannte Wohnzimmergespräche . In den letzten Mona- Dr . Lars Castellucci spricht jetzt für die SPD-Fraktion . ten ist ein Satz immer häufiger gefallen. Er lautete: Der (Beifall bei der SPD) Rechtsstaat muss für alle gelten .– Die Menschen sagen: Bei mir werden Steuern und Abgaben abgezogen, wenn ich über eine rote Ampel fahre, muss ich zahlen, usw . Dr. Lars Castellucci (SPD): Und sie fragen mich: Wie kann das sein, dass Menschen Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und einfach über die Grenze kommen? Oder: Wie kann es Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, sein, dass Menschen, die hier sind, aber nicht hier sein Sie haben zu Beginn Ihrer Rede Herrn Oppermann zi- dürfen, trotzdem hierbleiben können? Ich glaube, dass tiert . Ich wollte zu Beginn meiner Rede eigentlich Herrn wir den Rechtsstaat in Gefahr bringen, wenn wir nicht für Mayer zitieren, aber stattdessen frage ich als Erstes Herrn klare Verhältnisse sorgen. Deshalb: Wer Ausreisen nicht Gutting, ob die Farbe seiner Jacke ein politisches State- durchsetzen will, der kann das Asylrecht auch gleich ab- schaffen; denn das eine bedingt das andere. (B) ment ist . (D) (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) (Beifall der Abg . Dr . Silke Launert [CDU/ CSU]) Das beschäftigt mich gerade irgendwie mehr. Vielleicht schwimmen Ihnen ja so langsam die Felle davon . Ich kämpfe für das Asylrecht. Deswegen finde ich: Ab- schiebungen gehören dazu . ( [CDU/CSU]: Sonst ha- ben Sie keine Probleme?) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das ist mir nur aufgefallen . Warum gelingen Abschiebungen nicht? Dafür gibt es Herr Mayer, Sie haben der Presse heute Morgen schon eine Vielzahl von Gründen, und einer ist, dass die Iden- mitgeteilt, dass Sie für eine härtere Gangart bei Abschie- tität der betreffenden Personen nicht festgestellt werden bungen sind . kann. Ja, es ist so: Viele, die zu uns kommen, besitzen keine Papiere . Das ist ihnen vielfach gar nicht vorzuwer- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) fen . Es kann sein, dass sie die Papiere abgeben mussten, Aber wenn ich mir die entsprechende Statistik aus Ihrem weil die Schleuser es von ihnen verlangt haben . Die ab- Heimatland anschaue, dann fällt mir auf, dass die Zahl genommenen Papiere werden so zu den gefälschten Pa- der Abschiebungen in Bayern im letzten Jahr gesunken pieren der nächsten Flüchtlinge, die wiederum von die- ist . sen Schleusern abhängen . So entsteht ein neues Geschäft . Dass wir keine legalen und sicheren Zugangswege über (Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: sogenannte Kontingente eröffnen – darüber haben wir Kein Land schiebt so viel ab wie Bayern!) uns häufiger ausgetauscht –, ist ein Teil der Misere, die zu diesen Geschäften beiträgt . Der bayrische Löwe startet mal wieder mit einem Sprung und landet als Bettvorleger . Was ich besonders interes- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des sant fand: Der bayerische Innenminister Herrmann zieht BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) trotzdem eine positive Bilanz. Ich finde das großartig. Das gibt es wirklich nur bei der CSU . Die Aussage, es könne nicht sein, dass einer ohne Papie- re, aber mit Handy kommt, zeugt – das muss ich leider (Beifall bei Abgeordneten der SPD – sagen – nicht von besonderer Kenntnis; denn man kann Dr . [CDU/CSU]: Finden sich ohne Papiere auf die Reise machen, ohne Handy Sie das denn richtig?) aber nicht . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22527

Dr. Lars Castellucci (A) Es geht darum: Man kann hier ohne Papiere ankom- gen für Ausbildungsplätze, kümmern sich darum, dass (C) men; aber von demjenigen, der hier Hilfe erwartet oder die Integration vor Ort funktioniert, und rums werden die auch nur erhofft, können wir erwarten, dass er mitwirkt Leute woandershin verteilt oder müssen das Land wieder an der Feststellung seiner Identität . Wenn jemand keine verlassen . Das ist nicht sinnvoll . Deswegen ist es ver- Papiere hat, aber ein Handy, dann muss man im Zweifel nünftig, zu sagen: Solange die Verfahren laufen, sind die nach Ausschöpfung aller anderen Mittel, nach dem In- Menschen an einem Ort, wo zentral alles für sie getan terview und nach Hinzuziehung von Experten, auch die wird. Das geht aber nur, wenn wir eine Verfahrensdauer Handydaten nutzen können . Ich glaube, das ist nicht nur von drei Monaten haben . vertretbar, sondern auch geboten . Wir haben ein Recht darauf, zu wissen, wer bei uns ist . (Beifall bei der SPD – Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das können (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie aber nicht!) der CDU/CSU) Die Verbände fragen: Wo sind die Räumlichkeiten, Nun wird von verschiedenen Seiten Kritik an diesem in denen derjenige, der zur Schule geht, lernen kann? Gesetzentwurf laut, unter anderem daran, dass wir vorse- Wie sieht es mit der Privatsphäre aus? Wie sieht es mit hen, dass Menschen länger in den Erstaufnahmeeinrich- dem Zugang zu Freizeitangeboten, mit Teilhabeangebo- tungen verbleiben sollen . Das bringt mich zu der Frage, ten aus? – Dazu sage ich: Ja, auch das muss in diesen wie es um die Verfahren bestellt ist. Sehr geehrter Herr Erstaufnahmeeinrichtungen gewährleistet werden . Das de Maizière und verehrte Kolleginnen und Kollegen, bei ist kein Argument dafür, dass die Leute sofort im Land diesem Thema platzt mir langsam der Kragen . Es ist nun verteilt werden müssen . einmal so, dass man die Leute nicht abschieben kann, be- Im Übrigen: Wenn man gerade auf die Abschiebungen vor das Verfahren abgeschlossen ist. So wird kein Schuh schaut, die schon stattgefunden haben, ist es ja so, dass draus . sich unter den Abgeschobenen viele Menschen befinden, Wir haben bereits im Koalitionsvertrag festgeschrie- die schon viele, viele Jahre hier in Deutschland ansässig ben, dass wir eine Verfahrensdauer von drei Monaten an- sind, die zum Teil über einen Arbeitsplatz verfügen, die streben. Im letzten Jahr wurde uns jedes Vierteljahr von ihren eigenen Lebensunterhalt finanzieren können und Ihnen und vom Bundesamt auf die Frage, ob alle Mitar- die angefangen haben, unsere Sprache zu lernen . Ich bin beiter an Bord seien, gesagt: Ja, das werden wir bis zum der Auffassung, wenn wir zu einer härteren Gangart bei Ende des Quartals schaffen. – Auf die Frage, ob die liegen- den Ausweisungen kommen, wie es gefordert ist, dann gebliebenen Verfahren abgearbeitet sind, wurde gesagt: sollten wir auch Wege eröffnen, sodass diejenigen, die Ja, das werden wir bis zum Ende des Quartals schaffen. – schon lange hier sind und die schon begonnen haben, (B) Und auf die Frage, ob die Verfahren jetzt durchschnittlich sich zu integrieren, hier in diesem Land auch eine Blei- (D) drei Monate dauern, wurde gesagt: Das werden wir bis beperspektive haben . Alles andere macht keinen Sinn . zum Ende des Quartals schaffen. – Jetzt erhalten wir die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Asylgeschäftsstatistik, in der von einem Rückgang der der LINKEN) Antragszahlen um 71,5 Prozent und 333 000 anhängigen Verfahren – Stand Februar – die Rede ist. Dazu zählen im Übrigen auch die sogenannten Dub- lin-Fälle . Im Moment ist es so, dass die eine Abteilung ver- Sehr geehrter Herr Minister, das kann so wirklich nicht sucht, Leute, die schon sehr lange hier sind, wieder zurück bleiben . Dieser Gesetzentwurf erweckt mal wieder den nach Italien und bald auch nach Griechenland zu bringen . Eindruck, als seien die Leute, die zu uns kommen, schuld Die nächste Abteilung an Beamten ist händeringend darum an allen Problemen, weil sie täuschen, tricksen und sich bemüht, Leute aus Italien und bald auch aus Griechenland nicht richtig verhalten. Wir müssen diese Verfahren in nach Deutschland zu bringen . Wir bringen Leute zurück, Ordnung bringen . Das ist der Dreh- und Angelpunkt . Nur die angefangen haben, sich hier zu integrieren, und wir ho- dann können auch die Abschiebungen funktionieren . len uns wieder Leute, die hier bei null anfangen . Das ist (Beifall bei der SPD) doch ein neues Kapitel im Roman zu Schilda, das macht keinen Sinn. Ein solches Verfahren müssen wir unbedingt Vernünftige Verfahren heißt, dass wir eine angemesse- beenden, meine Damen und Herren . ne Verfahrensdauer brauchen, und zwar nicht gemessen zwischen Beginn und Ende des Verfahrens, sondern ab (Beifall bei der SPD) dem Zeitpunkt, zu dem die Leute über die Grenze kom- Also, wir sind in der Passionszeit . Wenn man die Pas- men. Wir müssen die Rechtsberatung in die Verfahren in- sion hört, dann ist da der Ruf des Volkes: „Kreuziget tegrieren . Stand letztes Jahr hatten wir 150 000 bei den ihn!“ Da sind wir heute weiter . Heute ruft man nur nach Gerichten anhängige Verfahren. Das ist doch kein Zu- einem neuen Gesetz . Das ist natürlich ein Fortschritt . Ob stand. Das führt doch zu immer weiteren Verzögerungen. jedes Gesetz ein Fortschritt ist, ist damit noch nicht ge- Ich bin dafür – jetzt komme ich zur Kritik der Ver- sagt . In jedem Fall gilt: Die Gesetze, die wir haben, und bände –, dass die Menschen so lange in den Erstaufnah- die Gesetze, die wir jetzt verabschieden, muss man kon- meeinrichtungen verbleiben, solange ihr Verfahren läuft, sequent umsetzen, und dazu rufe ich Sie auf . Das ist das und nur verteilt werden, wenn klar ist, dass sie hier eine Allererste, was wir tun müssen . Bleibeperspektive haben . Alles andere macht doch gar Vielen Dank. keinen Sinn . Die Menschen reißen sich ein Bein aus, werden Patinnen und Paten, sorgen für Wohnungen, sor- (Beifall bei der SPD) 22528 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Deshalb noch einmal der Appell vor allen Dingen an (C) Als nächste Rednerin spricht Luise Amtsberg für die die SPD: Widersetzen Sie sich, wenn schon nicht in- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen . haltlich, dann zumindest wegen der Form! Ich möchte nur noch einmal daran erinnern, dass das Asylpaket II ein ähnliches Verfahren hatte. In seiner Folge sind jetzt Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zehntausende Flüchtlinge von der Beschränkung beim Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Familiennachzug betroffen. Gerade Sie, liebe Sozialde- Meine Damen und Herren! Ich möchte erst einmal et- mokraten, beteuern doch jetzt, dass Ihnen diese Folge was Grundlegendes zu diesem Gesetzgebungsverfahren damals überhaupt nicht klar gewesen sei . Also machen sagen, weil es ja mittlerweile schon schlechte Tradition Sie bitte nicht noch einmal denselben Fehler; denn dieses dieser Bundesregierung und mit ihr leider auch der Frak- vorliegende Gesetz versteckt eben auch eine ganze Reihe tionen der Großen Koalition ist, sich eben nicht mehr von Tücken für die Rechte von allen Schutzsuchenden in sorgfältig mit der Asylpolitik auseinanderzusetzen . Das Deutschland . ist nicht nur für das Parlament eine Belastung; es ist auch eine Belastung für die Behörden, die das alles ausführen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN müssen. Es ist eine Belastung für die flüchtlingssolidari- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) sche Zivilgesellschaft, für die NGOs, vor allen Dingen Zum Inhalt: Es zielt vor allen Dingen darauf ab, die aber auch, verehrte Kolleginnen und Kollegen, für die Ausreisen und Abschiebungen zu beschleunigen . Was Geflüchteten selbst. dieser Gesetzesvorschlag dabei aber völlig außer Acht Diesem Gesetzentwurf ist ein Beschluss der Minis- lässt, ist, wie gut viele Menschen trotz ihres unsicheren terpräsidentenkonferenz vorausgegangen . Der Referen- Aufenthalts in Deutschland bereits integriert sind . Ein- tenentwurf aus dem Bundesinnenministerium kam kei- zelne Regelungen des Entwurfs zielen auf die Verhinde- ne Woche später . Die Länder hatten noch nicht einmal rung eines effektiven Rechtsschutzes. Herr Bundesinnen- zwei Tage Zeit zur Stellungnahme . Jetzt soll das Gesetz minister, Sie haben gerade noch angemahnt, wie wichtig schnellstmöglich verabschiedet werden . Eine sorgfältige dieser Schutz ist . Auseinandersetzung des Bundestages mit diesen Vor- In dem Gesetzentwurf steht, dass Personen, die lange schlägen ist also kaum möglich; das ist meines Erachtens in Deutschland geduldet gelebt haben, eben künftig nicht offensichtlich. Gestern haben wir im Innenausschuss eine mehr über anstehende Abschiebungen informiert werden Expertenanhörung für nächsten Montag beantragt, und sollen . Sie werden in eine dauerhafte Unsicherheit ver- dies, obwohl wir erst heute die erste Lesung im Parla- setzt, und es soll für Personen gelten, die an ihrer eigenen ment haben und bei diesem Gesetz – das kann ich schon Ausweisung trotz zumutbarer Anforderungen nicht mit- (B) einmal vorwegnehmen – die Eilbedürftigkeit überhaupt (D) gewirkt haben. Der Begriff „zumutbare Anforderungen“ nicht zu erkennen ist. Meine Fraktion empfindet dieses wird überhaupt nicht definiert oder konkretisiert. Vorgehen als extrem befremdlich. Der ohnehin von uns kritisierte Ausreisegewahrsam (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ohne richterliche Zustimmung wird auf zehn Tage erhöht . und bei der LINKEN) Wir haben gestern hier in diesem Hohen Hause alle Das geplante Auslesen von Handys durch das Bundes- zusammen unserem ehemaligen, aber auch unserem am- amt für Migration und Flüchtlinge – das wurde schon an- tierenden Bundespräsidenten zugeklatscht, als beide an- gesprochen – kann letztendlich auch die privatesten Da- gemahnt haben, Demokratie und demokratische Spielre- ten von Geflüchteten umfassen. Bei der Frage, wie weit geln auch ernst zu nehmen, sie mit Leben, aber eben auch Behörden dabei gehen können, gibt es überhaupt keine mit Respekt zu füllen . Liebe Kolleginnen und Kollegen, Konkretisierung. Meine Fraktion findet aber, dass die zu diesen demokratischen Spielregeln gehört aber eben strengen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum auch die parlamentarische Befassung mit Vorschlägen Schutz der Privatsphäre eben nicht nur für Deutsche gel- der Bundesregierung . Weil wir Abgeordneten bei diesen ten, sondern für alle Menschen in Deutschland . Abstimmungen unserem Gewissen unterworfen sind, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verpflichtet sind, gehört eben auch die Sorgfalt in einem sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Gesetzgebungsverfahren dazu . Das kann ich hier leider Gottes nicht erkennen . Geflüchtete sollen künftig noch länger in Sammel- und Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Weil die Gruppe, die es betreffen soll, im Gesetzestext Ich will nicht falsch verstanden werden: Es ist voll- nicht klar definiert und umrissen ist, droht dies auch Kin- kommen in Ordnung, dass sich auch die Ministerpräsi- dern und ihren Familien . Wenn sie dauerhaft in Erstauf- denten gemeinsam mit der Bundeskanzlerin beraten und nahmeeinrichtungen untergebracht werden, dann wäre Beschlüsse fassen . Wenn diese aber, in Gesetzesform einer großen Zahl von Kindern der Zugang zur Schule gegossen, anschließend im Galopp durch den Bundes- verwehrt . Es geht noch weiter: Unbegleitete minderjähri- tag gejagt werden, dann entwertet dies den Bundestag als ge Flüchtlinge werden künftig schneller in Asylverfahren Gesetzgebungsorgan, liebe Kolleginnen und Kollegen . gedrängt, anstatt endlich eine qualifizierte Rechtsbera- tung für diese besonders schutzbedürftige Gruppe vorzu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schalten . In meinen Augen haben wir hier eine besondere sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Verpflichtung. Dieser kommt der Gesetzentwurf- über Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22529

Luise Amtsberg (A) haupt nicht nach . Deswegen können wir ihm in dieser sondern nach klar festgelegten Regeln, nach klar festge- (C) Form nicht zustimmen . legten Sätzen . Der allergrößte Teil der Asylbewerber hält sich daran . Wir sind in den vergangenen Wochen aber Herzlichen Dank . immer wieder auch mit Berichten über Asylbewerber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN konfrontiert worden, die sich Sozialleistungen erschlei- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) chen . Wenn etwa ein Sudanese mit sieben verschiedenen Identitäten in Deutschland unterwegs ist und ein Mann aus Eritrea mit vier verschiedenen Identitäten, dann hat

Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: dafür niemand Verständnis. Diese Fälle haben aber eines Dr .Stephan Harbarth hat als nächster Redner das Wort gemeinsam: Sie haben im Augenblick keine aufenthalts- für die CDU/CSU-Fraktion . rechtlichen Konsequenzen . Deshalb möchten wir dafür (Beifall bei der CDU/CSU) werben, dass Sozialbetrug künftig auch klare ausländer- rechtliche Konsequenzen hat . Dr. Stephan Harbarth (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Dazu gehört erstens, dass wir die strafrechtliche Hür- Herren! Kolleginnen und Kollegen! Ich bin der festen de absenken wollen, bei der jemand aus dem Asylverfah- Überzeugung: Mit dem Gesetz, über das wir heute disku- ren ausgeschlossen wird . Dazu gehört zweitens, dass wir tieren, legen wir einen wichtigen Entwurf vor zur Verbes- uns auch noch einmal das Ausweisungsrecht ansehen . serung der inneren Sicherheit in diesem Land, zur Ver- Bei bestimmten Delikten wie etwa Angriffen gegen das besserung des Schutzes vor islamistischen Anschlägen, Leben, gegen die körperliche Unversehrtheit oder gegen aber auch zur Verbesserung der Ausreisepraxis derer, die das Eigentum kann der Weg zum Ausschluss aus dem in Deutschland keinen Schutzstatus haben . Allein mit der Asylverfahren bereits ab einer Freiheitsstrafe von einem Pflicht zur freiwilligen Ausreise werden wir nicht weiter- Jahr eröffnet sein. Der Sozialbetrug fällt bisher nicht un- kommen . Wir müssen – Thomas de Maizière hat es un- ter diese Regelungen . Das sollten wir korrigieren, um terstrichen – dort, wo keine freiwillige Ausreise erfolgt, ein ganz klares Signal zu senden: Wer unseren Schutz die Ausreisepflicht auch mit Zwang durchsetzen. Wenn benötigt, der kann in Deutschland Schutz und auch fi- wir es hinnehmen, dass geltendes Recht breitflächig nicht nanzielle Zuwendungen bekommen; aber wer unserem vollzogen wird, dann werden wir das Vertrauen der Men- Land auf der Nase herumtanzen will, dem werden wir schen in den Rechtsstaat untergraben, und wir werden mit Entschiedenheit entgegentreten .– Dafür werden wir ihre Unterstützung verlieren, wenn es um die Aufnahme als Unionsfraktion auch im parlamentarischen Verfahren von Schutzbedürftigen geht . noch einmal werben . (B) (D) Für uns als Union ist klar: Wer Schutz braucht, der (Beifall bei der CDU/CSU) soll diesen Schutz auf Zeit in Deutschland auch bekom- men . Deshalb ist genau das Gegenteil dessen richtig, was Meine Damen und Herren, der Herr Innenminister hat Sie, Frau Pau, vorhin ausgeführt haben . Es ist falsch: Wir unterstrichen, dass es bei diesem wichtigen Gesetz nicht schaffen mit dem Gesetzentwurf kein feindseliges- Kli „nur“ um die Rückführung von Migranten geht, sondern ma gegen Migranten und Schutzsuchende, sondern wir es geht um eine ganze Reihe von wichtigen Maßnahmen schaffen die Voraussetzung dafür, dass die gesellschaftli- zur Verhinderung weiterer islamistischer Terroranschlä- che Akzeptanz für diejenigen erhalten bleibt, die tatsäch- ge in Deutschland. Darunter befinden sich auch Maß- lich Schutz benötigen . nahmen, die Thomas de Maizière bereits im August des vergangenen Jahres vorgeschlagen und zu denen er be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg . reits im Oktober des vergangenen Jahres, weit vor dem [SPD]) schlimmen Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz, entsprechende Gesetzentwürfe vorgelegt hatte . Bei den Rückführungen geht es um ein ganz klares Signal zur Begrenzung von Zuwanderung . Nur in dem (Zuruf von der CDU/CSU: Ganz genau!) Maße, in dem ausreisepflichtige Ausländer unser Land verlassen, wird deutlich, wer nicht schutzbedürftig ist . Lange Zeit war Thomas de Maizière, lange Zeit war Wer in Deutschland einen Asylantrag stellt, obwohl er unsere Fraktion bei diesem Thema der einsame Rufer keine Aussicht auf einen Aufenthalt hat, sollte sich am in der Wüste . Ich glaube, es ist wichtig, dass kluge Si- besten erst gar nicht auf den Weg in unser Land machen . cherheitspolitik nicht nach dem Grundsatz „Aus Schaden Unser prioritäres Ziel in der Union heißt: Zuwanderung wird man klug“ verfährt, sondern dass gute Sicherheits- steuern, Zuwanderung begrenzen . Wer ein Bleiberecht politik nach dem Grundsatz verfährt, Gefahren richtig hat, darf auf Zeit bleiben . Wer kein Bleiberecht hat, muss einzuschätzen und im Vorfeld zu handeln. Deshalb wäre zeitnah in seine Heimat zurückkehren . es besser gewesen, wenn wir in der Koalition bereits im vergangenen Jahr die Unterstützung dafür bekommen Wir möchten im parlamentarischen Verfahren von- hätten und nicht erst nach den Geschehnissen auf dem seiten der Unionsfraktion auch an anderer Stelle noch Berliner Breitscheidplatz . einmal um Unterstützung werben. Zur finanziellen Un- (Beifall bei der CDU/CSU) terstützung derer, die nach Deutschland kommen, geben wir jedes Jahr viele Milliarden Euro aus . Diese vielen Meine Damen und Herren, die Erweiterung der Ab- Milliarden Euro geben wir nicht nach dem Prinzip aus, schiebehaft für ausreisepflichtige Ausländer, von denen dass sich jeder einfach nehmen kann, was er gerne hätte, eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben Dritter oder 22530 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Dr. Stephan Harbarth (A) bedeutende Rechtsgüter der inneren Sicherheit ausgeht, demokratischen Rechtsstaat wichtig, dies deutlich zu ma- (C) ist wahrlich keine Marginalie . Die Zahl dieser Gefährder chen . Aber wir müssen in aller Klarheit und aller Deut- ist alles andere als gering . Derzeit geht die Polizei in den lichkeit auch sagen, dass die Terroristen das genaue Ge- Bundesländern davon aus, dass wir mehr als 100 ausrei- genteil dessen erreichen, was sie erreichen wollen . Denn sepflichtige Ausländer haben, bei denen zu befürchten der demokratische, freie Rechtsstaat ist nicht schwach; er steht, dass sie sich an politisch motivierten Straftaten von ist stark . Unsere Gesellschaft ist zwar nicht immun gegen erheblicher Bedeutung beteiligen und eine feste Funktion Angst und Terror, aber wir sind mutig . Wir sind Demo- in der islamistischen Szene einnehmen . Wir müssen ge- kraten und handeln – das ist ganz wichtig – stets auf der gen diesen Personenkreis in aller Konsequenz vorgehen . Basis von Recht und Gesetz, und wir stellen uns auch Dazu leistet der vorgelegte Gesetzentwurf einen wichti- unserer internationalen und humanitären Verantwortung. gen Beitrag . Das werden wir hier immer zu unserer Linie machen und (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auch durchhalten . NEN]: Ach ja? Sagen Sie doch mal konkret, wie!) Unser Bundeskanzler Helmut Schmidt formulierte das so: Ich danke dem Bundesinnenminister, freue mich auf die parlamentarischen Beratungen und bin überzeugt, Sie dass wir hiermit einen wichtigen Schritt zur Verbesse- rung der Situation im Bereich der Ausreise abgelehnter – die Terroristen – Ausländer, aber auch zur Bekämpfung des islamistischen Terrorismus machen . wollen den demokratischen Staat und das Vertrauen Herzlichen Dank . der Bürger in unseren Staat aushöhlen . . . Der Staat muss darauf mit aller notwendigen Härte antworten . (Beifall bei der CDU/CSU) Helmut Schmidt sagte uns auch: „Jeder weiß, dass es Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: eine absolute Sicherheit nicht gibt“, und er sagte, es Dr . Sebastian Hartmann hat als Nächster für die sei genauso klar: „Der Terrorismus hat auf Dauer keine SPD-Fraktion das Wort . – Ohne „Dr .“ . Chance“ . (Beifall bei der SPD) Meine Damen und Herren, es bleibt das Ziel all unse- ren Handelns, größtmögliche Sicherheit zu organisieren (B) Sebastian Hartmann (SPD): und alles für einen starken und handlungsfähigen Rechts- (D) Sehr geehrte Frau Präsidentin, auch aufgrund schlech- staat – ich betone: Rechtsstaat – zu tun . ter Erfahrungen hier im Plenum: Die Promotion ist in meinem Fall nicht zutreffend. Ich glaube, dass wir angesichts der Diskussionen und der notwendigen Gesetzesänderung, die wir jetzt vorneh- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) men, eines noch einmal an den Anfang stellen müssen: Deutschland ist eines der sichersten Länder dieser Welt, Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: und daran wird sich nichts ändern . Hierfür haben wir ge- Ich habe mich schon korrigiert . handelt, und hierauf können wir stolz sein . (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Sebastian Hartmann (SPD): Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte Es bleibt auch richtig: Damit das so bleibt, haben wir das, was verschiedene Vertreter hier im Plenum bereits eine Vielzahl von Gesetzen angepackt und Veränderun- angesprochen haben, aufgreifen . Es ist auf den Fall Anis gen vorgenommen. Die Verbesserung der Videoüberwa- Amri und den Anschlag am Breitscheidplatz Bezug ge- chung wurde hier mit breiter Mehrheit beschlossen . Wir nommen worden . Aber wir stehen auch unter dem Ein- haben ein Gesetz zum Schutz unserer Einsatzkräfte und druck des Attentats, das sich gestern in der Nähe des Par- vieles mehr beschlossen, wir gehen gegen die organisier- laments in London ereignet hat . Wir haben im Fernsehen te Kriminalität vor, und wir verbessern den Informations- Opfer, Verletzte und traurige Bilder gesehen. Wir sind austausch . All das haben wir getan . schockiert und verurteilen dieses abscheuliche Handeln . Die Attentate, die uns jeden Tag über die sozialen Me- Daneben haben wir den Stellenausbau vorangetrie- dien erreichen, haben alle ein Ziel: Sie sollen uns ängs- ben und entgegen dem alten Mantra der Neoliberalen tigen, uns zu bestimmten Handlungen veranlassen und gehandelt, Stellen abzubauen und den Staat mit wenigen damit zu einer Veränderung unserer Denk- und Lebens- Stellen schwach zu machen . Nein, wir haben gesagt: Wir weise führen . Es ist richtig, dass wir angesichts der Ge- wollen mehr Stellen in Polizei- und Sicherheitsbehörden walt und der Taten, die wir an vielen Stellen der Welt er- haben . Auch das haben wir getan . leben – im Übrigen auch in der Türkei oder im Irak, nicht nur in Belgien oder in Großbritannien –, gegenüber den (Beifall bei der SPD – Luise Amtsberg wehrlosen Opfern nicht abstumpfen oder gar gleichgültig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie werden, sondern dass uns das bewegt . Es ist für einen auch noch zum Gesetzentwurf?) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22531

Sebastian Hartmann (A) Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden wir zu Herr Innenminister, wir werden der freiwilligen Rück- (C) zwei Punkten kommen .– Lieben Dank, Frau Kollegin kehr natürlich immer den Vorrang einräumen, damit wir Amtsberg . aufgrund der hohen Zahlen auch zu guten Ergebnissen kommen . Unter denjenigen, die wir abschieben müssen, (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gibt es aber eine kleine, genau identifizierbare gefährli- NEN]: Ich wollte Sie nur daran erinnern! Acht che Gruppe, die wir uns anschauen müssen . Diese müs- Minuten sind auch endlich!) sen wir in den Fokus nehmen, wenn es darum geht, eine Wir befinden uns am Anfang des Gesetzgebungsverfah- Abschiebehaft zu verhängen . Wir müssen den Schutz der rens, und man muss das manchmal auch entsprechend Allgemeinheit sicherstellen und dafür sorgen, dass von einordnen dürfen . dieser Gruppe keine Gefahr für die körperliche Unver- sehrtheit und das Leben der Menschen ausgeht . Meine Wir reden über die Gefahrenabwehr und eine verbes- Damen und Herren, ich glaube, das ist gut vertretbar . Da- serte Durchsetzung des Aufenthaltsrechtes . Es ist wich- rauf können wir uns im Gesetzgebungsverfahren verstän- tig, dass wir hier einen Unterschied machen und einem digen . bestimmten Fehler nicht erliegen . Es gibt nämlich einen großen Unterschied zwischen einem Flüchtling und ei- (Beifall bei der SPD) nem Terroristen. Der Flüchtling flieht vor dem Terro- risten, und er wird nicht durch sein Flüchtling-Sein zu Es ist nicht so, wie immer unterstellt wird, dass man einem Terroristen . Ganz viele der Flüchtlinge – 99,9 Pro- eine pauschale Verschärfung einfach so vornimmt. Der zent – wollen Schutz vor dem Terror, und dem werden Deutsche Richterbund sagt hierzu: wir weiterhin gerecht werden . Dies geschieht, indem weitere Sonderregelungen (Beifall bei der SPD) für Ausländer geschaffen werden, von denen eine Wir müssen hier aber auch unterscheiden . Es gibt eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit sowie Leib und gewisse Zahl an hochgefährlichen Menschen, die zwar Leben ausgeht . In Ansehung der erheblichen und vollziehbar ausreisepflichtig sind, die wir aber nicht ab- konkreten Gefahren, die sich in der jüngeren Ver- schieben können . Darauf muss der Staat reagieren kön- gangenheit auch teilweise realisiert haben, stellen nen . Die Zahlen sind genannt worden, und wir werden wir diese rechtssystematischen Bedenken jedoch das in Zukunft mit diesem Gesetz auch tun können . zurück und stimmen den Regelungen zu . Eine Person darf bisher nur dann in Ausreisehaft ge- Auch diejenigen, die bisher eine kritische Positionie- nommen werden, wenn die Ausreise innerhalb von drei rung zu bestimmten Fragen der Innenpolitik eingenom- (B) Monaten realistisch ist, und ich wende mich jetzt auch men haben, sagen: An dieser Stelle wird mit Augenmaß (D) einmal an die Kolleginnen und Kollegen, die es sich mit gehandelt . Wir können dieser Gesetzesverschärfung ihrer Argumentation vielleicht etwas einfach gemacht zustimmen .– Ich glaube, dass das dazu einladen sollte, haben . eine möglichst breite Mehrheit für diese Regelungen zu Hier darf man nämlich einem Fehler nicht erliegen: schaffen, um die Menschen in unserem Land zu schüt- Es wird die Argumentationslinie aufgemacht, man hätte zen . Dies gilt auch für die Menschen, die in jüngster Zeit den Herrn Anis Amri mal eben in Haft nehmen können, zu uns gekommen sind und Schutz vor Terror und Gewalt obwohl man wusste, dass er nach dem Gesetz nicht in- suchen, liebe Kolleginnen und Kollegen . nerhalb der nächsten drei Monate abgeschoben werden kann . Man muss sich hier bei der Argumentation ent- (Beifall bei der SPD) scheiden . Hat man das Gesetz nicht entsprechend auf- Wir werden im Gesetzgebungsverfahren aber auch bereitet, sodass man ihn nicht in Haft nehmen konnte? kritische Punkte ansprechen müssen . Ja, jedem, der von Dann muss man es heute ändern . Und man darf den ver- diesen Maßnahmen betroffen ist und möglicherweise in antwortlichen Sicherheitsbehörden der Länder nachher Abschiebehaft genommen wird, muss der Rechtsweg nicht unterstellen – dieser Vorwurf ist im Innenausschuss in allen Fällen offenstehen. Richtervorbehalte sind an- ja auch gemacht worden –, man hätte das auf Verdacht gesprochen worden . Hier haben wir die Stellungnahme tun können . Nein, auch die Sicherheitsbehörden – die des Bundesrates zur Kenntnis genommen . Wir stehen am Exekutive – sind stets an Recht und Gesetz gebunden . Anfang eines Gesetzgebungsverfahrens, in dem Anhö- Sie müssen sich aber, wie alle Mitbürgerinnen und Mit- rungen folgen werden . bürger in diesem Land, darauf verlassen können, dass wir dann, wenn wir diese Lücken erkennen, das Gesetz Liebe Kolleginnen und Kollegen, dafür sind wir im entsprechend anpassen, und darum geht es . Wir werden parlamentarischen Verfahren verantwortlich. Es ist unse- das ausweiten . re Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Deutschland so bleibt, (Beifall bei der SPD) wie es ist: eines der sichersten Länder der Welt . Darauf können sich die Menschen, liebe Mitbürgerinnen und Es geht nicht darum, pauschal jeden Ausländer zu tref- Mitbürger, auch auf den Tribünen, verlassen . Das ist un- fen . Ein Asylverfahren kann damit ausgehen, dass man sere Aufgabe . Asyl oder ein Recht zum Aufenthalt erhält oder nicht . Es gibt aber auch Menschen, die sich in unserem Land Danke . nichts zuschulden kommen lassen und trotzdem abge- schoben oder zur Ausreise bewegt werden müssen . (Beifall bei der SPD) 22532 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) Vizepräsidentin : einer Abschiebung dienlich ist . Deshalb ist der neue (C) Vielen Dank. – Jetzt hat der Kollege Volker Beck, Haftgrund, den Sie schaffen, rechtlich weiße Salbe, weil Bündnis 90/Die Grünen, das Wort . damit dieses Dilemma in einem Rechtsstaat nicht aufge- löst werden kann .

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja, wir wollen jeden Gefährder loswerden; aber was Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen ein Gefährder ist, ist sehr schwer zu definieren. Am Ende Sie mich eines vorwegschicken: Es wurde von Rednern ist das eine Prognose in die Zukunft . Deshalb ist man in der Großen Koalition, zunächst vom Bundesinnenmi- den rechtlichen Einwirkungsmöglichkeiten beschränkt, nister, betont – diese Auffassung teile ich –, dass viele solange diese Leute keine konkreten Straftaten begangen Menschen hierherkommen, die einen Aufnahmegrund haben, sondern wir das nur glauben und ihnen zutrauen, und damit einen Schutzanspruch haben, weil sie verfolgt dass sie diese begehen . sind . Diesen Schutzanspruch wollen wir verwirklichen . Wir müssen darauf achten – auch das möchte ich Ihnen Wenn Sie nach drei Monaten aufgrund der Voraus- sagen –, dass das Bundesamt für Migration und Flücht- setzungen zu dem Ergebnis kommen, die Abschiebung linge nicht widerrechtliche Bescheide erstellt, durch die konnte nicht durchgeführt werden, dann wird Ihnen die bestimmte Verfolgungsschicksale ignoriert werden, und Verlängerung um weitere drei Monate, die Sie hier im dass diese Fehler erst im Rahmen der Rechtsprechung Gesetz schaffen, nicht viel helfen, weil die Rechtspre- korrigiert werden . chung Sie korrigieren wird . Das Bundesverfassungsge- Es gibt aber auch Menschen, die hierherkommen und richt wird am Ende darauf achten, dass jemand, der un- Asyl beantragen, obwohl sie nicht verfolgt werden und schuldig ist, nicht einfach dauerhaft in Haft genommen keinen Grund haben, hierzubleiben . Wir sind uns selbst- werden kann, wenn es keine Abschiebungsaussicht gibt . verständlich einig, dass die Menschen, die keinen Grund Deshalb müssen Sie Ihre Hausaufgaben machen . Sie haben, hierzubleiben, das Land verlassen sollen und müssen mit den Herkunftsländern reden, auf dass diese müssen . Wir können und sollen rechtsstaatlich alles tun, die Betroffenen zurücknehmen. Das sind die Aufgaben; was dies befördert . aber an diesem Dilemma ändert dieser Gesetzentwurf einfach kein Jota . Der Dissens zeigt sich da, wo es um Regelungen geht, die an der Verfassungswidrigkeit vorbeischrammen, oder (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wo wir über rein symbolische Rechtspolitik reden . Ge- nau das machen Sie hier . Sie tun so, als ob Sie auf den Ähnlich absurd ist das bei Ihrer Fußfesselregelung . schrecklichen Anschlag auf dem Breitscheidplatz, auf Der Hersteller aus Israel selbst, Herr Leo Milstein, der (B) den Fall Amri, rechtspolitisch reagieren würden . Ich habe diese Sachen gern an uns verkauft, sagt, er habe den (D) erstmals nach Ihrer Rede, Herr Castellucci, verstanden, Eindruck, dass die Deutschen nicht richtig verstanden warum Sie diesen komischen Regelungsvorschlägen zu- hätten, wo man Fußfesseln anwenden kann . Im Rahmen stimmen wollen: Sie wollen den Eindruck erwecken, es der Bewährungsauflage haben die Delinquenten selber sei gar nichts schiefgelaufen, es sei alles wunderbar ge- ein Interesse, statt in Haft zu bleiben, in die Freiheit, zur wesen, und es hätte nur an Gesetzen gefehlt . Familie, zur Arbeit zu kommen und sind deshalb koope- rationswillig . Wie will man die islamistisch motivierte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Person dazu motivieren, hier zu kooperieren? Sie hat Es hat aber nicht an Gesetzen gefehlt, sondern an Koope- doch ein gegenläufiges Interesse. Die Praxis hat es tra- ration und an konsequenter Anwendung des geltenden gischerweise vor Augen geführt: Bei dem Attentat von Rechts . Saint-Étienne-du-Rouvray trug einer der beiden Attentä- ter eine Fußfessel . Dieses Attentat konnte damit nicht Natürlich ist der Fall Amri nach § 2 Absatz 14 Ziffern verhindert werden . Selbst Ihr eigenes BKA sagt Ihnen, 1 bis 3 des Aufenthaltsgesetzes einschlägig. Die Voraus- dass das, was Sie hier vorhaben, nicht geeignet ist . setzungen zur Verhängung von Abschiebungshaft haben in diesem Fall eindeutig bestanden . Es gab aber keinen Deshalb: Lassen Sie uns das im Ausschuss noch ein- Informationsaustausch, in dessen Verlauf man hätte sa- mal gründlich anschauen . Wir sollten bei den Bürgern gen können: Angesichts der Voraussetzungen wenden nicht den Eindruck erwecken, dass man mit Drucker- wir dieses Gesetz an, weil die Abschiebungshaft in die- schwärze in Gesetzen Terrorismus wirklich wirksam be- sem Fall sinnvoll ist . kämpfen kann . Wir wollen alle gemeinsam – (Dr . Johann Wadephul [CDU/CSU]: Wer regiert noch mal in Nordrhein-Westfalen?) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Die Frage, die sich dann im Fall Amri stellt – an die- Herr Kollege . sem Dilemma ändern Sie mit Ihren Regelungen zur Ge- fährderhaftung überhaupt nichts –, ist, ob die Vorausset- zungen für Abschiebungshaft nach der Rechtsprechung Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): des Bundesverfassungsgerichts gegeben sind . Abschie- – ich komme zum Schluss –, dass die, die nicht hier bungshaft ist nach der Rechtsprechung des Bundesver- sein dürfen, gehen müssen, und wir wollen alles für die fassungsgerichts nur dann zulässig – sie ist eben keine Sicherheit unseres Landes tun . Strafhaft, und es gibt im deutschen Recht auch keine Präventivhaft –, wenn sie unmittelbar der Durchführung (Sebastian Hartmann [SPD]: Sehr gut!) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22533

Volker Beck (Köln) (A) Ein Beitrag zu diesen beiden Zielen ist dieser Gesetzent- grund für Gefährder und die Verlängerung des Ausreise- (C) wurf sicherlich nicht . gewahrsams auf zehn Tage vorgesehen hat . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Leider hat unser Koalitionspartner diesem Gesetzent- wurf bislang nicht zustimmen können . Das ist die bedau- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: erliche Nachricht . Die gute Nachricht ist, dass wir heute Vielen Dank. – Jetzt hat der Kollege Stephan Mayer endlich die erste Lesung haben . für die CDU/CSU-Fraktion das Wort . (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, er- lauben Sie mir, darauf gerade in Zeiten hinzuweisen, in Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): denen der neue SPD-Vorsitzende wie vor wenigen Wo- Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle- chen in einer bemerkenswerten Rede sinngemäß behaup- ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Zunächst einmal zu Ih- tet, die Gefährdungssituation in Deutschland sei deshalb nen, lieber Kollege Castellucci, nachdem Sie so freund- so prekär, weil die Union den Bundesinnenminister stellt, lich waren, mein klares Plädoyer für eine härtere Gangart und es weitaus besser wäre, wenn endlich die SPD wie- in Sachen Abschiebungen zu erwähnen: Sie haben in ei- der den Bundesinnenminister stellen würde . nem Punkt recht . In diesem Jahr, in den ersten zwei Mo- (Beifall bei der SPD – Sebastian Hartmann naten, liegt Bayern nicht ganz an der Spitze der Bundes- [SPD]: Wo er recht hat, hat er recht!) länder, was das Thema Abschiebungen anbelangt . Aber was Sie geflissentlich unterschlagen haben, zu erwähnen, Eine klare Antwort von mir darauf: Garant für die innere ist, dass beispielsweise das Land Nordrhein-Westfalen, Sicherheit ist die CDU/CSU . In Sachen Innenpolitik und das in diesem Jahr schon etwas mehr Personen abge- in Sachen Sicherheitspolitik macht uns, der CDU/CSU, schoben hat als Bayern, fast fünfmal so viele ausreise- niemand etwas vor . pflichtige Personen im Land hat, die mit einer Duldung (Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck versehen sind. Knapp 48 000 Personen befinden sich im [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Letzt- Land Nordrhein-Westfalen, die an sich das Land heute endlich würde das auf das Gleiche hinauslau- verlassen müssten, aber mit einer Duldung versehen sind . fen! – Gegenruf des Abg . Sebastian Hartmann In Bayern sind es nur etwas mehr als 10 000 Personen . [SPD]: Da hat er also doch recht!) Um es auf Deutsch und klar zu sagen: Es ist keine Kunst, in der Zahl der Abschiebungen etwas über Bayern zu lie- Es ist richtig, dass mit diesem Gesetzentwurf die gen, wenn man in den letzten Jahren das Thema Abschie- Voraussetzungen dafür erleichtert werden, dass ausrei- (B) bungen total verpennt hat, sepflichtige Personen, von denen eine unmittelbare Ge- (D) fahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, (Beifall bei der CDU/CSU) schneller außer Landes gebracht werden können . Um wenn man wie die nordrhein-westfälische Landesregie- auch das einmal klar zu sagen: Wir haben in Deutschland rung über Jahre hinweg das Thema Abschiebungen stief- ungefähr 150 Personen der Preisklasse von Anis Amri, mütterlich behandelt hat . entweder Gefährder oder relevante Personen, die aus- reisepflichtig sind, sprich: die unser Land jetzt verlassen (Dr .Johannes Fechner [SPD]: Der kommt aus müssten, dies aber nicht tun, weil sie sich renitent ver- Baden-Württemberg! Der kommt gar nicht halten und weil sie bei der Identitätsfeststellung oder bei aus NRW!) der Passersatzbeschaffung nicht mitwirken. Es ist richtig, Herr Kollege Castellucci, ich habe aber auch eine gute dass wir jetzt einen eigenen Haftgrund für diese ausreise- Botschaft für Sie: Seitdem in Ihrem Heimatbundesland pflichtigen Personen schaffen. wieder ein CDU-Landesinnenminister das Sagen hat, Lieber Herr Kollege Hartmann, Sie haben darauf hin- sind zumindest die Abschiebungen in Baden-Württem- gewiesen, dass möglicherweise ein Widerspruch dazu berg innerhalb der letzten zwölf Monate deutlich gestie- besteht, dass wir richtigerweise behaupten, dass das Land gen . Das ist ein gutes Signal . Nordrhein-Westfalen schon von der jetzigen Rechtslage (Beifall bei der CDU/CSU) hätte Gebrauch machen können, indem man Anis Amri im August letzten Jahres in Abschiebehaft hätte nehmen Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir können . haben heute endlich die erste Lesung dieses wichtigen Gesetzes . Ich sage deshalb „endlich“, weil zur Wahrheit (Dr . Johannes Fechner [SPD]: Nicht „mögli- auch gehört, dass dieser Gesetzentwurf nicht nur die cherweise“!) Konsequenz und die Schlussfolgerung der Erfahrungen Das stimmt . Ich bin auch der festen Überzeugung, dass des Anschlags vom Breitscheidplatz ist, sondern dass ein es eine Unterlassung war, dass man Anis Amri nicht in Großteil dieses Gesetzes auf Vorschläge des Bundesin- Abschiebehaft genommen hat. Denn die materiellen Vo- nenministers zurückgeht, die er am 11 .August letzten raussetzungen dafür sind schon jetzt vorhanden . Jahres gemacht hat, nach den Anschlägen von Ans- bach, Würzburg und München . Dazu gehört auch, dass Deswegen stimmt die Aussage, man hätte Anis Amri ein Großteil der Inhalte dieses Gesetzentwurfs bereits in Abschiebehaft nehmen können . Aber genauso richtig Anfang Oktober letzten Jahres in einen Gesetzentwurf ist die Aussage, dass wir trotzdem gesetzliche Verbesse- eingeflossen ist, der zum Beispiel den besonderen Haft- rungen vornehmen müssen, um es den Ausländerbehör- 22534 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Stephan Mayer (Altötting) (A) den zu erleichtern, in derartigen Fällen die Abschiebehaft Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (C) zu beantragen. Denn die Vergangenheit hat leider ge- Danke schön . – Als letzte Rednerin zu diesem Ta- zeigt, dass viele Ausländerbehörden vor diesem Antrag gesordnungspunkt hat jetzt die Kollegin Nina Warken, zurückgeschreckt haben, weil nicht sicher war, dass sie CDU/CSU-Fraktion, das Wort . innerhalb von drei Monaten die konkrete Ausreise hätten bewirken können . Ich möchte aber dazusagen, dass die- (Beifall bei der CDU/CSU) se Dreimonatsfrist auf Fälle wie Anis Amri nicht zutrifft, weil Anis Amri sich renitent verhalten und seine nicht Nina Warken (CDU/CSU): erfolgte Ausreise selbst verschuldet hat . Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- legen! Die vergangenen beiden Jahre waren für uns alle, (Beifall bei der CDU/CSU) für unser Land und unsere Bürgerinnen und Bürger, eine große Herausforderung . Hunderttausende Menschen aus Es ist deshalb richtig, dass wir diese deutlichen vielen Teilen der Erde haben in unserem Land Schutz Verschärfungen vornehmen. Wir haben derzeit über und Zuflucht gesucht. Für uns als Union ist klar: Als rei- 213 000 ausreisepflichtigePersonen in Deutschland. Vie- ches Land und als christliches Land wollen und werden le können deshalb nicht abgeschoben werden, weil ihre wir Menschen in Not helfen . Aber ebenso klar ist für uns, Identität nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann . dass wir die Not der Welt nicht allein mit den Mitteln Ich möchte noch etwas zu dem Thema Auslesen des des deutschen Asylrechts werden beheben können . Des- Mobilfunkgeräts sagen. Ich habe überhaupt kein Ver- halb besagen das Grundgesetz und unsere Gesetze ganz ständnis für die aus meiner Sicht sehr künstliche Erre- bewusst nicht, dass jeder Mensch auf der ganzen Welt gung und Entrüstung über diese gesetzliche Änderung . ein Recht darauf hat, in Deutschland zu leben . Unser Es ist doch das Normalste in der Welt, dass man im Asylrecht schert gerade nicht alle Menschen über einen Notfall alle Möglichkeiten auch unter Hinzuziehung des Kamm, sondern enthält ausdifferenzierte Regelungen Handys nutzt, um die Identität einer Person festzustellen . und nimmt den Einzelfall, den einzelnen Menschen und seine individuelle Situation, in den Blick . Beim Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU) amt für Migration und Flüchtlinge wird deswegen nicht nach Schema F entschieden, sondern mit Dolmetschern Dabei geht es nicht darum, meine lieben Kolleginnen und und Gutachtern großer Aufwand betrieben, um in einem Kollegen von der Opposition, in die Intimsphäre des Be- rechtsstaatlichen Verfahren für jeden einzelnen Antrag troffenen einzudringen, sondern es geht zum Beispiel nur eine gerechte Entscheidung treffen zu können. darum, mit welchen Telefonnummern derjenige in der Weil es sich dabei oft um schwierige Abwägungsfra- Vergangenheit häufiger Kontakt hatte, sprich: Hat er mit (B) gen handelt und die Entscheidung für den Einzelnen eine (D) Tunesien telefoniert? Hat er mit Ägypten telefoniert? Hat enorme Tragweite hat, ist es für uns als Rechtsstaat eine er mit Marokko telefoniert? Selbstverständlichkeit, dass man diese Entscheidung vor Es geht nicht darum, auf den Inhalt der Telekommu- Gericht überprüfen lassen kann . Jeder Flüchtling hat das nikation bzw. der SMS-Nachrichten Zugriff zu nehmen, Recht, vor das Verwaltungsgericht zu ziehen, dann ge- sondern es geht schlichtweg nur darum, die Identität fest- gen dessen Entscheidung Rechtsmittel einzulegen und zustellen. Ich sage ganz offen: Ich habe kein Verständnis schließlich sogar eine Verfassungsbeschwerde zu erhe- dafür, dass der Großteil der Migranten, die derzeit zu uns ben . Das ist ein Maß an Rechtsschutz, das auf der ganzen kommen, nicht über einen Pass verfügen, aber fast alle Welt seinesgleichen sucht . Wenn aber dann am Ende eine über ein Handy . rechtskräftige Entscheidung steht, dann gilt sie, und zwar auch dann, wenn sie irgendwelchen linken Aktivisten (Beifall bei der CDU/CSU) nicht gefällt . (Beifall bei der CDU/CSU) Deshalb ist es aus meiner Sicht nur konsequent, dass wir diese Handys zurate ziehen, um die Identität desjenigen Natürlich ist es richtig, den ausreisepflichtigen Menschen feststellen zu können . Perspektiven in ihrer Heimat aufzuzeigen und finanzielle Starthilfe anzubieten . Wenn jemand aber trotz alledem Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wir nicht freiwillig zur Ausreise bereit ist, dann muss unser müssen und werden dieses Gesetzgebungsvorhaben in Staat die Ausreisepflicht durchsetzen. Nur so erhalten der notwendigen Seriosität durchführen . Ich sage aber wir das Vertrauen in unseren Rechtsstaat und die gesell- am Ende meiner Rede sehr ernsthaft und bewusst dazu: schaftliche Akzeptanz unseres Asylrechts aufrecht . Gerade angesichts der immanent großen Bedrohungssi- tuation, in der sich unser Land befindet, dürfen wir uns Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein weiterer klu- nicht zu viel Zeit lassen . Ich habe bereits darauf hinge- ger Baustein in einer vernünftigen Flüchtlingspolitik . wiesen: Ein Großteil der Inhalte geht bereits auf einen Wenn wir die Zahlen sehen – es gibt gegenwärtig über Gesetzentwurf vom Oktober letzten Jahres zurück . Des- 200 000 Ausreisepflichtigein unserem Land –, dann müs- halb ermahne ich uns zu der gebotenen Zügigkeit und sen wir feststellen, dass Handlungsbedarf besteht . Wenn Eile bei diesem wichtigen Gesetzgebungsvorhaben . wir etwa sehen, dass manch ein Geduldeter seine Rück- führung gezielt hintertreibt, indem er falsche Angaben zu Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit . seiner Person oder zu seiner Staatsangehörigkeit macht oder bei der Ausräumung von Ausreisehindernissen nicht (Beifall bei der CDU/CSU) mitwirkt, dann wissen wir, dass wir hier ansetzen und Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22535

Nina Warken (A) den Aufenthalt für diese Menschen räumlich einschrän- Wir, die Union, sind entschlossen, die vor uns liegen- (C) ken müssen . Wer unsere Hilfe will, von dem können und den Herausforderungen besonnen, vor allem aber auch dürfen wir Ehrlichkeit und Mitwirkung erwarten, und das konsequent anzugehen . Ich lade Sie herzlich ein, das Ge- müssen wir als Gesellschaft auch einfordern . Dies bedeu- setz zügig auf den Weg zu bringen . tet auch, dass ein Flüchtling nicht nur mit den Schultern zuckt und sagt, er habe seinen Ausweis verloren, sondern Vielen Dank. dass er den Behörden die Möglichkeit gibt, seine Anga- (Beifall bei der CDU/CSU) ben zu überprüfen . Deshalb ist es in Zeiten der mobilen Kommunikation sinnvoll und erforderlich, dass die Da- ten auf Smartphones und anderen mobilen Datenträgern Vizepräsidentin Ulla Schmidt: überprüft werden . Daraus können sich Hinweise ergeben, Vielen Dank, Frau Kollegin. – Damit ist die Ausspra- woher jemand tatsächlich kommt . Dass der vorliegende che beendet . Gesetzentwurf eine entsprechende Mitwirkungspflicht Zwischen den Fraktionen wurde vereinbart, den Ge- der Asylbewerber vorsieht, ist deshalb folgerichtig . Das setzentwurf auf Drucksache 18/11546 an die Ausschüsse unterstützen wir . zu überweisen, die in der Tagesordnung aufgeführt sind . (Beifall bei der CDU/CSU) Haben Sie dazu anderweitige Vorschläge? – Ich sehe, das ist nicht der Fall . Dann ist so beschlossen . Wenn die zuständigen Behörden die Erfahrung ma- chen, dass sich manche Ausreisepflichtige ihrer Rückfüh- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 k sowie rung entziehen, dann ist es genau der richtige Ansatz, die Zusatzpunkte 1 a bis 1 d auf: Höchstdauer des Ausreisegewahrsams zu verlängern, so- 34 . a) Erste Beratung des von der Bundesregie- dass wir dieser Leute dann habhaft sind, wenn der Flieger rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- abhebt . Eines ist ganz klar: Obwohl wir besser geworden zes zur Modernisierung des Rechts der sind, werden wir im bisherigen Tempo nicht vorankom- Umweltverträglichkeitsprüfung men . Eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund und Ländern ist notwendig . Während sich etwa die rot-grü- Drucksache 18/11499 ne Landesregierung in Schleswig-Holstein aus der Ver- Überweisungsvorschlag: antwortung stiehlt und mit pauschalen Abschiebestopps Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und populistische Wahlkampfmanöver durchführt, verbessert ­Reaktorsicherheit (f) der Bund mit dem Gesetz die rechtlichen Rahmenbedin- Innenausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz gungen für die Länder, und das ist richtig so . Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU) b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Bei alldem ist eines auch klar: Wer unter dem Deck- zes zu dem Abkommen vom 11. Juli 2016 mantel des Asylrechts nach Deutschland kommt, um hier zwischen der Regierung der Bundesrepu- unsere innere Sicherheit zu gefährden, und wer damit die blik Deutschland und der Regierung der große Mehrheit der friedlichen Flüchtlinge in Misskredit Arabischen Republik Ägypten über die bringt, dem zeigen wir klar die Rote Karte . Wir sind ein Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich offenes und ein hilfsbereites Land, aber wir sind auch ein starker Staat, der die Sicherheit seiner Bürger zu schüt- Drucksache 18/11508 zen hat . Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Genau aus diesem Grund erweitern wir die Möglich- Auswärtiger Ausschuss keit der Abschiebehaft für Gefährder, für Menschen, von Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz denen eine große Gefahr für Leib und Leben unserer Bür- Verteidigungsausschuss gerinnen und Bürger ausgeht . Solche Menschen wollen wir nicht in unserem Land . Bis zu ihrer Abschiebung ge- c) Erste Beratung des von der Bundesregierung hören diese Leute nicht auf die Straßen unserer Städte, eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu sondern hinter Gitter . dem Abkommen vom 26. September 2016 zwischen der Regierung der Bundesrepu- (Beifall bei der CDU/CSU) blik Deutschland und der Regierung der Tunesischen Republik über die Zusam- Für die Fälle, in denen es für einen Haftbefehl nicht menarbeit im Sicherheitsbereich ausreicht, schaffen wir die Möglichkeit der elektroni- schen Fußfessel, damit unsere Behörden wissen, wo sich Drucksache 18/11509 diese Gefährder aufhalten, und damit die Gefährder wis- Überweisungsvorschlag: sen, dass wir sie im Blick haben . Damit schützen wir un- Innenausschuss (f) sere Bevölkerung, damit gewährleisten wir die Rückfüh- Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz rung, und damit senden wir ein ganz klares Signal, dass Verteidigungsausschuss wir einen Missbrauch unserer Freiheit nicht dulden wer- den . Dieses Signal wollen wir heute mit diesem Gesetz- d) Erste Beratung des von der Bundesregierung entwurf setzen . Ebenso erwarten wir von den Ländern, eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes dass sie das Ihre tun und Recht und Gesetz umsetzen . zur Änderung des Strafgesetzbuches – 22536 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Stärkung des Schutzes von Vollstre- Aken, weiterer Abgeordneter und der Frak- (C) ckungsbeamten und Rettungskräften tion DIE LINKE Drucksache 18/11547 Atomwaffen aus Deutschland abziehen und Neustationierung stoppen Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Drucksache 18/6808 Innenausschuss Verteidigungsausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit Auswärtiger Ausschuss (f) Verteidigungsausschuss e) Erste Beratung des von der Bundesregie- j) Beratung des Antrags der Abgeordneten rung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Ralph Lenkert, Caren Lay, Herbert Behrens, zu dem Abkommen vom 29. August 2016 weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE zwischen der Bundesrepublik Deutsch- LINKE land und Turkmenistan zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet Abschaffung der Zeitumstellung der Steuern vom Einkommen und vom Drucksache 18/10697 Vermögen Überweisungsvorschlag: Drucksache 18/11557 Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Petitionsausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit Finanzausschuss (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ­Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- f) Erste Beratung des von der Bundesregie- abschätzung rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 8. Dezember k) Beratung des Antrags der Abgeordneten 2016 zwischen der Regierung der Bun- Klaus Ernst, Matthias W . Birkwald, Susanna desrepublik Deutschland und der Euro- Karawanskij, weiterer Abgeordneter und päischen Agentur für Flugsicherheit über der Fraktion DIE LINKE den Sitz der Europäischen Agentur für Einen armutsfesten gesetzlichen Min- Flugsicherheit destlohn sicherstellen Drucksache 18/11558 Drucksache 18/11599 (B) Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: (D) Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Ausschuss für Wirtschaft und Energie Union ZP 1 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung g) Erste Beratung des von der Bundesregie- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur rung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Ausführung der Anlage VI des Umwelt- zur Änderung des Gesetzes zur Verbes- schutzprotokolls zum Antarktis-Vertrag serung der personellen Struktur beim vom 14. Juni 2005 über die Haftung bei Bundeseisenbahnvermögen und in den umweltgefährdenden Notfällen (Antark- Postnachfolgeunternehmen sowie zur tis-Haftungsgesetz – AntHaftG) Änderung weiterer Vorschriften des Post- Drucksache 18/11529 dienstrechts Überweisungsvorschlag: Drucksache 18/11559 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor­ sicherheit (f) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Haushaltsausschuss (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- Innenausschuss abschätzung Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz b) Erste Beratung des von der Bundesregierung h) Erste Beratung des von der Bundesregie- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur rung eingebrachten Entwurfs eines … Ge- Anlage VI des Umweltschutzprotokolls setzes zur Änderung des Strafgesetzbu- zum Antarktis-Vertrag vom 14. Juni 2005 ches – Ausweitung des Maßregelrechts über die Haftung bei umweltgefährdenden bei extremistischen Straftätern Notfällen (Antarktis-Haftungsannex) Drucksache 18/11584 Drucksache 18/11530 Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor­ Innenausschuss sicherheit (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van abschätzung Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22537

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) c) Beratung des Antrags der Abgeordneten schutz auch Änderungen des Rechtspflegergesetzes, des (C) Friedrich Ostendorff, Nicole Maisch, Harald Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in Ebner, weiterer Abgeordneter und der Frakti- den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit so- on BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wie der Grundbuchordnung . Einrichtung eines Bundesprogramms „Zu- Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- gang zu Land – Chancen für neue Betriebe lung auf Drucksache 18/11636, den Gesetzentwurf der ermöglichen“ Bundesregierung auf Drucksache 18/10607 in der Aus- Drucksache 18/11601 schussfassung anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol- Überweisungsvorschlag: len, um das Handzeichen .– Wer stimmt dagegen? – Wer Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beratung mit den Stimmen aller Fraktionen angenom- Kordula Schulz-Asche, Maria Klein- men . Schmeink, Dr .Harald Terpe, weiterer Abge- Dritte Beratung ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem Arzneimittelversorgung an Bedürfnissen Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben .– der Patientinnen und Patienten orientie- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- ren – Heute und in Zukunft entwurf ist damit angenommen . Drucksache 18/11607 Tagesordnungspunkt 35 b: Überweisungsvorschlag: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Ausschuss für Gesundheit (f) richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener- Ausschuss für Wirtschaft und Energie gie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der Bun- Es handelt sich hierbei um Überweisungen im ver- desregierung einfachten Verfahren ohne Debatte. Siebte Verordnung zur Änderung der Außen- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an wirtschaftsverordnung die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen .– Ich sehe, Sie sind damit einverstanden . Drucksachen 18/10829, 18/10924 Nr. 2.2, Dann ist so beschlossen . 18/11214 (B) (D) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a bis 35 h sowie Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verord- Zusatzpunkt 2 auf . Auch hier handelt es sich um die Be- nung auf Drucksache 18/10829 nicht zu verlangen . Wer schlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Ausspra- stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt che vorgesehen ist . dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- lung ist gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke an- Tagesordnungspunkt 35 a: genommen . Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- titionsausschusses, Tagesordnungspunkte 35 c bis 35 h . zes zur Neuordnung der Aufbewahrung von Notariatsunterlagen und zur Einrichtung des Tagesordnungspunkt 35 c: Elektronischen Urkundenarchivs bei der Bun- Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- desnotarkammer onsausschusses (2 .Ausschuss) Drucksache 18/10607 Sammelübersicht 416 zu Petitionen Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Recht und Verbraucherschutz (6. Aus- Drucksache 18/11422 schuss) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Drucksache 18/11636 hält sich? – Sammelübersicht 416 ist einstimmig ange- nommen . Durch die Einrichtung eines Elektronischen Urkun- denarchivs wird die Möglichkeit eröffnet, die Aufbewah- Tagesordnungspunkt 35 d: rungsfrist für parallel in Papierform aufzubewahrende Notariatsunterlagen zu verkürzen . Dies soll zu einer Ent- Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- lastung der angespannten Lagerkapazitäten bei Notaren, onsausschusses (2 .Ausschuss) Amtsgerichten und Staatsarchiven beitragen . Außerdem Sammelübersicht 417 zu Petitionen wird die Zuständigkeit für die Verwahrung von Notari- atsunterlagen nach Erlöschen des Amtes oder Verlegung Drucksache 18/11423 des Amtssitzes neu geregelt . Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Darüber hinaus beinhaltet der Gesetzentwurf in der hält sich? – Sammelübersicht 417 ist einstimmig ange- Fassung des Ausschusses für Recht und Verbraucher- nommen . 22538 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Tagesordnungspunkt 35 e: zwischen der Europäischen Union einerseits und Island (C) und Norwegen andererseits geschaffen, um das Ausliefe- Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- rungsverfahren und den Durchlieferungsverkehr an das onsausschusses (2 .Ausschuss) innerhalb der Europäischen Union eingeführte Verfahren Sammelübersicht 418 zu Petitionen des Europäischen Haftbefehls anzugleichen . Drucksache 18/11424 Wir kommen zur Abstimmung . Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Be- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- schlussempfehlung auf Drucksache 18/11638, den hält sich? – Sammelübersicht 418 ist einstimmig ange- Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa- nommen . che 18/11140 anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Tagesordnungspunkt 35 f: Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- chen .– Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Enthal- onsausschusses (2 . Ausschuss) tung der Fraktion Die Linke angenommen . Sammelübersicht 419 zu Petitionen Dritte Beratung Drucksache 18/11425 und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben .– hält sich? – Sammelübersicht 419 ist gegen die Stimmen Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des Hauses im entwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zu- Übrigen angenommen . vor angenommen . Tagesordnungspunkt 35 g: Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- Aktuelle Stunde onsausschusses (2 .Ausschuss) auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Sammelübersicht 420 zu Petitionen GRÜNEN Drucksache 18/11426 60 Jahre Römische Verträge Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- hält sich? – Sammelübersicht 420 ist mit den Stimmen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Cem Özdemir, Bündnis 90/Die Grünen . – Bitte schön . (B) der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von Bünd- (D) nis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen . Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Tagesordnungspunkt 35 h: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, ich kann im Namen aller hier im Hause sa- Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- gen, dass unsere Herzen gegenwärtig bei den Menschen onsausschusses (2 .Ausschuss) in London sind . We stand together with you against this Sammelübersicht 421 zu Petitionen barbarism . This horrible attack targeted a European capi- tal and the response will be a European one . Drucksache 18/11427 Wie wir alle wissen, heißt der Bürgermeister von Lon- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- don Sadiq Khan . Dies auch an die Adresse all derer, die hält sich? – Sammelübersicht 421 ist mit den Stimmen pauschal von Islamophobie sprechen oder – umgekehrt – der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppo- sich wünschen, dass Muslime in Europa keinen Platz ha- sition angenommen . ben . Beides ist absurd und hat mit der Realität Europas Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf: Gott sei Dank nichts zu tun . Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- (Beifall im ganzen Hause) regierung eingebrachten Entwurfs eines … Ge- Ohne dieses Europa wären wir heute nicht da, wo wir setzes zur Änderung des Gesetzes über die in- sind . Das gilt für unser Land . Das gilt für meine Partei . ternationale Rechtshilfe in Strafsachen Das gilt aber auch für mich ganz persönlich . Dass wir Drucksache 18/11140 Grüne im Jahr 2017 mit einer ostdeutschen Protestantin und einem anatolischen Schwaben an der Spitze in den Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Bundestagswahlkampf ziehen, das wäre ohne Europa si- ses für Recht und Verbraucherschutz (6. Aus- cherlich nicht denkbar gewesen . schuss) Die erste Osterweiterung der Europäischen Gemein- Drucksache 18/11638 schaft fand nicht etwa im Jahr 2004 statt, wie wir häufig Mit diesem Gesetzentwurf soll die strafrechtliche lernen und lesen, sondern bereits im Jahr 1989/90 . Der Zusammenarbeit mit Island und Norwegen verbessert Fall der Berliner Mauer und die deutsche Wiederverei- werden . Dazu werden die erforderlichen Ausführungsbe- nigung haben nicht nur unser Land, sondern auch den stimmungen zu dem Übereinkommen vom 28 .Juni 2006 ganzen Kontinent umgekrempelt – als ein Triumph für Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22539

Cem Özdemir (A) Freiheit, ein Triumph für Demokratie und ein Triumph nicht studiert haben, Menschen, die in Ausbildung sind, (C) für offene Gesellschaften. sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ebenfalls in den Genuss Europas kommen. Deshalb finde ich es eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) großartige Idee, dass man allen zum 18 .Geburtstag ein Für sehr viele Menschen hat sich ein Fenster geöffnet: die freies Interrail-Ticket anbietet . Das wäre ein praktischer Möglichkeit, zu reisen, die Möglichkeit zu Bildung, die Beitrag dazu, dass wir alle Europa erfahren können . Möglichkeit, selber zu entscheiden, welchen Beruf man (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sich aussucht, die Möglichkeit, frei gewählt zu werden, sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und ohne dass der Staat dabei lenkend eingreift . des Abg . [DIE LINKE]) Das ist das Tolle an Europa: Es zeigt, dass man sich Viele hier im Haus wissen vielleicht noch aus eigener Er- der Welt öffnen und trotzdem seine eigene Identität als fahrung, wie das war und wie verändert man zurückge- Schwabe oder was auch immer bewahren kann . Ich kann kommen ist, nämlich mit diesem europäischen Lebens- Schwabe sein, ich kann Deutscher sein, und ich kann Eu- gefühl . ropäer sein. Ich finde das großartig, und das fühlt sich großartig an . Ich finde, wir können den Menschen in Europa gar nicht dankbar genug sein, die sich beim Pulse of Europe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und an diesem Samstag beim March for Europe hoffent- Überzeugte Europäerin aus der Uckermark zu sein, lich massenhaft versammeln und dieses Europa in die schließt sich ebenso wenig aus, wie gleichzeitig leiden- Hand nehmen . schaftlicher – ich weiß gar nicht, wie man das sagt – Meine Damen, meine Herren, ich will zum Schluss sa- Würselener und leidenschaftlicher Europäer zu sein . gen: Ich bin froh, dass wir in einem Land leben, wo wir Beides ist möglich . bei dieser Frage Konsens haben . Wünschen würde ich Mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge vor mir allerdings, dass die Regierung auch Gebrauch davon 60 Jahren haben wir den Rahmen dafür geschaffen, dass macht, dass eine Opposition da ist, die proeuropäisch ist . unsere Demokratie wachsen konnte . 60 Jahre Römische Viele in Europa würden sich wünschen, dass sie eine Op- Verträge, das heißt auch: 60 Jahre Miteinander statt Ge- position haben, die Europa nicht infrage stellt . Wir stehen geneinander in Europa . Darauf, glaube ich, können wir hinter Ihnen . Allein: Machen Sie was draus! alle miteinander stolz sein; denn das ist ein riesiger (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Schatz für unser Land . Umso bedauerlicher ist allerdings, dass die Große Ko- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (B) alition nicht bereit war, diesen feierlichen Anlass, wie wir Vielen Dank. – Bevor ich dem Kollegen Frei für die (D) es uns gewünscht hätten, mit einer vereinbarten Debatte CDU/CSU-Fraktion das Wort erteile, möchte ich noch zu begehen . Das wäre ein Signal gewesen, nach Euro- einmal darauf aufmerksam machen, dass bei aller Be- pa und in unsere Gesellschaft hinein, wie wichtig uns geisterung für Europa in der Aktuellen Stunde die Rede- 60 Jahre Römische Verträge sind. zeit maximal fünf Minuten beträgt – nicht minimal . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Kollege Frei . sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich finde es sehr schade, dass Sie sich dazu nicht durchrin- gen konnten . Thorsten Frei (CDU/CSU): Bei der letzten Debatte, die wir hier im Hause zu die- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sem Thema geführt haben – das war vor zwei Wochen –, 60 Jahre Römische Verträge, das ist vor allen Dingen ging es um Europa, aber es ging auch um das Thema ein Grund zur Freude. 60 Jahre Römische Verträge be- Türkei . Das zeigt, glaube ich: Wenn man über Europa deuten letztlich nichts anderes als 60 Jahre Friede und spricht, dann ist man immer auch beim Thema offene Ge- Freiheit in Europa – und das auf einem Kontinent, der in sellschaften . Als die Türkei der Demokratie den Rücken den vergangenen Jahrhunderten eher durch Kriege, Ver- zuwandte, da hat sie eigentlich de facto auch Europa den wüstung und Elend geprägt war . Noch jede Generation Rücken zugewandt. Als die Türkei anfing, Minderheiten hat es bei uns geschafft, das, was sie sich selber erarbei- und kritische Stimmen massiv auszugrenzen, da hat sie tet hatte, durch Kriege wieder zunichtezumachen . Auch sich de facto auch von Europa ausgegrenzt . Deshalb: wenn man den Blick auf die aktuellen Geschehnisse rich- Wenn wir für offene Gesellschaften eintreten, dann treten tet – die Bedrohungen in der Welt, den Krisenbogen um wir immer auch für Europa ein . Europa herum –, wird deutlich, dass wir das Vermächtnis der europäischen Gründerväter fortzuführen haben und Sie haben vielleicht in Rom und in Krakau studiert, dass die Geschichte unseres Kontinents für uns auch Ver- Sie haben vielleicht eine Schwester in Lissabon, einen pflichtung sein muss. Schwager in Bukarest, Sie haben vielleicht Kinder, die ganz selbstverständlich zum Schüleraustausch nach Hel- Europa ist aber auch Prosperität und Wohlstand . Das sinki, nach Paris gehen, Sie haben vielleicht Arbeitskol- gilt nicht nur für uns Deutsche, die wir als Exportwelt- legen, die aus Budapest oder aus Paris zu uns gekom- meister in besonderem Maße vom Binnenmarkt profitie- men sind . Aber zu dieser Selbstverständlichkeit muss ren . Es gilt auch für viele andere Länder . Ich denke da- noch eine weitere gehören, nämlich dass Menschen, die bei etwa an die ost- und mitteleuropäischen Länder, die 22540 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Thorsten Frei (A) 2004 zu uns gekommen sind und es innerhalb kurzer Zeit rüge, das wir verzweifelt versuchen einzusetzen, zuletzt (C) geschafft haben, von 40 Prozent der durchschnittlichen beim Dienstleistungspaket, aktuell beim Winterpaket . europäischen Wirtschaftsleistung auf 60 Prozent zu kom- Wir stellen aber auch fest, dass das eben ein stumpfes men . Man muss sich nur Polen anschauen: Dieses Land Schwert und nicht das richtige Mittel dafür ist, auszuta- konnte in den ersten zehn Jahren nach dem Beitritt die rieren, wie die politischen Aufgaben zwischen den ein- Arbeitslosigkeit halbieren und das Bruttoinlandsprodukt zelnen Ebenen idealerweise verteilt werden sollten . Da um 50 Prozent steigern . Das alles sind Beweise dafür, brauchen wir andere Ansätze, weil das Europa effektiver, wie wichtig Europa ist und wie substanziell die Fort- effizienter und schlagkräftiger macht und vor allen Din- schritte sind, die wir hier erzielen können . Umgekehrt gen auch die Glaubwürdigkeit stärkt . aber sehen wir gerade am Beispiel Polens, dass dies ein Und wir müssen auch dafür sorgen, dass die Dinge, Land ist, das in besonderer Weise auf die Legitimations-, die wir gemeinsam vereinbart haben, dann auch tatsäch- Sinn- und Handlungskrise Europas hinweist . lich durchgesetzt werden, damit nationale Interessen Letztlich machen die großen Probleme, mit denen wir nicht immer wieder als Erpressungspotenzial eingesetzt konfrontiert sind – Migration insbesondere aus Afrika, werden, um eigene Ziele auf Kosten der Gemeinschaft zu Brexit und viele andere mehr –, immer wieder deutlich, erreichen . Europa ist auch eine Rechtsgemeinschaft, und wie wichtig es ist, dass wir nicht glauben, dass die Er- das muss im Umgang spürbar sein . rungenschaften in Europa für alle Zeiten gesichert sind, Die letzte Bemerkung, die ich machen möchte, ist: sondern wissen, dass wir jedes Mal aufs Neue darum Wir müssen uns immer auch bewusst sein, dass es nicht kämpfen müssen . Das wird hier, glaube ich, in besonde- nur auf Normen und Regelungen ankommt, sondern vor rer Weise sichtbar . allen Dingen auch auf die Menschen . Am Ende des Tages (Beifall bei der CDU/CSU) muss es mehr Menschen geben, die von der Zukunft und der Zukunftsfähigkeit der EU überzeugt sind, als Men- Ich glaube, dass es gerade vor diesem Hintergrund gut schen, die das nicht so sehen . Da darf uns die aktuelle ist, dass die Kommission diesen Geburtstag zum Anlass Bertelsmann-Studie zuversichtlich stimmen, nach der nimmt, darüber nachzudenken, wie denn die Zukunft vier Fünftel der Jugendlichen und jungen Erwachsenen aussehen soll, wie sich Europa weiterentwickeln könnte . in Europa ihre Zukunft genau in dieser Gemeinsamkeit Ich finde den Ansatz richtig, fünf Entwicklungsszenarien sehen . zu erarbeiten, die unterschiedlicher nicht sein könnten, die aber auch Denkanstöße für uns bieten, die uns da- rüber nachdenken lassen, wie man Europa richtig baut, Vizepräsidentin Ulla Schmidt: damit es zukunftsfähig ist und Akzeptanz bei den Men- Herr Kollege Frei . (B) schen findet. (D) (CDU/CSU): Wenn ich ein paar wenige Bemerkungen dazu ma- Thorsten Frei chen darf: Ich glaube, dass es richtig ist, wenn wir uns Vielen Dank – auch für Ihr Verständnis. in Europa auf die wesentlichen Themen konzentrieren (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . und immer auch deutlich machen, wo wir nicht nur einen Christian Petry [SPD]) europäischen Mehrwert haben, sondern wo es vielleicht sogar so ist, dass sich die Herausforderungen ohne Eu-

ropa auf nationaler Ebene gar nicht wirklich bewältigen Vizepräsidentin Ulla Schmidt: lassen . Dabei denke ich etwa an den Binnenmarkt, an die Bitte schön .– Für die Fraktion Die Linke hat jetzt der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, an die Si- Kollege Alexander Ulrich das Wort . cherung europäischer Grenzen und an die Bewältigung (Beifall bei der LINKEN) der Wanderungsbewegungen weltweit . Das alles sind Punkte, bei denen für mich sonnenklar ist, dass sie auf (DIE LINKE): europäischer Ebene sehr viel besser und effektiver gelöst Alexander Ulrich werden können als auf nationaler Ebene . Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 60 Jahre Römische Verträge: Dieses Ereignis hat es Das bedeutet für mich aber gleichzeitig auch, dass tatsächlich verdient, würdig hier im Parlament bespro- wir sehr genau hinschauen müssen, wo Aufgaben idea- chen und diskutiert zu werden . Wir haben gemeinsam lerweise vielleicht nicht auf europäischer Ebene angesie- mit Bündnis 90/Die Grünen im Ältestenrat den Antrag delt sind . Dabei geht es nicht nur um das Austarieren der für eine Vereinbarte Debatte eingebracht. Es ist schade, Verhältnisse zwischen Europa und den Nationalstaaten. dass CDU/CSU und SPD das offensichtlich nicht wollten Man muss da die Länder, die Regionen und die Kommu- und dass es eine von der Opposition beantragte Aktuel- nen genauso mitdenken; denn jedes Haus wird vom Fun- le Stunde brauchte, um darüber zu diskutieren . Es zeigt dament her gebaut . Das gilt auch für das Haus Europa . auch, mit welcher Euphorie diese Bundesregierung Eu- Deshalb ist es entscheidend, dass die nächsthöhere Ebene ropa begleitet . letztlich immer eine Begründungspflicht dafür hat, dass sie eine Aufgabe besser bewältigen kann . (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die europäische Ei- Da, glaube ich, haben wir noch einiges zu tun . Ich nigung nach dem Zweiten Weltkrieg ist wohl die größte denke dabei etwa an das Instrument der Subsidiaritäts- historische Errungenschaft, die die hier im Bundestag Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22541

Alexander Ulrich (A) vertretenen Generationen miterleben dürfen . Die Euro- Schäuble verordnet worden ist . Sie haben sich mit dieser (C) päerinnen und Europäer begegnen sich heute nicht mehr Austeritätspolitik an der europäischen Idee versündigt . auf dem Schlachtfeld, sondern in Städtepartnerschaften, internationalen Universitäten, Austauschprogrammen, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Konferenzen oder auch im Europäischen Parlament . Das neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ist historisch betrachtet eine Sensation . Das Weißbuch, das die Europäische Kommission jetzt (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- auf den Weg gebracht hat, ist ein Beweis dafür, dass neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) man keine grundlegenden Ideen mehr hat . Es ist eine Sammlung von möglichen Wegen, wie man Europa bes- Der Jahrestag der Römischen Verträge ist daher ser gestalten kann . Aber ich sage: Das hängt nicht damit selbstverständlich ein Grund zum Feiern . Wir müssen zusammen, in welchen Geschwindigkeiten man sich in diesen Jahrestag aber auch zum Anlass nehmen, darü- Europa beteiligt, es hängt nicht damit zusammen, ob man ber zu reden, dass die Europäische Union ganz offen- einen eigenen Weg oder mit wenigen anderen Ländern kundig in der tiefsten Krise ihrer Geschichte ist . Wenn zusammen eigene Wege in Europa suchen kann . Die Po- es hierfür noch der Beweise bedarf, dann sind dies die litik in Europa muss sich ändern . Nur das ist der Schlüs- Entscheidung Großbritanniens zum Ausstieg aus der Eu- sel für mehr Europa und für ein besseres Europa . ropäischen Union, die Rechtsentwicklung in vielen Mit- gliedsländern, aber auch antidemokratische Tendenzen in (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) osteuropäischen Ländern oder die Tatsache, dass Europa immer mehr von seinen Werten Abstand nimmt . Das ist, Nicht die Institutionen sind das Problem, sondern die glaube ich, nicht gut . Wir kritisieren zu Recht, dass die Politik, die diese Institutionen betreiben, ist falsch . Sie USA Mauern an der Grenze zu Mexiko aufbauen wollen . muss geändert werden . Wir selbst aber bauen an den Grenzen Europas Mauern – gegenüber Menschen, die auf der Flucht sind und in Eu- (Beifall bei der LINKEN) ropa Hilfe suchen . Auch das muss man an diesem Tag Die Linke wird den mit dem Weißbuch einhergehen- deutlich zum Ausdruck bringen . den Prozess proeuropäisch begleiten . Wir sagen auch Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor wenigen Ta- ganz deutlich: Wir brauchen einen Neustart der Europä- gen war der Infobus des Deutschen Bundestages in Kai- ischen Union. Die Verträge von Lissabon haben leider serslautern, meiner Heimatstadt . Da hat eine junge Schü- den Neoliberalismus als Grundlage in die EU-Verträge lerin, 17 Jahre alt, mit Migrationshintergrund, zu mir aufgenommen . Das muss sich grundlegend ändern . gesagt: Die Friedensidee Europas ist richtig und gut, sie (B) (Beifall bei der LINKEN) (D) reicht aber nicht mehr aus, um die jungen Menschen für Europa zu gewinnen . Die junge Generation glaubt nicht, Abschließend möchte ich – das habe ich auch gestern dass mit dem Ausstieg Großbritanniens die Kriegsgefahr im Europaausschuss gesagt – an die gestrige Rede des in Bezug auf dieses Land wieder größer geworden ist .– neuen Bundespräsidenten erinnern, der deutlich gesagt Die Friedensidee, die Europa bewegt hat, reicht also heu- hat: Demokratie lebt auch davon, dass man Kritik zu- te nicht mehr aus, um die jungen Menschen für Europa lässt, dass kritische Stimmen wahrgenommen werden, zu gewinnen . dass man sich damit beschäftigt .– Aber wie gehen wir in Deutschland und auch in Europa oftmals mit Kritik (Dr .Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE an der Europäischen Union um? Wir kritisieren pauschal, GRÜNEN]: Die jungen Menschen sind eher die Kritiker seien alle Antieuropäer . Wir dürfen die Kri- europabegeistert!) tik an Europa aber nicht immer antieuropäisch verklä- Wir brauchen mehr soziale Gerechtigkeit . Wir müssen ren . Wir müssen den Menschen die Chance geben, für deutlicher machen, dass die EU mehr ist als ein Projekt ein besseres Europa zu kämpfen, ohne stigmatisiert zu der Banken und der Großkonzerne . Wir brauchen ein Eu- werden . ropa der Menschen . (Beifall der Abg . [DIE (Beifall bei der LINKEN) LINKE]) Davon haben wir uns durch die Wirtschaftskrise weiter Deswegen sage ich ganz deutlich: Die Gegner von entfernt als jemals zuvor . TTIP oder CETA sind doch keine Antieuropäer . Sie wol- len keinen Handel verbieten, sie wollen Europa nicht Deshalb sage ich: Was sollen denn die jungen Men- beschädigen, sondern sie wollen einen fairen Handel . schen in Südeuropa denken, wo die Jugendarbeitslosig- Deshalb muss man diese Kritik auch in Zukunft zulassen, keit über 50 Prozent liegt? Der Gedanke, dass Europa liebe Kolleginnen und Kollegen . Wohlstand bringt, wird doch da gar nicht mehr verwirk- licht . Wir erleben gerade auch in Südeuropa, dass viele (Beifall bei der LINKEN) junge Menschen über Generationen keine Chance mehr auf mehr Wohlstand haben. Vielmehr fühlen sie sich ab- gehängt und verbinden das auch mit einer Austeritäts- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: politik, die ihnen von der Europäischen Union und ins- Herr Kollege Ulrich, höchstens fünf Minuten, nicht besondere von dieser Bundesregierung mit Merkel und mindestens . 22542 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) Alexander Ulrich (DIE LINKE): Mitgefühl gilt den Familien der Opfer . Zusammenhalten, (C) Ja .– Deswegen sage ich ganz deutlich: Wer den zusammenstehen – das zeichnet uns in Europa aus . Liebe Rechtspopulisten das Wasser abgraben will, muss die Britinnen und Briten, ihr seid in eurer Trauer nicht al- Sorgen der Bürger ernster nehmen und auch ihre Diskus- lein . Wir stehen an eurer Seite, auch im Kampf gegen den sionen ernst nehmen, Terrorismus . Solidarität, Miteinander – das ist die ein- zigartige Stärke der Europäischen Union, und ihr gehört (Joachim Poß [SPD]: Den Linkspopulisten dazu . Wir sind traurig, dass ihr in Zukunft nicht mehr auch, nicht nur den Rechtspopulisten!) dazugehören wollt . um vielleicht auch in ihrem Sinne die Politik zu verän- dern . Nur dann wird Europa gelingen – sozial, friedlich Das war sicherlich einer der Tiefpunkte, die uns im und demokratisch . vergangenen Jahr erschüttert haben: dass die Bürgerin- nen und Bürger eines Staates zum allerersten Mal in der Vielen Dank. Geschichte des vereinten Europas mehrheitlich sagen, sie wollen nicht mehr dazugehören . Aber wir sollten deshalb (Beifall bei der LINKEN) nicht rückwärtsgewandte Debatten führen, sondern das auch als eine Chance zur europäischen Selbstvergewis- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: serung begreifen . Vielen Dank. – Es ist ja gut, wenn die Emotionen zu Europa so stark sind . Wir müssen natürlich auch selbstkritisch über unser Europa, so wie es sich derzeit darstellt, nachdenken . Jetzt spricht für die Bundesregierung Herr Staatsmi- Streit gehört in Europa immer dazu . Es gehört aber auch nister Michael Roth . dazu, dass wir diesen Streit respektvoll und tolerant aus- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) tragen und dass wir immer wieder versuchen, uns in die Rolle des jeweils anderen Partners hineinzuversetzen, dass wir Europa auch mal mit den Augen des jeweils an- Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt: deren oder der jeweils anderen sehen . Das hilft . Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie viele von Ihnen besuche auch ich Miteinander nach Lösungen zu suchen, ist gelegent- Schulen und suche das Gespräch mit Schülerinnen und lich schwierig; denn Europa beruht auf Vielfalt. Auch Schülern . Kürzlich wurde ich von einer Schülerin gefragt: wir in Deutschland haben Traditionen, wegen derer es Michael Roth, was hat Sie eigentlich zu einem Europäer schwierig war, im Rahmen des Binnenmarktes zu ge- werden lassen? – Ich musste ein bisschen nachdenken . meinsamen Lösungen zu kommen – wenn ich mal an die (B) Dann erinnerte ich mich daran, woher ich gekommen Schornsteinfeger oder auch an den Meisterbrief denke . (D) bin, wo ich groß geworden bin und wo ich aufwuchs . Da ist es auch vielen bei uns in Deutschland schwergefal- Ich bin in Heringen geboren, groß geworden, zur Schule len, auf etwas zu verzichten, was als Stärke unseres Lan- gegangen . Heringen an der Werra liegt in Osthessen, un- des angesehen wurde . Jedes Land hat eigene Traditionen, gefähr 1 Kilometer von der ehemaligen Grenze zur DDR die es vielleicht nur schwerlich aufgeben möchte . entfernt . Wenige Monate vor meinem – ich weiß das noch wie heute – fiel die Mauer. Ich hatte das große Aber trotz allen Streits gehört es dazu, dass man sich Glück, dass ich im Westen groß geworden bin . Aber für an das Gemeinsame erinnert . Was macht uns in Europa mich galt der Song von Udo Lindenberg: „Hinterm Hori- stark, und was macht uns im Kern zu Europäerinnen und zont geht’s weiter“ nicht . – Hinter dem Horizont ging es Europäern? Wir sind nicht in erster Linie ein Binnen- für mich nämlich nicht weiter, weil in Richtung Osten ein markt; wir sind in erster Linie eine Wertegemeinschaft, für mich unbekanntes Land lag . und dieses Wertefundament verpflichtet uns. In Europa (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wollen wir ohne Angst verschieden sein, unabhängig da- NEN]: Da durfte man hinfahren!) von, wen wir lieben, unabhängig davon, an welchen Gott wir glauben oder ob wir überhaupt an einen Gott glau- Daraus habe ich, wie viele Männer und Frauen meiner ben . Das ist das, was Europa stark gemacht hat; Europa Generation, eine Lehre gezogen: Europa ist ein Projekt beruht auf Vielfalt. der Freiheit, ein Projekt, das Zäune und Mauern zu über- winden versucht . Deswegen werde ich mich niemals mit Vielleicht haben wir in den vergangenen Jahren zu einem Europa abfinden, in dem neue Mauern gebaut und wenig daran erinnert, dass dieses Europa eben auch von neue Zäune errichtet werden . gemeinsamen Werten zusammengehalten wird . Diese Werte verpflichten uns alle; aber Europa, die Europäi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sche Union, ist offen für alle, unabhängig davon, welcher der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ Religion, welcher Ethnie oder auch welcher Kultur sie DIE GRÜNEN) angehören . Ja, Europa heißt für mich: nie wieder Krieg, nie wieder Holocaust, nie wieder Faschismus, aber eben auch nie (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wieder Mauern und Zäune . Wir müssen unsere Stimme erheben, wenn politisch Heute sind wir in Gedanken bei unseren Freunden und Verantwortliche in der Europäischen Union einen Satz Partnern in Großbritannien . Wir sind fassungslos über wie diesen sagen: Flüchtlinge gehören nicht zu unserem diesen Terrorangriff. Wir trauern um die Opfer. Unser Land, wir können sie nicht aufnehmen, weil sie Muslime Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22543

Staatsminister Michael Roth (A) sind . – Dieser Satz ist mit den Werten Europas unverein- eben auch teuren Produkte leisten können . Das heißt, (C) bar; wenn es anderen Europäerinnen und Europäern gut geht, geht es uns auch in Deutschland gut . Das muss man wie- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der offensiv vertreten, liebe Kolleginnen und Kollegen. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE er ist mit den Verträgen der Europäischen Union nicht GRÜNEN) vereinbar . Wir brauchen also auch hier, liebe Kollegin- nen und Kollegen, Klarheit . Bei Werten darf es keine Ja, dieses Europa der 28 ist komplizierter geworden; politischen Rabatte geben . Es geht um unsere eigene es ist schwieriger geworden, einen Konsens zu finden. Glaubwürdigkeit . Wie wollen wir auf der globalen Ebene Deswegen ist es vielleicht auch an der Zeit, wieder in- für Menschenrechte, für Demokratie, für die Unabhän- tensiver darüber nachzudenken, wie wir es schaffen, dass gigkeit der Justiz, für die Freiheit der Medien glaubhaft wir uns nicht vom Langsamsten und vom Unwilligsten eintreten, wenn wir einen Zweifel daran lassen, dass wir Richtung und Tempo vorgeben lassen müssen . Das hat diese Werte uneingeschränkt im Inneren der Europäi- nichts mit der Debatte über Kerneuropa zu tun . Wir wol- schen Union achten, respektieren und verteidigen? Wir len keinen Closed Shop, sondern wir wollen ein Europa können nur dann selbstbewusst unsere Werte gegenüber der Mutmacher . Wir wollen, dass Staaten in bestimm- Russland, gegenüber der Türkei, gegenüber und ten Politikbereichen vorangehen und deutlich machen: vielen anderen Staaten dieser Welt vertreten, wenn wir Europäische Lösungen sind am Ende besser, nachhal- selbst diese Werte uneingeschränkt achten . tiger, gerechter und funktionsfähiger als rein nationale Es ist seit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten Lösungen . Diesem Europa der Mutmacher können sich der Vereinigten Staaten von Amerika auf der globalen alle anschließen. Vielleicht bringt das Europa wieder in Ebene nicht leichter geworden . Umso wichtiger ist es, Schwung und zeigt, dass Europa nun wirklich nicht Teil dass wir hier zusammenstehen, mit einer Stimme spre- des Problems, sondern vielmehr Teil der Lösung ist . chen und deutlich machen: „Europa steht für diese Wer- te“ – nicht nur in Sonntagsreden, sondern im Alltag, im Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Kleinen wie im Großen . Herr Staatsminister . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Warum ist es gelegentlich so schwer, Bürgerinnen und Um die wesentlichen Bewährungsproben, mit denen (B) Bürger für Europa zu begeistern? Das mag auch daran wir es derzeit zu tun haben, zu bestehen, reichen, wie ich (D) liegen, dass wir Politikerinnen und Politiker die Debatte das sehe, keine rein nationalen Lösungen aus . Weder im über Europa gelegentlich als eine Verzichtsdebatte ge- Kampf gegen den Terrorismus noch in der Bekämpfung führt haben, auch hier im Bundestag, nach dem Motto: von Fluchtursachen noch in der Vollendung der Europä- Wir müssen als Nationalstaat auf etwas verzichten, wenn ischen Wirtschafts- und Währungsunion noch im Kampf wir Zuständigkeiten auf die Europäische Union verla- gegen Steuerdumping noch in der Stärkung der sozialen gern .– Umgekehrt wird ein Schuh daraus . Wir können Dimension sehe ich allein Deutschland in der Pflicht, ich doch nur auf das verzichten, was wir noch haben . Der sehe uns alle in Europa in der Pflicht. Wir in Deutschland Nationalstaat alter Prägung ist nicht mehr in der Lage, müssen uns besonders anstrengen, dass diese Europäi- die Globalisierung angemessen – demokratisch, sozial sche Union gelingt, dass sie besser und handlungsfähiger und nachhaltig – zu gestalten . Das heißt, wir gewinnen wird; denn Europa war, ist und bleibt unsere Lebensver- über ein handlungsfähigeres, ein demokratischeres, ein sicherung in Zeiten der Krise . Sie ist eine Chance auf et- stärkeres Europa politische Gestaltungsmacht zurück, was Einzigartiges, vor allen Dingen für die jungen Men- die uns auf der nationalen Ebene schon längst nicht mehr schen, die derzeit auf die Straßen gehen . Sie haben meine zur Verfügung steht. Vielleicht können wir so Bürge- Sympathie, sie haben meine Solidarität . rinnen und Bürgern wieder Mut machen und deutlich Vielen Dank. machen, dass wir nichts verlieren, sondern dass wir mit Europa etwas hinzugewinnen . Genau das hat auch unser (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Außenminister kürzlich in einem Namensbeitrag deut- lich gemacht . Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Wie oft muss man hören: Deutschland ist der Zahl- Danke schön . – Als Nächste spricht für die CDU/ meister Europas .– Kein Land hat vom vereinten Europa CSU-Fraktion die Kollegin Ursula Groden-Kranich . so viel profitiert wie die Bundesrepublik Deutschland. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Wir sind stark, weil wir in einem starken und solidari- ordneten der SPD) schen Europa leben . Wir können uns keine Armutsinseln in der Europäischen Union erlauben . Wir leben vom Wohlstand auch in anderen Regionen der Europäischen Ursula Groden-Kranich (CDU/CSU): Union . Unsere Arbeitsplätze, unser Wirtschaftswachstum Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! beruhen auf offenen Grenzen und darauf, dass sich auch Bei der Durchsicht meiner Termine für diese Woche habe Spanierinnen und Spanier, Griechinnen und Griechen ich eine Einladung vermisst, nämlich die Einladung des und viele andere unsere qualitativ hochwertigen, aber Präsidenten des Deutschen Bundestages zu einem Emp- 22544 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Ursula Groden-Kranich (A) fang aus Anlass des 60. Jahrestages der Römischen Ver- Dies alles wäre heute nicht möglich, wenn die Väter (C) träge . Nichts läge mir ferner, als unser Präsidium in die- und Mütter der europäischen Einigung nicht bereit gewe- ser Frage zu kritisieren . sen wären, neue Wege zu beschreiten . Heute können wir auf den Wegen gehen, die diese Generation uns bereitet (Zurufe von der LINKEN: Oh!) hat. Daraus erwächst für uns eine besondere Verantwor- tung . Sicherlich ist der eigentliche Grund für das Ausbleiben dieser Einladung die derzeitige Fastenzeit . Aber gerade Als leidenschaftliche Europäerin darf ich auch fest- der Deutsche Bundestag als eines der europäischsten na- stellen, dass nicht alles in der EU gut läuft . Ja, wir haben tionalen Parlamente in der EU hätte heute Grund zum viele Baustellen . Ja, der Grundsatz, Europa muss groß in Feiern und zur Freude . großen Dingen und klein in kleinen Dingen sein, ist noch nicht bis in jede Ecke des Berlaymont und des Europä- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ischen Parlaments vorgedrungen . Aber, liebe Kollegin- ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ nen und Kollegen, es ist doch unsere Aufgabe, dafür zu DIE GRÜNEN) sorgen, dass dieser Grundsatz eingehalten wird; Kollege Genau das sollten wir viel öfter tun . Wir sollten uns an Frei ist schon darauf eingegangen . dem erfreuen, was wir und die Generationen vor uns in Der informelle Europäische Rat am kommenden Europa erreicht haben . Gerade in der schwierigen Phase, Samstag ist ein weiterer Meilenstein in einem Prozess in der wir uns heute befinden, müssen wir aufhören, zu des Innehaltens und der Selbstprüfung für die Europä- jammern, und müssen die Dinge stattdessen anpacken . ische Union . Die mit dem Weißbuch vorgelegten fünf Wo wären wir denn heute, wenn die Väter und Mütter der Szenarien geben uns eine Möglichkeit, wieder über Eu- europäischen Einigung vor 60 Jahren nur gezaudert hät- ropa zu diskutieren . Europa ist nicht nur ein Friedensga- ten? Sie haben sich anders entschieden . Sie gingen mutig rant . Die Europäische Union ist als Wertegemeinschaft voran, brachen mit tradierten Klischees und Rollenzu- unsere einzige glaubhafte Antwort auf eine sich immer schreibungen und wagten das, was nur wenige Jahre und stärker globalisierende Welt und – ich sage es gerne noch Jahrzehnte vorher undenkbar gewesen wäre: den Prozess einmal – gegen Nationalismus und Ausgrenzung . der europäischen Einigung. Das ist ein historischer Ver- dienst, den man gar nicht hoch genug einschätzen kann . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD und der Abg . Kerstin Andreae Ich selbst bin leidenschaftliche Europäerin, und ich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) weiß auch, warum: Weil meine persönliche Geschichte und die meiner Familie mich dazu gemacht haben . Mein Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir künf- (B) Vater wurde 1931 in Breslau geboren, in einer Zeit, in der tig häufiger über das reden, was Europa in den letzten (D) die Länder unseres Kontinents von einer Welle des Nati- 60 Jahren zu einer besseren Heimat für uns alle gemacht onalismus überspült wurden . In den Wirren des Zweiten hat, dann ist mir um die Zustimmung der Menschen zur Weltkrieges musste er, wie so viele, seine Geburtsstadt EU nicht bange . Dazu müssen wir nur in Europa gemein- verlassen . Er fand in Mainz eine neue Heimat . Gerade sam mutig vorangehen . nach den grauenvollen Erfahrungen des Krieges war es Danke schön . für die Generation meiner Eltern geradezu unvorstell- bar, dass die Menschen in Europa irgendwann nicht nur (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) friedlich nebeneinander koexistieren, sondern auch ge- meinsam ihre Zukunft aktiv gestalten . Die europäische Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Einigung mag vielleicht als Elitenprojekt gestartet sein, Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke hat jetzt der sie wurde aber zu einer Volksbewegung. Kollege Andrej Hunko das Wort . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) Von dieser Volksbewegung hat meine Generation wie- derum ganz maßgeblich profitiert. Grenzen verschwan- Andrej Hunko (DIE LINKE): den mit der Zeit – nicht nur auf dem Land, sondern immer Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir re- mehr auch in den Köpfen . Wie viele andere konnte ich bei den heute über 60 Jahre Römische Verträge; aber noch meinem ersten Schüleraustausch Dijon, die Partnerstadt kein Redner ist bislang auf diese Verträge eingegangen. meiner Heimatstadt, besuchen, Gleichaltrige treffen und Was waren denn die Römischen Verträge? Das waren das Land mit ihnen gemeinsam kennenlernen . Später, im zwei Verträge. Der erste Vertrag war der Vertrag zur Berufsleben, führten mich meine Wege nach Frankreich Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft . und England und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Ja, Frau Groden-Kranich, das war ein Elitenprojekt . auch zum Geburtshaus meines Vaters in Breslau. Wenn man sich den Vertrag anschaut, dann sieht man das. Das ist ein Vertrag, der maßgeblich für große Kon- Der Binnenmarkt mit seinen vier Grundfreiheiten be- zerne geschrieben wurde . reichert doch unser aller Leben ungemein . Weil ich diese guten und positiven Erfahrungen, die mich so geprägt (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: haben, machen durfte, freue ich mich umso mehr, dass Oh! – Ursula Groden-Kranich [CDU/CSU]: meine Tochter derzeit in England zur Schule geht und Wie bitte? Dann haben Sie mir gerade nicht dort Freunde aus aller Welt kennenlernt . zugehört!) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22545

Andrej Hunko (A) Das ist einer der Geburtsfehler der Europäischen Union . große historische Aufgabe sein, dieses gesamteuropäi- (C) sche Haus zu schaffen. Der zweite Vertrag, Herr Özdemir, war der Eura- tom-Vertrag, in dem es um die Schaffung einer mäch- (Beifall bei der LINKEN – Dr . Franziska tigen Atomindustrie in Europa ging . Es wundert mich, Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer dass das alles von Ihrer Seite so gefeiert wird . hat Ihnen denn diese Rede geschrieben?) (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ein zweites Problem, auf das man hinweisen muss, Von Ihrer Seite nicht, oder wie?) besteht darin, dass sich ebenfalls in den 90er-Jahren der neoliberale Charakter der Europäischen Union verstärkt – Den Euratom-Vertrag feiern wir nicht. Wir halten die hat, so in den Verträgen von Maastricht und Lissabon. Schaffung einer mächtigen europäischen Atomindustrie Es ist ein großes Problem in vielen europäischen Län- nicht für zielführend . dern, dass nach einer Bertelsmann-Studie gegenwärtig (Dr .Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE 118 Millionen Menschen von Armut betroffen sind und GRÜNEN]: Sie haben nicht kapiert, was die dass der Anteil der Vollzeit arbeitenden Menschen, die in Europäische Union ist!) Armut leben, wächst . Aber wir halten es für zielführend und für eine große Er- (Zuruf von der CDU/CSU: Das hat doch rungenschaft, dass die Länder, die zwei Weltkriege ge- nichts mit Europa zu tun!) geneinander geführt haben, miteinander kooperieren . Das schafft natürlich den Boden für Rechtspopulisten. (Dr .Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE Der Rechtspopulismus ist die andere Seite des Neolibera- GRÜNEN]: Das ist ein Beispiel für eine Rede, lismus, seine Schattenseite, und diese Orientierung muss die man am besten nicht hält! Schämen Sie aufhören . Wir brauchen ein sozial gerechtes Europa, ein sich für Ihren Auftritt!) integratives Europa, sowohl sozial als auch geopolitisch . Wir halten Integration für zielführend . Das gilt für Frank- (Beifall bei der LINKEN) reich, für Großbritannien, aber auch für Russland . Wenn wir also über die Römischen Verträge reden, (Dr .Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE sollten wir auch über den Inhalt der Verträge reden und GRÜNEN]: Das ist so was von peinlich!) hier nicht nur Sonntagsreden halten . Ich halte das durch- aus für sehr wichtig . Zu einem gemeinsamen europäischen Haus gehören auch eine Kooperation und der Frieden mit Russland . Das will (Beifall bei der LINKEN) (B) ich sehr deutlich sagen . (D) Diese zwei Säulen, einerseits eine Überwindung des (Beifall bei der LINKEN) neoliberalen Charakters der Grundlagenverträge wie des Lissabon- und des Maastricht-Vertrages Ja, es ist eine historische Leistung, dass es eine wirt- schaftliche Integration gegeben hat . (Zurufe der Abg . Annalena Baerbock [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN] und Dr . Franziska (Dr .Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) GRÜNEN]: Unerträglich!) und andererseits eine Entspannung und eine integrative Wir erkennen das an; es ist sehr gut . Aber es ist eben Politik gegenüber dem Osten, umreißen die historische nur ein Teil Europas gewesen . Es waren am Anfang sechs Aufgabe, vor der Europa steht . Ich glaube, darüber müss- Länder . Die Anzahl der Mitgliedsländer ist dann größer ten wir ernsthaft diskutieren . Es ist gut, dass die Europä- geworden . Aber Russland, ein Hauptopfer von zwei ische Kommission jetzt Szenarien entwirft . Ich hielte es Weltkriegen, ist nach wie vor ausgeschlossen, und wir für wichtig, über diese Szenarien zu diskutieren und nicht stehen vor einer neuen Konfrontation und einer neuen nur Sonntagsreden zu halten . Wenn das nicht passiert – Aufrüstung in Europa; auch dies muss man sehr deutlich das sage ich hier auch sehr deutlich –, wird die Krisen- sagen . Wir wollen ein gemeinsames europäisches Haus, haftigkeit der Europäischen Union leider fortschreiten . ein gesamteuropäisches Haus, und nicht einen neuen Wir brauchen diese Debatte dringend . Kalten Krieg mit Russland . Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit . (Beifall bei der LINKEN – Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Russland ist (Beifall bei der LINKEN) gut, und wir sind böse!) Im Juli 1989 hat Michael Gorbatschow in der Parla- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: mentarischen Versammlung des Europarates diese Vision Vielen Dank. – Jetzt hat der Kollege Joachim Poß für eines gemeinsamen europäischen Hauses vorgetragen . In die SPD-Fraktion das Wort . den 90er-Jahren gab es eine historische Chance, es Wirk- lichkeit werden zu lassen . Leider ist das nicht eingetre- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ten, sondern gescheitert, und das hat auch mit der NA- ten der CDU/CSU – Dr . Franziska Brantner TO-Osterweiterung und den dann folgenden Reaktionen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt aber, von russischer Seite zu tun . Es wird nach wie vor eine Herr Poß!) 22546 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) Joachim Poß (SPD): hat recht: Deutschland ist ein Nettoge- (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr winnerland . Das ist aufgrund der oft populistischen und Hunko, Sie haben etwas geschafft, was nicht viele hier opportunistischen Debatte – Sie haben hier ein Beispiel schaffen: Sie haben die Geschichte so verzerrt, wie man dafür geliefert – vielen Menschen in diesem Land nicht es selten in diesem Deutschen Bundestag gehört hat . klar . Das klarzumachen, ist aber unsere Aufgabe, wenn wir uns in der Tradition der Aufklärung sehen . (Inge Höger [DIE LINKE]: Er hat die Wahr- heit gesagt!) Es muss einiges passieren. Verschiedene Mitgliedstaa- ten müssen hierfür Beiträge erbringen . Die Bereitschaft – Das hat mit Wahrheit überhaupt nichts zu tun . Deutschlands, in die eigene Zukunft und damit in die Zukunft Europas zu investieren, muss wachsen . Die Mit- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem telmeerländer müssen sich stärker bei den notwendigen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Strukturreformen engagieren: bei Bildung, Ausbildung, Sie verschleiern die Rolle Putins, dessen Ziel doch offen- Justiz, einer effizienteren Verwaltung, der Bekämpfung kundig ist, Europa zu zerstören, und Sie sind an seiner von Klientelismus und Korruption . Die Beneluxstaaten Seite . als Gründerstaaten müssen endlich ihre skandalöse Steu- erpolitik zulasten der ehrlichen Steuerzahler in Europa (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie beenden . bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des GRÜNEN) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Oder wie sollte ich Ihren Beitrag jetzt interpretieren? Polen und Ungarn müssen realisieren, dass sie zu De- Punktum! Sie stellen sich in eine Reihe mit den Rechts- mokratie und Rechtsstaatlichkeit zurückkehren müssen . extremisten aus der ganzen Welt, deren Schutzpatron Nur so kann es, jedenfalls meines Erachtens, für sie eine Putin de facto ist, Herr Hunko . Darüber müssen Sie sich Zukunft in Europa geben . In diesem Zusammenhang im Klaren sein . muss natürlich auch die rumänische Regierung genannt (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem werden . BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der Sündenfall geschah, liebe Kolleginnen und Kol- legen von der CDU/CSU, schon vor einigen Jahren im Wenn auch die Kritik nicht ganz unberechtigt ist, dass Fall von Ungarn . Das anhaltende Schweigen der kon- es in den 60 Jahren oft ein Elitenprojekt war servativen Europäischen Volkspartei, der CDU und auch von Frau Merkel und die Kumpanei der CSU mit Herrn (B) (Inge Höger [DIE LINKE]: Und noch immer (D) ist!) Orban waren einer der Sargnägel für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Ungarn. Auch das muss man offen und zu wenig getan wurde, um die Bevölkerung in ganz aussprechen . Europa mitzunehmen, muss ich sagen: Ich war als Berg­ arbeiterkind schon mit zehn Jahren von Europa sehr be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- geistert . Also von wegen Elitenprojekt! Ich will damit ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – sagen: Es war in den 50er- und 60er-Jahren ein Projekt Thorsten Frei [CDU/CSU]: Blödsinn!) der Herzen für viele Deutsche, die nicht zurückwollten . Dieses Verhalten hat den Polen Kaczynski zusätzlich (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie ermutigt . Was soll man von der falschen Solidaritäts- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE debatte, die von einigen geführt wird, halten? Was soll GRÜNEN) man davon halten, wenn Herr Kaczynski Solidarität in Verteidigungsfragen einfordert, im Umgang mit Flücht- Das müssen Sie trotz Ihrer Grenznähe – Sie wohnen ja im lingen in Europa aber keine Solidarität zeigt, wenn Herr Dreiländereck – offenkundig noch lernen. Tsipras mangelnde Solidarität beklagt, obwohl sein Land das größte europäische Hilfspaket in der Geschichte be- Wir alle müssen lernen, dass man mit Defensive und kommen hat? Kleinmut den wachsenden Nationalismus nicht in die Schranken weisen kann . Wir haben gute Argumente: (Zuruf von der LINKEN) Meinungsfreiheit, Demokratie, Rechts- und Sozialstaat . – Ja, sicher .– Die in den Niederlanden, Frankreich und Viel zu selten verwenden wir eher egoistische Argumen- Italien geführten Debatten über einen möglichen Exit aus te, sozusagen deutsche Argumente . Europa ist in unserem dem Euro sind ökonomisch und politisch noch absurder eigenen Interesse – Herr Roth hat es angedeutet –: Es als die Grexit-Debatte, die von einigen hier in Deutsch- geht um Arbeitsplätze, viele Arbeitsplätze, die durch ein land geführt wird, auch auf der rechten Seite . zusammenwachsendes Europa hier in Deutschland ent- standen sind . Sicherlich kann es ein Europa der verschiedenen Ge- schwindigkeiten geben, nicht aber ein Europa, das in ver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schiedene Richtungen strebt . Deswegen bin ich sehr ge- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ spannt, wie die Erklärung am 25 .Juni in Rom aussehen DIE GRÜNEN) wird . Wenn unsere Werte dort nicht deutlich beschrieben sind, dann wird es ernst für Europa . So müssen wir die Diskussionen anpacken und nach vor- ne führen . (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22547

(A) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: anzugehen, und man hat gesagt, man streite für das Frie- (C) Vielen Dank. – Die nächste Rednerin ist Annalena densprojekt Europa . Baerbock für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der SPD) NEN): Den politischen Mut, auch gegen die Stimmung im Land Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- zu sagen: „Wir stehen für unsere Werte ein“, brauchen legen! Liebe Gäste! Die EU ist das Wertvollste, was die- wir auch heute . ser Kontinent je geschaffen hat. Konflikte lösen wir am Verhandlungstisch und nicht mehr auf dem Schlachtfeld (Andrej Hunko [DIE LINKE]: Gilt das auch und auch nicht auf Twitter . – Das ist ein Satz, dem je- für Russland?) der hier folgen kann . Das in Festreden zu sagen, ist ein- Das ist unsere Aufgabe als Politiker . fach . Dafür zu werben, wenn einem der Wind ins Gesicht bläst, das ist die eigentliche Aufgabe, vor der wir stehen . Genau dies ist auch der Grund, warum der Brexit so gekommen ist, wie er gekommen ist. Der politische Ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) antwortungsträger hatte diesen Mut nämlich nicht . Ich möchte betonen: Die EU, die europäische Integra- (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) tion, das war nie ein einfaches Projekt . Konrad Adenauer sagte vor 60 Jahren zu der Unterzeichnung der Römi- Als UKIP groß geworden ist – ja, da lachen Sie; schauen schen Verträge: Sie es sich noch einmal an –, hat Cameron gesagt: Oh Gott, wir haben hier Euroskeptiker . Was könnte das für . . die Optimisten, nicht die Pessimisten, haben meine politische Karriere bedeuten? – Anstatt sich hin- recht behalten . zustellen und zu sagen: „Ich streite für Europa“, hat er Charles de Gaulle, Konrad Adenauer und vor allen Din- gesagt: Diese Verantwortung möchte ich nicht überneh- gen Robert Schuman sind damals das politische Risiko men . Ich möchte gerne weiterregieren . Machen wir doch eingegangen. Hätte es den Begriff „Shitstorm“ damals eine Volksabstimmung, aber erst in drei Jahren. Und die schon gegeben, dann wäre er sicherlich ein Euphemis- Regeln für diese Abstimmung interessieren mich eigent- mus für das gewesen, was auf die Vorschläge, die kriegs- lich nicht. – Das ist politisches Versagen, und Sie finden wichtigen Güter der verschiedenen Länder zu verge- das auch noch richtig . Das ist erschreckend! meinschaften, gefolgt ist . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Herr Kollege Hunko, bei allem Respekt möchte ich Sie bei der CDU/CSU und der SPD) (B) (D) an das erinnern, was uns die Geschichte gelehrt hat, und Weil genau dieses politische Versagen in einigen an- deutlich machen, welch großer Mut bei den ehemaligen deren Mitgliedstaaten jetzt wieder droht – da sollten wir Kriegsfeinden vor 60 Jahren erforderlich war, um zu sa- übrigens auch auf Deutschland schauen –, hat der Kom- gen: Wir arbeiten zusammen .– Das war doch eine Lehre, missionspräsident aus meiner Sicht zu Recht gesagt: Ich vor allen Dingen für Deutschland . Was hat die NSDAP zeige euch jetzt einmal auf, welche fünf verschiedenen denn stark gemacht? Es war der damalige Volksentscheid Szenarien es für Europa gibt . Ihr, liebe Mitgliedstaaten, zum Young-Plan . Es sollte in Deutschland nämlich da- ihr, liebe Bürgerinnen und Bürger, aber vor allen Dingen rüber abgestimmt werden, ob die Reparationszahlungen ihr, liebe politisch Verantwortlichen, sollt jetzt einmal da- als Folge des Ersten Weltkrieges geleistet werden soll- rüber diskutieren . ten. Diese Volksabstimmung hat die NSDAP erst stark gemacht . In Anbetracht dieser Lehre aus der Weimarer Ich finde es sehr traurig, dass wir auch in dieser Debat- Republik sollte man nicht kritisieren, dass man nach dem te nicht darüber diskutieren, wo wir eigentlich hinwol- Zweiten Weltkrieg gesagt hat: Wir haben den politischen len, und dass vonseiten der Bundesregierung dazu leider Mut, uns auch gegen die Stimmung im Land in einer eu- nichts zu hören ist . Bei der SPD hat man sich wohl ge- ropäischen Gemeinschaft zu versöhnen .– Das ist doch dacht: Wir haben den Ex-Präsidenten des Europäischen ein historischer Erfolg . Ihn kleinzureden, ist wirklich ab- Parlaments als Kanzlerkandidaten aufgestellt; deshalb solut falsch . brauchen wir zur Zukunft Europas jetzt gar nichts mehr zu sagen . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD) (Lachen bei Abgeordneten der SPD) Ich erwähne hier, wie viel Mut dafür erforderlich war, Vorschläge dazu, ob wir Szenario eins, zwei, drei, vier weil mich wirklich stört, dass heute gerade von politi- oder fünf wollen, habe ich bisher überhaupt noch nicht schen Verantwortungsträgern immer wieder gesagt wird: gehört . Auch von Ihnen, Herr Roth, habe ich gerade lei- Nein, jetzt können wir nicht über Europa reden; die der nichts dazu gehört . Stimmung ist gerade so schlecht. – Vor 60 Jahren war (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Stimmung richtig mies . Die Stimmung war auch sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) nicht rosig, als wir darüber diskutiert haben, ob wir die Deutsche Mark behalten wollen . Die Stimmung war auch Zur Union . Die Kanzlerin hat gesagt, sie sei für ein Eu- nicht toll, als man gesagt hat – ich komme übrigens aus ropa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten . Da denkt –, man wolle eine Osterweiterung nach man: Okay, zumindest hat sie sich einmal getraut .– Wenn Polen. Trotzdem hat man sich getraut, dieses Vorhaben man allerdings genau hinschaut, stellt man fest: Das ist 22548 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Annalena Baerbock (A) eigentlich ein innenpolitischer Schachzug . Sie kleistert Deswegen haben wir über Verteidigung, über eine ge- (C) nämlich zu, dass überhaupt nicht klar ist, wo die Union meinsame Terrorismusbekämpfung, über eine gemeinsa- eigentlich hinwill . Herr Friedrich erklärte letzte Woche me Forschungslandschaft in einer Digitalunion und über hier, er wolle Szenario vier; er will nämlich weniger Eu- eine Energieunion, das heißt, über die Unabhängigkeit ropa . Andere sagen, sie wollen mehr Europa . Und was der Energieversorgung, die auch die Energiewende er- liest man in der FAZ von Herrn Schäuble? Er sagt, unter möglicht, gesprochen . Über diese wichtigen Dinge soll- dem Stichwort „Unterschiedliche Geschwindigkeiten“ ten wir auch weiterhin sprechen – und nicht über das, könne man ganz vieles verstehen: variable Geometrie was vor Ort selbstständig in den Nationalstaaten gemacht oder flexible Geschwindigkeit, Kerneuropa oder Coali­ werden kann . tion of the Willing . Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist doch nicht dasselbe! „Kerneuropa“ heißt, (Beifall bei der CDU/CSU) es gehen einige voran, und der Rest ist außen vor . Das Ich will aber auch sagen: All diese wichtigen Dinge spaltet Europa, und das ist das Ende von Europa! müssen einem Ziel zugeordnet sein, und dieses Ziel ist, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den Frieden in Europa in Freiheit zu stärken . Das bedeu- tet, dass wir nicht nur den Anfechtungen von außen, Herr Wir als Bündnis 90/Die Grünen sagen ganz klar: In den Hunko, denen die Stabilität, die Freiheit und die Rechts- Bereichen, von denen die Menschen sagen: „Hier muss staatlichkeit Europas ausgesetzt sind, begegnen, sondern Europa etwas tun, sozialer werden, ökologischer werden auch im Innern darauf achten müssen, dass die Grund- und für Sicherheit sorgen“, braucht es mehr Europa . Es prinzipien der Freiheit, die sich aus der Rechtsstaatlich- braucht Mut, das zu sagen, weil wir dazu vielleicht auch keit der Demokratien ergibt, durchgesetzt werden . Das Vertragsänderungen benötigen. Denn ohne diese Ver- bedeutet vor allen Dingen – darüber sprechen wir viel zu tragsänderungen werden wir hier nicht vorankommen . wenig, und das ist auch ein Auftrag an die Bildung –: Die Es ist aber unsere Aufgabe, meine sehr verehrten Damen Unabhängigkeit der Verfassungsorgane muss gewähr- und Herren, nach 60 Jahren dafür zu sorgen . In den Be- leistet sein . Das ist eine Aufgabe, die die Europäische reichen, in denen die Menschen dies wollen, brauchen Kommission gegenüber den Mitgliedstaaten durchsetzen wir, wie gesagt, mehr Europa . In den Bereichen, in denen muss . man nur im Rahmen unterschiedlicher Geschwindigkei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ten zusammenarbeiten kann, – der SPD – Dr . Franziska Brantner [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber mit den Mit- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: gliedstaaten! Allein kriegt sie das nicht hin!) Das war gerade ein wunderbares Schlusswort, Frau Was ist Europa für uns? Wir haben es gehört: Für je- (B) Baerbock . (D) den ist Europa auch in seiner Heimat zu spüren . Meine Heimat ist Freiburg im Breisgau . Wenn ich auf den wun- Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- derschönen Turm unseres Freiburger Münsters steige, NEN): einem Beispiel der europäischen Gotik, dann sehe ich – kann man das tun, aber im Rahmen der Verträge; gegenüber die Vogesen und etwas weiter flussabwärts denn sonst ist dies das Ende der Römischen Verträge. das Straßburger Münster, und dann erkenne ich: Das ist Europa . Der Geist der Gotik manifestiert sich auf dem Herzlichen Dank . europäischen Kontinent in diesen wunderbaren Bauwer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ken. Gleichzeitig sehe ich in den Vogesen gegenüber sowie bei Abgeordneten der SPD) den Hartmannswillerkopf . Der Hartmannswillerkopf ist die Blut- und Knochenmühle aus dem Ersten Weltkrieg . Auch das ist Europa . Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Nächster Redner ist der Kollege Matern von Marschall, Wie durch ein Wunder ist trotzdem diese Freundschaft CDU/CSU-Fraktion . zwischen Frankreich und Deutschland zustande gekom- men . Ich bin so dankbar dafür, dass ich unseren französi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- schen Freunden – und ich glaube, wir dürfen das – gerade ordneten der SPD) in diesen Wochen vor der Wahl in Frankreich zurufe: Ne nous quittez pas, nos amis français! Lasst uns nicht allei- Matern von Marschall (CDU/CSU): ne, wir brauchen euch in Europa! Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegin (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Baerbock, ich glaube, wenn wir über die Zukunft Euro- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) pas nachdenken, dann ist ganz offensichtlich, dass wir uns darauf konzentrieren müssen, in Europa die Aufga- Ich glaube, wir kommen ganz alleine nicht zurecht . ben zu erledigen, die nicht in den Nationalstaaten selbst Wir müssen Europa als Friedensgemeinschaft begrei- erledigt werden können . Auf diese Arbeiten müssen wir fen . Wenn ich in den Schwarzwald hinaufschaue, dann Europa begrenzen, und es gibt jede Menge großer Auf- sehe ich dort die Donauquelle . Diese Quelle speist einen gaben, die wir nur gemeinsam und nicht in den Einzel- Strom bis ins Schwarze Meer . An ihm liegen zehn Län- staaten erledigen können, weil sie zu schwach dafür sind . der, von denen nicht alle Mitglieder der Europäischen Union sind . In Serbien und im westlichen Balkan ha- (Dagmar Ziegler [SPD]: Nicht ganz richtig!) ben die Menschen die Schrecken des Krieges noch sehr Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22549

Matern von Marschall (A) unmittelbar in Erinnerung . Auch diesen Menschen darf sam bewältigen lassen. Das Vertrauen der Menschen in (C) und soll die Europäische Union Hoffnung geben; denn die europäische Idee muss also wieder und weiter ge- sie klopfen sehnsuchtsvoll an die Tür dieses Hauses von stärkt werden. Die Römischen Verträge und mit ihnen die Frieden, Freiheit und Sicherheit . zwölf goldenen Sterne strahlen bis heute Zuversicht aus . Wenn wir auf den Rhein schauen und darauf jetzt die Wir halten an unseren europäischen Werten und Idea- vielen Handelsschiffe sehen, die nach Rotterdam und von len fest . Auf Populisten, die die Zeit zurückdrehen wol- dort in die freie Welt fahren, dann sehen wir: Auch der len, haben wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra- Handel ist etwas, was Europa stark macht . Aber stark ten seit über 150 Jahren die gleiche klare Antwort: Wir macht uns in erster Linie dieses Bekenntnis zur Freiheit . wollen ein soziales Europa, und zwar nicht erst seit ges- Dieses Bekenntnis zur Freiheit ist in der Präambel des tern oder heute, Frau Kollegin Baerbock . Grundgesetzes verankert, das in den dunkelsten Stun- den unseres Landes verfasst wurde . In der heißt es: „als (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Annalena gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frieden der Welt zu dienen“ . Tja! Dann müssen Sie auch die Kompetenzen auf die EU übertragen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ Wir wollen europaweite soziale Sicherungsstandards DIE GRÜNEN) und mehr Investitionen, vor allem in gute Arbeit, beruf- liche Bildung und Ausbildung im Kampf gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit . Wir wollen Europa demokrati- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: scher gestalten und das EU-Parlament weiter aufwerten . Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Wir wollen die europäische Integration in der Sozial- und Kollegin Dr . Dorothee Schlegel . Wirtschaftspolitik weiterentwickeln . Die europäische (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Säule sozialer Rechte ist ein erster guter Schritt . Wir ge- der CDU/CSU) hen mit auf diesem Weg zu einem Triple-A-Rating für Europa im sozialen Bereich .

Dr. Dorothee Schlegel (SPD): Auf unserer Wunschliste zum 60 . Geburtstag steht Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Werte aber ganz klar, dass wir ein Europa des größten gemein- Gäste! Seit der Antike wird der Kontinent Europa als samen Nenners wollen . Europa ist so viel mehr als ein Frau dargestellt . Dieser Logik folgend, feiert die Europa Binnenmarkt . Es geht um Sicherheit, um Frieden, es geht der Moderne in diesem Jahr ihren 60 . Geburtstag . Ihre um Bürger- und Menschenrechte, es geht um Demokra- (B) Geburtsurkunde sind die Römischen Verträge – Europa tie und Freiheit . Das sind Errungenschaften in Europa, (D) hat Väter und Mütter –, und wir als überzeugte Europäe- auf die wir stolz sind, für die wir kämpfen und die wir rinnen und Europäer feiern mit ihr . bewahren müssen . Wir feiern im Namen der Aufklärung und der Vernunft (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ein Europa, das von jeher Symbol für die Ideale von Frei- Das Referendum in der Türkei zur geplanten Verfas- heit, Demokratie und Gleichberechtigung ist . Wir feiern sungsreform rückt näher . Wir erleben, dass sehr viele Europa vor allem mit einem Gefühl der Dankbarkeit als türkische Mitbürgerinnen und Mitbürger diese europäi- ein Symbol für 70 Jahre Frieden . Widerstände, Heraus- schen Werte schätzen und nicht nur in Deutschland mutig forderungen und Krisen setzen der europäischen Eini- auch für ein Nein werben . gung hart zu. Vieles davon ist schon genannt worden: der Brexit, die Nachwehen der Finanzkrise, die hohe Anzahl Meine Damen und Herren, vom Vatikan hieß es im an Flüchtlingen und das Erstarken der Nationalisten oder Vorfeld der Feierlichkeiten in Rom, der Mensch müsse Rechtspopulisten . wieder im Mittelpunkt der europäischen Politik stehen, und ich ergänze sehr gern: für Frauen und Männer glei- Trotzdem: Europa ist eine Erfolgsgeschichte, und das chermaßen; denn in Deutschland – wie in vielen anderen europäische Projekt ist lebendig . Jugendliche zwischen Mitgliedstaaten – formieren sich neue konservative und Wien, Warschau, Budapest, Berlin, Lissabon und eben rechtspopulistische Kräfte gegen eine fortschrittliche auch London schätzen Frieden und Freiheit . Dafür gehen Geschlechter- und Familienpolitik . Aber Gleichstellung sie auch wieder auf die Straßen; denn sie schätzen das ist in der EU ein primärrechtlich verankertes Ziel seit grenzenlose Studieren, Arbeiten und Reisen . Die Mehr- 60 Jahren, siehe Artikel 119 der Römischen Verträge heit der jungen Europäerinnen und Europäer steht fest oder heute Artikel 141 des EG-Vertrages. hinter der EU . Aktuelle Umfragen, wie sie auch Kollege Frei schon zitiert hat, bestätigen das . Es gibt also – gene- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rationenübergreifend – viele Europafans . des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, „Europa ist unsere gemein- Daher wollen und müssen wir verhindern, dass same Zukunft“, heißt es in dem Entwurf einer Erklärung Gleichstellung schleichend von der Agenda verschwin- der 27 EU-Staaten, die beim Gipfeltreffen am 25. März det . Die Europa der Moderne wird hierbei den Stier bei 2017 verabschiedet werden soll . Lassen Sie mich er- den Hörnern packen und ihm die Richtung weisen . gänzen: Europa ist unsere Aufgabe und unsere Antwort; Herzlichen Dank . unsere Antwort auf große Aufgaben wie Klimaschutz, Flüchtlingsfrage oder Terrorabwehr, die sich nur gemein- (Beifall bei der SPD) 22550 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Aber was wir nicht brauchen, ist Einmischung in (C) Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt Klein-Klein: Ekelbilder auf Zigarettenschachteln, Iris Eberl das Wort . Feinstaubregelungen aus Brüssel, um nur zwei Beispiele zu nennen . (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE Iris Eberl (CDU/CSU): GRÜNEN]: Gesundheitsschutz!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 60 Jahre Römische Verträge sind eine Das nächste aktuelle Schlagwort, hinter dem sich Pro- lange Erfolgsgeschichte von Frieden und Freiheit, eine bleme verbergen, heißt: Wir brauchen ein soziales Eu- Erfolgsgeschichte der Europäischen Union . Es war eine ropa . Friedensperiode mit wachsendem Wohlstand für alle, die Deutschland die Wiedervereinigung ermöglichte . Die (Dr . Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE Europäische Union hat sich gelohnt, und es lohnt noch GRÜNEN]: Sozial, aber keine Gesundheit!) immer, an ihr festzuhalten, wovon wir alle – fast alle – überzeugt sind . Falsch . Wir haben ein soziales Europa . Trotzdem gibt es genug Stimmen, die einen Austritt (Lachen bei Abgeordneten der SPD und der fordern . Großbritannien wird austreten, wohl wissend, LINKEN) wie schwierig und wie teuer der Prozess der Auseinan- dersetzung werden wird . Inhaltlich benennt Großbritan- Europa ist sozial, weil es aus sozialen Marktwirtschaften nien vor allem zwei Gründe, die seine nationale Hoheit besteht . Jede Nation hat ihre sozialen Sicherungen, abge- betreffen. Es will wieder selbst über die Einwanderung stimmt auf die nationalen Verhältnisse. entscheiden, und es will sich dem EuGH nicht mehr beu- gen . Soziale Sicherungen können nur subsidiär geregelt werden; denn sie müssen dem Bürger effektiv helfen. Auch viele unserer Bürger haben das Vertrauen in die Sein Bedarf wird in seiner Heimat bestimmt . Außerdem Union verloren, bzw. ihr Vertrauen ist erschüttert. Wir ist es keinem Arbeitnehmer in Deutschland zumutbar, für Abgeordnete sind praktisch gläsern, aber der Bürger weiß die Arbeitslosen in Frankreich zu bezahlen . Die gehören nichts über die Richter am EuGH, nichts – oder kaum dem französischen Premier . etwas – über die Entscheidungsprozesse in Brüssel, fast nichts über die Personen, die dort über Europa entschei- Es ist ganz offensichtlich, dass ein europäisches So- (B) den und sich ungebeten in nationale Belange einmischen . zialversicherungssystem für Deutschland unbezahlbar (D) wird . Warum sollten wir dieses Fass ohne Boden haben (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE wollen? GRÜNEN]: Die Ausschüsse sind da alle öf- fentlich! – Dr .Franziska Brantner [BÜND- (Christian Petry [SPD]: Das ist aber nicht NIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Gegensatz zum unsere Auffassung! – Kathrin Vogler [DIE Bundestag kann man sich die alle online an- LINKE]: Das ist aber extrem antieuropäisch!) schauen!) Die Umverteilung von reichen zu armen Ländern Menschen fürchten sich vor Unbekanntem; zu Recht . läuft sowieso seit langem, zum Beispiel mit den nie fäl- Deshalb muss mehr Transparenz eine Forderung für die lig werdenden TARGET-Salden, die von uns nicht steu- Zukunft der Union sein . erbar sind . Wir bauen den BMW . Wir liefern ihn nach Wie es mit der Europäischen Union weitergeht, wird Griechenland . Wir leihen dem Griechen das Geld, damit auch vom Umgangston untereinander abhängen und da- er das Auto bezahlt . Dafür werden wir halbjährlich im von, wie wir mit Freunden umgehen . Noch ist Großbri- Europäischen Semester aus Brüssel gerügt, weil wir zu tannien Unionsmitglied, und es ist ein Freund . Nutzen viel exportieren . wir also den Austrittsprozess Großbritanniens für eine (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: In welcher positive Evaluation unserer Union . Sortieren wir sorg- Welt leben Sie eigentlich?) sam für unser Projekt Europa: Rosinen ins Töpfchen und Fallobst in die Saftpresse . Diese Rüge verrät uns noch ein Problem der Uni- (Dr . Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE on, nämlich Brüsseler Planwirtschaft programmiert mit GRÜNEN]: Rosinen?) Nachfragepolitik . Die Sicherheit der Bürger ist eine Rosine! Gemeinsame (Dr .Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE europäische Verteidigungspolitik, Schutz der Außen- GRÜNEN]: Brüssel als Planwirtschaft? Die grenzen, innere Sicherheit und Terrorbekämpfung – hier Bundesregierung entscheidet doch! Meine erkennt der Bürger auch den Mehrwert der Union . Güte!) (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE Wir brauchen wieder eine Diskussion über Wirtschafts- GRÜNEN]: Solidarität ist keine Einbahnstra- politik . Erfolge für die Bürger gibt es nur dort, wo Frei- ße!) heit und Eigenverantwortung gelten . Einen ganzen Kon- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22551

Iris Eberl (A) tinent durch Bürokratie planwirtschaftlich steuern zu ben . Diesen Mut brauchen wir, so habe ich heute ver- (C) wollen, ist zum Scheitern verurteilt . nommen, auch und gerade in Deutschland . (Dr .Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD) GRÜNEN]: Ja! Warum stimmt dann die Bun- desregierung nicht dagegen?) Parallel zum Europäischen Rat werden Tausende Menschen in Rom und in vielen weiteren europäischen Soll die Europäische Union langfristig weiter existieren, Städten für ein geeintes Europa demonstrieren, so wie müssen wir uns zu Freiheit und Subsidiarität bekennen . es auch die Bewegung Pulse of Europe seit einigen Wo- Ich hoffe, meine Damen und Herren, meine Worte wa- chen jeden Sonntag europaweit macht . Diese Menschen ren konstruktiv . zeigen Mut . Sie ermuntern uns, unsere Zurückhaltung aufzugeben und Europa für uns zu begreifen und weiter- (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE zuentwickeln . GRÜNEN]: Sie waren falsch! – Dr .Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ah- Die vorgestern veröffentlichte Umfrage der - Ber nungslos!) telsmann-Stiftung zeigt, dass die Mehrheit der 15- bis 24-Jährigen in Mittel- und Osteuropa die EU befürwortet Denn die Union ist die kostbarste Erfindung des 20. Jahr- hunderts . Sehen wir sie als Gemeinschaft demokratischer (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE Länder! Respektieren wir jeden einzelnen Wählerwillen! GRÜNEN]: Zwei Drittel!) Auch den aus Ungarn, Herr Poß . und damit Mut beweist . Die Zustimmungswerte liegen (Joachim Poß [SPD]: Ach! Das heißt, Sie sind in allen untersuchten Ländern bei über 70 Prozent, in auch für die Abschaffung von Demokratie und Deutschland sogar bei 87 Prozent . Aber wir sind verzagt . Rechtsstaat!) Wir haben den Mut nicht; die jungen Menschen haben Genießen wir die Vielfalt der Nationen! Pflegen wir un- ihn . sere Europäische Union! Wir haben die Jugend auf un- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des serer Seite . BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Annalena (Dr . Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: GRÜNEN]: Nein! Sie nicht!) Die zwei Jungen klatschen ja auch!) Danke . – Genau, die jungen Menschen applaudieren .– Diese Ju- gendlichen sollten uns motivieren, mutig und konstruk- (B) (Beifall bei der CDU/CSU) tiv über die Zukunft der EU zu diskutieren . Wir müssen (D) nun alle Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Jugend Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Europas ihre eigene Zukunft in Europa gestalten kann . Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Norbert Spinrath . (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Im Weißbuch zur Zukunft der EU stellt die Kommis- sion fünf mögliche Szenarien zur Diskussion . Zwei Sze- narien erteile ich eine ganz klare Absage, nämlich dem (SPD): Norbert Spinrath Rückzug auf den Binnenmarkt und einer Fokussierung Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! auf wenige Politikbereiche . Da unterscheiden wir uns, Sehr geehrte Damen und Herren! Ich teile ausdrücklich Herr Frei und Herr Matern von Marschall . In Ihrer Auf- nicht das, was Frau Kollegin Eberl gerade gesagt hat; zählung kommen die sozialen Standards nicht vor . Nicht ich teile ausdrücklich zunächst einmal die Würdigung einmal der Begriff „sozial“ ist gefallen. Beide Szenarien der Entwicklung, aber auch der Notwendigkeit der Rö- enthalten gravierende Folgen für Sozialstandards, Ar- mischen Verträge und ihres Geistes, die Staatsminister beitnehmerrechte und regionale Entwicklungen . Wer das Michael Roth eben vorgenommen hat . will, zeigt keinen Mut . Wer das will, versündigt sich ge- Am Samstag wird in Rom nicht nur gefeiert, son- gen den Geist der Römischen Verträge. dern mit dem Bratislava-Prozess und dem Weißbuch (Beifall bei der SPD) der Kommission steht nicht weniger als die Zukunft der EU auf der Tagesordnung . Es wird von uns allen schon Frau Eberl, es ist ein bisschen realitätsfremd, auf die seit langem erkannt, dass der Status der Verträge nicht Sozialstandards in den jeweiligen Mitgliedsländern zu mehr ausreicht, um mit den aktuellen Erfordernissen und verweisen . den Herausforderungen der Zukunft umzugehen . Wir sollten nicht so verzagt sein, wie wir es auch manchmal (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- in Deutschland sind . Martin Luther hat sich dazu einst KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- kräftig geäußert . Im Luther-Jahr sollte man ihn zitieren NEN) dürfen, was ich mir jetzt aber versage . Um diese Uhrzeit könnten Kinder zuhören . Sie predigen doch ständig, dass wir Konvergenz – auch bei den Wirtschaftsdaten – brauchen, um alle am größt- Aber lassen Sie uns nicht verzagt sein . Lassen Sie uns möglichen Profit Europas zu beteiligen. Wo bleibt denn Mut zur Weiterentwicklung der Europäischen Union ha- Ihre Forderung nach der Konvergenz der Sozialstan- 22552 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Norbert Spinrath (A) dards? Wir brauchen diese Konvergenz in Europa drin- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (C) gend . Es wurde Zeit, dass Sie zum Ende kommen .– Jetzt hat der Kollege Dr . Christoph Bergner die Gelegenheit, diese (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Debatte abzuschließen . der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Denn die Menschen in Europa profitieren vom höchsten Gut, das Europa ihnen zu bieten hat, nämlich von der Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): Freizügigkeit . Wenn sie diese Freizügigkeit nutzen, müs- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sen wir auch sicherstellen, dass die sehr unterschiedlichen Meine Damen und Herren! Ich zitiere in dieser Debatte Sozialstandards angeglichen werden . Dafür brauchen wir gern folgenden Satz von Wolfgang Schäuble: das soziale Europa, und dafür brauchen Sie endlich Mut . Die europäische Einigung ist vielleicht die bes- (Beifall bei der SPD) te Idee, die die Europäer im 20 .Jahrhundert hat- ten, und gewiss ist sie die beste Vorsorge für unser Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wol- 21 . Jahrhundert . len hin zu einer echten gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsunion . Aber wir wollen auch hin zu einem so- Ich füge aus persönlicher Sicht gerne hinzu: Wenn ich zialen Europa . Der Satz stimmt: Es ist Zeit für mehr Ge- mir vor Augen führe, welche Verpflichtungen ich gegen- rechtigkeit, nicht nur für die Menschen in Deutschland, über der Generation meiner Kinder und Enkel habe, dann weiß ich, dass die Verpflichtung, mich für die Zukunft sondern für alle Menschen in Europa . Europas einzusetzen, eine zentrale Aufgabe ist . So erlebe (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE ich es, und so will ich es auch wahrnehmen . GRÜNEN]: Dann müssen Sie auch Kompe- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- tenzen übertragen!) ordneten der SPD) Lassen Sie uns die besten Ideen und Ansätze der drei Sosehr wir das Recht haben, den Feiertag „60 Jahre verbleibenden Szenarien des Kommissionsweißbuchs Römische Verträge“ mit Dankbarkeit zu begehen und auf aufgreifen, mit eigenen Vorschlägen ergänzen und daraus die letzten 60 Jahre mit Genugtuung zurückzublicken, so ein neues Szenario entwickeln . Lassen Sie uns mit viel sehr sollten wir uns darüber im Klaren sein, welche Pro- Mut an der Gestaltung Europas im Sinne der Menschen bleme uns in den nächsten sechs Jahren erwarten . Wir (B) in Europa dranbleiben . Wer ein gemeinsames europä- sprechen im Europaausschuss über die Bewältigung des (D) isches Haus will, Herr Hunko, ist herzlich dazu einge- Brexit, wir wissen von Zentrifugalkräften in der Euro- laden . Wir waren gemeinsam in der letzten Woche mit päischen Union und vieles andere mehr . Deshalb ist es, einer Delegation des EU-Ausschusses in Moskau . Wer glaube ich, angemessen, dieses Jubiläum einerseits mit uns aber so behandelt wie die dortige politische Ebene, Dankbarkeit für das, was erreicht wurde, aber anderer- sendet keine Signale, dass er ein gemeinsames Haus will . seits auch mit Problembewusstsein für das, was an Auf- Man hat uns die kalte Schulter gezeigt . Ermutigen Sie gaben unmittelbar vor uns steht, zu begehen . Ihre Freunde doch dazu, endlich Gesprächsbereitschaft zu zeigen! Dann können wir weiterreden . So halte ich es für eine gute Fügung, dass zeitgleich mit diesem Jubiläum das Weißbuch des Kommissions- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten präsidenten, der Bratislava-Prozess und der Bericht des des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Europäischen Parlamentes zum Zustand der EU sowie mögliche Perspektiven verabschiedet und beraten wur- Wir brauchen eine Weiterentwicklung in Europa . den . Wer sich mit diesen Papieren beschäftigt, weiß, dass Wenn wir nicht wollen, dass sich die Menschen von Eu- wir die Probleme, die vor uns liegen, nicht allein mit Eu- ropa abwenden, dann müssen wir jetzt den Mut und die phorie – mit Mut schon – bewältigen werden, sondern Bereitschaft zu weiteren gemeinsamen Schritten aufbrin- dass wir sehr viel Nüchternheit brauchen . gen . Sonst wird es bald fünf vor zwölf für die EU sein . Im Sinne dieser Nüchternheit habe ich mir erlaubt, Es ist nicht nur wichtig, Ergebnisse zu veröffentlichen. ein Problem in dieser Debatte aufzugreifen, das mich be- Nein, wir müssen vielmehr über den Weg dorthin öffent- sonders umtreibt und in dem ich die Ursache mancher lich diskutieren . Wir müssen die Menschen in Europa er- Schwierigkeiten der Europäischen Union sehe . Das ist fahren lassen, wie wir Lösungen anstreben und dass die die Frage nach der demokratischen Legitimation, über europäische Politik ihren Alltag und ihre Bedürfnisse in die wir gestern im Ausschuss schon ein wenig diskutiert den Mittelpunkt stellt . Wir müssen die Menschen deut- haben . Um es klar zu sagen: Ich widerspreche jedem, der lich mehr als bisher an der Gestaltung der Europäischen vom Diktat der Kommission spricht, wenn es um Recht- Union beteiligen; denn nur dann können die Menschen setzung geht, die wir als Nationalstaaten der Europäi- Europa als ihr Europa begreifen und dafür mutig und en- schen Kommission übertragen haben . gagiert kämpfen . (Dr .Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten GRÜNEN]: Nein, dem Rat und dem Parla- der CDU/CSU) ment!) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22553

Dr. Christoph Bergner (A) Aber ich kann nicht übersehen, dass die Entscheidun- punkte, wie meinetwegen auch das Interrailticket, das (C) gen in Brüssel oft genug so wahrgenommen werden, als in dem Zusammenhang durchaus einen Beitrag leisten wären sie ein Diktat von oben, kann, Elemente sind, die wir zur Stärkung der Identifika- tion mit Europa brauchen . (Dr . Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von wem? Von Ihnen?) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: und dass sich das Gefühl breitmacht – wenn ich Peter Graf von Kielmansegg zitieren darf –, dass je höher wir Vielen Dank, Herr Dr. Bergner. in den europäischen Institutionen sind, desto dünner die demokratische Luft wird . Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): (Dr . Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE Ein letzter Satz . – Mein Wunsch wäre es, dass wir die- GRÜNEN]: Warum?) ses Jubiläum nicht nur im Rückblick mit Zufriedenheit feiern, sondern dass wir dieses Jubiläum als einen Ar- – Warum ist das so? Es ist so, weil der natürliche Ort beitsauftrag betrachten; denn es liegen schwierige Pro- demokratischer Legitimation die Nationalstaaten und die bleme vor uns, denen wir uns widmen müssen, und zwar nationalen Parlamente sind . nicht nur mit Euphorie, sondern auch mit Nüchternheit (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE und Problembewusstsein . GRÜNEN]: Ach!) Danke schön . Das Europaparlament ist eine großartige Erfindung, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- es ist eine unverzichtbare Institution, aber es ist kein Ort ordneten der SPD) repräsentativer Demokratie,

(Dr . Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsidentin Ulla Schmidt: GRÜNEN]: Warum?) Vielen Dank. – Die Debatte ist etwas länger geworden solange wir kein europäisches Staatsvolk haben und so- als geplant . Aber es ist auch mit viel Leidenschaft gestrit- lange wir nicht davon ausgehen können, dass wir eine ten worden, und das ist gut für Europa, denke ich . Die europäische Öffentlichkeit als Ort gemeinschaftlicher Aktuelle Stunde ist damit beendet . Meinungsbildung haben . Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 32 auf: (Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Und jetzt wollen Sie sie ab- Erste Beratung des von der Bundesregierung (B) schaffen?) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Er- (D) leichterung unternehmerischer Initiativen aus – Werfen Sie mir doch so etwas nicht vor! – Das ist das bürgerschaftlichem Engagement und zum Bü- Dilemma, in dem wir uns bewegen und in dem wir uns rokratieabbau bei Genossenschaften zurechtfinden müssen. Wir dürfen uns auch nicht wun- dern, dass manche Prozesse, mit denen wir uns herum- Drucksache 18/11506 schlagen, entsprechend kompliziert und schwierig ge- Überweisungsvorschlag: worden sind . Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Finanzausschuss Demokratie ist konstitutiv für die Europäische Union, Ausschuss für Wirtschaft und Energie und deshalb müssen wir Lösungen suchen . Ich wünsche Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mir, dass Folgendes in die Debatte über das Weißbuch Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher- mit einbezogen wird . heit Erstens . Stärkung des Subsidiaritätsprinzips – das hat Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Herr Frei schon gesagt –, weil es gewissermaßen ein Ins- Aussprache 38 Minuten vorgesehen .– Ich höre von Ihrer trument ist, die demokratische Willensbildung zu ordnen . Seite keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen . Zweitens . Das politische Mandat der Kommission Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bun- sollte unter den gegebenen Umständen nicht ausgebaut, desregierung hat der Parlamentarische Staatssekretär es muss wohl eher begrenzt werden . Christian Lange . – Bitte schön . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Beifall bei der SPD) Dr . Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie denn?) Christian Lange, Parl . Staatssekretär beim Bundes- Drittens. Die Vision eines europäischen Staatsvolkes minister der Justiz und für Verbraucherschutz: mag eine Utopie sein, aber wir müssen trotzdem bereit Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen sein, uns in diese Richtung zu bewegen . und Kollegen! Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf will die Bundesregierung zum einen die Gründung kleiner (Beifall bei Abgeordneten der SPD) unternehmerischer Initiativen aus bürgerschaftlichem Ich denke, dass Dinge wie die Weiterentwicklung der Engagement erleichtern, indem eine passende Rechts- Unionsbürgerschaft, wie die Verständigung über grenz- form zur Verfügung gestellt wird. Zum anderen geht es überschreitende, gemeinsame kulturelle Identifikations- um Erleichterungen für Genossenschaften selbst . 22554 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Parl. Staatssekretär Christian Lange (A) Beide Teile, freilich, stehen in einem Zusammen- und die regelmäßigen Pflichtprüfungen – die Vermögens- (C) hang; denn die Genossenschaft ist ebenfalls eine ideale lage und die Geschäftsführung überwacht . Dies gibt den Rechtsform für das bürgerschaftliche Engagement . Die Mitgliedern Sicherheit bei ihrem Engagement . alte genossenschaftliche Idee „Was einer allein nicht schafft, das schaffen viele“ gilt auch für Initiativen aus Durch verschiedene bürokratische Erleichterungen bürgerschaftlichem Engagement: Viele Bürgerinnen und soll mit dem Gesetzentwurf auch die Rechtsform der Ge- Bürger tun sich zusammen, um etwas gemeinsam auf die nossenschaft noch attraktiver gemacht werden, insbeson- Beine zu stellen . Genau das wollen wir unterstützen und dere für Kleinstunternehmen . fördern . (Beifall bei der SPD) Diese Bürgerinnen und Bürger tun etwas nicht nur für Zum Beispiel soll künftig bei Kleinstgenossenschaften sich selbst, sondern für die Gemeinschaft, zum Beispiel jede zweite Pflichtprüfung in Form einer kostengünstige- gründen sie einen Dorfladen, schaffen erreichbarere Ein- ren vereinfachten Prüfung stattfinden. Auch soll die Fi- kaufsmöglichkeiten, erhöhen die Lebensqualität auf dem nanzierung von Investitionen durch Mitgliederdarlehen Land, insbesondere für ältere Personen . Die Umwelt wird erleichtert werden . geschont, wenn Autofahrten zu entfernten Supermärkten entfallen. Oft wird ein Dorfladen zu einem sozialen Treff- Meine Damen und Herren, es sind keine tiefgreifen- punkt und stärkt die Dorfgemeinschaft . den Änderungen im Genossenschaftsgesetz vorgesehen . Einige Vorschläge wurden im Regierungsentwurf gegen- Aber auch in Städten kann bürgerschaftliches En- über dem Referentenentwurf etwas abgeschwächt . Aber gagement die Lebensqualität verbessern, zum Beispiel, das Signal ist klar: Auch die Genossenschaft ist eine at- wenn Bürgerinnen und Bürger ein Programmkino in ei- traktive Rechtsform für Unternehmen des bürgerschaftli- ner Kleinstadt oder eine andere Kultureinrichtung über- chen Engagements . nehmen, weil das auf eine Gewinnerzielung angewiesene Unternehmen es nicht mehr tun möchte . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Für solche kleinen Unternehmen aus bürgerschaftli- chem Engagement gilt regelmäßig: Sie werden ehrenamt- Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn Sie eine lich betrieben und haben wenig Geld zur Verfügung. Die Vielzahl anderer Gesetze zu beraten haben und im Hin- Mitglieder wollen die knappen Ressourcen an Zeit und blick auf das Ende der Wahlperiode die Zeit immer knap- Geld so weit wie möglich für die Verwirklichung ihres per wird: Dieses Gesetz sollte noch in dieser Legislatur- Zwecks nutzen und nicht für die Erfüllung von bürokra- periode verabschiedet werden, damit der Gesetzgeber tischen Anforderungen . Bei bürgerschaftlich getragenen zeigt, dass er etwas für ehrenamtliches Engagement in (B) Unternehmen ist es daher oft zu aufwendig und zu teuer, Deutschland tut . (D) den Zweck in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft oder Genossenschaft zu verfolgen . Herzlichen Dank . Auf der anderen Seite ist es den Bürgerinnen und Bür- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gern, die sich ehrenamtlich für ihre Region engagieren, der CDU/CSU) ein Anliegen, dass sie nicht persönlich haften . Unser Ge- setzentwurf sieht deshalb vor, für solche Initiativen aus Vizepräsidentin : bürgerschaftlichem Engagement den Zugang zum rechts- Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Als nächste Red- fähigen Wirtschaftlichen Verein zu erleichtern. nerin spricht Dr . Petra Sitte von der Fraktion Die Linke . (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der LINKEN) Diese Rechtsform verursacht wenig Aufwand und Kosten, und es gibt keine Haftung der Mitglieder . Nach Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): den Erfahrungen in Rheinland-Pfalz hat sich bewährt, Danke . – Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- dass Dorfläden die Rechtsfähigkeit als Wirtschaftlicher ren! Das UNESCO-Welterbekomitee hat im November Verein verliehen wird. Die Verleihungspraxis ist in den des vergangenen Jahres die Idee der Genossenschaften in Bundesländern freilich sehr uneinheitlich . Daher sol- die Liste des immateriellen Weltkulturerbes aufgenom- len künftig die Voraussetzungen für die Verleihung der men . In der Begründung wurde einstimmig erklärt, dass Rechtsfähigkeit an Wirtschaftliche Vereine stärker kon- die Genossenschaftsidee als überkonfessionelles Modell kretisiert und dadurch die Verleihungspraxis stärker auf den Maximen der Selbsthilfe, Selbstverwaltung und vereinheitlicht werden . § 22 des Bürgerlichen Gesetzbu- Selbstverantwortung beruht . ches soll verständlicher gefasst werden, und es ist eine Ermächtigung für eine Rechtsverordnung vorgesehen, (Beifall bei der LINKEN) durch die die Verleihungsvoraussetzungen für Initiativen aus ehrenamtlichem Engagement konkretisiert werden . Weltweit sind über 800 Millionen Menschen in Ge- nossenschaften organisiert . Allein in Deutschland enga- Auch die Genossenschaft ist eine sehr geeignete gieren sich nach Zahlen aus dem Jahr 2015 20 Millionen Rechtsform für bürgerschaftliches Engagement, insbe- Menschen in rund 7 600 Genossenschaften . Genossen- sondere wenn sich die Mitglieder mit nicht unerheblichen schaftliches Agieren hat eine jahrhundertealte Tradition . Geldbeträgen beteiligen wollen; denn bei Genossenschaf- Schon seit dem Mittelalter existieren nachweisbar ge- ten werden – durch die verpflichtende Gründungsprüfung nossenschaftliche Strukturen oder Bestrebungen, die der Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22555

Dr. Petra Sitte (A) wirtschaftlichen und sozialen Förderung ihrer Mitglieder Eine engere Bindung der Geschäftsleitung an die Be- (C) dienen . schlüsse des Vorstandes könnte in vielen Fällen die Zahl der Entscheidungen reduzieren, die „über die Köpfe hin- Ich selbst bin vor vier Jahren Gründungsmitglied ei- weg“ getroffen werden. Wir wissen ja alle, dass es gerade ner Genossenschaft in meinem Wahlkreis geworden, mancher Wohnungsgenossenschaft ausgesprochen gut nämlich der Peißnitzhaus Genossenschaft . Es gibt sicher tun würde, sich in dieser Beziehung wieder zu erden . noch so manchen im Saal, der oder die auch in einer sol- chen Genossenschaft mitarbeitet . Das Peißnitzhaus ist Die Möglichkeit des Justizministeriums, den Wirt- ein ganz wichtiger Pfeiler bei uns für Hallesche Kultur, schaftlichen Verein per Rechtsverordnung nach § 22 für Naherholung . Es bietet zahlreiche Angebote in den BGB wieder einzuführen, könnte – da haben wir unsere Bereichen Umweltbildung, Kunst, Kultur, Konzerte und Bedenken – den Druck auf kooperative Wohninitiativen auch Geschichte. Vor allem ist es eine Genossenschaft, wieder verschärfen . Es wird nämlich befürchtet, dass sie in der Menschen mit Behinderung Arbeit finden. Das ist diese Rechtsform – das können wir ja in der Ausschuss- auch ein Aspekt, den wir dabei mit bedenken sollten . debatte klären – nutzen müssen, statt die Möglichkeit ei- nes eingetragenen und teilweise gemeinnützigen Vereins (Beifall bei der LINKEN) nutzen zu können . Diese Befürchtung ist ja auch nicht So habe ich natürlich mit Interesse die Bestrebungen ganz unbegründet, gibt es doch schon jetzt große Proble- der Bundesregierung verfolgt, bei der Gründung solcher me, sich in das Vereinsregister eintragen zu lassen. Genossenschaften zu Erleichterungen für das Ehrenamt Ich will noch etwas zur Logik der Genossenschaften zu kommen. Im Koalitionsvertrag findet sich dazu auch sagen . Im Bundesjustizministerium, aber auch im Minis- etwas . Es sind ungefähr dreieinhalb Jahre vergangen, seit terium für Wirtschaft und Energie ist man offenbar der der Koalitionsvertrag geschrieben worden ist . Sie mah- Auffassung, dass sich Genossenschaften auch am Markt nen jetzt zur Eile . Nun ja, gut; besser jetzt als gar nicht . bewähren und dass sie mit anderen Anbietern am Markt Das hätte man aber auch schon früher hinbekommen konkurrieren müssen . Das sehen wir ausdrücklich nicht können . so, weil zahlreiche Gründungen eben genau deshalb er- folgen, weil man sich dieser Logik entziehen will . Das (Zuruf des Abg . Dr . Karl-Heinz Brunner sollten wir auch stärken, weil es eben um die Ressourcen [SPD]) vieler zum Wohle aller geht . – Ja, wir haben immer etwas zu meckern; das wissen (Beifall bei der LINKEN) Sie doch . – Im Koalitionsvertrag steht: Die Gründung unternehmerischer Initiativen aus bürgerschaftlichem Ich komme schließlich zu Kitas und Dorfläden: Ja, das sind ganz wichtige Beispiele, wo kollegial und solida- (B) Engagement, zum Beispiel – wie vorhin schon gesagt – (D) Dorfläden, aber auch Kitas, altersgerechtes Wohnen oder risch zusammengearbeitet werden muss und auch wird . Energievorhaben, soll erleichtert werden . Für solche Ini- Jeder von uns kennt diese Beispiele . Insofern ist die tiativen soll eine geeignete Unternehmensform im Ge- ehrenamtliche Arbeit in Genossenschaften bzw . um das nossenschafts- oder Vereinsrecht zur Verfügung stehen. Genossenschaftswesen herum eine ganz wichtige Aufga- Vor allem sollen dabei, wie schon zitiert, unangemesse- be . Sie darf aber natürlich soziale Daseinsvorsorge oder ner Aufwand und Bürokratie vermieden werden . – Al- andere Aufgaben und Verantwortungen des Staates nicht lerdings ist unsere Befürchtung: Der Gesetzentwurf, den ersetzen . Darüber sollte man sich im Klaren sein, wenn wir hier beraten, wird das weder gut noch deutlich besser man über diese Konstrukte diskutiert . tun . Insofern werden wir also im Ausschuss schauen, was Das derzeitige Genossenschaftsgesetz – da sind wir sich dort machen lässt . Wo es eben möglich ist, Menschen uns wohl einig – ist überorganisiert und ziemlich unde- mit ihrem bürgerschaftlichen Engagement bzw . in ihrem mokratisch verfasst . Man könnte sogar sagen: Es verhin- Ehrenamt zu unterstützen, da sollte sich das in diesem dert in manchen Fällen die genossenschaftliche Selbst- Gesetz auch niederschlagen. Vor allen Dingen sollten die hilfe und Solidarität . bürokratischen Hürden reduziert werden . (Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Eigentlich ist Danke schön . genau das Gegenteil der Fall! Jedes Mitglied (Beifall bei der LINKEN) hat eine Stimme!) – Ich rede doch über das bisherige, das in der Kritik steht; Vizepräsidentin Michaela Noll: das ist ein feiner Unterschied . Als nächster Redner hat das Wort Marco Wanderwitz von der CDU/CSU-Fraktion . (Marco Wanderwitz [CDU/CSU]: Auch im bisherigen ist das so!) (Beifall bei der CDU/CSU) Die alleinige Leitungsmacht des Vorstands nach dem Ge- (CDU/CSU): nossenschaftsgesetz muss eingeschränkt werden, und die Marco Wanderwitz Mitbestimmungsmöglichkeiten und Rechte der Mitglie- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen der und der Generalversammlung sollten gestärkt wer- und Kollegen! Zehntausende Bürgerinnen und Bürger den . engagieren sich in unserem Land täglich ehrenamt- lich miteinander und füreinander . Als Erstes fallen uns (Beifall bei der LINKEN) da Feuerwehren und Vereine aller Art – zum Beispiel 22556 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Marco Wanderwitz (A) Sportvereine – ein, aber eben auch Initiativen wie bei- Wir haben im Koalitionsvertrag einen Prüfauftrag ver- (C) spielsweise kleine Dorfläden sowie Kitas, die sich in der einbart und wollen schauen, inwieweit Handlungsbedarf Trägerschaft von Elternvereinen befinden. Ich nenne in besteht und wo wir gegebenenfalls weitere Erleichterun- diesem Zusammenhang weiterhin folgende Stichwörter: gen am sinnvollsten abbilden können, ohne in bewähr- altersgerechtes Wohnen, Energievorhaben, Eltern- und te Systeme zu tief und zu grundlegend einzugreifen . An Nachbarschaftsinitiativen usw . usf . dieser Stelle gleich einmal gesagt: Ich halte das Genos- senschaftsgesetz für sehr bewährt . Es gibt sicherlich im- Viele dieser städtischen, aber auch ländlichen Initia- mer gewisse Dinge zu verbessern, aber die doch relativ tiven werden wirtschaftlich insbesondere dort tätig, wo fundamentale Kritik, die hier geäußert wurde, teile ich einerseits der Markt Teile der Daseinsvorsorge nicht nicht . Das für das Genossenschaftswesen zuständige gewährleisten kann oder will oder wo es eben der Staat Bundeswirtschaftsministerium hatte zu Beginn der Le- auch nicht kann bzw . sich damit schwertut . Die bekann- gislaturperiode eine Studie mit dem Titel „Potenziale testen solcher Initiativen, deren Zweck auf einen wirt- und Hemmnisse von unternehmerischen Aktivitäten in schaftlichen Betrieb in geringem Umfang gerichtet ist, der Rechtsform der Genossenschaft“ in Auftrag gegeben . sind eben die genannten Dorfläden, wo der Einzelhandel Das war einer der Gründe – erst einmal anschauen, dann auf dem flachen Land – ich glaube, viele von uns kennen vorlegen –, warum es nicht gleich zu Beginn der Legisla- das aus ihren Wahlkreisen – keine Gewinne erwirtschaf- turperiode zu einem Gesetzentwurf kam . ten kann . Dort schließen sich nicht selten die Einwohner- innen und Einwohner zusammen, um sich die gewohnten Meine Lesart der Studie: Mehr als 90 Prozent der Be- kurzen Wege und die damit verbundene Lebensqualität fragten sind zufrieden mit der gewählten Rechtsform und zu erhalten . lehnen Änderungen am genossenschaftlichen Prüfungs- und Beratungsansatz ab . Eine große Mehrheit bewer- Dorfläden werden heute beispielsweise als Unterneh- tet Vorteile wie Vertrauen und Sicherheit höher als die mensgesellschaft, als rechtsfähiger Wirtschaftlicher Ver- Kostennachteile, die die Rechtsform Genossenschaft mit ein oder eben als Genossenschaft gegründet . Die Genos- sich bringt . Selbst Kleinstgenossenschaften wie Dorf­ senschaft stellt auch aus meiner Sicht eine sehr sinnvolle läden mit geringfügiger wirtschaftlicher Tätigkeit, die Rechtsform für diese Initiativen dar . Ein Austritt von Mit- dieser Gesellschaftsform unterliegen und befragt wur- gliedern ist sehr unkompliziert möglich . Die Mitglieder den, fordern mit Blick auf die Kosten mehrheitlich keine haften nicht persönlich . Und es gilt der genossenschaft- generelle Abschaffung von Pflichtmitgliedschaft und Ab- liche Grundsatz: Ein Mitglied, eine Stimme . Der schützt schlussprüfung, und jeder zweite Betreiber der so organi- beispielsweise davor, dass Investoren in irgendeiner Art sierten und befragten Dorfläden sagt, die Gründungsprü- und Weise einsteigen und dominieren können . fung verhindere unternehmerische Fehlentscheidungen (B) Die Rechtsform der Genossenschaft ist jedoch für früh . Insofern sind nach meiner Lesart eher nur kleinere (D) kleine Unternehmen, wo weniger für den Gewinn als Eingriffe im bewährten Genossenschaftsrecht zu recht- gegen den Verlust gewirtschaftet wird, nicht immer at- fertigen . traktiv . Da gibt es zum einen die Kosten der Gründungs- Der vorgelegte Gesetzentwurf sieht einerseits Maß- prüfung, zum anderen Mitgliedsbeiträge beim genossen- nahmen im Genossenschaftsrecht, andererseits im schaftlichen Prüfungsverband oder auch die Kosten für Vereinsrecht vor. Insbesondere die Änderungen im regelmäßige genossenschaftliche Pflichtprüfungen. Des- Vereinsrecht hat Kollege Lange schon umfänglich aus- halb haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart – Kollege geführt . Wir sind der Meinung, dass das gut angelegte Staatssekretär Lange hat es schon dargestellt –, die Grün- Regelungen sind . Wir unterstützen diese ausdrücklich . dung unternehmerischer Initiativen aus bürgerschaftli- Skeptischer bin ich bezüglich der Änderungen, die das chem Engagement zu erleichtern . Genossenschaftsrecht betreffen. Das betrifft insbeson- Die Inhalte eines Koalitionsvertrages werden so ab- dere den neu eingefügten § 53a Genossenschaftsgesetz . gearbeitet, dass gewisse Dinge zu Beginn, gewisse Din- Dort sind Pflichtprüfungen in der normalen Form, wie ge zur Mitte und gewisse Dinge zum Ende an die Reihe sie bisher jährlich stattfinden, nur noch jedes zweite Jahr kommen . Das ist, glaube ich, in jeder Koalitionsregie- vorgesehen . In den Jahren dazwischen soll es zu ver- rung so, egal wer daran beteiligt ist . einfachten Prüfungen kommen . Klar, die vereinfachten Prüfungen bedeuten ein Weniger im Verhältnis zu den (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Die einen regulären Pflichtprüfungen, wie wir sie jetzt kennen. Wir sind halt schneller, die anderen nicht!) sollten zumindest sehr genau hinschauen, ob diese Ände- – Ja, mir sind aber keine Koalitionen aus den Ländern rung im Genossenschaftsrecht eine gute Idee ist oder ob bekannt, an denen die Linkspartei beteiligt ist und die im sie nicht dem Vertrauen in die Genossenschaft als beson- letzten Jahr nichts mehr aus ihrem Koalitionsvertrag ab- ders insolvenzfester, besonders gut geprüfter und berate- zuarbeiten gehabt hätten . ner Unternehmensform schadet . Aber ich glaube, wichtig ist, dass wir jetzt an dieser Vorgeschlagen ist zudem, dass eine Befreiung von der Stelle noch tätig werden, dass es jetzt den Gesetzentwurf Jahresabschlussprüfung für Genossenschaften mit einer gibt und dass wir ihn, so hoffe ich zumindest, auch in den Bilanzsumme von unter 1,5 Millionen Euro und einem Ausschussberatungen zu einem guten Ergebnis führen . Umsatzerlös von unter 3 Millionen Euro stattfinden soll. Das würde bedeuten, dass zu den 50 Prozent der Gesell- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . schaften, die jetzt schon von dieser Jahresabschlussprü- Dr . Karl-Heinz Brunner [SPD]) fung befreit sind, noch weitere dazukommen würden . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22557

Marco Wanderwitz (A) Auch mittelgroße Gesellschaften würden dann künftig fahrungen . Ganz wichtig ist: Wir machen die Wirtschaft (C) nicht mehr diesen Regelungen unterliegen . Damit würde demokratischer . All das zusammen wollen wir; denn wir ein Stück weit weniger genau hingeschaut und beispiels- wollen eine wertebasierte Wirtschaft, die für die Men- weise in Frühphasen nicht mehr erkannt, dass es unter- schen da ist und nicht umgekehrt . nehmerische Fehlentwicklungen gibt . Deswegen wollen wir in den Ausschussberatungen insbesondere diese bei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Punkte noch einmal sehr genau thematisieren . sowie der Abg . Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]) Die Verordnungsermächtigung ist bereits angespro- Deshalb fordern wir Grüne schon seit vielen Jahren, chen worden . Wir sind der Meinung, dass es ideal wäre, die Bedingungen für genossenschaftliches Wirtschaften wenn es uns gelänge, im Zuge des Gesetzgebungsver- zu stärken . Wir haben Anträge verfasst, beispielsweise fahrens dieses Thema mit abzuräumen . Das heißt, dass „Kleine und Kleinstgenossenschaften stärken, Bürokra- wir entweder im Gesetz festschreiben, was die genauen tie abbauen“, zuletzt einen Antrag zum Thema „Share Kriterien sind, oder dass wir uns als Gesetzgeber alter- Economy“ . Wir wollen Betriebe haben, die teilen statt nativ die Verordnung gleich mit anschauen und sie dann besitzen . Wir wollen auch das E-Government stärken und in unmittelbarer zeitlicher Nähe in einer auch vom Par- für Hilfe sorgen, um den analogen Prozess in das digitale lament diskutierten und gebilligten Form verabschiedet Zeitalter zu überführen, weil genau das den Kleinen sehr werden kann . viel Arbeit macht . Wir wollen uns für das Prinzip „Ein Mitglied, eine Stimme“ einsetzen; denn das entspricht Wir haben eine gute Chance, in einem zeitlich gar dem genossenschaftlichen Demokratieprinzip und dem nicht so weit auseinanderliegenden Verfahren zu einer Grundsatz der Selbstverwaltung . All das wollen wir ge- guten Lösung zu kommen, damit Initiativen wie bei- meinsam stärken . Wir wollen es auch deswegen tun, weil spielsweise Kitas oder Dorfläden als Kleinstgenossen- wir mit unserer Wirtschaftsweise schlechte Erfahrungen schaften, aber auch als Vereine künftig noch ein Stück gemacht haben. Ich erinnere nur an die Weltfinanzkrise leichter und ein Stück besser arbeiten können . Wir haben von 2007/2008 . Seitdem gibt es wieder eine Renaissance uns das fest vorgenommen und freuen uns auf die parla- des genossenschaftlichen Modells, weil viele den Weg mentarischen Beratungen hier im Haus . des Finanzkapitalismus nicht gehen wollen . Sie wollen (Beifall bei der CDU/CSU) Alternativen aufbauen, die für Wertschöpfung in der Re- gion sorgen . Dafür stehen wir . Vizepräsidentin Michaela Noll: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächstes kommt der sowie der Abg . Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]) (B) Redner Dieter Janecek von der Fraktion Bündnis 90/Die (D) Grünen . Ich komme auf Ihren Gesetzentwurf zu sprechen . Sie haben einige Ziele benannt . Wir sind auch noch bei der künftigen Anhörung im Gespräch . Wir werden uns heute Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): noch nicht abschließend zu diesem Gesetzentwurf ver- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Gemeinsam mehr er- halten, weil es eine rechtlich komplizierte Situation ist, reichen – das ist der Grundgedanke der Genossenschaf- die wir zu bewerten haben . Aber ich will einige Dinge ten . Sie haben ja auch schon viel erreicht: die Energie- ansprechen . Sie wollen zum einen, dass es sehr kleinen wende in der heutigen Form, letztlich auch den Ausstieg Genossenschaften zukünftig ermöglicht wird, jede zwei- aus der Atomenergie, den wir heute schon in der Endla- te Pflichtprüfung in Form einer vereinfachten Prüfung gerdebatte thematisiert haben . Das alles wäre ohne ge- durchzuführen . Das begrüßen wir uneingeschränkt . Das nossenschaftliches Engagement nicht gegangen, bei dem finden wir gut. Wir hätten allerdings auch bei einer Erhö- sich viele Hunderttausend Menschen für gemeinsame hung der Grenzen der Bilanzsumme – beispielsweise von Ideale eingesetzt haben . 2 Millionen Euro auf 4 Millionen Euro – für verpflich­ tende Jahresabschlussprüfungen ansetzen können . Auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) diesen Vorschlag sind Sie nicht eingegangen. Wir hätten Ich komme aus München . Ich merke auch dort, dass uns hier gewünscht, dass Sie mehr Spielraum schaffen. viele Leute mithelfen, zum Beispiel die Landwirtschaft ökologischer zu machen, um die Versorgung sicherzu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stellen. Mir fällt das Beispiel des Kartoffelkombinats ein, sowie der Abg . Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]) das den Gemüseanbau in der Region nach vorne bringt Wir begrüßen auch, dass darüber nachgedacht wird, und Menschen in der Stadt mit guten Produkten aus der die Förderlandschaft zielgerichteter auszubauen . Dieses Region versorgt . Deswegen ist es gut, dass wir heute ge- Problem betrifft viele Kleinstunternehmer. Auch hier meinsam diskutieren, wie wir noch mehr Freiheiten und müssen wir bei der Anhörung auf die Details achten . Wir noch weniger Bürokratie für die Genossenschaften errei- müssen dafür sorgen, dass die Instrumente greifen, da- chen können . mit Menschen mit einem Umsatz in Höhe von vielleicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 10 000 bis 20 000 Euro, die sehr viele gemeinwohlorien- sowie der Abg . Dr . Petra Sitte [DIE LINKE]) tierte Interessen verfolgen, zum Zuge kommen . Hier ist die Förderlandschaft, die wir heute haben, nicht wirklich Mit den Genossenschaften machen wir unsere Wirt- innovativ aufgestellt . schaft nachhaltiger, aber auch die Unternehmen handeln verantwortlicher und effizienter. Das sind oftmals die -Er (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 22558 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Dieter Janecek (A) Zu guter Letzt – das ist vielleicht einer der wesent- Das Besondere an Genossenschaften ist: Sie dienen (C) lichsten Punkte – geht es hier um die Frage – das haben nicht der Erwirtschaftung von Gewinnen; sie dienen den Sie, Herr Staatssekretär, angesprochen –, ob wir mehr wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Zwecken ih- Unternehmen in die Rechtsform eines Wirtschaftlichen rer Mitglieder . Die Haftung der Mitglieder ist auf ihre Vereins überführen können. Nach § 22 Absatz 2 BGB hat Einlage beschränkt, und ein Mindestkapital ist nicht das BMJV – das haben Sie angesprochen – diese Mög- vorgeschrieben . Es gilt – es wurde schon gesagt –: ein lichkeit, aber es gibt auch hinreichend Kritik, beispiels- Mitglied, eine Stimme . Damit bieten Genossenschaften weise von der Bundesanwaltskammer, auch von der den idealen Rahmen für Bürgerinnen und Bürger, die ge- Verbandsseite selber, ob diese Regelung zielführend ist. meinsam etwas auf die Beine stellen wollen . Und doch Ich will das in diesem Moment einfach nur mal anspre- wird die Genossenschaft von unternehmerischen Initia- chen. Ich glaube, wir sind da offen für die Diskussion; tiven des bürgerschaftlichen Engagements regelmäßig aber bisher sehen auch wir diesen Punkt kritisch, weil die gemieden . Den Genossenschaften obliegen nämlich ver- Eingriffe vielleicht eben nicht zu Erleichterungen führen schiedenste Pflichten, und die Erfüllung dieser Pflichten könnten, sondern eher zu einer Beschränkung des wirt- kostet Zeit und Geld . Gerade bei kleinen Genossenschaf- schaftlichen Handelns solcher Kleinstbetriebe . ten verkomplizieren sie die Nutzung dieser Rechtsform unnötig . Fazit aus unserer Sicht: Das Ansinnen ist gut . Wir werden im Verfahren weiter konstruktiv mitarbeiten, Die SPD fordert daher schon lange, dass kleine Ge- wünschen uns Fortschritte im Sinne des Gedankens des nossenschaften von den überzogenen Prüfungspflichten gemeinwirtschaftlichen Handelns und der Gemeinwohl- befreit werden . ökonomie, die wir uns vielleicht für die Zukunft wün- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schen, und freuen uns auf den weiteren Prozess .– So weit von meiner Seite . 2013 gab es einen ersten Anlauf dafür . Geplant war die Einführung einer Kooperationsgesellschaft im Genos- Danke schön . senschaftsrecht. Sie sollte von Pflichtprüfungen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) -mitgliedschaften generell befreit sein . Der Gesetzentwurf ist damals gescheitert, der Reform- Vizepräsidentin Michaela Noll: bedarf ist aber geblieben . Das hat auch die umfangreiche Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner Studie „Potenziale und Hemmnisse von unternehmeri- spricht Dr . Matthias Bartke von der SPD-Fraktion . schen Aktivitäten in der Rechtsform der Genossenschaft“ ergeben, auf die Herr Wanderwitz eben hingewiesen hat . (B) (Beifall bei der SPD) Die Studie zeigt deutlich: Insgesamt herrscht große Zu- (D) friedenheit mit der Rechtsform der Genossenschaft . Klar Dr. Matthias Bartke (SPD): ist aber auch: Die Belastungen für kleine Initiativen sind zu hoch . Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Was dem einzelnen nicht möglich ist, das vermögen viele “. Insofern freue ich mich, dass wir mit dem vorliegen- Dieser Satz stammt von Friedrich Wilhelm Raiffeisen, den Gesetzentwurf ganz wesentliche Erleichterungen für einem der großen Gründerväter des Genossenschaftswe- Genossenschaften einführen . Das erleichterte Prüfwesen, sens . Dieser Satz bringt das Wesen der Genossenschaft Herr Wanderwitz, gehört dazu . Wir Sozialdemokraten auch heute noch treffend auf den Punkt. Genossenschaf- haben das Wort „Bürokratiemonster“ nicht erfunden . ten haben in Deutschland eine lange Tradition. Volksban- Aber für viele kleine Genossenschaften gilt das, was dort ken und Wohnungsbaugenossenschaften sind bis heute in der Vergangenheit an Prüfungsgeschichten praktiziert bei uns weit verbreitet . worden ist, als ein Bürokratiemonster, etwas, was richtig davon abhält, Genossenschaften zu gründen . Trotzdem schien die Idee der Genossenschaften eine Zeit lang ein Auslaufmodell zu sein . Ende der 90er-Jah- Im Koalitionsvertrag hatten wir uns vorgenommen: re war ein Jahr mit 30 Neugründungen schon ein gutes Wir werden Genossenschaften die Möglichkeit der Jahr . Mit der Energiewende hat sich das Blatt dann aber Finanzierung von Investitionen durch Mitglieder- gewendet . Genossenschaften sind damals geradezu wie darlehen wieder eröffnen. Pilze aus dem Boden geschossen . Die Menschen haben sich zusammengetan, um selbst Energieproduzenten zu Wir haben das umgesetzt: In Zukunft können Genossen- werden . schaften ihr Geschäft rechtssicher über Mitglieder finan- zieren . Inzwischen hat sich die Zahl der Neugründungen von Genossenschaften bei etwa 200 pro Jahr stabilisiert . Die Im Koalitionsvertrag hatten wir uns auch zum Ziel Neugründungswelle im Energiebereich ist abgeebbt . Da- gesetzt: für gibt es aber im Dienstleistungssektor neuen Aufwind . Wir wollen die Gründung unternehmerischer Initi- Die Genossenschaftsszene ist eben sehr vielfältig . In ativen aus bürgerschaftlichem Engagement … er- meinem Wahlkreis, in Hamburg-Altona, gibt es zum Bei- leichtern . spiel die fux eG . Sie ist ein gemeinschaftlich betriebener Produktionsort für Kunst, Kultur, Gewerbe und Bildung Bei vielen ehrenamtlichen Initiativen stehen enga- in einer alten, trutzigen Polizeikaserne, der Viktoria-Ka- gierte Bürgerinnen und Bürger vor der Frage, wie sie serne . ihr Engagement auf sicherer Rechtsgrundlage und ohne Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22559

Dr. Matthias Bartke (A) persönliches Haftungsrisiko organisieren können: Ge- Die konkrete Frage, vor der die Menschen stehen, ist (C) nossenschaften sind zu aufwendig und zu teuer; Vereine eine ganz praktische: Welche Rechtsform sollen wir für wiederum dürfen nur in ganz begrenztem Ausmaß eine diese Initiativen wählen? Klar ist für uns: Das Recht soll wirtschaftliche Betätigung verfolgen . den Menschen und ihren Projekten dienend zur Seite stehen . Deswegen darf es nicht zu formal sein wie bei In der SPD haben wir die Lösung für dieses Problem einer Aktiengesellschaft oder einer Gesellschaft mit be- in den prüfungsbefreiten Minigenossenschaften gesehen . schränkter Haftung . Aber auch eine persönliche Haftung Wir haben in der letzten Wahlperiode aber auch die Kri- wie bei einer BGB-Gesellschaft muss für diese Men- tik, die einer Minigenossenschaft entgegenschlägt, er- schen ausfallen, weil sie schlichtweg nicht zumutbar ist . lebt . Wir hätten hier also nicht unser Ziel erreicht . Ans Es geht den Menschen, die sich engagieren, nicht um den Ziel wollen wir aber unbedingt kommen . Bürgerschaftli- persönlichen Ertrag, sondern es geht ihnen um den Ge- ches Engagement leistet nämlich unersetzliche Beiträge winn für das Gemeinwesen . Das unterstützen wir . für den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft . Wir haben uns deswegen zu fragen, ob wir nicht eine (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der neue Rechtsform einführen sollten . Ich glaube aber, dass CDU/CSU) wir eines mit Fug und Recht festhalten können: Es be- Meine Damen und Herren, wo bürgerschaftlichem En- steht in diesem Land kein Mangel an Rechtsformen . Die gagement Hürden begegnen, müssen wir diese aus dem Einführung einer weiteren neuen Gesellschaftsform wäre Weg räumen . Das Fehlen einer unkomplizierten Rechts- nicht unbedingt ein wesentlicher Beitrag zum Bürokra- form ist eine solche Hürde . Solange wir die Einführung tieabbau . der Minigenossenschaft nicht durchsetzen können, gehen (Beifall bei der CDU/CSU) wir den Weg über das Vereinsrecht. Der vorliegende Ge- setzentwurf wird den Zugang zum Wirtschaftlichen Ver- Es ist deswegen richtig, die Lösung für die Proble- ein erleichtern . me in den bestehenden Rechtsformen zu suchen . Es ist richtig, dass dieser Gesetzentwurf zunächst einmal das Von den Idealvereinen ist uns in der letzten Woche sig- Vereinsrecht in den Blick nimmt. Wirtschaftliche Vereine nalisiert worden, dass sie sich im Wirtschaftlichen Verein können tatsächlich eine taugliche Rechtsform sein, um nicht zu Hause fühlen können, schließlich verfolgen sie die beschriebenen Projekte, um gerade bürgerschaftli- vor allem einen ideellen Zweck und keinen Geschäftsbe- ches Engagement auch rechtlich abzusichern, gerade trieb . Ich kann das sehr gut nachvollziehen . Ich glaube dann, wenn eine Kapitalgesellschaft oder eine größere trotzdem, dass der Wirtschaftliche Verein auch für sie Gesellschaft nicht zumutbar erscheint . ein Zuhause sein kann. Der Wirtschaftliche Verein verur- Deswegen mein Appell bereits jetzt, zu Beginn des (B) sacht wenig Aufwand und Kosten . Er besitzt die vertrau- (D) ten Strukturen des eingetragenen Vereins. Ich glaube, der Gesetzgebungsverfahrens: Lassen Sie uns die Zulassung Wirtschaftliche Verein ist eine wirkliche Alternative für für Wirtschaftliche Vereine unbürokratisch handhaben. all jene Vereine, deren wirtschaftliche Betätigung über (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) das Nebenzweckprivileg hinausgeht . Lassen Sie uns gerade auf Länderebene den Ländern die Ich danke Ihnen . entsprechende Möglichkeit geben, diese Vereine schnell (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gründen zu lassen . der CDU/CSU) Und ja, es ist richtig, dass auch die Genossenschaf- ten gestärkt werden . Genossenschaften sind die ideale Vizepräsidentin Michaela Noll: Rechtsform für Kooperationen, für Gemeinsinn und Zu- Vielen Dank, Herr Kollege. – Als letzter Redner sammenhalt . Sie sind vielleicht die am demokratischsten spricht in dieser Aussprache Dr. Volker Ullrich von der verfasste Rechtsform, weil jeder Genosse eine Stimme CDU/CSU-Fraktion . hat, egal wie viele Kapitalanteile er einbringt, und weil jeder, der Verantwortung trägt, im Aufsichtsrat und im (Beifall bei der CDU/CSU) Vorstand, auch Mitglied dieser Genossenschaft sein muss . Das ist Selbstverantwortung aus sich selbst heraus . Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Deswegen ist es richtig, dass wir die Gründung von Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Genossenschaften erleichtern Herren! Bürgerschaftliches Engagement bereichert über- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und all in unserem Land die Gesellschaft . Die Menschen der SPD) kümmern und sorgen sich um eine gute Nachbarschaft, um Projekte und um Vorhaben, ohne die eine Gesell- und zulassen, dass Mitglieder Kleindarlehen an ihre Ge- schaft in sozialem Zusammenhalt nicht gelingen könnte . nossenschaften vergeben und damit finanzielle Verant- Viele Projekte sind in den letzten Jahren entstanden. Zu wortung für die eigene Idee übernehmen . Ich glaube, das denken ist an Initiativen für Kindertagesstätten, Gaststät- sind gute Lösungen für ein modernes Genossenschafts- ten und Vereinslokale, die sonst geschlossen wären. Zu wesen . denken ist an Initiativen für Investitionen in Blockheiz- (Beifall bei der CDU/CSU) kraftwerke und Windräder, aber auch an den klassischen Dorfladen, der die Versorgung gerade auf dem Land und Wir müssen uns auch überlegen, wie wir zukünftig in Stadtteilen verbessert . mit den Prüfungen umgehen . Im Genossenschaftsrecht 22560 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Dr. Volker Ullrich (A) ist vorgeschrieben, dass jede Genossenschaft eine ver- Klaus Ernst (DIE LINKE): (C) pflichtende Prüfung durch den Genossenschaftsverband Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und zu erdulden hat . Diese Prüfung ist im Kern richtig, weil Herren! Zunächst auch von mir Glückwunsch an Martin wir die Lauterkeit und das Funktionieren des Genossen- Schulz . schaftswesens irgendwie überprüfen müssen . Die gerin- ge Insolvenzrate von Genossenschaften – sie ist in dieser (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wer ist Rechtsform so gering wie in keiner anderen – zeigt, dass das? – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: dieses genossenschaftliche Prüfungswesen seinen Sinn Ach, jetzt geht es los! – Beifall bei der SPD) und Zweck nicht verfehlt hat . Deswegen lassen Sie uns Er hat es geschafft, der SPD wieder Leben einzuhauchen. in Ruhe und besonnen überlegen, wie wir die rechtli- Grandios! chen Rahmenbedingungen für die Prüfungen in Zukunft regeln. Ich glaube, wir müssen einen Mittelweg finden (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Wir haben vorher schon gelebt!) zwischen möglichen Erleichterungen für kleine Genos- senschaften einerseits und den für das Vertrauen in diese – Na ja, nicht mehr so ganz .– Mich freut übrigens auch Rechtsform notwendigen Prüfungen andererseits . das Wahlergebnis von 100 Prozent für Martin Schulz .

Insgesamt ist dieser Gesetzentwurf ein Appell an ( [CDU/CSU]: Sozialistisch!) eine ein Stück weit stärker gemeinwohlorientierte Wirt- Damit hat er mit mir etwas gemeinsam: Ich habe auch schaftspolitik in den Stadteilen und in den ländlichen 100 Prozent bekommen, allerdings nur im Wahlkreis Räumen . Das ist ein Gesetzentwurf für gute Nachbar- Schweinfurt . schaft und Zusammenhalt in diesem Land . Lassen Sie uns das angehen . (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Schlimm genug!) Herzlichen Dank . In der Süddeutschen Zeitung habe ich gelesen – Zi- tat –: „Kauder: Schulz denkt nur an Wahlkampf“ . Ich bin (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) erschrocken . Habt ihr schon aufgegeben? Macht ihr kei- nen Wahlkampf mehr? Vizepräsidentin Michaela Noll: (Heiterkeit bei der SPD – Kai Whittaker Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe die Aus- [CDU/CSU]: Wir regieren noch ein bisschen, sprache . Herr Ernst!) (B) Habt ihr keine Lust mehr? Habt ihr schon resigniert, weil (D) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- die Werte der SPD nach oben gehen und eure nach unten? fes auf Drucksache 18/11506 an die in der Tagesordnung Was macht denn euer Kauder? Macht er keinen Wahl- aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es dazu kampf mehr? Züchtet er nur noch Karnickel, oder was anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Damit macht er? ist die Überweisung so beschlossen . (Heiterkeit bei der LINKEN und der SPD – Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Er ist Lob- byist von der Waffenindustrie!) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Macht euch doch nicht lächerlich mit solchen Sprüchen! Zimmermann (Zwickau), Matthias W . Birkwald, Als ich das gelesen habe, habe ich gedacht: Das darf Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der doch wirklich nicht wahr sein, der Schulz macht Wahl- Fraktion DIE LINKE kampf . Irre! Kreis der Anspruchsberechtigten und die Be- (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zugsdauer in der Arbeitslosenversicherung NEN]: Wollen Sie jetzt Pressesprecher der erweitern SPD werden?)

Drucksache 18/11419 Schulz hat gesagt – das ist der Grund, warum es diesen Hype gibt; damit sind wir beim Thema –: Überweisungsvorschlag: Menschen müssen mit Respekt und Anstand be- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie handelt werden, wenn sie ihren Job verlieren . Men- schen, die viele Jahre, oft Jahrzehnte, hart arbeiten Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für und ihre Beiträge zahlen, haben ein Recht auf ent- die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei- sprechenden Schutz und Unterstützung, wenn sie – nen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen . oft unverschuldet – ins Straucheln geraten . So weit das Zitat . Genau darum geht es in unserem An- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster trag . Redner Klaus Ernst von der Fraktion Die Linke . Ein 49-Jähriger, der sein ganzes Leben gearbeitet und (Beifall bei der LINKEN – Alexander Ulrich Beiträge gezahlt hat, hat zurzeit nur 12 Monate Anspruch [DIE LINKE]: LINKEN: Guter Mann!) auf Arbeitslosengeld I, ein 55-Jähriger nur 18 Monate . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22561

Klaus Ernst (A) Dann ist er oder die betroffene Person oder wie auch im- Recht hat er .– Heute haben Sie mit unserem Antrag die (C) mer auf Hartz IV. Das kriegt er aber auch nicht unbedingt, Möglichkeit, es gleich schon einmal zu tun . sondern nur dann, wenn er das, was er sich in seinem Le- (Beifall bei der LINKEN – Waltraud Wolff ben sauer angespart hat, auch noch vorher ausgibt . [Wolmirstedt] [SPD]: So gut ist er nun auch wieder nicht!) Das ist die Realität . Das ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, und deshalb hat Schulz vollkommen Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie allerdings recht, wenn er das anprangert, und ihr seid ein bisschen korrigieren, dann bitte schön auch richtig . hinter dem Mond, wenn ihr nicht merkt, dass das ein Pro- Das ist jetzt schon zum Nachdenken, liebe Kolle- blem ist . Das ist der Zustand, den wir haben . ginnen und Kollegen: Auch die Kriterien, wann ein Arbeitsloser im Arbeitslosengeld I einen Job ablehnen (Barbara Lanzinger [CDU/CSU]: Das ist darf, ohne dass ihm eine Kürzung oder Sperrung seines glatte Anbiederung!) Arbeitslosengeldes droht, wurden im Zuge der Agenda deutlich verschlechtert . Schon in den ersten drei Mona- Nach unserem Antrag, meine Damen und Herren, hät- ten der Arbeitslosigkeit muss jeder einen Job annehmen, te ein Beschäftigter, der im Alter von 25 Jahren zu arbei- auch wenn er bis zu 20 Prozent schlechter bezahlt wird, ten beginnt, nie arbeitslos ist und immer in die Arbeitslo- nach weiteren drei Monaten, auch wenn er zu 30 Prozent senversicherung eingezahlt hat, bei einer Arbeitslosigkeit schlechter bezahlt wird . Ohne das Recht, einen Job un- im Alter von 55 Jahren wenigstens einen Anspruch von ter der eigenen Qualifikation ablehnen zu dürfen, bleiben drei Jahren und vier Monaten . Förderung, Weiterbildung und Qualifikation Etiketten- schwindel . Dann müssen wir das schon richtig machen . Abhängig Beschäftigte zahlen in die Arbeitslosenver- sicherung ein, um bei Jobverlust finanziell abgesichert zu Das, was wir gegenwärtig haben, ist eine verordnete sein . Je größer die Angst vor Arbeitslosigkeit ist – ich Rutschbahn der Löhne nach unten . Das müssen wir än- denke, das hat sich als Standpunkt wieder durchgesetzt –, dern . Es geht bei unserem Antrag tatsächlich um das, was umso leichter ist es, Belegschaften zu disziplinieren und Martin Schulz gesagt hat . Ich zitiere ihn noch einmal: die Löhne zu drücken . Wenn man das Ziel verfolgt, die Menschen müssen mit Respekt und Anstand behan- Löhne zu drücken, muss man das Arbeitslosengeld I delt werden, wenn sie ihren Job verlieren . schleifen . Genau das hat Schröder getan; Sie wissen das noch . Deshalb wurde die Schutzfunktion der Arbeits- Das gilt im Übrigen ganz besonders – das sage ich losenversicherung mit den Reformen der Agenda 2010 auch an die Adresse der Grünen – für Menschen, die älter (B) massiv eingeschränkt. Vor Schröder, also in der Kanzler- sind . Sie brauchen mehr Zeit für die Jobsuche . Sie sollen (D) schaft von Kohl, wurde Arbeitslosengeld bis zu 32 Mo- bis 67 arbeiten, aber werden kaum noch eingestellt, wenn sie älter als 50 sind . Frau Hasselfeldt – ich habe sie nicht nate gezahlt . Sie wissen das vielleicht nicht mehr; es war gesehen –, auch ältere Menschen wollen arbeiten und so . nicht, wie Sie behaupten, in Frührente gehen . (Kai Whittaker [CDU/CSU]: Doch, ich weiß (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- es! Ich habe es gelesen!) NEN]: Eben!)

Heute sind nur noch 31 Prozent der Erwerbslosen im Das ist Unfug . Deshalb sage ich Ihnen: Sie wollen auch Arbeitslosengeld I; der Rest ist schon ins Arbeitslosen- schon deshalb nicht in Frührente gehen, weil sie mit den geld II abgedrängt . Durch die realistische Gefahr, durch gekürzten Renten, für die auch die Grünen Verantwor- Jobverlust bald in Hartz IV zu landen, wurde der Zwang tung haben, kaum noch über die Runden kommen . Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, wegen Ihres Koa- erzeugt, einen neuen Job anzunehmen, selbst wenn die- litionsvertrages unserem Antrag schon nicht zustimmen, ser schlechter bezahlt ist als der vorherige und weit unter was ich mir vorstellen könnte, der bisherigen Qualifikation ist. Schröder hat übrigens die Lohndrückerei auch noch gelobt . Er rühmte sich auf (Dr . Karl-Heinz Brunner [SPD]: Das könnte dem Weltwirtschaftsforum in Davos 2005 – Zitat –, „ei- so passieren!) nen der besten Niedriglohnsektoren in Europa geschaffen dann geben Sie wenigstens zu, dass wir recht haben; zu haben“ . dann regeln wir das in der nächsten Koalition . In der Tat haben wir heute in Deutschland den größ- (Dr .Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Opti- ten Niedriglohnsektor in Europa . Was hat Schulz dazu mist!) gesagt? Das freut mich jetzt wieder . Er hat dazu gesagt – Ich danke fürs Zuhören . Zitat –: (Beifall bei der LINKEN) Auch wir haben Fehler gemacht . Fehler zu machen, ist nicht ehrenrührig . Wichtig ist, wenn Fehler er- Vizepräsidentin Michaela Noll: kannt werden, dann müssen sie korrigiert werden . Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächstes spricht der Kollege Albert Weiler von der CDU/CSU-Fraktion . (Beifall bei der SPD – Katja Mast [SPD]: Guter Mann!) (Beifall bei der CDU/CSU) 22562 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) Dr. h. c. Albert Weiler (CDU/CSU): Sie machen Versprechungen. Wir bekämpfen Arbeitslo- (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen sigkeit präventiv, damit Menschen überhaupt gar nicht und Herren auf der Tribüne! Werte Kolleginnen und Kol- erst arbeitslos werden . legen! Sicherheit hat für jeden Menschen oberste Priori- (Dr . [DIE LINKE]: Wir tät . Hier geht es aber nicht um innere oder äußere Sicher- wären überhaupt nicht an die Macht gekom- heit, hier geht es um soziale Sicherheit . men, wenn ihr erfolgreich gewesen wärt! – (Dr .W olfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Dr .W olfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch wichtig!) NIS 90/DIE GRÜNEN]: 1,2 Millionen Aufstocker!) Ich kann gut verstehen, dass ein Mensch, der Verant- wortung für eine Familie, eine Firma oder Freunde über- Das muss das eigentliche Ziel sein . Aus meiner Sicht nimmt, sich nach sozialer Absicherung sehnt. Viele füh- kann es daher nur einen Weg geben: Wir müssen Arbeits- len sich gerade in der jetzigen Zeit in dieser Sicherheit losigkeit verhindern . Wir müssen Menschen, die arbeits- bedroht . Die Linke nutzt diese Bedrohung aus und prä- los geworden sind, schnellstmöglich wieder integrieren . sentiert hier reine Wahlkampfforderungen ohne Finan- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zierungsvorschlag . Ich aber frage mich: Was ist mach- bar? Ich handle nach dem Sprichwort „Ehrlich währt am – Danke schön .– Daher plädiere ich dafür, die Angebote längsten“. Ich bin in der finanzpolitischen Realität ange- in der Aus- und Weiterbildung zu intensivieren und zu kommen, und da werden Sie, Kollegen von den Linken, modernisieren . Weiterbildungsmaßnahmen dürfen nicht im September nach der Wahl auch ankommen müssen . erst bei Arbeitslosigkeit erfolgen . Wir sorgen für pas- sende Angebote, welche die Beschäftigten so befähigen, Ich habe Verständnis dafür, dass Menschen von jetzt dass sie den Anforderungen einer modernen Arbeitswelt auf gleich jemandem hinterherlaufen, der verspricht, nicht nur gerecht werden, sondern bei den Veränderun- alle Wünsche zu erfüllen . Wahlkampfplattitüden hören gen an der Spitze vorangehen können . sich gut an und erzeugen ein trügerisches Gefühl von Sicherheit. Sie geben Versprechungen ab, nur um Stim- Unser Fokus liegt vor allem bei den Älteren, den Al- men zu erschleichen . Sie wollen sogar, dass Menschen, leinerziehenden und den Jugendlichen . Für sie benötigen die mehrmals gute Arbeit ablehnen und nicht arbeiten wir passende Instrumente, um ihnen den Weg in den wollen, nicht mehr sanktioniert werden . Damit stellen Arbeitsmarkt zu erleichtern . Für die Förderung von älte- Sie Arbeitsunwillige auf eine Stufe mit Menschen, die ren Arbeitslosen hat sich unser Programm „Perspektive jeden Tag acht bis zehn Stunden arbeiten, um sich eine 50plus“ als erfolgreich erwiesen . (B) Wohnung, ein kleines Häuschen, ein Auto oder vielleicht (D) einen Urlaub leisten zu können . Aber wenn die Realität (Katja Mast [SPD]: Unser Programm! – kommt – das sehen wir im Freistaat Thüringen –, werden Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- linke Versprechungen eben nicht eingehalten. NEN]: Das gibt es doch gar nicht mehr!) (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ihr habt Alleinerziehende müssen besonders unterstützt werden . doch einen guten Ministerpräsidenten!) Unsere Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes zielt hier genau in die richtige Richtung . Angesichts von rund Von dem Kuchen, von den 600 Millionen Euro, die der 655 000 gemeldeten offenen Stellen bei der Bundesagen- Steuerzahler mehr eingebracht hat, geben Sie den Kom- tur für Arbeit stärken wir eine individuelle Betreuung munen und somit den Schulen, den Kindergärten und den und effektive Vermittlung, um Phasen zwischen den Be- Jugendhilfeeinrichtungen nichts ab . Sie verbraten dieses schäftigungen so kurz wie möglich zu halten und insbe- Geld für ein unsinniges Gebietsreformvorhaben à la Rot- sondere Langzeitarbeitslosigkeit zu verhindern . Rot-Grün . (Beifall bei der CDU/CSU) (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wir reden gerade über Arbeitslosenversicherung! – Wo sind die Schwächen Ihres Antrags? Sie führen zu Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie haben den fal- Recht an, dass insbesondere ältere Menschen auf dem schen Tagesordnungspunkt erwischt!) Weg zurück in die Beschäftigung größere Schwierigkei- ten haben . Was wollen wir? Wir wollen Bedürfnisse stillen . Jeder soll durch seine Arbeit seinen Lebensunterhalt finanzie- Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass auf ren und für seine Familie sorgen können . Wir sagen: So- Druck der Union in der Vergangenheit bereits wichtige zial ist, was Arbeit schafft. Korrekturen umgesetzt wurden, um genau diesen Men- schen zu helfen . Wer älter als 50 Jahre ist, bekommt (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das 15 Monate Arbeitslosengeld I, wer über 55 Jahre ist, muss man auch hinterfragen!) 18 Monate, und ab 58 Jahren gibt es 24 Monate Arbeits- Wir sichern Wachstum und Wohlstand, damit Arbeits- losengeld I . Damit ist der Zeitraum für die Suche nach plätze entstehen und Arbeitslosigkeit schon im Voraus einer Anschlussbeschäftigung erheblich ausgeweitet verhindert wird . worden . Sicher: Mehr zu fordern, hört sich immer gut an . Ihre Forderung, die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg . über 48 Monate – das sind vier Jahre – auszuweiten, be- Alexander Ulrich [DIE LINKE]) deutet nichts anderes, als die populistischen Forderungen Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22563

Dr. h. c. Albert Weiler (A) eines einzelnen Herrn mit Bart – den Namen möchte ich Arbeit durch gezielte Qualifizierung effektiv zu vermit- (C) jetzt nicht nennen – zu überbieten . teln und sie schnell an den Arbeitsmarkt heranzuführen . (Dr . Matthias Bartke [SPD]: Guter Mann!) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich zitiere lieber unseren gerade verabschiedeten Bun- Das sorgt für Sicherheit und sozialen Frieden . Der ent- despräsidenten, der gestern noch sagte: Fürchten Sie sich scheidende Unterschied liegt darin: Wir wollen Arbeits- nicht vor den Scheinriesen, die da draußen in der Welt losigkeit verhindern und Menschen in Arbeit bringen, da- herumspringen . mit alle am Wohlstand teilhaben können, und wir wollen (Beifall bei der CDU/CSU) durch angemessene Löhne bei den Menschen für Zufrie- denheit sorgen . Wenn Sie in Ihrem Antrag aufführen, dass jeder Vierte nach einer Beschäftigung direkt in das Hartz-IV-System Danke schön . fällt, dann heißt das doch im Umkehrschluss, dass die Arbeitslosenversicherung für drei Viertel aller Beschäf- (Beifall bei der CDU/CSU) tigten funktioniert . Das ist ein positives Zeichen . Die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung ist also Vizepräsidentin Michaela Noll: stark . Nur passt diese Sichtweise nicht zu Ihrer Taktik der Angstmacherei . Sie stellen alles immer nur negativ dar, Vielen Dank, Herr Kollege Weiler. – Als Nächste hat bieten aber selbst keine vernünftigen Vorschläge. Auf die die Kollegin Brigitte Pothmer von der Fraktion Bünd- Frage nach der Finanzierung höre ich immer nur: Steuern nis 90/Die Grünen das Wort . erhöhen .– Sie wollen also eine noch stärkere Belastung der arbeitenden Bevölkerung . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Statt die Steuern zu erhöhen, sorgen wir für eine her- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich fin- vorragende Bilanz . 43,6 Millionen Erwerbstätige – das de es gut, dass jetzt wieder mehr über die Reform der gab es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie . Arbeitslosenversicherung geredet wird – natürlich abge- Die Zahl der Langzeitarbeitslosen wurde seit 2005 fast sehen von Ihnen, Herr Weiler; Sie haben hier über alles halbiert . Mögliche geredet, aber nicht über das Thema . (Katja Mast [SPD]: Und was habt ihr dazu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beigetagen?) und bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/ Sie verschweigen, dass wir den Beitragssatz zur Arbeits- CSU: Doch! Sie haben wohl nicht aufgepasst!) (B) losenversicherung in den letzten zehn Jahren deutlich (D) senken konnten . Das merken vor allem die vielen Milli- Ich habe heute Morgen schon darauf hingewiesen, onen Menschen, die in Arbeit sind, in ihrem Geldbeutel . dass es dringend notwendig ist, bei der Arbeitslosenver- sicherung etwas zu verändern, weil sie für sehr viele Bei- (Dr .W olfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- tragszahler ihre Schutzfunktion verloren hat . Wenn wir NIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gab noch nie so das nicht korrigieren – das muss uns klar sein –, dann viele erwerbstätige Arme und noch nie so vie- gerät die Arbeitslosenversicherung irgendwann in eine le arme Kinder!) Legitimationskrise . Wie wollen Sie die zu erwartenden Kosten begleichen? (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Richtig!) Etwa durch eine Erhöhung des Beitragssatzes, wodurch Sie die Menschen, die arbeiten, wieder direkt belasten Wir können von einem Sozialsystem, wie ich finde, zu würden? Das ist mit uns nicht zu machen; das sage ich an Recht, erwarten – das gilt insbesondere für die Arbeits- dieser Stelle ganz deutlich . losenversicherung –, dass es genauso flexibel ist, wie Sie bleiben uns einen sinnvollen Finanzierungsvor- die Menschen heute arbeiten . Es muss Sicherheit bieten, schlag schuldig . Höhere Steuern sichern keine Arbeits- ganz unabhängig davon, ob jemand selbstständig ist oder plätze, sondern belasten Steuer- und Beitragszahler . Ihre ob jemand befristet, unbefristet, in Projekten arbeitet Vorschläge schaden der Arbeitslosenversicherung und oder, oder, oder . vor allem den Versicherten. Einen Versuch war es wert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aber den Menschen vor der Wahl billige Versprechen zu machen und ihnen durch die Hintertür in die Tasche In diese Richtung ist diese Bundesregierung bisher leider zu greifen, ist unredlich und mit der CDU/CSU nicht zu keinen Schritt vorangekommen . machen . Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfrakti- (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: So ein on, bei Ihrem Antrag Quatsch! Das wollen wir ja auch gar nicht!) (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Der gut ist, Zum Schluss möchte ich festhalten: oder?) (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Guter ­Antrag!) beschleicht mich der Verdacht, dass es Ihnen in erster Li- nie um einen nahtlosen Übergang ab 55 in die Rente geht . Ziel unserer gemeinsamen Bemühungen muss es sein, Arbeitslosigkeit präventiv zu verhindern, Menschen ohne (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 22564 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Brigitte Pothmer (A) Das ist wirklich nicht gut, und das hat auch nicht unbe- Sie verstärken dieses unhaltbare Zweiklassensystem in (C) dingt etwas mit Respekt zu tun . der Arbeitsförderung in unverantwortlicher Art und Wei- se, und das werden wir nicht mitmachen . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – der SPD) Dr .Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Wer hat es erfunden?) Ich finde es richtig, dass auch Sie die hohen Hürden beim Zugang zur Arbeitslosenversicherung abbauen wol- Gerade im Bereich des SGB II – wo 60 Prozent der len. Deswegen finde ich es auch gut, dass Sie unseren Bezieherinnen und Bezieher von Hartz IV keine Be- unbürokratischen Vorschlag übernommen haben, der be- rufsausbildung haben und jeder Fünfte keinen Schulab- sagt: Wer vier Monate eingezahlt hat, erhält zwei Monate schluss hat – könnten wir mit Qualifizierung echte Zu- lang Arbeitslosengeld, wer sechs Monate eingezahlt hat, gänge eröffnen und Arbeitsmarktchancen schaffen. erhält drei Monate lang Arbeitslosengeld, usw . Das ist nämlich ein echtes Angebot in Bezug auf die kurzfristi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gen Beschäftigungsverhältnisse . Insgesamt gilt für die Arbeitslosenversicherung: Wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) müssen sie auf die digitale Zukunft vorbereiten – das ist sie bisher nämlich nicht –, und wir müssen sie für die bun- Herr Ernst, bei Ihrer Rede habe ich den Eindruck ge- ter werdenden Erwerbsbiografien fit machen. Sie muss habt, dass Sie jetzt irgendwie auch Pressesprecher der auch präventiv arbeiten und Arbeitslose unterstützen SPD geworden sind . können, und sie muss dabei helfen, dass die Menschen (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Man hilft, wo wieder gut in Arbeit kommen . Das gilt für alle Arbeitslo- man kann! – Heiterkeit bei der LINKEN) sen, völlig unabhängig davon, welche Geldleistungen sie beziehen, wie alt sie sind und welche Voraussetzungen Herr Ernst, bei den allermeisten Vorschlägen in Ihrem sie mitbringen . Davon ist die Arbeitslosenversicherung Antrag geht es vor allen Dingen darum, die Bezugsdau- noch sehr, sehr weit entfernt . Lieber Herr Ernst, Ihr An- er des Arbeitslosgengeldes I zu verlängern . Ich bestreite trag bringt uns diesem Ziel kaum näher . nicht, dass ältere Arbeitslose ein größeres Problem ha- ben, wieder Arbeit zu finden. Die Verlängerung der Be- Ich danke Ihnen . zugsdauer des Arbeitslosengeldes I bringt aber nieman- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den schneller und besser in Arbeit . Das ist das Problem . sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Vizepräsidentin Michaela Noll: (D) Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Den Be- Vielen Dank, Frau Kollegin. – Als Nächstes hat der weis müssen Sie erst mal antreten!) Kollege Markus Paschke von der SPD-Fraktion das Wort . Ich finde, es hat ausdrücklich etwas mit Respekt ge- (Beifall bei der SPD) genüber Älteren zu tun, wenn wir alles, aber auch wirk- lich alles daransetzen, Brücken in Beschäftigung zu Markus Paschke (SPD): bauen, sodass sie schnell wieder Arbeit finden. Dafür ist Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Weiterbildung natürlich ein gutes Instrument, aber es ist Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! verdammt noch mal nicht das einzige . (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Guter An- (Katja Mast [SPD]: Das behauptet doch kein trag!) Mensch!) Vor einigen Monaten war in meiner Bürgersprechstunde Effektive Lohnkostenzuschüsse, verstärktes Coaching: ein Facharbeiter aus der Textilindustrie . Er ist Mitte 40 das alles sind Maßnahmen, die wirklich helfen können . und hat 25 Jahre im selben Unternehmen gearbeitet, bis (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dessen Insolvenz seine Lebensplanung kaputt gemacht sowie des Abg . Paul Lehrieder [CDU/CSU]) hat . Die früher stolze und starke Textilindustrie produ- ziert heute in Deutschland so gut wie gar nicht mehr . Der Herr Ernst, das Prinzip „Weiterbildung verlängert die Strukturwandel hat dazu geführt, dass der Facharbeiter Zahlung des Arbeitslosengeldes I“ gibt es in der Arbeits- keine Alternative in der Region mehr hat und mit seinen losenversicherung bereits . Schon heute verlängert das Qualifikationen keine Chance auf dem Arbeitsmarkt er- den Bezug von Arbeitslosengeld I . Sie wollen diesen Be- hält . zug jetzt einfach noch einmal weiter verlängern . So wie ihm geht es vielen Menschen in Deutschland . Wo wir gerade bei der Weiterbildung sind: Weder Sie Eine einmal erworbene Qualifikation reicht längst nicht noch die SPD reden in diesem Zusammenhang – hier mehr für ein gesamtes Berufsleben. Vonseiten der Politik geht es um den Rechtsanspruch nach dem SGB III – über können wir die Betroffenen nicht alleinlassen und sagen: die Tatsache, dass im SGB II überhaupt nichts in dieser Pech gehabt! Wenn du noch arbeiten willst, arbeite unter Richtung steht . Im Gegenteil: Hier gilt immer noch der deiner Qualifikation. Hauptsache, du bist schnell wie- Vermittlungsvorrang. Diese Menschen interessieren Sie der in einem Job. – Vielmehr sind wir es den Menschen offensichtlich nicht. schuldig, sie dabei zu unterstützen, eine Perspektive für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Zukunft zu finden. Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22565

Markus Paschke (A) Dieser Facharbeiter muss noch 20 Jahre arbeiten . Er Gleichwohl: Es wurde hier schon mehrfach über das (C) will auch noch 20 Jahre arbeiten . Eine gute und zukunfts- Arbeitslosengeld Q gesprochen, das für ältere Arbeitslose fähige Qualifizierung lässt sich aber nicht mit Praktika sozusagen eine Verlängerung des Bezuges von Arbeitslo- und Kurzschulungen erreichen . sengeld mit der Möglichkeit vorsieht, sich zu qualifizie- ren . Das kann man durchaus machen . Mich interessiert (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Recht thematisch, wie es mit Ihrem Bild von sozialer Gerech- hat der Mann!) tigkeit vereinbar ist, wenn gleichzeitig die Perspektive Deshalb brauchen wir einen Rechtsanspruch auf Quali- „50plus“ nicht mehr weitergeführt wird, also Langzeitar- fizierung. beitslose nicht weiter besonders gefördert werden . (Beifall bei der SPD) Ich bitte einfach darum, mir zu versichern, dass das nicht das Bild der sozialen Gerechtigkeit ist, das die SPD Der Qualifizierungszeitraum darf dann nicht auf die Be- im Wahlkampf präsentieren will, dass sie die Gesell- zugsdauer des Arbeitslosengeldes angerechnet werden . schaft nicht spalten will, dass sie die Langzeitarbeitslo- Das ist doch ganz klar . sen nicht abhängen will, sondern dass sie sich wie die (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Union darum bemüht, alle in Arbeit zu bringen, seien sie NEN]: Aber beim ALG II geht das alles!) langzeitarbeitslos oder seien sie im SGB III . Das ist auch der Grund, warum Andrea Nahles und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Martin Schulz (Beifall bei der SPD – Kai Whittaker [CDU/ Markus Paschke (SPD): CSU]: Funktioniert das auch auf Knopf- Lieber Kollege Zimmer, ich freue mich über diese druck?) Zwischenfrage und Anmerkung . Das gibt mir Gelegen- – damit nicht nur Klaus Ernst von unserem Vorsitzenden heit, genau diesen Punkt herauszuarbeiten . Heute reden redet – wir über die Arbeitslosenversicherung. Da ist Qualifi- zierung dafür, in der Zukunft Perspektiven zu haben, ein (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Die Nahles war ganz entscheidender Punkt . das aber nicht!) Sie haben gerade die Förderung von Langzeitarbeits- den Vorschlag gemacht haben, das Arbeitslosengeld Q – losen angesprochen . Wir sind dazu bereit . Wir können „Q“ bedeutet Qualifizierung – einzuführen. Das hilft den sofort die Einführung des Passiv-Aktiv-Transfers unter- Menschen und gibt ihnen für die Zukunft eine Perspek- schreiben, tive . (B) (Beifall bei der SPD) (D) (Beifall bei der SPD – Abg . Dr .Matthias Zimmer [CDU/CSU] meldet sich zu einer sodass wir etlichen Langzeitarbeitslosen eine Chance auf Zwischenfrage) dem Arbeitsmarkt geben . Das ist doch bisher an der Uni- on gescheitert und nicht an der SPD . – Zu dir komme ich gleich noch . (Beifall bei der SPD – Waltraud Wolff [Wol- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und mirstedt] [SPD]: Das war jetzt ein Rohrkrepie- der CDU/CSU) rer! – Katja Mast [SPD]: Eigentor!)

Vizepräsidentin Michaela Noll: Wir waren aber beim Arbeitslosengeld, bei der Quali- fizierung. Genau in diesem Zusammenhang finde ich in- Lassen Sie die Zwischenfrage zu? Ich sehe es Ihrem teressant – ich habe heute Morgen gut zugehört bei der Gesicht schon an . Diskussion –, dass genau diejenigen dieses Konzept am lautesten kritisieren, die auch am lautesten über Fach- Markus Paschke (SPD): kräftemangel jammern und die bisher nicht bereit sind, Gerne . unsere Jugendlichen bei der Ausbildung ausreichend zu unterstützen und jedem einen Ausbildungsplatz zu bie- Vizepräsidentin Michaela Noll: ten . Ich sage es ganz deutlich: Wenn dann einige Politi- Bitte . ker auf diesen Zug aufspringen, dann frage ich mich, mit welcher Motivation sie dies tun und wessen Interessen sie da eigentlich vertreten . Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Ganz herzlichen Dank, lieber Kollege Paschke, dass Ich will das mit einem schönen Bild verbinden: Der die Zwischenfrage zugelassen wird . – Inzwischen ist so Schulz-Zug ist in der Frage der Arbeitslosenversicherung häufig, nicht nur heute Morgen, sondern auch jetzt, von und der Gerechtigkeit ein ICE, einem Abwesenden die Rede, dass man fast den Eindruck (Dr . Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Mit Nei- haben könnte, hier wird ein Lied von Mireille­ Mathieu getechnik!) intoniert: „All meine Träume heißen Martin, Martin, denn seine Liebe war so schön“ . und einige versuchen, ihn mit einer handbetriebenen Draisine zum Wettrennen aufzufordern . (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) 22566 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Markus Paschke (A) Ich freue mich, dass die Linken mit Teilen ihres Antrags Tobias Zech (CDU/CSU): (C) auf diesen ICE aufspringen wollen und nicht auf die Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Draisine . Klaus, da kriegen wir bestimmt etwas hin . Lieber Klaus Ernst, vielen Dank erst einmal für die von (Beifall bei der SPD) mir wohlgemeint aufgenommene Sorge um unsere Wahl- kampffähigkeit. Natürlich hast du recht: Wir sind nicht Wir haben im Dialogprozess Arbeiten 4 0. den An- im Wahlkampf . Wir sind sechs Monate vor der Bundes- spruch auf Qualifikations- und Weiterbildungsberatung tagswahl nicht im Wahlkampf, weil wir als Union, als festgelegt. Mit dem Gesetz zur Stärkung der beruflichen CDU/CSU, dieses Land regieren und uns nicht mit Wahl- Weiterbildung und des Versicherungsschutzes in der kampfklamauk aufhalten und eine Sau nach der anderen Arbeitslosenversicherung haben wir Schwerpunkte auf durchs Land treiben, die Weiterentwicklung und Weiterbildung von Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmern gesetzt . Wir belohnen (Beifall bei der CDU/CSU) Bildung und motivieren zum Weitermachen bis zum er- weil dieses Land und dieses Volk es verdienen, dass man folgreichen Abschluss . Das sind doch die ersten Schritte auch sechs Monate vor der Bundestagswahl vernünftige hin zu einer zukunftsfähigen und zukunftsorientierten Arbeit abliefert . Dafür stehen wir hier in dieser Koalition Arbeitsversicherung . und in diesem Parlament Eine weitere Baustelle ist der Zugang zur Arbeits- (Dr .Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Dann losenversicherung . Gerade Menschen in prekären und müsst ihr mal Bescheid sa- flexiblen Beschäftigungsformen brauchen eine Absiche- gen!) rung. Ich kann den Ärger der Betroffenen sehr gut ver- stehen . Kurzfristig Beschäftigte zahlen im Rahmen ihres und vor allem in dieser Debatte, der Debatte, die wahr- Arbeitsverhältnisses Beiträge an die Arbeitslosenversi- scheinlich jeden von uns schon einmal betroffen hat cherung und haben dann keinen Anspruch auf Arbeits- durch die Angst vor Arbeitslosigkeit . losengeld, wenn sie nicht mindestens 12 volle Monate Ich weiß nicht, wie es Ihnen in der Vergangenheit ging. innerhalb von 24 Monaten Beiträge bezahlt haben . Ich Ich habe erst vor kurzem wieder daran denken müssen: finde, das ist nicht gerecht, und weil das nicht gerecht ist, Ich habe vor knapp 20 Jahren eine Ausbildung bei Edeka ist auch hier der Schulz-Zug schon in Fahrt gekommen, gemacht . Ich habe da Tomaten nach Größe und Joghurts liebe Kolleginnen und Kollegen . nach Datum sortiert. Vor kurzem habe ich gehört, dass es (Beifall bei der SPD) den ersten kassenlosen Supermarkt geben wird, in dem kein Kassierer und keine Kassiererin mehr gebraucht Andrea Nahles und Martin Schulz haben Anfang des wird . Da habe ich mir gedacht: Was denken sich jetzt (B) (D) Monats ihre Ideen vorgestellt, wie es besser geht: meine Kollegen in dem alten Laden? Die können nichts (Dr .W olfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- dafür . Die Technologie schreitet fort .– Kollege Paschke NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was die SPD alles hat es ausgeführt: Es gibt Branchen, die verschwinden . machen würde, wenn sie an der Regierung Somit ist jeder persönlich, individuell immer wieder mit wäre!) Arbeitslosigkeit konfrontiert . Dieses Thema lädt dazu ein, aufgegriffen zu werden. Es ist aber kein Thema für Wer in drei Jahren zehn Monate lang Beiträge gezahlt Wahlkampf, und es ist auch kein Thema für Klamauk . hat, soll zukünftig Arbeitslosengeld erhalten . Damit wird der Schutz in der Arbeitslosenversicherung auf vie- Weil ich die Debatte in den letzten Wochen verfolgt le kurzfristig und prekär Beschäftigte, Filmschaffende habe und auch davon die Rede war, dass man am Ar- und andere Künstlerinnen und Künstler ausgedehnt . Ich beitslosengeld schrauben muss, will ich kurz ein paar finde, das ist gerecht. Es hilft vor allem den betroffenen sachliche Fakten in die Debatte einführen: Wir haben im Menschen; denn die Menschen müssen im Mittelpunkt Vergleich zu 2005 400 000 offene Stellen zusätzlich – stehen . on top! – auf dem Arbeitsmarkt . Wir haben so viele so- zialversicherungspflichtig Beschäftigte wie noch nie (Beifall bei der SPD) seit Bestehen dieser Bundesrepublik, und seit 2005, seit Ich lade alle herzlich ein, ein Ticket für diesen ICE zu regiert, hat sich die durchschnittliche Be- lösen und gemeinsam mit der SPD die Arbeitslosenversi- zugsdauer von Arbeitslosengeld I bei über 55-Jährigen cherung zukunftsfähig und gerechter zu gestalten . nahezu halbiert . Danke . (Dr . Martin Rosemann [SPD]: Sag doch mal, woran das liegt, Tobi! Was hat Angela Merkel (Beifall bei der SPD – Dr . Matthias Zimmer damit zu tun?) [CDU/CSU]: Kommt der Schulz-Zug auch zum Koalitionsausschuss? Oder wird die Hal- Sie ist mit 217 Tagen auf einem historischen Tiefstand . testelle ausgelassen?) Das ist die Wahrheit . (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Michaela Noll: Danke, Herr Kollege .– Als nächster Redner spricht Die Zahl der über 55-jährigen Arbeitslosen ist nur leicht Tobias Zech von der CDU/CSU-Fraktion . gesunken; das stimmt . Man muss aber dazusagen, dass wir mittlerweile 3 Millionen mehr Arbeitnehmer über 55 (Beifall bei der CDU/CSU) auf dem Arbeitsmarkt haben . Somit ist die Zahl der über Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22567

Tobias Zech (A) 55-jährigen Arbeitslosen massiv zurückgegangen . Das Wenn das Problem ist, dass man Ältere trotz Weiter- (C) und nichts anderes ist die Wahrheit . Wir sind seit zehn bildung nicht vermitteln kann, dann ist die Frage: Wie Jahren auf einem guten Weg . Alles andere redet den Ar- gehen wir mit deren Würde um? Was machen wir mit beitsmarkt und die Fähigkeiten der Arbeitnehmerinnen denen? Schicken wir sie in den Hartz-IV-Bezug, oder und Arbeitnehmer in Deutschland schlecht . Dafür sind schaffen wir eine Lösung, indem wir ihnen länger- Ar wir nicht zu haben . beitslosengeld-I-Bezug ermöglichen, sodass sie mehr Zeit haben, wieder in Arbeit zu kommen, statt sie kurz (Beifall bei der CDU/CSU) vor der Rente nach einem erfüllten Arbeitsleben und Klaus, du hast uns einen Tipp für den Wahlkampf ge- möglicherweise 30, 40 oder 50 Jahren Arbeit in Hartz IV geben. Ich gebe euch auch einen: Vielleicht müsstet ihr zu schieben? Das ist der Sinn unseres Antrags . euch auch einen Buchstaben für euer Konzept überlegen . Von Q war schon die Rede. Vielleicht nehmt ihr W für (CDU/CSU): Arbeitslosengeld „Wahlkampf“ . Mehr ist es nämlich Tobias Zech nicht . Sehr geehrter Kollege Ernst, vielen Dank . Ich habe Ihren Antrag gelesen . Mir ist auch die Ernsthaftigkeit (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dessen, was dahintersteckt, durchaus bewusst . Das er- NEN]: Oder V wie Verstand! – Paul Lehrieder kenne ich an . Ich bitte aber, mir nachzusehen – ich kom- [CDU/CSU]: Oder L wie Links!) me gleich darauf zurück –, dass ich einen anderen Ansatz Ich möchte auf den Antrag näher eingehen; er hat es habe, was die Lösung betrifft. nämlich verdient . Ich bin der Überzeugung – insofern haben Sie mei- ne volle Zustimmung –: Für Weiterbildung ist es nie zu Vizepräsidentin Michaela Noll: spät – bis zum letzten Tag . Herr Kollege Zech, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst zu? (Beifall bei der SPD) Die Frage ist nur, wer die Weiterbildung anbietet . Dazu Tobias Zech (CDU/CSU): gibt es durchaus unterschiedliche Ansichten . Wenn Sie Natürlich . die Studien vom IAB und vom Institut der deutschen Wirtschaft lesen, welche Art der Weiterbildung zur Rein- Klaus Ernst (DIE LINKE): tegration in den Job führt, dann werden Sie feststellen, Lieber Tobias, ich möchte noch einmal auf folgenden dass es sich zu 75 Prozent um Angebote der betriebli- (B) Zusammenhang eingehen – da sind wir wahrscheinlich chen Weiterbildung und nur zu einem sehr geringen Teil (D) gar nicht so weit auseinander –: Ja, Qualifikation ist not- um Angebote der Bildungsträger handelt . Wir müssen wendig, auch für die Älteren, die möglicherweise noch sicherlich noch einmal darüber sprechen, was unter Wei- mit 55 ihren Job verlieren . Meine Erfahrung ist, dass ge- terbildung zu verstehen ist . Aber grundsätzlich stimmen rade die 55-Jährigen das sehr gerne annehmen, weil sie, Sie sicherlich der Aussage zu, dass Weiterbildung der wenn sie bis 67 arbeiten müssen, nicht zwölf Jahre zu Hauptfaktor ist, wenn es um auskömmliche Renten und Hause bleiben wollen . Es liegt also nicht daran, dass die gesunde Jobs geht . Menschen nicht arbeiten wollen . Wenn wir uns darüber Ich glaube aber, dass ihr bei den Symptomen und einig sind und wenn wir die guten Arbeitsmarktzahlen nicht bei den Problemen ansetzt . Ich gebe der Kolle- kennen, dann müsste klar sein, dass eine theoretisch län- gin Pothmer recht – das ist nichts Neues –: Euer Antrag gere Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes in der Praxis geht – egal ob es um Q oder W geht – an der Praxis vor- gar keine Wirkung hat, weil die Menschen mit ihrer Qua- bei; denn er würde dazu führen, dass wir ein Mittel für lifikation bzw. spätestens nach einer Qualifikationsmaß- eine weitere Frühverrentungswelle schaffen. Gerade das nahme wieder Arbeit haben . Das bedeutet: Unser Antrag, wollen wir nicht . Wir wollen nicht den leichten Weg in auch wenn man die möglichen Kosten entsprechend die Frühverrentung gehen . Euer Antrag stellt nichts an- hochrechnet, ist eigentlich nicht das Problem . Das Pro- deres dar als eine reine Symptombekämpfung und greift blem besteht vielmehr darin, dass eine große Zahl von nicht dort, wo es notwendig wäre . Älteren – du hast die Zahlen selbst genannt – trotz der Weiterbildung nicht mehr in Jobs kommt . (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn jemand mit 55 aus dem Betrieb ausscheidet, Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die arbeitslos dann ist er nach zwei Jahren Weiterbildung 57 . Wer stellt sind, wollen nicht – ich bitte auch hier um Ihre Zustim- denn einen 57-Jährigen noch ein? Es gibt noch zwei Jobs, mung –, dass die Bezugsdauer so lange wie möglich ist, wo das theoretisch gut funktioniert, nämlich Bundes- sondern wollen so schnell wie möglich zurück auf den präsident und Papst . Bei den normalen Bürgern ist das ersten Arbeitsmarkt . Da – und nicht an der Bezugsdau- schwieriger . er – müssen wir ansetzen . (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wir sind da wirklich schon weiter!) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir haben jetzt auch schon einen jüngeren Bundesprä- Daher erkläre ich – ob es nun um Q oder W geht –, dass sidenten . Ja, auch da ist es nicht mehr so, dass man als die Koalition aus CDU/CSU und SPD diesen Antrag in Älterer gleich wieder einen Job kriegt . voller Überzeugung ablehnen wird, und das zu Recht . 22568 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Tobias Zech (A) Frank-Jürgen Weise hat sich zur Verlängerung der Herzlichen Dank . (C) Bezugsdauer wie folgt geäußert – ich darf zitieren, Frau Präsidentin –: (Beifall bei der CDU/CSU) Mehr Verteilung schafft Leistungsempfänger statt Leistungserbringer . Der Wettlauf um die höchsten Vizepräsidentin Michaela Noll: Zahlungen führt in eine Sackgasse . Vielen Dank, Herr Kollege Zech. – Als Nächste spricht die Kollegin Waltraud Wolff von der SPD-Fraktion. Diese Sackgasse wollen wir nicht . Wir haben sie erkannt und werden sie umschiffen. (Beifall bei der SPD) Zur Ehrlichkeit gehört dazu, dass die Kosten unkalku- lierbar sind, wenn die Dauer der Arbeitslosengeldzahlun- Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): gen verlängert wird . Das geht am Bedarf und auch an den Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Interessen der Arbeitnehmer vorbei. Ich halte eine Ver- und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben längerung auch im Hinblick auf die Generationengerech- schon heute Vormittag über die sich verändernde Arbeits- tigkeit für nicht verantwortbar; denn dieses Geld sollte welt gesprochen – ich sage das nur für die Zuschauer – besser für wirkliche Qualifizierungsmaßnahmen einge- und haben dabei festgestellt, dass wir in Zukunft einen setzt werden . Ich will jetzt nicht auf die Details einge- weitaus flexibleren Arbeitsmarkt erwarten. Der stellt ge- hen; das haben schon die Vorredner gemacht. Ich möchte nauso Anforderungen an Fortbildung und Qualifizierung vielmehr betonen, dass wir die Arbeitslosenversicherung wie auch an die soziale Absicherung von Arbeitslosig- in diesem Land in den letzten Jahrzehnten zu einem äu- keit – das Thema, über das wir jetzt reden . ßerst modernen Zweig unseres Systems weiterentwickelt haben . Natürlich werden wir auch in Zukunft tatkräftig Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat anpacken . Wir müssen die Arbeitslosenversicherung im Rahmen des Prozesses „Arbeit 4 0“. eine Langzeit- weiterentwickeln, aber in die Zukunft gewandt und nicht prognose für den Arbeitsmarkt erstellen lassen . Diese rückwärts . Wir müssen uns dabei an den Arbeitnehmern Zahlen sind heute noch nicht genannt worden . Die gute als Kunden orientieren, und die Kunden wollen zurück Nachricht ist: Uns geht die Arbeit nicht aus, keine Frage . auf den ersten Arbeitsmarkt . Wir stehen aber vor der riesigen Herausforderung, dass ungefähr 750 000 Arbeitsplätze in 27 Wirtschaftszwei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gen bis 2030 verloren gehen werden . Auf der anderen Seite werden aber in 13 völlig anderen Branchen 1 Milli- Ähnliches gilt für Ihre einzelnen Forderungen und die on Arbeitsplätze entstehen . (B) Ausweitung der Rahmenfrist von zwei auf drei Jahre . Ich (D) könnte diese Liste beliebig fortsetzen . Hinter diesen Zahlen stecken natürlich Tätigkeiten und Qualifikationen, die verschwinden, ebenso wie sol- Wir haben sicherlich das Problem erkannt, dass nicht che, die neu hinzukommen . Hinter diesen Zahlen stehen jede Beratung funktioniert und dass es Schwierigkeiten aber vor allem Menschen – Menschen, die in diesen bei der Vermittlung älterer Arbeitnehmer gibt. Hier muss Branchen arbeiten, die diese Berufe erlernt haben und die Bundesagentur für Arbeit, die dem Ministerium für die die entsprechenden Qualifikationen erworben haben. Arbeit und Soziales zugeordnet ist, ansetzen . Es muss Diese Menschen brauchen Sicherheit . Erst einmal wollen operativ gearbeitet werden . Wie das geschehen soll, will sie sicher sein, dass die Arbeitslosenversicherung zahlt . ich aber nicht erst aus Presseartikeln erfahren. Vielmehr Dann wollen sie sicher sein, dass sie nicht aufs Abstell­ muss sich das in der Arbeit des Ministeriums zeigen . Wir gleis geschoben werden . Sie wollen auch sicher sein, hatten lange genug Zeit dafür . Wir brauchen keine Sys- dass sie eine Qualifizierung erhalten, mit der sie einen temänderung . Wir haben sehr gute Gesetze und eine gute dieser neuen Jobs bekommen können . Arbeitslosenversicherung; das müssen wir nutzen . Man muss operativ eingreifen, wenn etwas nicht funktioniert . Ich komme aus Sachsen-Anhalt und weiß, wie läh- Was wir aber nicht brauchen, ist eine unkalkulierbare, mend die Angst sein kann, aufs Abstellgleis geschoben sinnlose und am Arbeitnehmer vorbeigehende Erweite- zu werden . Das ist auch heute noch an der Tagesordnung . rung der Arbeitslosengeldbezugsdauer . Eine solche Er- Die Zukunft des digitalen Arbeitsmarktes wird natürlich weiterung wird nur dazu führen, dass die Menschen eher Chancen bringen; das ist unbestritten . Aber die Men- in Rente geschickt werden, bringt aber keinen Einzigen schen trauen sich doch nur dann, neue Chancen zu ergrei- eher zurück in den Job . Den Menschen wieder Arbeit zu fen, wenn sie Vertrauen in die Arbeitslosenversicherung geben, muss unser Ziel sein . haben können . (Beifall bei der CDU/CSU – Katja Mast (Beifall bei der SPD) [SPD]: Olle Kamellen!) In einigen Punkten stimmen wir mit dem Antrag der Dieses Thema wird uns garantiert noch länger be- Linken überein, insbesondere darin, dass die Qualifi- schäftigen . Ich freue mich auf die weiteren Debatten mit zierung einen besonderen Stellenwert bekommen muss . Ihnen über dieses große Thema . Ich lade jeden, dem es Aber wir brauchen mehr . Aus der Arbeitslosenversiche- um die Sache geht, ein, darüber mitzudiskutieren . Das rung muss eine Arbeitsversicherung werden . tun wir am besten hier im Parlament und nicht bei irgend- welchen Partys . (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22569

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) Aus der Bundesagentur für Arbeit muss eine Bundes- Vizepräsidentin Michaela Noll: (C) agentur für Arbeit und Qualifizierung werden. Vielen Dank, Frau Kollegin. – Ich schließe die Aus- (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist sie sprache . doch schon!) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Darauf – das ist kein Wahlkampfgetöse; das will ich Drucksache 18/11419 an die in der Tagesordnung aufge- gleich abtun – zielt das Weißbuch der Bundesregierung führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein- ab . Da hat unsere Bundesministerin schon einiges getan . verstanden? – Das ist der Fall . Dann ist die Überweisung so beschlossen . Wir wissen: Der erlernte Beruf reicht heute nicht mehr aus . Das Schlagwort „lebenslanges Lernen“ müssen wir Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: ernster denn je nehmen . Aus diesem Grund soll die Bun- desagentur für Arbeit nicht erst bei Arbeitslosigkeit grei- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung fen . Sie soll nicht erst dann ins Spiel kommen, sondern eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Um- Beschäftigte sollen in ihrem Berufsleben jederzeit eine setzung der Vierten EU-Geldwäscherichtlinie, unabhängige Beratung erhalten können . zur Ausführung der EU-Geldtransferverord- nung und zur Neuorganisation der Zentral- (Beifall bei der SPD) stelle für Finanztransaktionsuntersuchungen Jeder stellt sich doch die Fragen: Welche beruflichen Drucksache 18/11555 Perspektiven habe ich mit meiner vorhandenen Qualifi- kation? Welche Optionen bleiben mir für eine berufliche Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Weiterbildung? Was ist für mich sinnvoll? – Die Bundes- Innenausschuss agentur soll für das gesamte Erwerbsleben Ansprechpart- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz nerin für Weiterbildung sein, auch ohne Arbeitslosigkeit . Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss (Beifall bei der SPD) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Es geht um den Wiedereinstieg in Arbeit, aber nicht Dr . , Dr . Dietmar Bartsch, nur . Es geht auch darum, Beschäftigungsfähigkeit zu er- Dr . Petra Sitte und der Fraktion DIE LINKE halten und zu sichern . Eine Arbeitsversicherung könnte im Bereich der Qualifizierung die notwendigen Schrit- Anonyme Briefkastenfirmen verbieten – te übernehmen . Natürlich gilt das umso mehr für Men- Transparenzregister einrichten (B) schen, die arbeitslos sind . Kollegin Pothmer, Kollege (D) Weiler und Kollege Zech, Sie alle haben gesagt: Das ist Drucksache 18/8133 Wahlkampfgetöse! – Nein, ein Blick ins Weißbuch der Überweisungsvorschlag: Bundesregierung bringt ein bisschen mehr Klarheit . Finanzausschuss (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Dort steht eindeutig drin: Erste Schritte haben wir mit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für der Novelle zum Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei- und zum Arbeitslosenversicherungsschutz- und Weiter- nen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen . bildungsstärkungsgesetz unternommen . Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner spricht (Dr . Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Aber das zu Ihnen der Parlamentarische Staatssekretär Dr . Michael alles nicht als Brücke in die Frührente!) Meister . Es gibt nun für langzeitarbeitslose und geringqualifizier- te Menschen einen besseren Zugang zu einer Weiterbil- (Beifall bei der CDU/CSU) dung, die auch zu einem Abschluss führt . Da müssen wir – das ist mir eine Herzensangelegenheit – nachlegen . Dr. Michael Meister, Parl . Staatssekretär beim Bun- desminister der Finanzen: (Beifall bei der SPD) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Ich habe Ihnen an dieser Stelle im vergangenen Monat Schluss . Die Geschichte erzählt uns von vielen Beru- das Steuerumgehungsbekämpfungsgesetz vorgestellt . fen, die es schon lange nicht mehr gibt . Ich glaube, das Dann haben wir uns als Konsequenz aus den Panama Pa- Thema „digitale Arbeitswelt“ hat uns wieder an eine Zei- pers mit der Frage, wie wir Steuerhinterziehung besser tenwende gebracht; da stehen wir jetzt . Dass wir unsere bekämpfen können, auseinandergesetzt . Bundesminister sozialen Sicherungssysteme so gestalten, dass Menschen Wolfgang Schäuble hat einen Zehn-Punkte-Plan vorge- Sicherheit haben in Zeiten der Arbeit und auch der Ar- legt, den wir in diesem Gesetzgebungsverfahren auf den beitslosigkeit, das ist unsere Aufgabe . Daran werden wir Weg gebracht haben . Heute befassen wir uns mit den He- arbeiten . Das Weißbuch gibt uns die Grundlage . rausforderungen der Geldwäsche und der Terrorismus- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit . finanzierung. Vor dem Hintergrund der Anschläge von Paris und Brüssel im vergangenen Jahr und gestern in (Beifall bei der SPD) London ist es, glaube ich, nicht nachvollziehbar, wenn 22570 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Parl. Staatssekretär Dr. Michael Meister (A) wir nicht energisch gegen die Finanzierung terroristi- Mittel umzugehen . Wir wollen den Zweck erreichen, (C) scher Organisationen vorgehen . aber nicht, indem wir viel Bürokratie erzeugen . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) der SPD) Die internationale Organisation FATF, die sich mit der Es gibt eine intensive Debatte über die Frage, wer Frage befasst, was man gegen Geldwäsche und Terroris- Zugang zu den Informationen in diesem Register haben musfinanzierung tun kann, hat Empfehlungen ausgespro- soll . Wir sind der Meinung, dass wir an dieser Stelle eine chen, die auf europäischer Ebene in der Vierten Geld- Eins-zu-eins-Umsetzung des europäischen Rechts, wie wäscherichtlinie niedergelegt sind . Diese Empfehlungen es in der Vierten Geldwäscherichtlinie steht, vornehmen besagen, in Zukunft nicht mehr eine gleichmäßige Kon- sollten . Das bedeutet, dass bei einem berechtigten Inte- trolle der gesamten Wirtschaft durchzuführen, sondern resse – aber eben nur dann – Zugang besteht nicht nur für zu versuchen, mit den zur Verfügung stehenden Ressour- Behörden und Verpflichtete im Sinne des Geldwäschege- cen in einem effizienteren Ansatz eine risikoorientierte setzes, sondern auch für Journalisten oder für Nichtregie- Kontrolle vorzunehmen, also dort vertieft zu prüfen, wo rungsorganisationen . Wir haben das vor dem Hintergrund man Risiken identifizieren kann, und dort Ressourcen ab- des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mit dem Eingriff in zubauen, wo keine Risikoindikatoren anschlagen . die Persönlichkeitsrechte und Datenschutzrechte des ein- zelnen Bürgers abgewogen . Wenn wir in diese Persön- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und lichkeitsrechte eingreifen, dann muss eben ein entspre- der SPD) chender Grund dafür angeführt werden können . Das ist der Grundgedanke dieser Richtlinie . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Die Richtlinie ist im Mai 2015 verabschiedet worden . Die Umsetzungsfrist läuft bis Juni dieses Jahres . Deshalb Wir sehen an zwei Stellen Ausweitungen vor, und müssen wir jetzt hier im Bundestag über die nationale zwar im Bereich der Verpflichteten. Das ist zum einen bei Umsetzung sprechen . den Güterhändlern der Fall . Für die Güterhändler gelten heute schon die notwendigen Sorgfaltspflichten. Wenn Der erste Ansatzpunkt ist die Neuausrichtung der sie Geschäfte abwickeln, dann sind sie Verpflichtete und Financial Intelligence Unit, kurz: FIU . Das ist ein An- müssen geldwäscherechtliche Sorgfaltspflichten einhal- satz, den in Deutschland bereits das Bundeskriminalamt ten . An dieser Stelle wird ein Grenzwert verändert . Statt verfolgt . Wir überführen das Ganze nun von der Polizei heute 15 000 Euro bei Barzahlung sind es in Zukunft (B) in den Bereich der Finanzen . Das ist wichtig, weil wir 10 000 Euro . Das heißt nicht, dass man bei Geschäften (D) eine Institution schaffen wollen, die eine Filterfunktion unterhalb dieser Grenze bezogen auf Geldwäsche nicht hat und eingehende Verdachtsmeldungen nicht einfach sorgfältig sein muss . Aber das heißt, dass man bei Bar- ungefiltert weiterleitet. Sie führt eine erste Prüfung des zahlung oberhalb dieser Grenze auf jeden Fall die Sorg- Gehalts einer Meldung durch und sorgt dann dafür, dass faltspflichten einhalten muss. die zuständigen Polizei- und Strafverfolgungsbehörden risikoorientiert den tatsächlichen Verdachtsfällen nach- Zum anderen ist das im Bereich des Glücksspiels der gehen können . Wir werden die FIU beim Zoll ansiedeln Fall . Beim Glücksspiel ist es seit jeher so, dass Glücks- und personell deutlich aufstocken . Heute hat diese Ein- spielanbieter nicht zwingend Verpflichtete sind. Sie wer- heit 25 Mitarbeiter . Wir streben in Zukunft 165 Mitarbei- den jetzt Verpflichtete, es sei denn, es ist ein staatlicher ter an, um deutlich zu machen, dass wir diese Aufgabe Anbieter wie etwa die Lottogesellschaft, oder es ist eine sehr ernst nehmen . An dieser Stelle ist auch internationa- Gastronomie, wo Glücksspielautomaten stehen . Im letz- le Koordination gefragt; denn Verdachtsmeldungen kom- teren Fall ist es zwar auch Glücksspiel; aber da sehen men nicht nur aus dem Inland, sondern möglicherweise wir bei dem risikoorientierten Ansatz nicht unbedingt die auch aus dem Ausland . Umgekehrt müssen wir natürlich Herausforderung . entsprechenden Partnerbehörden in anderen Ländern un- sere Verdachtsmeldungen weitergeben. Ich bitte Sie, in der relativ knappen Zeit bis Juni die- sen Gesetzentwurf sorgsam und intensiv mit uns zu be- Der zweite Ansatzpunkt ist ein sogenanntes Transpa- raten. Ich hoffe, dass wir unseren Verpflichtungen bei der renzregister, mit dem wir dafür sorgen wollen, dass bei Terrorismusfinanzierungsbekämpfung und der Geldwä- allen wirtschaftlichen Akteuren, insbesondere bei juris- schebekämpfung nachkommen . tischen Personen, klar ist, wer eigentlich der wirtschaft- lich Berechtigte ist, der dahinter steht . Das muss nicht Herzlichen Dank . zwingend der Eigentümer sein . Wir möchten wissen: Wer (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) hat den wirtschaftlichen Einfluss auf eine Einheit? Das werden wir im Transparenzregister niederlegen . Da wir versuchen wollen, mit möglichst wenig Bürokratie aus- Vizepräsidentin Michaela Noll: zukommen, greifen wir auf bestehende Register zurück, Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Als Nächster zum Beispiel das Handelsregister, und werden diese zu spricht der Kollege Richard Pitterle von der Fraktion Die einem neuen Register verlinken . Wo wir neue Daten be- Linke . nötigen – bei Stiftungen, bei Trusts –, werden wir diese anfordern . Ansonsten versuchen wir, sparsam mit diesem (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22571

(A) Richard Pitterle (DIE LINKE): somit im Geschäftsbereich des Bundesfinanzministeri- (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle- ums untergebracht . ginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Vor (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das ist gut!) ungefähr einem Jahr war es Panama, vor ungefähr ei- nem Monat Malta . In schöner Regelmäßigkeit wird über Das ist grundsätzlich auch sinnvoll; denn genau dort soll- Geldwäsche und Steuerhinterziehung per Briefkasten- ten die Kompetenzen gebündelt sein, wenn man Geld- unternehmen in Steueroasen berichtet . Es ist sozusagen wäschern und Steuerhinterziehern auf den Zahn fühlen längst Alltag, dass manche Reiche und Hyperreiche ihre will . Damit kommt die Bundesregierung – wenn auch Vermögen auf zwielichtigem Wege vor dem Zugriff des mit kleinen Trippelschritten – wieder einmal einer unse- Finanzamtes schützen . Das schadet uns allen; denn wenn rer Forderungen entgegen . Immerhin hat die Linke schon Steuern nicht gezahlt werden, fehlt dringend benötigtes 2013 die Einrichtung einer Bundesfinanzpolizei beim Geld für Schulen, Straßen und Krankenhäuser . Bundesfinanzministerium gefordert, um Geldwäsche wirksam bekämpfen zu können . Die Bundesregierung legt nun den Entwurf ihres Ge- setzes zur Umsetzung der Vierten Geldwäscherichtlinie (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Wenn wir Sie der EU vor und präsentiert sich hier wieder als große nicht hätten!) Kämpferin gegen Geldwäsche und Steuerhinterziehung . Wir freuen uns, dass die Große Koalition auch einmal Meine Damen und Herren, die Realität sieht leider anders lernfähig ist und geben natürlich weiterhin gerne Hilfe- aus . Die Bundesregierung schreitet nicht voran, sondern stellung beim Laufenlernen . dackelt offenbar völlig überfordert hinterher. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Zum Beispiel muss sich die Bundesregierung auch hier Bis zum 26 .Juni dieses Jahres ist – so haben wir gehört – von ihrem Sparzwang befreien und das entsprechende die aus 2015 stammende Richtlinie umzusetzen, und erst Personal kräftig aufstocken . jetzt, kurz vor Schluss, wird die Bundesregierung tätig . Mehr noch: Auf europäischer Ebene schnürt man längst Ich komme zum letzten und dritten Punkt, zu den am nächsten Maßnahmenpaket . Die Bundesregierung vollmundigen Ankündigungen der Bundesregierung ist nicht Motor, sondern Bremse bei der EU-weiten Be- und dem Ergebnis . Liebe Kolleginnen und Kollegen, die kämpfung von Geldwäsche . Die Linke lässt Ihnen das so Bundesminister Gabriel, Müller und Maas haben im letz- nicht durchgehen! ten Jahr noch groß gefordert, auch weltweit mit gutem Beispiel voranzugehen und Briefkastenunternehmen zu (Beifall bei der LINKEN) bekämpfen . Da frage ich mich: Wo bleibt denn nun die (B) Ich will drei Punkte zum vorliegenden Gesetz anspre- große Initiative seitens der Bundesregierung? Wir wollen (D) chen . Das ist erstens das Transparenzregister, einer der doch hoffen, dass das am Ende nicht wieder bloß die hin- zentralen Punkte des Gesetzes . Darin sollen die „wirt- länglich bekannte heiße Luft ist . schaftlich Berechtigten“ – also die wahren Eigentümer (Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Sie reden zum Beispiel eines Unternehmens – aufgeführt werden, vom völlig falschen Gesetz!) damit sich nicht X oder Y hinter irgendwelchen Briefkas- tenunternehmen verstecken können . So weit, so gut . Das Aus meiner Sicht wäre es zumindest erforderlich, die Transparenzregister aber, das die Bundesregierung nun Bußgelder nach dem Geldwäschegesetz sowie auch die plant, ist leider genau eines nicht: transparent . Im Ge- Bußgelder bei Verletzung der Meldepflichten nach der genteil: Die Daten bleiben unter Verschluss und werden Außenwirtschaftsverordnung deutlich anzuheben . Diese nur dann an die Öffentlichkeit herausgegeben, wenn man verpflichtet bekanntlich den Steuerpflichtigen, Beteili- ein berechtigtes Interesse an der Einsichtnahme nachwei- gungen an einer ausländischen Gesellschaft – zum Bei- sen kann . Die Bundesregierung hat hier einmal wieder spiel an einer GmbH in Panama – an die Bundesbank dem Druck der Unternehmerlobby nachgegeben, die auf zu melden . Die Bußgeldrahmen unterscheiden sich bei angebliche Gefahren durch Entführer verwies . Wir von vergleichbarem Fehlverhalten deutlich . Es wäre im Üb- der Linken fordern hingegen in unserem Antrag, dass das rigen effizienter, Meldepflichten in einem Gesetz zu kon- Transparenzregister uneingeschränkt öffentlich zugäng- zentrieren. Dies wäre auch für die Meldepflichtigen über- lich ist, damit tatsächlich eine wirksame Kontrolle statt- sichtlicher . finden kann. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der LINKEN – Lothar Binding (Beifall bei der LINKEN) [Heidelberg] [SPD]: Aber Journalisten haben jetzt auch schon Zugang bei berechtigtem In- Vizepräsidentin Michaela Noll: teresse! Das ist schon einmal sehr gut!) Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächster hat das Ich komme zum zweiten Punkt im Gesetz, den ich an- Wort Dr . Jens Zimmermann von der SPD-Fraktion . sprechen möchte und der tatsächlich positiver Natur ist . Die bei Meldungen auf Geldwäscheverdacht zuständige (Beifall bei der SPD) Stelle war bisher beim Bundeskriminalamt angesiedelt . Mit dem neuen Gesetz wird die Stelle dort herausgelöst Dr. Jens Zimmermann (SPD): und künftig als sogenannte Zentralstelle für Finanztrans- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glau- aktionsuntersuchungen bei der Generalzolldirektion und be, man kann sehr gut an die Rede vom Kollegen Pitterle 22572 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Dr. Jens Zimmermann (A) anschließen; denn der Kampf auch gegen Briefkasten- Behörden sollen einen tieferen Einblick haben können als (C) firmen und im Zusammenhang mit den Panama Papers Geschäftspartner oder auch Journalisten . Das halten wir eint uns ja . Deswegen verhandeln wir hier im Deutschen für richtig. Aber wir sollten uns im Laufe der Verhand- Bundestag gerade auch das Steuerumgehungsbekämp- lungen noch einmal genau überlegen, ob wir wirklich fungsgesetz . Man kann uns da also sicherlich vieles vor- diese Schwelle einziehen wollen, dass dieses berechtigte werfen, aber nicht, dass wir untätig sind . Interesse jedes Mal nachgewiesen werden muss; denn es gibt, glaube ich, an dieser Stelle nur zwei Varianten. Gleichzeitig muss man an dieser Stelle – da haben Sie schon ein bisschen recht – auch sagen: Es gehört eben Die eine Variante ist, dass dieses berechtigte Interesse doch alles zusammen . Wenn man in dieser Woche die in Zukunft immer als Begründung dafür herhalten muss, Presse verfolgt hat, konnte man lesen, dass Briefkasten- dass man keinen Einblick gewährt, wenn man eine harte firmen im Zusammenhang mit der „Russian Laundro- Linie fährt. Die andere Variante ist, dass man es umge- mat“ – dabei ging es um die „russische Waschmaschi- kehrt ganz leicht macht und jeder, der möchte, immer ne“ – eine Rolle gespielt haben . Das zeigt eben, dass Einblick nehmen kann . Dann sollten wir meiner Mei- Geldwäsche nach wie vor ein sehr großes Thema ist . Es nung nach aber auch nach außen das ganz klare Signal werden Gelder aus zwielichtigen Kanälen gewaschen . senden: Jeder sollte Einblick nehmen können, weil es Auch wird Geld gewaschen und transferiert, das für ter- eigentlich Informationen sind, bei denen niemand etwas roristische Aktivitäten genutzt werden kann . Deswegen zu verbergen hat . Diese Güterabwägung können wir an eint uns, glaube ich, hier alle im Haus der entschiedene dieser Stelle, denke ich, treffen. Kampf gegen Geldwäsche . (Beifall des Abg . Lothar Binding [Heidel- Die Tatsache, dass sich die Umsetzung jetzt ein biss- berg] [SPD]) chen nach hinten geschoben hat, ist ja kein Beleg dafür, Die Güterhändler sind ein wesentlicher Teil im Kampf dass wir wenig machen wollen, sondern ganz im Gegen- gegen Geldwäsche . Es sind nicht nur die Banken . Es geht teil . Das Ansinnen der Koalition und der Bundesregie- nicht nur um die Geldtransfers, sondern es geht auch um rung an dieser Stelle war ja, möglichst die Fünfte Geld- die Frage: Was passiert am Ende eigentlich mit diesem wäscherichtlinie, die wir jetzt noch bekommen werden, Geld? Deswegen halten wir es für den richtigen Schritt, hier schon direkt hineinzunehmen . Dass das – Sie wis- dass die Schwelle, ab der erhöhte Sorgfaltspflichten gel- sen, wie in Brüssel manchmal die Verhandlungen lau- ten, von 15 000 Euro auf 10 000 Euro gesenkt wird . Was fen – jetzt nicht geklappt hat, ist schade; aber es wäre wir in der Diskussion, auch mit vielen Betroffenen, er- falsch, das in diese Richtung zu interpretieren, meine fahren haben, ist, dass man gerne bereit ist, sich auf diese Damen und Herren . Schwelle einzulassen, weil viele Unternehmen zuneh- (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mend merken, dass sie Risiken eingehen, wenn sie solch (D) der CDU/CSU) hohe Bartransaktionen akzeptieren . Ich glaube, an dieser Stelle können wir mit der Industrie, mit dem Handel si- Aber wenn wir uns anschauen, was wir in der Umset- cher zu einer guten Lösung kommen . zung der Vierten Geldwäscherichtlinie in diesem Paket jetzt drin haben, dann können wir sagen: Wir haben mit In den weiteren Verhandlungen – wir sind heute in der der Neustrukturierung der Financial Intelligence Unit – ersten Lesung; der Bundesrat ist mit diesem Gesetzent- das ist die Zentralstelle, die den Kampf gegen Geldwä- wurf auch betraut – müssen wir vielleicht an der einen sche führt – einen wirklich wichtigen Punkt umgesetzt, oder anderen Stelle noch genauer hinschauen . Ich will ei- und wir begrüßen es sehr, dass wir an dieser Stelle eine nen Punkt noch einmal explizit in den Blick nehmen, und deutliche personelle Aufstockung erleben werden . Ich zwar die Frage: Was machen wir mit den Glücksspielau- glaube, ein ganz wichtiger Punkt, auf den wir in den Ver- tomaten? Der Kollege Staatssekretär hat so schön von handlungen noch ein bisschen genauer eingehen müssen, diesem einen Automaten in der Eckkneipe gesprochen, ist die Koordinierungsfunktion zwischen den einzelnen den wir jetzt nicht übermäßig belasten wollen . Da sind Ländern . Wir alle, die wir im Kampf gegen Geldwäsche wir vollkommen einer Meinung . Aber mir geht es an die- immer wieder zusammensitzen, wissen: Erfolgreich kön- ser Stelle nicht um die Eckkneipe mit dem einen Glücks- nen wir in Deutschland nur sein, wenn der Bund und die spielautomaten, sondern mir geht es um ganze Glücks- Bundesländer an einem Strang ziehen, meine Damen und spielkasinos, die teilweise – das muss man sagen – einen Herren . zweifelhaften Ruf haben . Ich halte es für ein schlechtes Signal, wenn wir bei der Umsetzung des Geldwäsche- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bekämpfungsgesetzes genau diese Branche privilegieren der CDU/CSU) und ausnehmen. Wir wollen aber nicht diejenigen ins Vi- Das Transparenzregister ist angesprochen worden, sier nehmen, die an diesen Automaten spielen, sondern ein wichtiger Punkt . Wir diskutieren jetzt darüber, wer wir wollen mit denjenigen reden, die solche Geschäfte eigentlich auf die Informationen in diesem Transparenz- betreiben . Ich glaube, es ist der Mühe wert, dass wir uns register zugreifen darf . Es ist nun nicht so, als würden in den weiteren Verhandlungen dieses Thema noch ein- da ganz geheime Informationen drinstehen . Da steht mal genauer anschauen und überlegen sollten, nicht auch letztendlich drin, wer der wirtschaftlich Berechtigte ei- für Betreiber von solchen Etablissements erhöhte Sorg- nes Unternehmens ist . Ich denke, das sind im Normalfall faltspflichten einzuführen. Informationen, die auch durch viele öffentliche Quellen Vielen Dank. zugänglich sind . Sie werden aus bestehenden Registern zusammengeführt. Wir haben ein abgestuftes Verfahren. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22573

(A) Vizepräsidentin Michaela Noll: Deswegen wird für uns ein wichtiger Punkt in den Be- (C) Vielen Dank, Herr Kollege Zimmermann. – Als ratungen des Gesetzes sein, dass wir es schaffen, dieses Nächstes spricht der Kollege Dr .Gerhard Schick von der Register zu einem öffentlichen Register zu machen. Das Fraktion Bündnis 90/Die Grünen . ist auch aus Teilen Ihrer Parteien gefordert worden . Es ist eine Forderung der Zivilgesellschaft . Wir werden uns dafür starkmachen. Ein nichtöffentliches Transparenz- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dr. Gerhard Schick register schafft keine wirkliche Transparenz. Deswegen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! brauchen wir eine Korrektur . Das Dossier in der Süddeutschen Zeitung über russi- sche Geldwäsche, wonach in den Jahren 2010 bis 2014 (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mindestens 20 Milliarden Euro russisches Schwarzgeld in der Europäischen Union gewaschen worden sind, ist Auch fehlt es wieder an Datenschutz . Das, was uns schon angesprochen worden. In dem Artikel finden sich manche Unternehmerinnen und Unternehmer sagen, ist zwei Zitate, die man sich in dieser Debatte noch einmal nicht ganz falsch . Wir wollen nicht, dass sich Unterneh- in Erinnerung rufen muss . Das eine Zitat ist: men verschleiern können; aber Personen haben einen Anspruch darauf, dass ihre sensiblen Daten geschützt Geldwäscher fühlen sich von der Bundesrepublik werden . Deswegen meinen wir, dass man noch einmal eingeladen . darüber reden muss, ob man mit einer Verschlüsselung Das andere Zitat lautet: der sensiblen Daten ein Stück mehr Datenschutz errei- chen kann . Auch das werden wir in die Beratungen ein- Geldwäscher lieben Deutschland . bringen . Das ist nicht das Bild, das wir von unserem Land ger- ne hätten . Die Diagnose ist auch nicht neu . Wenn es um (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Frage der Schattenfinanzzentren geht und von den NGOs internationale Rankings aufgestellt werden, dann Wenn es um die Verlagerung der Financial Intelligen- taucht die Bundesrepublik Deutschland leider regelmä- ce Unit geht, dann werden wir uns das genau anschauen ßig relativ weit oben auf . Es stellt sich die Frage: Was müssen . Der Aufwuchs der Beschäftigten ist sicher hilf- passiert hier eigentlich? Was ist in den letzten Jahren pas- reich. Aber allein die Verlagerung wird das Strukturpro- siert? Jetzt haben wir wieder ein Gesetz, wo es im We- blem, dass Informationen aus vielen Branchen überhaupt sentlichen um die Umsetzung einer europäischen Richt- nicht kommen, dass Verdachtsmeldungen überhaupt linie geht . Wir haben also nicht einen eigenen Ansatz, nicht da sind und nicht die richtige Qualität haben, dass das Defizit in unserem eigenen Land anzugehen, sondern die Behörden nicht zusammenarbeiten, nicht lösen . Des- (B) es ist erneut getrieben von der Europäischen Union . In wegen bleibt der Appell an die Verantwortlichen in Bund (D) den Jahren seit 2009 wäre es notwendig gewesen – der und Ländern, das seit Jahren bekannte Problem: „Wie Bundesfinanzminister ist für dieses Thema zuständig –, stellen wir uns organisatorisch, behördlich auf, welche irgendwann zu überlegen: Was machen wir eigentlich, Behörde macht was und wie arbeiten sie zusammen?“ um diese Diagnose, diesen Zustand auch aus unserem endlich sinnvoll anzugehen . eigenen Interesse heraus zu überwinden? Es kann nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sein, dass wir immer warten, bis die Europäische Union handelt. Vor allem angesichts des ständigen Fingerzeigs Ich will noch einen Punkt kurz ansprechen . Es geht von Deutschland auf Steueroasen da und dort ist es nicht um die Frage, die jetzt gerade auf europäischer Ebene lauter, nicht vor der eigenen Haustüre zu kehren . Das ist diskutiert wird – die Bundesregierung steht da auf der notwendig . Bremse –: Kann man eigentlich bei Immobilieneigentum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) feststellen, wem da was gehört, wenn man zum Beispiel Vermögen von Kriminellen einziehen will? Ich glaube, Das Kernstück des Gesetzes, das in der Öffentlichkeit auch da gibt es in Deutschland noch Nachsteuerungsbe- am meisten bekannt ist, ist das Transparenzregister . Es ist darf; das sollten wir hier diskutieren . Es sollte vielleicht schon im Jahr 2014 von der Financial Action Task Force nicht so sein, dass wir da wieder auf eine europäische angemahnt worden, dass in Deutschland ein solches Re- Initiative, auf Druck von europäischer Seite warten, son- gister fehlt . Es ist eine langjährige Forderung, dass wir dern aus unserem Interesse dafür sorgen, dass Strafver- ein solches Register bekommen . Jetzt könnte man froh folgungsbehörden hier die Möglichkeit haben, die Straf- sein, dass es das gibt . Aber es wird keine wirkliche Öf- verfolgung zu leisten . fentlichkeit hergestellt, weil dieses Register nur auf An- trag eingesehen werden kann, wenn man ein berechtigtes Vielen Dank. Interesse nachweisen kann . Auf der einen Seite gibt es das Problem, dass viele aufgrund dieser Voraussetzun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gen abgehalten werden, diese Information einzusehen, andererseits wird es ein Problem bei der Qualität der da- rin enthaltenen Daten geben . Wie stellt man denn sicher, Vizepräsidentin Michaela Noll: dass das, was in einem solchen Register steht, wirklich Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächstes spricht stimmt? Am besten über eine öffentliche Kontrolle, also Dr. Frank Steffel von der CDU/CSU-Fraktion. dadurch, dass korrigiert werden kann, wenn Leute mer- ken, dass irgendwelche Daten nicht stimmen . (Beifall bei der CDU/CSU) 22574 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) Dr. Frank Steffel (CDU/CSU): Deutschland Geldwäsche betreiben, indem sie Güter (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! kaufen, indem sie Bargeld in Umlauf bringen und vieles Wir beraten heute die Vierte EU-Geldwäscherichtlinie andere mehr, aber stellen fest, dass unseren Verdachts- und hatten in der Tat die Absicht, sie gemeinsam mit der meldungen überhaupt nicht nachgegangen wird, dass wir Fünften zu beraten . Das macht ja auch Sinn; denn es geht die Verdachtsmeldung abgeben und wir von der Behörde um erhebliche Veränderungen auch im Hinblick auf die über Monate überhaupt nichts hören . – Ich glaube, das ist Strukturen, die Kontrollmechanismen, das Controlling die Mindestvoraussetzung, von der man als Staatsbürger von Zehntausenden Unternehmen in Deutschland . Inso- ausgehen kann: Wenn wir hier ein Gesetz beschließen, fern sollte man das nicht jedes halbe Jahr neu regulieren . dann muss es auch ernsthaft dort umgesetzt werden, wo Leider hat die EU den Zeitrahmen, den sie sich vorge- es kontrolliert wird, nicht nur in den Unternehmen und in nommen hat, nicht eingehalten . Insofern werden wir den Organisationen, die die Meldungen machen . jetzt – der Koalitionspartner hat zu Recht darauf hinge- wiesen: bis Juni – selbstverständlich die Vierte EU-Geld- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . wäscherichtlinie in Deutschland umsetzen und unseren Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]) Beitrag dazu leisten, dass in Deutschland noch weniger Zweiter Punkt: Bargeld . Wir stellen in Deutschland im Geldwäsche stattfindet und die Terrorismusbekämpfung positiven Sinne – das ist ganz menschlich – eine hohe noch effizienter erfolgen kann. Sensibilität im Hinblick auf Bargeld fest . Wir haben we- Mit Panama-Briefkästen hat das alles übrigens leid- niger Kreditkarten-Geldverkehr als fast alle vergleichba- lich wenig zu tun . Wir sind uns völlig einig: Das mit ren Länder der Welt . Sobald boulevardesk aufgemacht den Panama-Briefkästen ist eine Sauerei . Wo immer so wird: „Die 500-Euro-Note verschwindet“, haben die etwas noch möglich ist, muss es international bekämpft Deutschen das Gefühl, man missachte ihr Interesse, mit und sanktioniert werden . Hier müssen diejenigen, die es Bargeld zahlen zu dürfen und nicht alles dokumentieren zulassen, und diejenigen, die es tun, bestraft werden, in zu müssen, aber auch den Schutz ihrer persönlichen Da- Deutschland und überall auf der Welt . Es gibt aber eine ten und ihrer persönlichen Bürgerfreiheiten . Hier möch- Gemeinsamkeit: Beides geht nur international – sowohl ten wir die Menschen beruhigen und sagen: Nein, das Geldwäsche- und Terrorismusbekämpfung als auch die werden wir nicht tun . Bekämpfung von Steuerhinterziehung und dessen, was sich hinter den Begriffen „Panama-Briefkasten“ und (Beifall der Abg . Marie-Luise Dött [CDU/ „Panama Papers“ verbirgt . CSU] – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das wird von manchen Professoren geschürt!) Insofern kann man am heutigen Tage bei aller Kritik (B) an Europa, bei all dem, was manchmal schlecht und lang- – Das wird von Fachleuten, von Medien geschürt, übri- (D) sam umgesetzt wird, positiv feststellen – ich sage das ge- gens auch von Politikern, Herr Kollege Binding .– Aber rade auch den vielen jungen Zuhörern hier im Deutschen eine Änderung in diesem Bereich wird nicht stattfinden, Bundestag –: Geldwäsche- und Terrorismusbekämpfung sondern es wird auch in Zukunft jedem Deutschen mög- ist ein gutes Beispiel dafür, dass es eben nur gemeinsam lich sein, ganz legal mit Bargeld zu bezahlen . Hier muss in Europa geht . Denn Geldwäsche macht vor deutschen niemand Sorge vor dieser Bundesregierung und dieser Grenzen nicht halt, aber eben auch nicht vor polnischen, Koalition haben . vor österreichischen oder vor französischen Grenzen . Insofern müssen wir es in Europa gemeinsam tun und (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) werden es auch tun . Die Sache mit dem Transparenzregister haben Sie sehr (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- verkürzt dargestellt, Herr Schick . Da Sie Fachmann und ordneten der SPD) nicht so naiv sind, wie Sie sich hier verkauft haben, Die Kritik an der mangelhaften Umsetzung in Deutsch- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) land – Herr Schick, Sie haben das zu Recht in vielen Be- richterstattergesprächen sehr kritisch angemahnt – eint wissen Sie ganz genau, dass da kein Student nachts am uns, glaube ich, alle . Wir stellen fest, dass die Umset- Computer sitzt und im Transparenzregister stöbert und zung in den 16 Bundesländern, die dafür zuständig sind, nebenbei russischen Oligarchen, den Mafiosi oder den ziemlich leidenschaftslos betrieben wird, es da in vielen Terroristen entdeckt . Das ist absurd . Die Hauptarbeit Ländern einen Mitarbeiter in irgendeiner Behörde gibt, müssen die staatlichen Stellen leisten . Journalisten kön- und das nicht einmal einheitlich in allen Bundesländern . nen da helfen . Die Hauptarbeit müssen NGOs leisten . Deswegen unterstützen wir ausdrücklich das Anliegen der Bundesregierung, mehr zu zentralisieren, Stellen auf Wir haben die Möglichkeit geschaffen, dass jeder, der Bundesebene zu schaffen, den professionellen Zoll ein- ein Geschäftsinteresse hat, prüfen kann, ob derjenige, der zusetzen und Verdachtsmeldungen wirklich sehr konse- etwas bei ihm kaufen möchte, etwas verschleiern möch- quent nachzugehen . te . Es gibt die Möglichkeit, zu prüfen: Wer ist wirtschaft- lich begünstigt? Das ist für mich nämlich das Allerfrustrierendste: Wir haben viele Unternehmen in Deutschland – ganz große (Dr .Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE und viele mittelständische –, die Verdachtsfälle melden. GRÜNEN]: Aber die meisten Informationen Sie sagen: Wir haben einen konkreten Verdacht, dass kamen von den Whistleblowern und nicht von vielfach auch Menschen nichtdeutscher Nationalität in den staatlichen Stellen!) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22575

Dr. Frank Steffel (A) – Aber Herr Schick! – Hier eine Hexenjagd daraus zu ab eine Bemerkung . Ich habe bei Google nach dem Be- (C) machen griff „Geldwäsche“ gesucht. (Dr . Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE (Dr . h . c . Hans Michelbach [CDU/CSU]: GRÜNEN]: Das ist keine Hexenjagd!) Haben Sie Dr . Schick gefunden?) und den Eindruck zu erwecken, dass jeder stille Gesell- und wurde mit folgendem Pop-up beglückt: Diesen schafter und jeder, der aus irgendwelchen Gründen an Freitag – jetzt mitspielen, Euro-Jackpot rund 49 Millio- einer deutschen Gesellschaft beteiligt ist, ein potenziel- nen! – Es hat mich gewundert, dass in diesem Kontext ler Geldwäscher ist, das wird der deutschen Wirklichkeit ein solches Pop-up kommt . Da merkt man, was von Goo- nicht gerecht . gle im Hintergrund verknüpft wird . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Gerhard Schick hat zitiert, dass Geldwäscher Deutsch- Dr .Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- land lieben, und die Zahl 20 Milliarden Euro erwähnt . NEN]: Das hat auch niemand behauptet!) Soweit wir wissen, sind von den 20 Milliarden Euro un- 99,9 Prozent der deutschen Unternehmen sind von gefähr 30 bis 40 Millionen Euro in Deutschland gewa- dem, was wir hier diskutieren, überhaupt nicht betroffen. schen worden . Das ist eine andere Größenordnung . Des- halb denke ich: Wenn wir so pauschal über dieses Thema (Dr .Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE sprechen, dann kommen wir der Sache nicht näher . GRÜNEN]: Wo haben Sie denn diese Zahl her?) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir reden über einige wenige schwerkriminelle Strafta- Was sind bei dem Beispiel, das er genannt hat, über- ten, deren Überwachung wir noch besser hinbekommen haupt die Zutaten? Ich nenne sie einmal: eine russische möchten . Im Übrigen ist Deutschland deshalb so betrof- Firma, die Schwarzgeld hat – das ist klar –, zwei Brief- fen, weil es in Europa zentral liegt und weil es ein sehr kastenfirmen, und zwar nicht in Deutschland, sondern großes und ein sehr freiheitliches Land ist . in Großbritannien – ich nenne sie einmal Firma A und Firma B –, einen Richter aus Moldau – man fragt sich: Natürlich ist eine Güterabwägung zu treffen. Wir wer- warum Moldau?; die Antwort: wir haben ein Assoziie- den in allen Bereichen, übrigens auch was den Güterhan- rungsabkommen, es gibt also Freihandel mit Moldau, del betrifft, mit Augenmaß vorgehen. Uns liegen sehr de- und deshalb gelten Rechtsverhältnisse in Moldau auch zidierte Hinweise von internationalen Konzernen vor, in für die EU – und einen Staatsbürger aus Moldau . Wir ha- denen es heißt: Achtung, reguliert in Deutschland nicht ben also Russland, England, Moldau und Deutschland . schärfer als in anderen europäischen Ländern! Ihr macht Jetzt schauen wir uns einmal an, was da eine Rolle spielt . (B) unsere Geschäfte in Europa, in Asien und in Amerika ka- (D) putt, weil wir uns an das deutsche Gesetz halten müssen, Die Firma A schließt mit der Firma B einen Vertrag, unsere Wettbewerber aber nicht . dass die Firma A der Firma B ganz viel Geld leiht . Sie leiht ihr gar kein Geld, aber die Bürgschaft für dieses Wir werden darauf achten, dass wir die Bürokratie Leihgeschäft übernehmen die russische Firma und der nicht überborden . Es kann nicht sein, dass jeder, der ei- Bürger aus Moldau, wir haben also zwei Bürgen . Nun nem Studenten einen Gebrauchtwagen für 1 200 Euro verlangt die Firma A das gar nicht an die Firma B gelie- verkauft, in den Verdacht der Geldwäsche gerät. Das ist hene Geld zurück, obwohl noch gar kein Geld geflossen absurd . Das hat mit der Lebenswirklichkeit nichts zu tun . ist . Weil Firma B aber nicht zahlt – ist ja klar, sie hat ja Wir haben im Parlament jetzt vier Wochen Zeit bis zur auch kein Geld bekommen –, verklagt Firma A jetzt Fir- Anhörung Ende April . Wir werden über dieses Thema in ma B in Moldau auf Rückzahlung dieses nichtgezahlten aller Ausgewogenheit diskutieren . Die Menschen sollen Geldes . Der Bürge in Moldau ist zuständig . Der Rich- wissen: Uns liegt Geldwäschebekämpfung am Herzen, ter in Moldau entscheidet, dass die Schuldforderung zu Terrorismusbekämpfung ohnehin . Wir werden mit Au- Recht besteht, und wenn die Schuldforderung zu Recht genmaß dafür sorgen, dass nicht Zehntausende von Un- besteht, müssen die Bürgen zahlen . Das ist klar . Das ist ternehmen und Millionen von Bundesbürgern betroffen ein Rechtsgeschäft, das dort gültig ist . Deshalb über- sein werden, nur weil es einige wenige furchtbar krimi- nimmt jetzt die russische Firma die Überweisung an den nelle schwarze Schafe gibt . Gerichtsvollzieher in Moldau . Der wiederum überweist das Geld auf ein Konto der Firma A in Lettland . Man Vielen Dank. merkt, was da eine Rolle spielt: Das Schwarzgeld ist nun (Beifall bei der CDU/CSU) auf dem Konto der Firma A in Lettland, in der EU, an- gekommen . Jetzt werden mit diesem Geld Bestellungen bei der Firma Bogner im Auftrag der russischen Firma

Vizepräsidentin Michaela Noll: getätigt . Sie kauft mit diesem Schwarzgeld in einer ganz Danke, Herr Kollege Steffel. – Als nächster Redner: großen Dimension in Deutschland ein . Lothar Binding von der SPD-Fraktion . Jetzt könnte man sich fragen, ob der Außenhandels- (Beifall bei der SPD) vertreter der Firma Bogner nicht hätte spüren können, dass da möglicherweise andere Geschäftsmodelle im Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Hintergrund ablaufen . Man könnte darüber nachdenken, Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! ob wir ihn nicht verpflichten sollten, in einem solchen Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir vor- Fall aktiv zu werden . 22576 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Lothar Binding (Heidelberg) (A) An diesem Fall merken wir, dass die Sache nicht ganz Ich finde, das ist für die erste Lesung ein sehr guter (C) so einfach ist, wie es hier vorgetragen wurde . Es geht Aufschlag . Wir warten auf die zweite und dritte Lesung . nicht nur um Deutschland, sondern es geht um ein gro- ßes Geflecht und eine komplizierte Konstruktion, die das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten alles möglich macht . Umso mehr müssen wir mit den an- der CDU/CSU) deren Ländern darüber reden . Vizepräsidentin Michaela Noll: Wer ist eigentlich beteiligt? Es gibt immer drei Schrit- Vielen Dank, Herr Kollege. – Der letzte Redner in die- te: die Einspeisung des Schwarzgeldes in den Markt, die ser Aussprache ist Dr .Hans Michelbach von der CDU/ Verschleierung – da gibt es verschiedene Mechanismen – CSU-Fraktion . und die Integration des Weißgeldes in den Markt . Wer ist hauptsächlich beteiligt? Spielbanken, Pferderennen, Ho- (Beifall bei der CDU/CSU) tels, Wechselstuben, Bankkonten, Automatenwirtschaft . Eine kleine Bemerkung dazu – Jens Zimmermann hat Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): das schon erwähnt –: Wir haben uns ein bisschen darü- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In ber geärgert – darüber haben wir auch gestritten –, dass einer Studie von 2016 wird das Geldwäschevolumen in die CDU es erreicht hat, dass die Automatenwirtschaft, Deutschland pro Jahr auf 100 Milliarden Euro geschätzt . die im Referentenentwurf klugerweise enthalten war, he- Das ist eine unglaublich hohe Zahl . Ich glaube nicht, dass rausgenommen wurde . das realistisch ist . (Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Wir waren (Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Nein! Ich doch gar nicht beteiligt, Herr Kollege!) auch nicht!) Wir sehen darin einen schweren Fehler, weil – sagen wir Ich weiß aber, dass Ihr Zitat, Herr Dr .Schick, falsch es einmal so – zumindest nicht ganz klar ist, dass in den ist . Geldwäscher dürfen sich in Deutschland nicht einge- Automatensalons, von denen es allein im Umfeld mei- laden fühlen . Das Gegenteil ist der Fall . Herr Dr . Schick, ner Wohnung sechs Stück gibt, Geldwäsche unmöglich das wissen Sie . Natürlich wollen Kriminelle dorthin ge- ist . Insofern wäre es klug, sich darum noch einmal zu hen, wo es eine hohe Wirtschaftlichkeit, eine hohe Wirt- kümmern . Wir müssten sicher noch ein bisschen strei- schaftskraft und eine hohe wirtschaftliche Wertschöp- ten, damit sie wieder hineinkommen . Aber auch deutsche fung gibt . Das ist die automatische Anziehungskraft eines Banken haben fragwürdige Überweisungen aus Russland guten, erfolgreichen Wirtschaftsstandorts . Aber – das ist angenommen . das Wichtige dabei – wir wollen in Deutschland saube- (B) re Geschäfte . Wir wollen keine Kriminellen . Wir wollen (D) (Dr . h . c . Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das keine Steuerhinterziehung . ist doch strafbar!) Ich habe den Eindruck, Herr Kollege Binding, es Auch dort hat niemand genau hingeschaut, obwohl das wird in diesen Zeiten immer mehr Mode, den Standort gut gewesen wäre . Deutschland eher schlechtzureden . Wir sind stark als Wirtschaftsstandort, und ich glaube, wir können und Die Verschleierung funktioniert – das kennen wir müssen zwischen den sauberen und den unsauberen Ge- schon –: Scheingeschäfte, Offshorebanken, Briefkasten- schäften trennen . gesellschaften, Scheingesellschaften, Strohmänner, ge- fälschte Rechnungen, Rückdatierungen usw . Die Quellen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und und Senken sind Korruption, Waffen- und Drogenhandel, der SPD) Terrorismusfinanzierung. Also, es lohnt sich, dass wir Deshalb werden Geldwäsche und Terrorismus mit al- uns darum kümmern . ler Entschiedenheit bekämpft . Gerade in Zeiten, in de- In dem Gesetz wird als Antwort eine Neuorganisation nen die Terrorismusgefahr so hoch ist wie seit Jahrzehn- der Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen ten nicht mehr, müssen wir auf allen Gebieten intensiv in der vorgetragenen Weise vorgeschlagen . Das halten gegen den Terrorismus vorgehen . Dazu kann nicht nur wir für eine sehr gute Idee . Auch die Einrichtung eines die Innen- und Sicherheitspolitik einen wichtigen Bei- Transparenzregisters halten wir für eine gute Idee . Wer trag leisten, sondern eben auch die Finanzpolitik; denn ein „berechtigtes Interesse“ hat, sollte da hineinschauen schließlich planen Kriminelle und Terroristen oft auch können, inklusive Journalisten . Das ist eine Brücke in die mit finanziellen Mitteln, um ihre extremen Pläne umzu- Öffentlichkeit. Vielleicht kann man da noch mehr ma- setzen . Insofern tragen wir auch mit diesem Gesetz klar chen; als ersten Schritt finde ich das aber ganz gut. Vielen zu einer Bekämpfung bei . Journalisten verdanken wir ja die Erkenntnisse, die wir in Es ist ein gutes Zeichen, dass in dieser Woche, in der diesem Kontext haben . Insofern ist das sehr gut . wir das 60-jährige Bestehen der Römischen Verträge fei- ern, Europa auf diesem Gebiet vereint vorankommt, und Ein letzter Satz: Ich finde auch die Verschärfung der das sollten wir auch positiv festhalten . Mit europaweit Sanktionen von 100 000 Euro auf 1 Million Euro hin- einheitlichen Regeln können Geldwäsche und Terroris- reichend . Es handelt sich um die übelsten kriminellen mus am besten in effizienter Weise bekämpft werden. Machenschaften, die wir beobachten können . Deshalb ist eine Geldbuße von 1 Million Euro wahrscheinlich ange- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten messen . der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22577

Dr. h. c. Hans Michelbach (A) Schließlich haben uns die Anschläge der vergangenen Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall . Dann (C) Jahre gezeigt, dass Terroristen nicht national, sondern in- sind die Überweisungen so beschlossen . ternational agieren . Die Dritte Geldwäscherichtlinie gilt in Deutschland nunmehr zehn Jahre, und es ist selbstver- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c sowie ständlich, dass wir angesichts der vielen Entwicklungen den Zusatzpunkt 4 auf: und der zusätzlichen technischen Möglichkeiten auf die a) Beratung der Beschlussempfehlung und des neuen Vorgehensweisen zur Geldwäsche und Terrorfi- Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und nanzierung reagieren müssen . Energie (9 .Ausschuss) zu dem Antrag der Ab- geordneten Sylvia Kotting-Uhl, Kai Gehring, Zudem verbessern wir mit diesem Gesetz ganz klar die Annalena Baerbock, weiterer Abgeordneter und Effizienz. Dies tun wir mit der heutigen Einbringung des der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vorliegenden Gesetzentwurfes zur Umsetzung der Vier- ten EU-Geldwäscherichtlinie, die die Dritte EU-Geldwä- Europaweiten Atomausstieg voranbringen – scherichtlinie ablöst, und wir erwarten auch die Fünfte Euratom-Vertrag reformieren oder aussteigen EU-Geldwäscherichtlinie, sobald das EU-Parlament dies beschlossen hat . Drucksachen 18/8242, 18/8439 Konkret bedeutet dies, dass wir die Empfehlungen b) Beratung des Antrags der Abgeordneten weiter voranbringen . Die bedeutendsten Änderungen Alexander Ulrich, Hubertus Zdebel, Wolfgang sind natürlich nun einmal die Geldwäscherisiken an- Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion hand von Listen . Wir haben jetzt mit dem Elektronischen DIE LINKE Transparenzregister eine gute Lösung, hier auch weitere EU-Förderung von Atomenergie stoppen – Erfassung voranzubringen . Damit erhöhen wir die Trans- EURATOM-Vertrag beenden parenz und erschweren wir gleichzeitig den Missbrauch von Gesellschaften und Trusts für Geldwäsche, Steuerbe- Drucksache 18/11595 trug und Terrorismusfinanzierung. Zukünftig müssen die c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hubertus Finanzinstitute auch die Risiken ihrer Niederlassungen Zdebel, Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, weite- im Ausland erfassen und somit entsprechende Maßnah- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE men danach ausrichten . Ausfuhr von Uran-Brennstoffen für den Be- Ich glaube, das ist der richtige Ansatz . Es ist das Pro- trieb störanfälliger Atomkraftwerke im Aus- blem, dass international in besonderem Maße in verein- land stoppen ter Kraft hingesehen werden muss . Dabei – das ist mir (B) wichtig – darf es nicht zu pauschalem Generalverdacht Drucksache 18/11596 (D) und zur Überbürokratisierung kommen, und es darf nicht Überweisungsvorschlag: zu falschem Aktionismus kommen, wie das hier heute Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor­ angeklungen ist . Das ist der falsche Weg . Wir müssen sicherheit (f) schon genau die Schnittstelle betrachten, wo etwas kri- Ausschuss für Wirtschaft und Energie minell wird, wo Steuerhinterziehung stattfindet, und soll- ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ten nicht pauschal alles in Grund und Boden verdammen . richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Das ist falsch, Bau und Reaktorsicherheit (16 .Ausschuss) zu (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting- macht, glaube ich, auch keiner! Oder?) Uhl, Annalena Baerbock, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ und deswegen müssen wir uns dies ganz gezielt vorneh- DIE GRÜNEN men . Brennstofflieferungen für belgische Atom- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) kraftwerke stoppen Ich bin überzeugt, meine Damen und Herren, dass wir Drucksachen 18/9676, 18/10934 als starker Wirtschaftsstandort auch die Verantwortung haben, dass hierbei das kriminelle Geschäft, der Steu- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für erbetrug, die Terrorismusfinanzierung von den anderen die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei- Dingen klar getrennt werden . Das werden wir mit der nen Widerspruch . Dann ist es so beschlossen . Beratung über dieses Gesetz realisieren . Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Herzlichen Dank . Dr . Nina Scheer für die SPD-Fraktion . (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD)

Dr. Nina Scheer (SPD): Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache . Meine sehr verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über verschiedene Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Vorlagen, die den Euratom-Vertrag betreffen. Es ist nicht den Drucksachen 18/11555 und 18/8133 an die in der das erste Mal in dieser Legislaturperiode, dass wir uns Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . mit dieser Thematik auseinandersetzen . Ich möchte vor- 22578 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Dr. Nina Scheer (A) anstellen, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zu dem, sinnen, um den Ausstieg aus der militärischen Nutzung (C) was wir heute Vormittag verabschiedet haben, besteht. tatsächlich hinzubekommen und daran anschließend den Das Standortauswahlgesetz ist reformiert worden . Ich Ausstieg aus der zivilen Nutzung vervollkommnen zu verknüpfe den heutigen Tagesordnungspunkt thematisch können . Auf diesen technischen und faktischen Zusam- mit dem heute verabschiedeten Gesetzentwurf; denn das menhang wollte ich an dieser Stelle unbedingt hinwei- Standortauswahlgesetz hält uns eindrücklich vor Augen, sen; denn er ist von zentraler Bedeutung . mit welch enormen Lasten und Risiken die Nutzung der Atomenergie verbunden ist . Im Zusammenhang mit dem Euratom-Vertrag möch- te ich auf folgende Punkte hinweisen: Wir haben eine Im Gesetz ist festgeschrieben, dass wir uns für 1 Mil- zweigeteilte Betrachtungsnotwendigkeit, was den Eura- lion Jahre verpflichten, verantwortlich mit den Altlas- tom-Vertrag betrifft. Einerseits gibt es im Euratom-Ver- ten der Atomenergienutzung umzugehen . Die Angabe trag Bereiche, die in der Tat Dinge betreffen, die aus „1 Million Jahre“ ist natürlich ein Platzhalter für Ewig- sicherheitspolitischen und aus Gesundheitsschutz- bzw . keit, weil wir erkennen mussten, dass die Gefahren, die Vorsorgegründen wahrscheinlich aufrechtzuerhalten allein schon vom Atommüll ausgehen, so unermesslich sind . Ich denke, wir sind uns wahrscheinlich weitgehend und unbeherrschbar sind, dass wir es nur so beziffern einig – auch hier im Bundestag –, dass es Elemente gibt, können; denn es geht ins Unendliche . Um dies gesetzlich auf die sich die europäischen Staaten jenseits des Eura- zu fixieren, haben wir uns für die Angabe „1 Million Jah- tom-Vertrags oder auch innerhalb des Euratom-Vertrags re“ entschieden . verständigen sollten, weil sie bedeuten, gemeinsam für Sicherheit zu sorgen, jedenfalls solange in Europa auch Ich betone das deswegen hier so ausdrücklich, weil es nur noch ein einziges AKW existiert . Ein gemeinsames versinnbildlicht, wie unverantwortlich die Nutzung von Für-Sicherheit-Sorgen ist, denke ich, sicherer, als wenn Atomenergie ist . Wir haben über die deutschen Grenzen man das einem Staat alleine überlässt . Insofern gibt es hinweg in und für Europa und natürlich auch internati- aus sicherheitspolitischen und aus Gesundheitsschutz- onal eine Verpflichtung, möglichst schnell aus dieser so bzw. Vorsorgegründen Anhaltspunkte, in der Europäi- gefährlichen Technologie, deren Erzeugung selbst schon schen Union vertragliche Vereinbarungen zu haben, die Risiken birgt, auszusteigen . dies abbilden . Wir kennen auch andere Gefahren . Zuletzt gab es vor ein paar Tagen die Meldung, dass aufgrund einer 20-mi- Aber die Frage ist, ob der Euratom-Vertrag dies tat- nütigen Unterbrechung des Kontaktes zu einem Flug- sächlich leistet . Wir müssen erkennen, dass im Eura- zeug Alarm in Atomkraftwerken in Deutschland ausge- tom-Vertrag Aussagen enthalten sind, die sich zwar aus löst wurde und Räumungen stattgefunden haben . Auch der Geschichte erklären lassen mögen, die heutzutage (B) das zeigt, wie sensibel und gefährlich die Nutzung dieser aber nicht mehr zeitgemäß sind . In der Präambel des Eu- (D) Technologie ist . ratom-Vertrags steht zum Beispiel, dass es das Ziel ist, die „Voraussetzungen für ... eine mächtige Kernindustrie Es gibt noch eine weitere große Schwierigkeit im zu schaffen“. Und: Die Kernenergie stelle eine „unent- Zusammenhang mit der Nutzung von Atomenergie: die behrliche Hilfsquelle für die Entwicklung und Belebung Verquickung – dies betrifft das technische Know-how – der Wirtschaft und für den friedlichen Fortschritt“ dar . von militärischer Nutzung und ziviler Nutzung . Wenn Ich glaube, ich brauche meinen Kommentar nicht hinzu- man sich die Situation weltweit anschaut, wenn man sich zufügen – ich tue es trotzdem –, dass das aus deutscher anschaut, wer zu den Nutzern von Atomenergie im zivi- Sicht nicht mehr unser Ziel sein kann . Ich denke, die len Bereich zählt und wer über Atomwaffen verfügt, ist meisten Staaten in Europa würden das heute nicht mehr eine Kongruenz festzustellen von atomenergienutzenden so formulieren . Staaten und solchen, die sich zugleich Staaten mit Atom- waffen oder Zulieferstaaten nennen können. Dies zeigt, Zugleich – das muss man dazusagen – gibt es durch dass wir hier eine weitere Herausforderung im Umgang eine Erklärung der Bevollmächtigten die Anerkennung mit der Nutzung von Atomenergie bzw . bei der Beendi- der Vertragsparteien, dass mit den Verpflichtungen, die gung der Nutzung von Atomenergie vor uns haben . Wahr- damals durch den Euratom-Vertrag geschlossen wurden, scheinlich wird es sehr schwer werden, weltweit aus der nicht einhergeht, dass man sich tatsächlich auch ver- Atomenergie auszusteigen, solange noch Staaten in der pflichtet, Atomenergie zu nutzen. Man ist in den letzten Welt über Atomwaffen verfügen. Denn sie werden wahr- Jahren schon ein Stück weitergekommen: Die ursprüng- scheinlich immer bestrebt sein, über die zivile Nutzung liche Verpflichtung bedeutet nicht, dass in den betreffen- von Atomenergie das entsprechende Know-how im Land den Staaten eine Pflicht zur Nutzung der Atomenergie zu halten und sich in diesem Bereich sowie hinsichtlich besteht . der Technologie und der zu verwendenden Ressourcen nicht von anderen Staaten abhängig zu machen . Dennoch muss man erkennen: Solange eine vertrag- liche Verpflichtung der gerade von mir zitierten Art be- Insofern haben wir, denke ich, auch friedenspolitisch steht, findet man natürlich Wertungswidersprüche, nicht eine Verpflichtung, weltweit dafür zu werben, dass tat- nur mit Blick auf den Atomausstieg, den wir in Deutsch- sächlich nicht wieder in eine Atomwaffenaufrüstung hin- land beschlossen haben und der verfassungsgerichtlich eingeschlendert wird, wie wir es derzeit leider vermuten für zulässig erklärt wurde, sondern zum Beispiel auch müssen. Vielmehr müssen wir uns auf unsere weltwei- mit Blick auf die Energiewende, die von der Europäi- ten Abrüstungsverpflichtungen besinnen und sie weiter schen Union formulierten Ziele zum Ausbau der erneuer- verschärfen . Auf diesen Weg müssen wir uns rückbe- baren Energien und die klaren Erkenntnisse hinsichtlich Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22579

Dr. Nina Scheer (A) der Gefahren im Umgang mit der Atomenergienutzung, Zusammenhang mit dem Euratom-Vertrag keinesfalls (C) die durch die EU-Stresstests Eingang gefunden haben . kleinreden, aber ich möchte darauf hinweisen, dass es in der Europäischen Union eine sehr starke Fokussierung Insofern bleibt uns nichts anderes übrig – dafür werbe auf die Flüchtlingsfrage gab, und ich denke, ich sage ich; ich werde gleich auch noch darauf hinweisen, inwie- nichts Neues hier im Haus, wenn ich konstatiere, dass weit sich Deutschland dafür einsetzt –, als eine Reform Europa vor diesem Hintergrund tatsächlich vor eine Zer- des Euratom-Vertrages durchzuführen. Eine Reform des reißprobe gestellt wurde . Euratom-Vertrages erachte ich für wichtig. Daher möchte ich dazu noch kurz ein paar Hintergründe erwähnen . Jetzt steht der Brexit vor der Tür . Die Briten haben Deutschland hat bereits in der Schlussakte von Lissa- sich entschieden, aus Europa auszusteigen . Insofern bon vom 13 .Dezember 2007 gemeinsam mit anderen eu- möchte ich jetzt hier nach vorne blickend genau auf die- ropäischen Mitgliedstaaten eine Erklärung abgegeben, in sen Punkt, den Brexit, eingehen, weil ich denke, dass in der man die Unterstützung einer zeitgemäßen Verände- diesem Zusammenhang ohnehin eine Auseinanderset- rung des Euratom-Vertrags zum Ausdruck gebracht hat. zung darüber wird stattfinden müssen, wie sich das He- rauslösen eines Staates aus Verträgen, die zu den Grün- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Und nichts dungsakten zählen – der Euratom-Vertrag zählt zu den ist passiert!) Gründungsakten –, zu vollziehen hat . Ich möchte diese Schlussakte, weil sie, denke ich, für das Ich finde, genau in diesem Zusammenhang sollten weitere Verfahren im Umgang mit dem Euratom-Vertrag wir uns auch intensiv damit auseinandersetzen, wie eine zentral ist, hier zitieren; auf die Frage, warum dies in der solche Reform des Euratom-Vertrages aussehen kann – Zwischenzeit nicht passiert ist, gehe ich gleich noch ein . gerade mit Blick auf den besonderen Gehalt des Eura- Die Erklärung Nummer 54 lautet: tom-Vertrages als einem der Gründungsakte. Deutschland, Irland, Ungarn, Österreich und Schwe- Ich bin am Ende meiner Redezeit; auch elf Minuten den stellen fest, dass die zentralen Bestimmungen können sehr schnell vorbei sein, wenn es sich um eine des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atom- komplexe Materie handelt . gemeinschaft seit seinem Inkrafttreten in ihrer Sub- stanz nicht geändert worden sind und aktualisiert Ich hoffe und setze auf den weiteren Prozess in der werden müssen . Daher unterstützen sie von mir skizzierten Art, meine aber, dass man die Anträ- ge, die heute vorliegen und zur Abstimmung stehen, aus – die erklärenden Mitgliedstaaten – den genannten Gründen abzulehnen hat . den Gedanken einer Konferenz der Vertreter der (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE (B) Regierungen der Mitgliedstaaten, die so rasch wie (D) GRÜNEN]: Was?) möglich einberufen werden sollte . (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE In diesem Sinne: Vielen Dank für Ihre Aufmerksam- GRÜNEN]: Lange her!) keit . – In der Tat, das ist bis heute nicht erfolgt . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sylvia Kotting-Uhl [BÜND- Es gibt zudem einen Beschluss der 56 . Europaminis- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Du hast doch genau terkonferenz, in dem diese ebenfalls eine Überarbeitung das gesagt, was in unserem Antrag steht!) des Euratom-Vertrags fordert. Wir, die SPD-Fraktion, haben bereits in der letzten Legislaturperiode einen An- trag erarbeitet, in dem wir die Bundesregierung, damals Vizepräsidentin Petra Pau: Schwarz-Gelb, aufgefordert haben, darauf hinzuwirken, Das Wort hat der Kollege Alexander Ulrich für die dass die im Euratom-Vertrag festgeschriebene Sonder- Fraktion Die Linke . stellung der Atomenergienutzung abgeschafft wird und die Passagen des Euratom-Vertrages, die Investitionen (Beifall bei der LINKEN) in die Atomenergie begünstigen, gestrichen werden . In der Tat ist bis heute eine solche Vertragsstaatenkonferenz Alexander Ulrich (DIE LINKE): nicht einberufen worden . Ich kann nur bestätigen, dass Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! das ein misslicher Umstand ist . Bertolt Brecht sagte einmal: „Man muss vom Alten ler- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE nen, Neues zu machen .“ GRÜNEN]: Ist es!) Heute ist ein guter Tag, weil wir am gleichen Tag über – Das ist in der Tat der Fall . Euratom diskutieren, an dem wir mittags eine Aktuelle Stunde zu den Römischen Verträgen durchgeführt haben; Ich möchte jetzt auf das Hier und Heute zu sprechen denn der Euratom-Vertrag ist einer dieser sogenannten kommen, weil der Rückblick alleine ja nichts hilft, und in Römischen Verträge. Ich glaube, es ist tatsächlich an der Erinnerung rufen, dass wir in den letzten Jahren in Europa Zeit, das Alte – in diesem Fall den Euratom-Vertrag – durchaus auf hoher See unterwegs waren . Wir hatten in zu beenden . Mit der milliardenschweren Förderung der der Europäischen Union sehr starke Auseinandersetzun- Atomenergie sollte endlich Schluss sein . gen und schwierige Konflikte jenseits des Euratom-Ver- trages zu bewältigen . Damit will ich die Problematik im (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) 22580 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Alexander Ulrich (A) Ziehen wir unsere Lehren aus der Geschichte, und Jodtabletten bestellt: Das Land hatte Angst, dass bei den (C) beginnen wir endlich mit dem Neuen, nämlich mit der Pannenreaktoren in Belgien etwas schiefgeht . Wir ken- Förderung der erneuerbaren Energien – und das nicht nur nen die Situation von Kernkraftwerken aus Frankreich halbherzig, sondern tatsächlich richtig . oder auch aus Osteuropa . (Beifall bei der LINKEN) Es ist nicht so, dass Euratom die Sicherheit von Kern- Vor 60 Jahren glaubte man an die Atomenergie. Die kraftwerken tatsächlich erhöht . Das ist nur ein Placebo; sechs Gründerstaaten der Europäischen Union unter- denn für die Sicherheit sind immer noch die National- zeichneten damals den Euratom-Vertrag. Damals galt staaten zuständig . Euratom macht also gar nicht das, von die Atomenergie noch als sicher, billig und beherrschbar . dem man glaubt, dass es das macht, nämlich die Sicher- Fukushima zeigte erneut, dass sie nicht sicher und be- heit der AKWs zu verbessern . Deshalb: Wenn man Eura- herrschbar ist, und ich glaube – Frau Scheer, Sie haben tom abwickeln würde, wie es unser Vorschlag vorsieht, über die 1 Million Jahre und die hohen Kosten gespro- und wenn man die vielen Milliarden zur Einrichtung chen –, wenn wir alles zusammenrechnen, dann wissen einer Agentur zur Förderung der erneuerbaren Energien wir alle: Die Atomenergie ist keine billige Energieform . nutzen würde, dann könnte man die Sicherheitsfragen in diese Agentur eingliedern, ohne an Euratom festzuhalten . (Hubertus Zdebel [DIE LINKE]: Die teuers- te!) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Inzwischen sind 60 Jahre vergangen . In diesen 60 Jah- ren haben die Menschen auf dramatische Art und Weise Lassen Sie mich etwas zu den vielen Hunderten von feststellen müssen – Stichworte: Tschernobyl und Fuku- Millionen Euro sagen, die für ITER ausgegeben werden . shima –, zu welchen Folgen diese Atomenergie beitragen Wenn wir es ernst damit meinen, dass die Zukunft in den kann . Deshalb, glaube ich, ist es an der Zeit, noch ein- Erneuerbaren liegt – das ist möglich; wir wären viel wei- mal deutlich zu sagen: Wer den deutschen Atomausstieg ter, wenn man dieses Geld dafür genutzt hätte –, dann ist ernsthaft betreiben will, der kann nicht länger an dieser die Frage: Warum wollen wir dieses viele Geld weiterhin milliardenschweren Förderung der Atomenergie über für eine Kernfusionsforschung nutzen, bei der wir nicht den Euratom-Vertrag europäisch festhalten. Wir müssen wissen, ob wir diese Technik sicherheitspolitisch meis- damit endlich Schluss machen . tern können? Wir wissen nicht, welche Gefahren damit (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- verbunden sind . Auch da wird das Geld völlig unnütz für neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) eine Zukunftstechnologie im Energiesektor verbrannt, die wir wirklich nicht brauchen . (B) Frau Dr .Scheer, ich habe Ihre Rede wirklich als (D) sehr gut empfunden . Ich frage mich nur, warum Sie am (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Schluss zu dem Ergebnis kommen, dass die Anträge ab- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gelehnt werden müssen; Wir sagen deshalb ganz deutlich: Wir gehen weiter als (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- die Grünen, die in ihrem Antrag schreiben: Wir wollen NIS 90/DIE GRÜNEN) Euratom reformieren .– Ich glaube, wir können Euratom und damit eine veraltete Technologie, die uns wirklich denn die beste Begründung, warum man die Anträge von nicht weiterbringt – da hat Frau Dr . Scheer vollkommen den Grünen und von uns heute annehmen müsste, haben recht; ich bin mir sicher, dass dies die Rednerin der Grü- Sie selbst geliefert . nen gleich bestätigen wird –, nicht reformieren . Wir müs- Wenn Sie sagen, dass Sie in Ihrer Fraktion in der Min- sen einfach sagen: All das, was sich die Staaten bei der derheit sind, dann verstehen wir das ja noch . Gründung von Euratom vor 60 Jahren, vielleicht im gu- ten Glauben, erhofft haben, hat sich leider nicht bestätigt. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Koalition!) Um glaubwürdig zu bleiben, müssen wir sagen: Es ist Wir verstehen es aber nicht, wenn Sie sagen, dass wir an der Zeit, über Euratom nicht indirekt neue AKWs zu jetzt auf die nächsten zwei Jahre hoffen sollten, weil zehn fördern und damit die Erneuerbaren zu schädigen . Wir Jahre lang nichts passiert ist, und wenn Sie das Argument müssen deutlich machen: Wir wollen überhaupt keinen anführen, dass der Brexit vielleicht ein toller Türöffner Euro mehr in neue AKWs investieren . Wir wollen auch für Euratom-Gespräche ist . Ich glaube, die SPD-Fraktion nicht, dass Euratom Bürgschaften für neue AKWs in sollte Ernst mit ihrer Regierungsverantwortung machen Osteuropa gibt . Wir wollen, dass mit der Atomenergie und sagen: Wir müssen jetzt frischen Wind in dieses The- endlich Schluss gemacht wird . Dafür muss Euratom als ma bringen und das europäisch verhandeln . Aus deut- Agentur tatsächlich geschlossen werden . scher Sicht kann das nur bedeuten, dass wir nicht länger (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Steuergelder für die atomare Nutzung und Erforschung NIS 90/DIE GRÜNEN) bereitstellen . (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Ich komme zum Schluss . Frau Scheer, vielleicht kön- NIS 90/DIE GRÜNEN) nen Sie Ihre Fraktion davon überzeugen – heute ist dafür eine gute Gelegenheit –, nach 60 Jahren zu sagen: Das Auch der Sicherheitsaspekt wird meines Erachtens war’s . Wenn wir es mit dem deutschen Atomausstieg falsch dargestellt . Nordrhein-Westfalen hat letztes Jahr wirklich ernst meinen, müssen wir Euratom abwickeln . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22581

Alexander Ulrich (A) Vielen Dank. genen nicht ganz so einfach umzusetzenden Energiewen- (C) de durchaus auf die Füße fallen . (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Was steht denn in diesem Euratom-Vertrag? Interes- sant sind dort unter Artikel 3 die Ziele . Ich kann nicht alles vorlesen . Ich lese beispielhaft die Absätze 4 und 5 Vizepräsidentin Petra Pau: der Verordnung vor: Das Wort hat die Kollegin Barbara Lanzinger für die CDU/CSU-Fraktion . Das Euratom-Programm wird so umgesetzt, dass die unterstützten Prioritäten und Tätigkeiten den (Beifall bei der CDU/CSU) sich wandelnden Bedürfnissen entsprechen und die Weiterentwicklung von Wissenschaft, Technologie, Barbara Lanzinger (CDU/CSU): Innovation, Politik, Märkten und Gesellschaft be- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- rücksichtigen, damit die personellen und finanziel- nen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer auf len Ressourcen optimiert und Doppelarbeit bei der den Rängen! Die Linken und Grünen mit ihren heutigen Forschung und Entwicklung im Nuklearbereich in Anträgen der Union vermieden wird . (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sind gut! – Absatz 5: Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Innerhalb der in den Absätzen 2 und 3 genannten NEN]: Haben recht!) Einzelziele können neue und unvorhersehbare Er- versuchen – ich sage es einfach so –, mit ihren Verbotsan- fordernisse berücksichtigt werden, die sich während trägen den anderen EU-Ländern zu diktieren und vorzu- des Durchführungszeitraums des Euratom-Pro- schreiben, wie sie die Energiepolitik zu gestalten haben . gramms ergeben . . . Es ist also durchaus möglich, Änderungen und Anpas- (Zuruf von der LINKEN: Oh Gott! Oh Gott! sungen darin vorzunehmen . Durch Ihre Anträge wird im Oh Gott! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE Prinzip jedoch so getan, als sei der Euratom-Vertrag nur GRÜNEN]: Freiheit von Atomkraftwerken!) dazu da, den Bau und den Betrieb von Kernkraftwerken Sie versuchen, zu suggerieren, der Euratom-Vertrag sei in anderen EU-Ländern oder auch bei uns finanziell zu eine böse Atomkraftwerksförderungsmaschinerie . fördern, und das ist falsch . (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Stimmt ja (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE (B) auch! – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/ GRÜNEN]: Das ist die erste Zielbeschrei- (D) DIE GRÜNEN]: Ist er auch!) bung!) Das ist nicht richtig . Das ist lächerlich, und das ist ein- Kurz und prägnant wird das in einer Analyse des Wis- fach falsch . senschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags vom September 2016 widerlegt: (Andreas G . Lämmel [CDU/CSU]: Genau!) Weder im Euratom-Rahmenprogramm noch im Wir haben bei uns in Deutschland die Energiewende Haushalt der EU sind Mittel für die Förderung des beschlossen . Dazu stehen wir . Baus und Betriebs von Kernkraftwerken in der EU (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE bzw . Nicht-EU-Staaten vorgesehen . GRÜNEN]: Mit Mühe und Not!) Der Vertrag setzt im Kern den Rahmen für eine siche- re Verwendung der Kernenergie über Grenzen hinweg. Wir stehen am Beginn des Zeitalters der erneuerbaren Er ist die Rechtsgrundlage für europäische Regelungen Energien mit enormem umwelt- und wirtschaftspoliti- beim Gesundheitsschutz, der Überwachung von Kern- schem Potenzial, aber auch mit schwierigen Herausfor- material, nuklearen Entsorgung, europäischen und in- derungen . Wir haben uns entschieden, in Deutschland ternationalen Kooperation, nuklearen Sicherheit und für 2023 die letzten Kernkraftwerke abzuschalten . Das ist weitere Punkte; alles zu lesen im Vertragswerk und im ein wirklich sehr ambitionierter Weg, vor allem ein nicht dazugehörigen Rahmenprogramm . Dazu gehört auch die einfacher . Gefahrenabwehr, die nicht zu unterschätzen ist und wich- Die EU-Mitgliedsländer entscheiden sich jedoch an- tiger denn je wird . ders . Sie entscheiden sich nicht so wie wir . Ich sage ganz Erst 2014 wurde der Euratom-Vertrag weiterentwi- deutlich: Das haben wir zu respektieren . Wir können den ckelt durch eine Richtlinie über einen Gemeinschafts- anderen nicht das diktieren, was wir bei uns für richtig rahmen für die nukleare Sicherheit kerntechnischer An- halten . Wir können darüber reden, ja, aber nicht in ei- lagen . Deutschland hat sich darin für die Festsetzung von nem Diktat. Im Vertrag über die Arbeitsweise der Euro- verbindlichen Sicherheitszielen in der EU für ein System päischen Union ist in Artikel 194 festgehalten, dass die wechselseitiger Kontrolle erfolgreich starkgemacht . Das Mitgliedstaaten selber entscheiden über die Struktur der heißt: Über Grenzen hinweg soll die Sicherheit kerntech- Energieversorgung und die Nutzung ihrer Energieres- nischer Anlagen verbessert werden . sourcen . Wir sollten uns davor hüten, anderen Ländern vorschreiben zu wollen, wie sie ihre Energiepolitik zu Wichtig ist auch: Der Euratom-Vertrag legt den gestalten haben . Das könnte uns im Rahmen unserer ei- Rahmen für Forschung und Entwicklung in diesem 22582 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Barbara Lanzinger (A) Hochtechnologiebereich fest . Dazu steht als übergeord- Ihre inhaltlich so oft unbegründete und gesellschaftlich (C) netes Ziel auch im aktuellen Euratom-Rahmenvertrag bis aus meiner Sicht gefährliche Fundamentalopposition 2018 festgeschrieben, „Forschungs- und Ausbildungs- maßnahmen im Nuklearbereich mit Schwerpunkt auf der (Lachen des Abg . Alexander Ulrich [DIE kontinuierlichen Verbesserung der Sicherheit, der Gefah- LINKE]) renabwehr und dem Strahlenschutz . . fortzusetzen, um in manchen Themen macht mich immer wieder fassungs- insbesondere gegebenenfalls einen Beitrag zur langfris- los. Dazu gehören nicht nur der Euratom-Vertrag, son- tigen effizienten und sicheren Senkung der CO2-Emmis- dern auch viele andere Themen wie zum Beispiel CETA . sionen des Energiesystems zu leisten“ . Unser verehrter Herr Riesenhuber hat im letzten Jahr sehr viel zu dem Entweder erkennen Sie die politische Realität nicht, Thema, was Forschung und Entwicklung auch in diesem oder Sie wollen sie nicht erkennen . Ich weiß, ehrlich ge- Rahmen bedeutet, gesprochen . sagt, nicht, was mir mehr Sorge bereiten soll . (Beifall bei der CDU/CSU) Meine sehr geehrten Damen und Herren, für mich ist das Zauberwort auch: Forschung und innovative Techno- Ich appelliere: Der Euratom-Vertrag ist nach wie vor logien, die es hier eines Tages hoffentlich geben mag. Ich dem Grunde nach sinnvoll und gerade zum 60 .Geburts - sage ganz deutlich: Wir wären töricht, nicht nach vorn zu tag der EU ein starkes politisches Signal für Europa, und blicken und unser Wissen zu erweitern . das sollte er auch bleiben . (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Weiter GRÜNEN]: Das wollen wir!) Atomenergie aus Dankbarkeit für 60 Jahre!) Europaweit brauchen wir nicht zuletzt im Bereich Rück- Danke schön für Ihr Zuhören und für Ihre Mitdiskus- bau von Kernkraftanlagen weiterhin hohe Kompetenzen . sion . Wie anmaßend wären wir, künftigen Generationen (Beifall bei der CDU/CSU) neue Technologien zu verwehren, indem wir jetzt nicht weiterforschen . Ob diese potenziellen neuen Technologi- Vizepräsidentin Petra Pau: en sich dann als sinnvoll erweisen werden oder nicht, ist Die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl hat für die Fraktion eine ganz andere Frage, und die sollten wir unsere nach- Bündnis 90/Die Grünen das Wort . folgenden Generationen entscheiden lassen . (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (B) GRÜNEN]: Anmaßend wäre, den Generati- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin! (D) onen nach uns noch mehr Atommüll zu hin- 60 Jahre Römische Verträge, 60 Jahre Euratom: Das eine terlassen! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE ist Grund für eine Feier und Anlass, für und um die Wei- GRÜNEN]: Sie haben nichts gelernt aus der terentwicklung der EU zu kämpfen, das andere ist die ganzen Atomwirtschaft!) Restekiste einer vergangenen Zeit . Ihre Anträge haben aber auch eine nicht zu unterschät- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zende, erhebliche politische Brisanz . Für mich sind sie und bei der LINKEN) europafeindlich . Das ist eine europafeindliche Haltung . Ich will Ihnen darlegen, warum das so ist . Euratom (Beifall bei der CDU/CSU) setzt das Ziel „Entwicklung einer mächtigen Kernindus­ trie“, begründet die ausschließliche Souveränität der Der Euratom-Vertrag ist eines der beiden Gründungs- Länder bei der Sicherheit ihrer Atomkraftwerke und si- dokumente der EU . Er ist einer der beiden Grundsteine chert die staatlichen Beihilfen bei Neubauten von Atom- der Europäischen Union, deren 60 .Geburtstag wir am kraftwerken wie Hinkley Point und Paks . kommenden Samstag feiern werden . Frau Lanzinger, ich will gerne die Begründung zitie- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Niveaulo- ren, auf die sich die Kommission bei der Bewilligung ser geht es nicht mehr!) dieser staatlichen Beihilfen gestützt hat . In Artikel 2 Buchstabe c Euratom-Vertrag heißt es: Die Mitgliedstaa- Was für ein – ich sage es deutlich – verheerendes politi- ten haben „die Investitionen zu erleichtern und, insbe- sches Signal würden wir in diesen momentan so turbul- sondere durch Förderung der Initiative der Unternehmen, enten Zeiten an Europa und die Welt senden, wenn wir die Schaffung der wesentlichen Anlagen sicherzustellen, das heute beschließen würden? die für die Entwicklung der Kernenergie in der Gemein- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schaft notwendig sind“. – So weit der Euratom-Vertrag. NEN]: Das wird ja für alles bemüht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Ist das was Zusammenfassend ist bei dem, was Sie, liebe Grü- Schlimmes?) ne und Linke, fordern, nur eines sicher: Ein Ausstieg aus dem Euratom-Vertrag führt definitiv nicht zu mehr Euratom ist intransparent und undemokratisch . So hat Sicherheit, sondern zu weniger Verantwortung unserer- das EU-Parlament keine Hoheit über das Euratom-Bud- seits, weil wir dann nämlich sämtliche Mitspracherechte, get. Die finanzielle Ausrichtung der europäischen Ener- die wir bisher in den Gremien haben, verlieren würden . gieforschung wird von Euratom gesteuert . Nach der Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22583

Sylvia Kotting-Uhl (A) Logik von Euratom muss sich das Atomkarussell wei- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen gemein- (C) terdrehen . Das heißt Kernfusion, Thoriumforschung, sam für die EU kämpfen und sie verbessern . Wir wis- SMRs . Hauptsache, das Ziel von Euratom, die mächtige sen: Die EU muss die Klimakrise, die Wirtschaftskrise Kernindustrie, wird am Leben erhalten . und die Abhängigkeit von Energieimporten überwinden . Dazu muss von Deutschland aus für eine europäische Auch das Ausstiegsland Deutschland beteiligt sich – Energiewende gearbeitet werden . Euratom ist hier ein durch seine EU-Beiträge – selbstverständlich an diesen Klotz am Bein . Forschungen . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Max Straubinger [CDU/CSU]: Sind wir Teil und bei der LINKEN) der Europäischen Union oder nicht?) Wir können diesen Klotz drehen und wenden, aber er Dass der Neubau von AKWs und Anlagen zur Erfor- wird kein Schwungrad für eine zukunftsfähige Ener- schung der Kernfusion in Olkiluoto, Flamanville, Cada- gieausrichtung werden . Das Ausstiegsland Deutschland rache – das ist der ITER – ökonomische Desaster sind, muss hier initiativ werden . Nehmen wir, Nina Scheer, spielt dabei offensichtlich keine Rolle. Das alles nehmen den zutiefst bedauerlichen Brexit, der auch den Austritt Sie in Kauf, weil Sie Euratom – ich zitiere die Bundesre- Großbritanniens aus Euratom bedeutet, zum Anlass, end- gierung – „als geeignete Rechtsgrundlage für … Sicher- lich einen Euratom-Konvent zu fordern . Werben wir in heitsforschung, internationale Kooperation“ und „nukle- der EU dafür, Euratom endlich den Anforderungen von are Sicherheit“ ansehen . heute anzupassen! (Dr . Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) GRÜNEN]: Irre!) Das hieße vor allem, die Sonderförderung der Atomkraft Selbst wenn Euratom das wäre, könnte man fragen, ob zu beenden, ein Mitspracherecht für Anrainerstaaten bei das den Preis rechtfertigt . grenznahen Atomkraftwerken zu verankern, die euro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN päische Energieforschung auf die Zukunft auszurichten sowie bei Abgeordneten der LINKEN) und die demokratische Kontrolle durch das Europäische Parlament zu ermöglichen . Wenn das mit den Partnern in Euratom ist das aber nicht . Ich wurde vor kurzem gefragt, der EU nicht zu machen ist, dann müssen wir das Kreuz ob es nicht gut sei, dass es durch Euratom eine europä- haben, Euratom zu verlassen . ische Atomaufsicht gebe . Das ist aber gerade nicht der Fall . Es gibt keine europäische Atomaufsicht . Das Ziel (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von Euratom ist Investition in Atomkraft und nicht deren und bei der LINKEN) (B) (D) Begrenzung . Das stellt, Frau Lanzinger und andere, unser Bekenntnis (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu Europa nicht infrage, und bei der LINKEN) (Max Straubinger [CDU/CSU]: Doch!) Selbst heutige auf der Basis von Euratom beruhende sondern nur das in Euratom festgeschriebene Bekennt- Richtlinien der EU folgen der antiquierten Vor-Tscher- nis zur Vorstellung von Atomkraft als eine Beglückung nobyl-und-Fukushima-Logik . Nehmen Sie zum Beispiel der Menschheit, die zu Gesundheit und Wohlstand führt . die Sitzung des Umweltausschusses gestern . Herr Kanitz Diese Vorstellung hatte ihre Berechtigung vielleicht vor wird sich erinnern: Es ging um die AtG-Novelle, die die Tschernobyl und Fukushima . Heute ist sie von gestern . EU-Richtlinie über einen Gemeinschaftsrahmen für die Wir müssen uns aber für morgen aufstellen . nukleare Sicherheit umsetzt . Darin steht: Anlagen sollen „so weit wie vernünftigerweise durchführbar“ verbessert Vielen Dank. werden . Hallo? Wir reden von alternden Schrottreaktoren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN an unseren Grenzen wie Tihange, Cattenom und Fessen- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) heim . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsidentin Petra Pau: sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Das Wort hat der Kollege Steffen Kanitz für die CDU/ Wenn hier bei der Sicherheit nach dem Stand von Wis- CSU-Fraktion . senschaft und Technik nicht mehr nachgerüstet werden (Beifall bei der CDU/CSU) kann, entweder weil es sich – so meint das Euratom hauptsächlich – wirtschaftlich nicht mehr rechnet oder Steffen Kanitz (CDU/CSU): weil die Anlagen schlicht zu alt sind, dann müssen die betreffenden Atomkraftwerke abgeschaltet werden. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eigent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lich schade, dass wir nach der großen Einmütigkeit in der und bei der LINKEN) Endlagerdebatte von heute Morgen – die, fand ich, sehr erfrischend war – ein Stück weit wieder in alte Muster Aber nicht, solange wir Euratom haben . Dann laufen verfallen . die Schrottreaktoren so lange, wie die Betreiber und die Länder, denen die Atomkonzerne oft genug gehören, das (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE wollen . GRÜNEN]: Sie können ja zustimmen, Herr 22584 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Steffen Kanitz (A) Kanitz! Sie müssen nicht in alte Muster ver- unter Betriebsbelastungen ein Integritätsverlust der (C) fallen!) drucktragenden Wand der RDB nicht zu unterstellen ist . Ich verstehe das aber . Es sind Wahlkampfzeiten . Die Op- position sucht nach Möglichkeiten der Profilierung. Aus heutiger Sicht gibt es keine konkreten Hinweise, Ich will meinen Teil dazu beitragen, unsere Position dass die Sicherheitsabstände aufgezehrt sind . deutlich zu machen . Ich beziehe mich hierbei insbeson- Ich finde, das muss man zur Kenntnis nehmen, wenn dere auf den Antrag der Linken, der auf unsägliche Art man von Schrottreaktoren an den deutschen Grenzen und Weise mit den Ängsten der Menschen spielt – ich spricht, in Wirklichkeit aber weiß, dass das Gegenteil der zitiere –: Fall ist . In den noch am Netz befindlichen Atomkraftwer- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ken … besteht weiterhin die Gefahr eines katastro- NEN]: Was sind das denn für Reaktoren ohne phalen Störfalls bis hin zur Kernschmelze . jegliches Risiko, Herr Kanitz?) (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ja, das ist Es ist so, dass der Bund eine ganze Menge tut . Wir auch so!) haben gerade im letzten Dezember ein bilaterales Ab- Meine Damen und Herren von der Linken, wir haben kommen zur nuklearen Sicherheit geschlossen, das es die sichersten Kernkraftwerke weltweit, die wir bis 2022 uns ermöglicht, in Gespräche einzutreten . Genau das ist abschalten; darin sind wir uns völlig einig . Den Men- der Punkt . Nur wer spricht, kann auch auf die Standards schen zu suggerieren, dass diese nicht sicher sind und Einfluss nehmen; wer nicht spricht, kann das eben nicht. dass wir in Deutschland kurz vor einem GAU stehen, ist unverantwortlich, ist blödsinnig und entspricht in keiner Vizepräsidentin Petra Pau: Weise der Realität . Kollege Kanitz, gestatten Sie eine Frage oder Bemer- (Beifall bei der CDU/CSU – Bärbel Höhn kung der Kollegin Kotting-Uhl? [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gibt es denn kein Risiko? Keine Versicherung versichert Steffen Kanitz (CDU/CSU): das!) Gerne . Die Aussagen, die Sie zu Doel und Tihange treffen, zeigen, dass insbesondere Sie als Linke mittlerweile lei- Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der sehr ernsthaft im Zeitalter des Postfaktischen ange- Vielen Dank, Herr Kanitz. – Ich beziehe mich auf Ihre (B) kommen sind . Sie behaupten, dass das BMUB Hinweise Äußerung von gerade eben, dass Sie es für fahrlässig hal- (D) habe, dass die Reaktordruckbehälter den Anforderungen ten, die Defizite von Tihange so zu thematisieren, wie bei schweren Störfällen nicht mehr gewachsen sein könn- die Linke es in ihrem Antrag gemacht hat . Würden Sie ten . Das Gegenteil ist der Fall . Ich verweise auf die Ant- denn auch das Verhalten der Bundesumweltministerin wort auf eine Kleine Anfrage der Grünen vom 15 .März für fahrlässig halten, die in Richtung Belgien deutlich dieses Jahres, in der das BMUB sehr deutlich sagt – ich gefordert hat, dieses Atomkraftwerk aus Gründen der Si- zitiere –: cherheit abzuschalten, und zwar endgültig? Die Reaktordruckbehälter von Doel 1 und Doel 2 wurden vor der Genehmigung zum Wiederanfahren Steffen Kanitz (CDU/CSU): auf Wasserstoffflocken geprüft. Dabei wurde der Vielen Dank für die Frage, Frau Kollegin. – Das, was ordnungsgemäße Zustand der Reaktordruckbehälter die Bundesumweltministerin getan hat, ist völlig richtig festgestellt … und ist auch im deutschen Interesse . Sie hat deutlich ge- Meine Damen und Herren, Sie skandalisieren einen macht, dass wir gemeinsam mit den Belgiern Einfluss Vorgang und operieren ganz offensichtlich mit falschen darauf nehmen wollen, dass die Sicherheitsstandards der Behauptungen . Kernkraftwerke an der deutschen Grenze ordentlich und vernünftig sind und dass wir mit unseren deutschen Ex- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE perten die Möglichkeit bekommen, dort hineinzuschau- GRÜNEN]: Die Ministerin ist trotzdem für en . Sie hat ebenfalls gesagt, dass sie bis zum Abschluss die Abschaffung von Tihange!) der Prüfungen mit dem Wiederanfahren warten möchte . Das ist fahrlässig und schäbig . Das ist richtig, das ist konsequent, und das ist vernünftig . (Beifall bei der CDU/CSU) Insofern zeigt das, dass diese Bundesregierung die Sorgen und Ängste der Menschen in der Grenzregion Ich will das ergänzen . Das BMUB stützt seine Hin- sehr ernst nimmt . Aber ich meine, wir sollten es nicht weise und Erkenntnisse auf eine unabhängige Kommis- übertreiben und den Leuten suggerieren, sie müssten sion, die Reaktor-Sicherheitskommission, die in ihrer jetzt Jodtabletten besorgen . Kurzbewertung zu Doel/Tihange zu folgendem Ergebnis kommt: (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das hat doch die NRW-Regierung gemacht!) … kann aufgrund der umfangreichen Untersuchun- gen und geführten Nachweise zu den RDB Doel-3 Mir haben in Dortmund, weit weg von Aachen, Apothe- und Tihange-2 … davon ausgegangen werden, dass ker genau das gesagt. Ich finde, das ist extrem sensibel. Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22585

Steffen Kanitz (A) Wir sollten hier Aufklärung leisten und nicht skandali- Meine sehr verehrten Damen und Herren, seit 2013 (C) sieren . hat sich an dieser Einschätzung nichts geändert . Wir stehen zu dem Betrieb in Gronau auch weiterhin . Es (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ist nicht nur so, dass die Beendigung des Betriebs aus Ich komme zur Urananreicherungsanlage in Gronau, Gründen der Rechtssicherheit nicht geht, sondern es geht von der Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Op- auch deshalb nicht, weil wir über den Staatsvertrag von position, sehr genau wissen, dass sie über eine unbefris- Almelo, der natürlich das Ziel hat, dass wir uns mit den tete Betriebsgenehmigung verfügt . Der Ministerpräsident Niederlanden und Großbritannien verbünden, um die nu- der damaligen rot-grünen Landesregierung Steinbrück kleare Nichtverbreitung sicherzustellen, völkerrechtliche war es, der einer Verdreifachung der Kapazität das Wort Verpflichtungen eingegangen sind. geredet hat . Das geschah laut der Antwort der rot-grünen Ich füge hinzu: Sie wollen ja aus jeglicher Nuklear- Landesregierung auf eine Kleine Anfrage im Jahr 2013, technik aussteigen . Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob um auf deutsche Sicherheitsstandards zu setzen und nicht wir dann nach wie vor verlangen könnten, dass Stan- auf Anlagen im Ausland vertrauen zu müssen, die sich dards, die durch die IAEO kontrolliert werden, auch ein- der Kontrolle der deutschen Behörden entziehen . gehalten werden. Ich bin eher der Auffassung, dass wir Wir haben am Standort über 300 Mitarbeiter, alle dafür sorgen sollten, mehr Mitspracherechte zu bekom- hochqualifiziert, und wir brauchen jeden dieser- Mitar men, dass wir im deutschen Sicherheitsinteresse dafür beiterinnen und Mitarbeiter mit seinem Know-how in sorgen sollten, dass beispielsweise das Atomabkommen Deutschland . Sie wissen zu gut, dass alle Kernkraftwerke mit dem Iran eingehalten wird, und dass wir nicht aus weltweit ihre Beschaffung von Brennelementen redun- jeglicher Nukleartechnik aussteigen, weil wir dann nicht dant aufgestellt haben . Es hilft uns überhaupt nichts, und mehr die Möglichkeit der Einflussnahme hätten. wir tragen auch nicht dazu bei, dass der Ausstieg welt- (Beifall bei der CDU/CSU) weit beschleunigt wird, wenn wir 300 hochqualifizierte Arbeitsplätze in Deutschland streichen und gleichzeitig Meine Damen und Herren, das Gutachten kommt aus Fabriken in Großbritannien, den Niederlanden oder ebenfalls zu dem Schluss, dass, sofern Gronau aus rein den USA liefern . politisch motivierten Gründen geschlossen werden soll- te, umfangreiche Schadensersatzansprüche auf uns zukä- Urenco wurde in den Stresstest nach dem Reaktorun- men . Der Wert des Unternehmens, Stand 2013, lag bei fall in Fukushima einbezogen . Die RSK kam zu einem etwa 10 Milliarden Euro . Ich bin mir nicht ganz sicher, ganz eindeutigen Ergebnis, nämlich dass die Anlage in ob es sinnvoll wäre, wenn der Staat diese 10 Milliarden Gronau deutliche Reserven gegen auslegungsüberschrei- Euro übernähme . Ich bin mir ziemlich sicher – anders- (B) tende Ereignisse aufweist . Sie erreichen in allen unter- herum gesprochen –, dass das nicht sinnvoll ist, sondern (D) stellten Lastfällen das höchste Stresslevel . dass es sich um ein rein politisch motiviertes Vorgehen handelt. Wir brauchen diese hochqualifizierten Arbeits- Deswegen muss man einfach einmal zur Kenntnis plätze in Deutschland . Die Anlage leistet Hervorragen- nehmen, dass es sich hier um eine extrem gut geführte des . Anlage handelt, dass die Sicherheitsstandards sehr hoch sind, dass es große Reserven gegenüber hohen Belas- Insofern wollen und können wir Ihren Antrag ableh- tungen gibt, gegenüber Erdbeben, gegenüber Überflu- nen . tungen, und dass diese Anlage insofern mehr als sicher (Beifall bei der CDU/CSU) ist . Einem Weiterbetrieb dieser Urananreicherungsanlage steht damit weder rechtlich noch tatsächlich und sicher- heitstechnisch irgendetwas im Wege . Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache . Diese Einschätzung wird durch ein Rechtsgutachten der rot-grünen Landesregierung aus dem Jahr 2013 be- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- stätigt . Dieses Rechtsgutachten kommt sehr unmissver- schusses für Wirtschaft und Energie zu dem Antrag der ständlich zu dem Ergebnis, dass der Betrieb der Uran- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Euro- anreicherungsanlage in Gronau nach dem Atomgesetz paweiten Atomausstieg voranbringen – Euratom-Vertrag zulässig ist, dass eine rechtssichere Beendigung des reformieren oder aussteigen“. Der Ausschuss empfiehlt Betriebes der Anlage nicht möglich ist, dass es keine in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8439, juristische Handhabe gibt, die Einstellung des Betriebes den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf anzuordnen . Drucksache 18/8242 abzulehnen . Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer Ich zitiere jetzt einmal aus dem Gutachten, weil es, enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den finde ich, sehr schön zeigt, dass man da auf einem Holz- Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen weg ist: der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen . Allgemein und als Gesamtergebnis nahezu aller in diesem Gutachten behandelten Fragen ist schließlich Tagesordnungspunkt 9 b . Abstimmung über den An- nachdrücklich von einem rein politisch motivierten trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/11595 Vorgehen gegen die Urananreicherungsanlage in mit dem Titel „EU-Förderung von Atomenergie stop- Gronau bzw . die hierfür erteilten Genehmigungen pen – Euratom-Vertrag beenden“. Wer stimmt für diesen auf der verwaltungsrechtlichen Ebene abzuraten . Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – 22586 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ter, auch von anderen: Frau Schwesig, wir haben in den (C) gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Frak- letzten Jahren schon so viel getan, so viele Milliarden da tion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt . hineingesteckt . Ist es jetzt nicht genug? – Dann sage ich: Nein, das ist nicht genug . Wir müssen das Angebot an Tagesordnungspunkt 9 c . Interfraktionell wird Über- Plätzen weiter ausbauen . weisung der Vorlage auf Drucksache 18/11596 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- Warum? Es gibt dafür drei gute Gründe: gen . Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall . Erstens . Es werden nach über 15 Jahren endlich wie- Dann ist die Überweisung so beschlossen . der mehr Kinder in Deutschland geboren – das ist eine Wir kommen zum Zusatzpunkt 4 . Abstimmung über gute Nachricht –, und allein dafür lohnt es sich, weiter die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, zu investieren . Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit zu dem An- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel der CDU/CSU) „Brennstofflieferungen für belgische Atomkraftwerke stoppen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Zweitens. Wir haben eine gesellschaftliche Verände- empfehlung auf Drucksache 18/10934, den Antrag der rung . Immer mehr Frauen und Männer wollen sich nicht Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/9676 mehr zwischen Beruf und Familie entscheiden, sondern abzulehnen . Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- wollen beides . Deswegen ist auch der Bedarf von Jahr zu lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Jahr gestiegen . Immer mehr junge Eltern brauchen gute Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/ Kitaplätze. Ich finde, auch das ist eine gute Nachricht. CSU- und SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Frak- tion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten angenommen . der CDU/CSU) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Drittens . Besonders im letzten und vorletzten Jahr sind viele Menschen zu uns geflüchtet, darunter viele Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Kinder . Es ist auch eine Frage der Gerechtigkeit und eine gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum wei- Frage der Menschlichkeit, dass wir ganz klar sagen: Die- teren quantitativen und qualitativen Ausbau se Kinder, die zu uns gekommen sind, können am aller- der Kindertagesbetreuung wenigsten etwas für das, was in ihren Ländern los ist, sei es Krieg oder Bürgerkrieg . Sie haben sich auch nicht Drucksache 18/11408 ausgesucht, auf die Flucht zu gehen und gegebenenfalls (B) Überweisungsvorschlag: wohin . Wenn die Kinder zu uns kommen, dann sollen (D) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) sie genauso gute Chancen haben wie unsere Kinder, hier Innenausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen­ aufzuwachsen . Dazu zählt ein Kitabesuch, um zum Bei- abschätzung spiel frühzeitig die Sprache zu lernen. Ich finde, auch das Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO ist ein guter Grund für einen höheren Kitabedarf . Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Aussprache 38 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei- der CDU/CSU) nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen . Darauf, meine sehr geehrten Damen und Herren Ab- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bun- geordnete, reagieren wir . Sie wissen, wir haben aktuell desministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, noch das dritte Investitionsprogramm laufen . Wir wollen Manuela Schwesig . aber schon das vierte anschieben . Wir wollen 100 000 neue Kitaplätze in Deutschland schaffen – (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Gemeinsam mit der Union!) Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie, nicht nur für Kinder unter drei Jahren, wie das in den Senioren, Frauen und Jugend: letzten drei Programmen üblich war . Mit diesem Gesetz Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrten Damen werden wir erstmalig nicht nur Krippenplätze fördern, und Herren Abgeordnete! Ich lege Ihnen heute den Ent- sondern auch Kindergartenplätze . Das ist die vierte gute wurf eines Gesetzes vor, das wichtig und gut für die Fa- Nachricht bei diesem Gesetz . milien in unserem Land ist . Wir wollen das vierte Inves- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten titionsprogramm auf den Weg bringen, um das Angebot der CDU/CSU) an Kitaplätzen im Land weiter auszubauen, und das ist nötig . Das ist deshalb notwendig, weil wir in den letzten Jah- ren viel für die U-3-Betreuung gemacht haben . Aber die Sie alle wissen, dass wir in den letzten Jahren sehr viel Kinder wollen auch im vierten, fünften und sechsten dafür getan haben – Kommunen, Länder, Bund gemein- Lebensjahr den Kindergarten besuchen, und wir müssen sam –, dass der Rechtsanspruch, nach dem jedes Kind in aufpassen, dass da nicht Engpässe entstehen . unserem Land ab einem Jahr eine Kita besuchen kann, wenn es die Eltern wünschen, auch erfüllt wird . Oft Wir werden für dieses vierte Programm die Beträge werde ich deshalb gefragt, nicht nur vom Finanzminis- im Sondervermögen um 1,1 Milliarden Euro aufstocken . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22587

Bundesministerin Manuela Schwesig (A) Wir stellen diese Mittel für 2017 bis 2020 für 100 000 Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE): (C) neue Plätze zu Verfügung. Es wird aber nicht nur in das Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Platzangebot investiert, sondern auch in die Qualität . Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Im Jahr 2016 Wir wollen mit den Mitteln auch dafür sorgen, dass in befanden sich etwa 700 000 Kinder im U-3-Bereich in Sport- und Bewegungsräume und in inklusive Kinder- Einrichtungen der Kindertagesbetreuung . Damit betrug gärten investiert werden kann . Es ist in meinen Augen die Betreuungsquote etwa 33 Prozent, wobei etwa jedes sehr wichtig, dass wir auch diese Themen beachten; denn vierte Kind in Westdeutschland und mehr als jedes zwei- letztendlich geht es nicht um eine Betreuung, sondern te Kind in Ostdeutschland betreut wurden . wirklich um frühkindliche Bildung . Dafür brauchen wir gute Qualität, und auch das ist mit diesem vierten Inves- Trotz eines deutlichen Ausbaus in den letzten Jahren titionsprogramm möglich . ist dies schlichtweg zu wenig . Wir wissen aus Erhebun- gen des Deutschen Jugendinstituts, dass mehr als 43 Pro- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) zent aller Eltern inzwischen den Wunsch haben, ihre Kinder in Einrichtungen der frühkindlichen Bildung und Meine sehr geehrten Damen und Herren, dieses vierte Betreuung zu bringen . Das heißt, es gibt eine erhebliche Investitionsprogramm steht natürlich nicht für sich al- Lücke zwischen den vorhandenen Plätzen und dem be- lein, sondern es wird von dem Programm „Sprach-Kitas“ stehenden Bedarf . flankiert. Sie erinnern sich: Dank Ihrer Unterstützung im Haushaltsausschuss können wir die Anzahl der Sprach- Ich verweise an dieser Stelle nochmals auf das Urteil Kitas verdoppeln . Wir können mehr Erzieherinnen und des Bundesverwaltungsgerichtes, dass Kitaplätze auf der Erzieher in den Kitas finanzieren. Insbesondere geht es Grundlage des Rechtsanspruchs so anzubieten sind, dass dabei um den Bereich der Sprachförderung, was ganz sie in einer vernünftigen Erreichbarkeit von Wohn- oder elementar in der frühkindlichen Bildung ist . Des Weite- Arbeitsort der Eltern verfügbar sind . Ansonsten müssen ren wird das Investitionsprogramm von dem Programm die Kommunen Strafen zahlen, nämlich für Einkom- „KitaPlus“ flankiert. Es ist möglich, in über 300 Kitas in mensausfälle der Eltern, wenn diese ihre Erwerbstätig- unserem Land mehr Randzeiten anzubieten . Das zeigt: keit nicht aufnehmen bzw . dieser nicht nachgehen kön- Wir investieren im Sinne der Vereinbarkeit von Beruf nen, weil die entsprechenden Plätze nicht vorhanden und Familie für junge Mütter und auch Väter in Quantität sind . und in Qualität . Wir hatten im letzten Jahr trotz des Ausbaus sogar ei- Das Letzte möchte ich sehr betonen . Es gibt eine ak- nen Rückgang der Betreuungsquote . Auch darüber muss tuelle Studie, die zeigt, dass Väter sagen: Wir wollen, man sprechen, weil das ein gefährliches Warnsignal ist . (B) dass Politik dafür sorgt, dass unsere Frauen, aber auch Wir haben erfreulicherweise seit 2010 geburtenstarke (D) wir Väter Beruf und Familie besser vereinbaren können. Jahrgänge . Der Rückgang der Betreuungsquote muss Deshalb ist die Investition in Kitas, auch was Randzeiten dazu führen, dass der Bund den Status quo nicht fort- betrifft, für uns so wichtig. Das sind wichtige Forderun- führt, sondern mehr drauflegt. gen der Väter, die wir auch gerne unterstützen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wer hat den Kitaausbau bezahlt? Ich höre der Minis- Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, im terin Schwesig immer gerne zu; das alles klingt so schön . Jahr 2013 hat der Bund 1,5 Milliarden Euro in die Kin- In Wahrheit aber hat nicht der Bund den Kitaausbau be- dertagesbetreuung investiert . Heute sind es jährlich zahlt . Der Bund hat den Rechtsanspruch eingeführt . Der 2,5 Milliarden Euro . Das ist eine Rekordsumme . Ich war – da sind wir uns einig – überfällig, gut und richtig . danke Ihnen für Ihre Unterstützung . Das ist ein wichtiges Die Kosten für den Ausbau haben aber im Wesentlichen Zeichen für die Familien im Land – für diejenigen, die die Länder, die Kommunen und die Eltern getragen . Die sich mit dem Kinderwunsch beschäftigen, und für dieje- Länder und die Kommunen haben jeweils – und das je- nigen, die sich längst für Kinder entschieden haben . des Jahr – 2 Milliarden Euro dafür ausgegeben, die Eltern 1 Milliarde Euro; das sind Zahlen aus Ihrem Ministeri- Wir werden weiter dafür sorgen, dass es bei der Ver- um. Die haben den Ausbau im Wesentlichen finanziert – einbarkeit von Beruf und Familie Verbesserungen gibt, und nicht der Bund, der sich hier relativ billig aus der aber auch dafür, dass mit diesen Investitionen die Bil- Verantwortung herausgeschlichen hat. dungschancen für Kinder schon im frühkindlichen Alter steigen . Ich bin fest davon überzeugt, dass sich jeder (Beifall bei der LINKEN) Euro doppelt und dreifach auszahlt . Deshalb bitte ich Sie So groß die Aufgabe auch ist, die Plätze weiter aus- um Unterstützung bei diesem Gesetzentwurf . zubauen, so groß ist die Erwartungshaltung in Bezug auf (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) den Qualitätsausbau . Dem folgen Sie mit Ihrem Gesetz- entwurf, insbesondere was den Titel angeht . In ihm steht viel über Qualität . Im Gesetzestext steht eigentlich gar Vizepräsidentin Petra Pau: nichts mehr über Qualität . Das Einzige, was Sie in Bezug Das Wort hat der Kollege Norbert Müller für die Frak- auf verbesserte Qualität mit fördern, ist, dass die Länder tion Die Linke . und die Kommunen jetzt auch in Ausstattung investieren können . Tische und Stühle in einer Kita haben aber re- (Beifall bei der LINKEN) lativ wenig mit Qualität zu tun . Qualität heißt Personal, 22588 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Norbert Müller (Potsdam) (A) Personal, Personal, und da lassen Sie Kommunen, Län- wie die politischen Verhältnisse in den Ländern sind, (C) der und Eltern wieder im Regen stehen . und je nachdem, wie die Kassenlage von Ländern und Kommunen ist . Wir brauchen einen Einstieg des Bundes (Beifall bei der LINKEN) bei der Kitaqualität, und wir brauchen sozusagen einige Wir als Linke schlagen vor, ein bundesweites Kitaqua- Kohlen mehr in der Frage des Platzausbaus . litätsgesetz aufzulegen . Ich weiß, dass in den Ländern Herzlichen Dank . inzwischen einiges in Bewegung gekommen ist . Wenn Sie sich die Stellungnahme des Bundesrates, die Sie ja (Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder gelesen und erwidert haben, anschauen, dann werden Sie [CDU/CSU]: Damit die links regierten Län- feststellen, dass der Bundesrat erstmals fordert, dass es der über ihre Verhältnisse leben können, Herr möglich sein soll, die Gelder für den Platzausbau auch in Müller!) den Qualitätsausbau zu stecken . Das macht auch durch- aus Sinn, weil der Ausbau unterschiedlich weit fortge- Vizepräsidentin Petra Pau: schritten ist . Die Antwort der Bundesregierung darauf ist, das sei nicht nötig . Wenn wir aber hier über ein Kita- Das Wort hat der Kollege Marcus Weinberg für die qualitätsgesetz reden, dann sagen Sie: Die Länder wollen CDU/CSU-Fraktion . das ja gar nicht, weil sie angeblich keine vergleichbaren (Beifall bei der CDU/CSU) Standards wollen .– Ich sage Ihnen: Die Länder wür- den bei einem Kitaqualitätsgesetz mitmachen, wenn der Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Bund das Geld dazu gibt Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das glaube ich und Kollegen! Herr Müller, wo waren Sie eigentlich die Ihnen!) letzten acht Jahre? Was haben Sie eigentlich nicht mit- bekommen, als in den Jahren 2005, 2006 und 2007 beim und nicht wie beim Rechtsanspruch die Qualitätsstan- Ausbau der Kindertagesbetreuung und beim Ausbau der dards festlegt und sich am Ende mit wenig Geld aus der Qualität in diesem Land viel passiert ist? Verantwortung stiehlt. Das funktioniert nicht. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Bevor ich allgemein einiges zu dem neuen, wichtigen neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Programm, das jetzt auf den Weg gebracht wird, sage, Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Genau! Der Bund komme ich noch einmal auf Ihre Bemerkungen bezüglich zahlt, und die Länder bestimmen! Schauen Sie eines Qualitätsgesetzes zurück . Darüber diskutieren wir mal nach Thüringen, Herr Müller!) schon lange . Wir haben eine gemeinsame Arbeitsgruppe (B) des zuständigen Ministeriums . Diese arbeitet seit 2016 (D) Kitaqualitätsgesetz heißt: Wir müssen über bundes- mit den Ländern zusammen . Es ist nämlich, Herr Müller, weite Standards für die Fachkraft-Kind-Relation reden . eine Gemeinschaftsaufgabe zwischen den Ländern, die Was heißt das? Die Fachkraft-Kind-Relation beschreibt, bekanntermaßen auch heute wieder ein hohes Interesse wie viele Kinder auf eine Fachkraft kommen . Wir müs- an der Debatte haben, weil wir ihnen Geld des Bundes sen auch darüber reden, was eigentlich eine Fachkraft ist . für den Ausbau der Kindertagesbetreuung zur Verfügung Eine Fachkraft ist – das wird durch die Bundesagentur stellen . Daran werden wir festhalten . Wir werden aber für Arbeit inzwischen vermittelt – keine Fachkraft für nicht zu 100 Prozent die Kosten für den Bereich Kinder- die Mittagsbetreuung – Qualifikationsaufwand: 40 Stun- tagesbetreuung übernehmen, und wir werden auch nicht den Weiterbildung – und auch kein Kindergartenhelfer, zu 100 Prozent die Kosten für den Ausbau übernehmen . wozu in einigen Ländern ausgebildet wird, schlecht be- Wir erwarten von den Ländern Unterstützung . zahlt und bei weitem nicht so hoch qualifiziert wie der staatlich anerkannte Erzieher . Das ist entscheidend: Wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . brauchen staatlich anerkannte Erzieher in den Kitas, und Sönke Rix [SPD]) wir brauchen bundesweite Standards für gute Qualität . Warum haben wir das gemacht, seit 2005 Frau Merkel (Beifall bei der LINKEN) Bundeskanzlerin wurde und Frau von der Leyen Famili- enministerin? Wir wissen: Kindertagesbetreuung ist ers- Gute Qualität heißt auch Leitungsfreistellung . Es kann tens unter bildungspolitischen Gesichtspunkten wichtig, nicht sein, dass die Leitung in einer Kindertageseinrich- um den Kindern frühe Bildung und Kreativität beizu- tung den kompletten Verwaltungsapparat mitstemmt und bringen, zweitens integrationspolitisch, weil Sprache der am Ende diese Kraft eben nicht am Kind ist . Das heißt, Schlüssel zur Integration ist, was gerade vor dem Hinter- wir müssen über Leitungsfreistellungen reden . Das for- grund, dass jetzt mehr und mehr Kinder in Deutschland dert auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, leben, die aus fremden Kulturen kommen, die dringend und das war auch eine Forderung bei den Streiks im Be- integriert werden müssen, die dringend die Sprache erler- reich der Sozial- und Erziehungsberufe im letzten Jahr . nen müssen, wichtig ist, und drittens auch arbeitsmarkt- politisch . Legen Sie also endlich ein Kitaqualitätsgesetz vor . Be- schleunigen Sie den Ausbau, und lassen Sie die Länder, Die Frau Ministerin hat es angesprochen: Mehr und die Kommunen und vor allem die Eltern nicht mehr im mehr Familien wollen frei entscheiden, wie sie ihre Er- Regen stehen, die erst keinen Platz kriegen, und dann, werbstätigkeit und ihre Familienzeit einteilen . Das heißt, wenn sie einen Platz bekommen, in der Republik auf sehr wir müssen und sollten auch Angebote machen, übrigens unterschiedliche Qualitätsstandards stoßen, je nachdem, auch für die Wirtschaft . Denn die Wirtschaft braucht Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22589

Marcus Weinberg (Hamburg) (A) Fachkräfte, und wer Fachkräfte braucht, muss sie quali- einmal 100 Millionen Euro mehr, also fast 1 Milliarde (C) fizieren, oder aber auf die Fachkräfte zurückgreifen, die Euro jährlich für eine originäre Aufgabe der Länder . Ich bereits ausgebildet sind und die wieder als Fachkraft ar- finde, Sie können das nicht abtun, als würde sich der beiten wollen . Auch deswegen ist das Thema „Ausbau Bund nicht beteiligen . Im Gegenteil: Der Bund beteiligt der Kindertagesbetreuung“ wichtig . sich – zu Recht . Man hat ja bei Ihnen gemerkt, Herr Müller, dass Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . hier die Gräte im Fisch oder das Haar in der Suppe su- Sönke Rix [SPD]) chen . Ob wir nun auf der linken Seite, auf der rechten Seite oder in der Mitte sitzen: Wir sind uns alle einig, Wir wissen um unsere Verantwortung. Wir erwarten aber was die Bedeutung des Ausbaus der Kindertagesbetreu- auch, dass man gemeinsam mit den Ländern schaut, wo ung angeht . Ob Wirtschaftsvertreter oder Familienpoliti- die Länder ihrer Aufgabe nachkommen können . ker: Alle zusammen wissen, dass die Entwicklung in den Ich habe es gesagt: Der Ausbau der Kindertagesbe- letzten Jahren eine Erfolgsgeschichte war . treuung ist für Chancengerechtigkeit, für die sprachliche Es wurden nicht nur 100 000 zusätzliche Betreuungs- Entwicklung von Kindern und für die Vereinbarkeit von plätze – das wurde angesprochen – für den U‑3-Bereich Familie und Beruf entscheidend . Auch das Thema, auf geschaffen, also für den Krippenbereich, sondern auch das ich jetzt zu sprechen komme, ist nicht unwichtig . Der für den Bereich bis zur Einschulung . 1,126 Milliarden Ausbau der Kindertagesbetreuung verringert nämlich das Euro werden in dem mittlerweile vierten Programm von- Armutsrisiko der Familien mit Kindern bis zwölf Jahren seiten des Bundes investiert . deutlich, nämlich um rund 7 Prozentpunkte . Ich will Prof . Dr . Holger Bonin zitieren, der in der Anhörung am Ich habe bereits angesprochen, wie wir die Bedeu- Montag zur Kinderarmut gesagt hat: tung der Kindertagesbetreuung sehen . Deswegen will ich noch einen weiteren Punkt ansprechen . Wenn wir von ei- Weiterhin demonstrieren die Ergebnisse der Ge- ner gemeinsamen Aufgabe zwischen Bund und Ländern samtevaluation der ehe- und familienbezogenen sprechen, die jetzt diskutiert wird und die gemeinsam fi- Leistungen die zentrale Bedeutung der Vereinbar- nanziert werden muss – die finanzielle Absicherung ist keit von Familie und Beruf für die Sicherung der auch eine Aufgabe dieser Arbeitsgruppe –, dann müssen wirtschaftlichen Stabilität von Familien . Unter den wir uns auch mit den Forderungen des Bundesrates be- untersuchten Leistungen sticht die öffentlich geför- schäftigen. Ich will an dieser Stelle ganz offen sagen: Es derte Kindertagesbetreuung heraus . Sie entfaltet gibt drei ganz wesentliche Forderungen des Bundesrates . substanziell positive Wirkungen auf alle Kernziele Eine ist, die Fristen zu verlängern . Ich glaube, dieser der Familienpolitik . (B) werden wir zustimmen können . Wir haben bei den ersten Das bestätigt, dass der Weg richtig war, den wir einge- (D) drei Programmen gemerkt, dass die Beantragung und das schlagen haben . Verfahren sehr lange dauern. Das heißt, wir sollten mehr Freiheit geben und die Fristen verlängern . Jetzt kommt in diesem Land eine Debatte über die Qualität auf . Wir sagen: Ausbau ist wichtig, Qualität Bei den beiden anderen Forderungen werden wir ist wichtig . Ich glaube, außer erfüllt noch kein deutlich machen, dass wir sie als problematisch ansehen . Bundesland die Standards . Wenn man sich die Relation Dazu gehört der Wunsch, dass wir als Bund bei gewis- Erzieherinnen und Erzieher zu Kindern – es gibt die Vor- sen schnellen Ausbauverfahren 100 Prozent der Kosten gabe 1 zu 3 oder 1 zu 4, je nachdem, ob man Bertelsmann übernehmen sollen . Dazu sagen wir ganz deutlich: Nein, oder OECD präferiert – anschaut, dann erkennt man: Die wir wollen, dass Länder und Kommunen bei ihrer Ver- meisten Länder – gerade im Westen – schaffen das noch antwortung bleiben . Wir brauchen diese neuen Plätze . nicht . Das heißt, wir haben ein Qualitätsproblem, obwohl Angebot schafft Nachfrage. Wir wissen, bei den Drei- wir viele Maßnahmen zur Qualitätssteigerung über den bis Fünfjährigen liegen wir bei 95 Prozent Ausbau und Bund finanziert haben. Trotzdem haben wir hier noch ein 97 Prozent Bedarf . Das heißt, wir haben noch eine klei- Defizit. ne Lücke . Deswegen werden wir ganz deutlich sagen: Wenn wir das Geld ausgeben, dann wollen wir, dass neue Ich finde, man muss Prioritäten setzen. Geld kann man Kitaplätze geschaffen werden. Das werden wir gegen- nur einmal ausgeben . Wenn hinausposaunt wird, dass über den Ländern auch deutlich machen . Die gestiegene man die Beiträge abschaffen will, dass es keine Eltern- Geburtenzahl, die Zuwanderung von Flüchtlingskindern beiträge mehr geben soll, dann muss ich kritisch hinter- sind für uns Anlass, diesen Ausbau mit Nachdruck fort- fragen, ob das die richtige Prioritätensetzung ist . zusetzen . (Zuruf des Abg . Norbert Müller [Potsdam] Es wurde schon das vierte Programm angesprochen . [DIE LINKE]) 3,28 Milliarden Euro wurden bereits vonseiten des Bun- Dazu möchte ich Folgendes sagen: Einige Länder ha- des bereitgestellt in den drei Programmen 2008-2013, ben bereits zum Beispiel, weil der Ausbau der Kinderta- 2013-2014 und 2015-2018 . gesbetreuung ihre originäre Verantwortung ist, das Jahr Noch eine Bemerkung zur Unterstützung der Länder: vor der Einschulung kostenfrei gestellt . Andere Länder Eigentlich haben wir gesagt, wir investieren, wir wollen wie mein Bundesland haben die fünfstündige Grundbe- das Investitionsprogramm auf den Weg bringen . Aber wir treuung kostenfrei gestellt . Andere Länder haben weni- haben auch gesagt, dass wir die Betriebskosten mittra- ger gemacht . Einige Länder haben höhere Elternbeiträ- gen: in den ersten Jahren 845 Millionen Euro, jetzt noch ge, andere Länder geringere Elternbeiträge . Und – das 22590 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Marcus Weinberg (Hamburg) (A) ist zentral – einige Länder haben eine sehr kluge soziale Grenzen; denn wir haben als Parlament im Bund weitere (C) Staffelung; denn die Elternbeiträge dürfen nicht dazu Aufgaben, die wir angehen müssen . führen, dass Kinder gerade aus bildungsfernen Schichten abgehalten werden, die Kindertagesbetreuungsangebote Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. wahrzunehmen. Deswegen bin ich Verfechter der Mei- (Beifall bei der CDU/CSU) nung, dass diejenigen, die mehr verdienen, sich auch in einem gewissen Maße daran beteiligen können . Vizepräsidentin Petra Pau: Ich weiß, wir müssen die Eltern – auch jene mit mittle- Das Wort hat die Kollegin Dr . Franziska Brantner für rem Einkommen – entlasten, um ihre Freiheit zu stärken . die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen . Aber ich sage eines ganz deutlich: Solange wir den Aus- bau nicht abgeschlossen und die Qualitätsstandards nicht Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- erreicht haben, sollten wir die Priorität auf Ausbau und NEN): Qualität legen und nicht auf das Thema Beitragsfreiheit . Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) und Herren! Wir reden heute hier über die Kleinsten in unserem Land, über die kleinen Kinder . Auch die Fünf- Ich gönne allen Eltern eine Beitragsentlastung . Aber und Sechsjährigen gehören noch zu den kleinen Kindern die Wirklichkeit ist eine andere . Wir reden über einen in unserem Land . Wir wissen, dass diese jungen Jahre zweistelligen Milliardenbetrag, den Sie hier aufrufen . für ihre spätere Biografie entscheidend sind. Was Kinder Das kann man ja im Wahlkampf gerne machen . Dann in der Zeit mitbekommen, macht mit Blick auf das, was muss man aber auch sagen, was man nicht macht . Man sie später im Leben anstreben und erreichen können, so muss sich entscheiden und Schwerpunkte setzen . Ich viel aus . Wir wissen, dass alle Kinder von guten Kitas sage ganz deutlich: Dafür vonseiten des Bundes 20, 25 profitieren, aber von sehr guten Kitas besonders jene oder 30 Milliarden Euro auszugeben, wäre ein Problem . profitieren, die am Anfang ihres Lebens nicht die besten Mir wäre es lieber, an dem weiterzuarbeiten, was wir Startchancen haben . schon gemacht haben, nämlich schrittweise Qualitätspro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gramme zu entwickeln und die Kitabetreuung in Rand- sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg . zeiten auszubauen . Wir unterstützen – das Thema wurde Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]) angesprochen – das Bundesprogramm „KitaPlus: Weil gute Betreuung keine Frage der Uhrzeit ist“ und das Bun- Auch das wurde am Montag in der Anhörung bestätigt . desprogramm „Sprach-Kitas: Weil Sprache der Schlüssel Gute Kitas gibt es nun mal nicht umsonst . Deswegen zur Welt ist“ . Wir wollen lieber gezielt da investieren, (B) reden wir hier heute auch über das Geld . Im Novem- (D) wo Bedarfe sind, anstatt etwas mit der Gießkanne aus- ber 2016 haben Sie, Frau Schwesig, im Rahmen der Vor- zuschütten . stellung des Zwischenberichts der Arbeitsgruppe noch Besserverdienende oder gar Reiche können sich viel- 1,7 Milliarden Euro zusätzlich für Kitas angekündigt . leicht mit kleineren Beiträgen an dieser wichtigen ge- Das war eigentlich auch damals schon zu wenig für den sellschaftspolitischen Aufgabe beteiligen. Ich finde es Bereich, wenn man ernsthaft einen Ausbau und eine Stei- erstaunlich, dass ich als Christdemokrat jetzt hier solche gerung der Qualität erreichen will . Aber so viel ist es ja Positionen vertreten muss; aber anscheinend ist es not- jetzt gar nicht mehr: Was im Gesetz steht, ist die Summe wendig, weil man momentan sehr offen und frei Geld von 1,26 Milliarden Euro . Der Betrag ist geschrumpft . ausgeben will, das gar nicht vorhanden ist . Wir erwarten Obwohl es in diesem Haushalt Überschüsse gibt und jetzt in den nächsten Monaten weitere nette Programmpunkte 18 Milliarden Euro in die Reserve geschoben werden, ha- von Ihnen, und irgendwann machen wir mal eine große ben Sie es nicht geschafft, den richtigen Betrag für die Rechnung auf; Kollege Rix freut sich schon darauf . Ob Kinderbetreuung einzustellen . Die Kinder sind die Zu- es dann bei einem zweistelligen Milliardenbetrag bleibt, kunft, da müssen wir investieren – das erwarten wir von weiß ich nicht . Ihnen . Als Fazit bleibt Folgendes festzuhalten: Seit unge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fähr zehn Jahren haben wir eine große Unterstützung der Wir reden jetzt die ganze Zeit darüber, ob wir die Kitas Länder in diesem Bereich gewährleistet, weil die Aufga- beitragsfrei gestalten . Ich sehe es so: Es besteht noch die be der Kinderbetreuung wichtig ist . Wir haben Qualität Notwendigkeit, die Kinderbetreuung auszubauen, gerade und Quantität erhöht . Diese Maßnahmen wirken, die ein- auch deshalb, weil es mehr Kinder gibt – das haben Sie zelnen Programme wirken . Ich glaube, daran sollten wir ja selber gesagt –, und wir brauchen eine bessere Quali- weiterarbeiten . tät, und zwar bundesweit einheitlich . Wenn wir das noch Dann komme ich – letzter Punkt – zur Kooperation . nicht erreicht haben, dann können wir doch nicht darü- Wir werden in diesem Jahr oder im Frühjahr nächsten ber hinaus etwas versprechen; denn die Gelder sind jetzt Jahres sehen, was die gemeinsame Arbeitsgruppe im schon geringer, als es notwendig wäre . Hinblick auf eine Qualitätsoffensive und ihre finanziel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) le Absicherung erarbeitet hat . Ich bin sehr optimistisch, dass man das gut hinbekommt, wenn man kooperativ Wir brauchen mehr Qualität, mehr Plätze und, ja, in verhandelt . Aber eines sagen wir ganz deutlich: Wir un- Zukunft vielleicht auch Beitragsfreiheit . Aber die Prio- terstützen die Länder gerne, aber es hat auch alles seine rität muss doch auf der Schaffung von Betreuungsplät- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22591

Dr. Franziska Brantner (A) zen und der Steigerung der Qualität liegen . Denn was Vizepräsidentin Petra Pau: (C) hat man davon, wenn ein Platz beitragsfrei ist, der noch Das Wort hat der Kollege Sönke Rix für die SPD . gar nicht existiert? Wir müssen doch erst mal die Plätze schaffen und die Qualität sichern, und dann können wir (Beifall bei der SPD) auch gerne über Beitragsfreiheit sprechen . Sönke Rix (SPD): (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! SES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU) Zunächst einmal will ich an den von uns vereinbarten Einen Punkt, der von den kommunalen Spitzenver- Dreiklang erinnern, der deutlich macht, was wir für die bänden angemahnt wurde, möchte ich noch herausgrei- Familien erreichen wollen. Wir wollten erstens die fi- fen . Sie wollen jetzt, dass die Gelder schon vor Ende nanzielle Entlastung – das haben wir in mehreren Schrit- des Programms umgeschichtet werden können . Diese ten geschafft, insbesondere für Alleinerziehende –, wir Umschichtungsmöglichkeit führt zu Unsicherheit vor wollten zweitens mehr Zeit für Eltern – das haben wir Ort, weil nicht mehr klar ist: Stehen uns die Gelder zu geschafft, indem wir das Programm Elterngeld Plus ge- oder nicht? Gerade in der Phase des Ausbaus, in der wir schaffen haben, mit dem wir insbesondere die -Partner Planungssicherheit brauchen, ist es nicht zielführend, schaftlichkeit fördern –, und wir wollten drittens mehr die Möglichkeit zu schaffen, die Gelder zu verschieben. Infrastruktur für eine bessere Vereinbarkeit von Familie Es ist notwendig, dass wir für Sicherheit sorgen . Es ist und Beruf . Mittlerweile legen wir mit einem neuen Pro- falsch, dass das geändert werden soll . Man könnte die gramm mehrere Milliarden Euro auf den Tisch, damit bisherige Regelung beibehalten . Hier sollten Sie noch Länder und Kommunen ihrer Aufgabe, die wir ihnen einmal nachbessern; wir sind gerne mit dabei . aufgegeben haben, nachkommen können . Wir haben ver- sprochen, entsprechende Mittel zur Verfügung zu stellen, Zum Thema Qualität . Frau Schwesig, als Sie noch Mi- und wir halten uns an das, was wir versprochen haben . nisterin auf Landesebene waren, haben Sie selber gesagt, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass eine Arbeitsgruppe nur ein „Notnagel“ sein kann; der CDU/CSU) das waren damals Ihre Worte, als 2013 eine entsprechen- de Arbeitsgruppe zur Qualität eingerichtet wurde . Was Die Kita ist nicht nur für die Vereinbarkeit von Fa- haben Sie seither getan? Sie haben eine Arbeitsgruppe milie und Beruf wichtig – Kollege Weinberg hat darauf eingerichtet, die immer noch tagt, obwohl wir ein Quali- hingewiesen –, sondern sie ist auch deshalb wichtig, weil tätsgesetz dringend brauchen, um bundesweit für einheit- sie ein Ort der frühkindlichen Bildung ist und kein Auf- liche Standards sorgen zu können . Wir reden in unserem bewahrungsort . Über die Jahre haben sich die Kitas her- Land immer viel über Chancengleichheit, und wir wis- vorragend entwickelt . Den Erzieherinnen und Erziehern, (B) sen: Gerade die frühkindliche Lebensphase ist entschei- die diese Entwicklung so positiv begleitet haben, gebührt (D) dend . Chancengleichheit darf nicht davon abhängen, ob unser aller Dank . Sie sind diejenigen, die vor Ort die Ar- man in einer reichen oder in einer armen Stadt wohnt . beit leisten, die wir ihnen mit auf den Weg geben . Alle Kinder brauchen die gleichen Chancen . Auch der qualitative Ausbau der Kindertagesbetreu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ung gehört dazu . Wir haben im Rahmen des Investitions- programms vereinbart, Geld speziell für Bewegungsför- Damit unser Vorhaben funktioniert, müssen wir unse- derung und für Gesundheitsvorsorge zur Verfügung zu rer Verantwortung gemeinsam nachkommen. Wir dürfen stellen . Wir stellen also auch Mittel für die Steigerung nicht die eine gegen die andere Bevölkerungsgruppe aus- der Qualität bereit . spielen, sondern wir müssen klar sagen: Es geht um die Zukunft, und Zukunft braucht Chancengleichheit . Ohne (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Qualitätsgesetz und nur mit den derzeit zur Verfügung der CDU/CSU) stehenden Mitteln werden wir das leider nicht erreichen . Ich komme auf das Thema Qualitätsgesetz zu spre- Wir müssten uns gemeinsam darauf verständigen, für chen. Ich bin schon etwas erstaunt, dass meine Vorredne- die nächsten Jahre noch etwas Geld draufzulegen . An- rin die Bundesministerin dafür kritisiert hat, dass es kein gesichts der schon angesprochenen 18 Milliarden Euro Qualitätsgesetz auf Bundesebene gibt, und gefragt hat, sage ich: Ganz ehrlich, für die Zukunft muss mehr drin was Frau Schwesig da bitte gemacht habe . Dabei gibt es sein . Wir führen derzeit vehement eine Debatte über Rüs- mehr als eine Arbeitsgruppe: Es gibt eine Vereinbarung tungsausgaben in Höhe von 2 Prozent des Bruttoinlands­ zwischen allen zuständigen Landesministerinnen und produkts . Ich wünsche mir, dass wir so eine intensive Landesministern und der Bundesregierung . Ein Land ist Debatte auch über die Ausgaben für die Zukunft unserer allerdings nicht dabei . Das ist ein von Schwarz-Grün re- Kinder führen . giertes Land, nämlich Hessen . (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Petra Crone [SPD]: Ehrlich? Hört! Hört!) SES 90/DIE GRÜNEN) Mit dem Finger nur auf die Ministerin zu zeigen, aber Wenn wir diese Debatte mit einer solchen Vehemenz füh- nicht auf die eigenen Kollegen im Land, so geht das ren würden, dann wären wir einen Schritt weiter . nicht, Frau Brantner . Ich danke Ihnen . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf der Abg . Dr . Franziska (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) 22592 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Sönke Rix (A) Lieber Herr Kollege Weinberg und liebe Kollegin Kommunen bereitgestellt haben . Das ist jetzt das vierte (C) Brantner, im Rahmen der Anhörung haben wir auch da- Investitionsprogramm . Wir leisten unseren Beitrag zum rüber diskutiert, wie sinnvoll es wäre, den Kitabesuch Kitaausbau . Darauf können wir stolz sein . beitragsfrei zu stellen und dadurch die Eltern zu entlas- ten . Sie stellen das immer als Gegensatz dar und spielen Danke schön . das in der Diskussion gegeneinander aus . (Beifall bei der SPD) ( [DIE LINKE]: Geld ist endlich!) Vizepräsidentin Petra Pau: – Hören Sie ruhig zu . – Sie sagen immer: Wir wollen Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Ingrid erst einmal Mittel in den Ausbau, dann in die Qualität Pahlmann das Wort . und dann eventuell auch in die Beitragsfreiheit stecken . (Beifall bei der CDU/CSU – Paul Lehrieder Natürlich kann man das gegeneinander ausspielen . Wir [CDU/CSU]: Stell das mal richtig!) spielen das auch gegeneinander aus, aber anders: Wir spielen das zum Beispiel gegen Ausgaben aus, die Ih- rer Programmatik entsprechen, zum Beispiel gegen die Ingrid Pahlmann (CDU/CSU): Steuerentlastung, die Sie versprechen . Wieso wollen Sie Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! eigentlich mit der Gießkanne übers Feld ziehen und Steu- Liebe Kollegen! Ich denke, trotz aller Diskussionen ist erentlastungen verteilen, anstatt vor allen Dingen Fami- heute ein richtig guter Tag . Wir beraten in erster Lesung lien zu entlasten? Beitragsfreiheit ist eine Entlastung von den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum weite- Familien, liebe Kolleginnen und Kollegen . Das kann ren quantitativen und qualitativen Ausbau der Kinder- man auch gerne einmal gegeneinander ausspielen . tagesbetreuung. Ich finde, dieser Gesetzentwurf sollte spätestens am Ende der Beratungen auf eine ganz breite (Beifall bei der SPD – Dr . Franziska Brantner Zustimmung bei allen stoßen . [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie ha- ben ja nur so geringe Beträge! Sie kriegen ja Seit der Einführung des Rechtsanspruchs auf einen noch nicht einmal die Qualität finanziert!) Betreuungsplatz für Kinder unter drei Jahren durch die damalige Familienministerin hat Das wäre eine Entlastung. Vielleicht betrachten Sie das sich die Betreuungsquote in diesem Bereich fast ver- einmal vor diesem Hintergrund und handeln dann ent- doppelt: rund 720 000 betreute Kinder im U‑3-Bereich . sprechend . Diese Leistung nicht nur des Bundes, sondern auch eini- Es gibt einen weiteren Posten, gegen den man das ger Länder und vor allem der Kommunen vor Ort muss (B) ausspielen könnte . Ich weiß gar nicht mehr, wie groß die man einmal anerkennen . Mit der Zurverfügungstellung (D) Summe war, die Ihr Staatssekretär im Finanzministerium von zusätzlich 1,126 Milliarden Euro bis zum Jahr 2020 genannt hat, als es um zusätzliche Mittel für die Bundes- wollen wir, wie bereits mehrfach gesagt, 100 000 neue wehr ging. Von solchen Summen können wir bei unse- Betreuungsplätze schaffen. rem Haushalt nur träumen . Wenn man andere Prioritäten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- setzen würde, könnte man sagen: Nein, wir brauchen das ordneten der SPD) Geld zusätzlich zur Entlastung von Familien . (Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Es Ich möchte deutlich machen, dass wir zum ersten Mal wäre schön, wenn ihr im Parlament mal Nein auch die Förderung neuer Plätze für über dreijährige Kin- sagen würdet!) der ermöglichen . Trotz der bereits seit langem hohen Be- treuungsquote bei über Dreijährigen stellen wir auch in Man sollte lieber mehr Geld konkret für die Entlastung diesem Bereich einen wachsenden Bedarf fest . Das freut von Familien ausgeben, als es mit der Gießkanne zu ver- uns, und dem wollen wir Rechnung tragen . Das unter- teilen .– Sie haben danach gefragt, Herr Weinberg . Ich streicht: Der Bund steht weiterhin zu seiner Verantwor- wollte Ihnen nur die Antwort geben . tung . Er steht an der Seite der Familien und an der Seite der Alleinerziehenden . (Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Ihr regiert zusammen! Dann müsst ihr das mal (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- klären!) ordneten der SPD) – Ja, das liegt aber auch an anderen, warum wir noch Aber der Bund ist nicht alleine verantwortlich . Es ist zusammen regieren . weiterhin eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund, (Heiterkeit bei der SPD) Ländern und Kommunen notwendig . Aus dem Rat mei- ner Heimatstadt Gifhorn weiß ich, wie sehr sich Kommu- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir bringen ein gu- nen oftmals strecken müssen . Sie sind es, die vor Ort den tes Programm auf den Weg . Das, was wir hier machen, Spagat zwischen den berechtigten Forderungen der El- ist wirklich ein Erfolgsprogramm – und das nach den tern nach einem ausreichenden und qualitativ guten Be- zahlreichen Entlastungen, die wir den Kommunen ins- treuungsangebot für die Kinder auf der einen Seite und gesamt schon gewährt haben. Ich erinnere an die Verab- den Bedürfnissen einer zukunftsfähigen Haushaltsfüh- redungen im Zusammenhang mit dem Bund-Länder-Fi- rung auf der anderen Seite schaffen müssen. Sie spüren nanzausgleich, aber auch an die mehreren Milliarden, die den steigenden Bedarf am allerdeutlichsten und sind dem wir insgesamt in dieser Wahlperiode zur Entlastung der daraus resultierenden Druck am stärksten ausgesetzt . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22593

Ingrid Pahlmann (A) Wir als Bund machen uns dafür stark, diesen Druck zu Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich finde die Aus- (C) lindern . Als Große Koalition haben wir die Kommunen weitung der Qualität in der Kinderbetreuung sehr gut, in den letzten Jahren in Milliardenhöhe entlastet . Wir als wichtig und richtig . Wir sollten aber hier und heute nicht Union haben unsere Politik für starke Kommunen fortge- den zweiten vor dem ersten Schritt machen, sondern uns setzt; sie liegen uns ganz besonders am Herzen . Man darf vielmehr bei gleichbleibend gutem Qualitätsniveau zu- ebenso nicht vergessen: Auch die Bundesländer haben in nächst einmal auf die Deckung des Bedarfs fokussieren, unserer Regierungszeit ungemein davon profitiert. der eindeutig und unbestritten vorhanden ist . (Beifall bei der CDU/CSU) Ähnliches gilt in meinen Augen übrigens auch für die Da verwundert es umso mehr, was ich nun aus mei- Beitragsfreiheit von Kinderbetreuung . Da bin ich bei nem Heimatland Niedersachsen hören muss . Angeblich meinen Kollegen Weinberg und Brantner . Auch ich stehe möchte die rot-grüne Landesregierung die Förderhöhe einer pauschalen Abschaffung der Elternbeiträge kritisch beim Ausbau der Kinderbetreuung senken . So sollen gegenüber, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt, da wir uns Krippenplätze statt mit 12 000 nun nur noch mit ma- immer noch darum bemühen, für eine weiter steigende ximal 9 500 Euro und Plätze in der Kindertagespflege Nachfrage ausreichend Betreuungsplätze zur Verfügung mit nur noch 2 500 Euro statt der bisherigen maximal zu stellen, und erst am Anfang des weiten Weges zu bei- 4 000 Euro gefördert werden . Diese Befürchtung hat der spielsweise flexibleren Öffnungszeiten, mehr Fachkräf- Niedersächsische Städte- und Gemeindebund in einem ten und kleineren Gruppen in unseren Betreuungsein- Schreiben Anfang März formuliert, und ich muss sagen: richtungen stehen . Die Landesregierung hat diese Sorge bisher leider noch Ich halte derzeit Elternbeiträge für eine wichtige Säule nicht zerstreuen können . Ich sage Ihnen: Das sorgt für der Finanzierung des Angebots, solange sie nicht Einzel- Unverständnis und vor allem für Unruhe in den Kom- ne vom Angebot ausschließen . Und um das zu verhin- munen . Und bei mir persönlich stärkt es doch einmal dern, Herr Rix, halte ich eine gut durchdachte Sozialstaf- mehr die Sorge, dass erneut mit Bundesgeldern nicht so felung der Beiträge für zielführend und, wie der Name umgegangen wird, wie wir uns das wünschen . Deshalb sagt, im Übrigen auch für deutlich sozial gerechter als habe ich auch Bedenken, zwei der drei Forderungen in eine pauschale Beitragsbefreiung . der Stellungnahme des Bundesrates zu folgen . (Beifall bei der CDU/CSU – Sönke Rix [SPD]: So wird erstens vonseiten der Bundesländer gefordert, Im ersten Schritt eine bundesweite wäre schon Steigerungen in der Qualität losgelöst von der Schaffung gut!) zusätzlicher Betreuungsplätze über dieses Investitions- programm zu fördern . Aber dies widerspricht schlichtweg Wenn es dann aber schon jetzt kostenfreie Kitas geben (B) dem primären Ziel dieses Gesetzes . Es geht hier zunächst soll, dann bitte nicht zulasten der Qualität, und das ge- (D) einmal um die Schaffung zusätzlicher Betreuungsplätze. schieht leider viel zu oft . Wenn es auf dem Rücken Sie haben es angemahnt . Wir brauchen zusätzliche Plät- der Kommunen ausgetragen wird, trifft es immer die ze . Trotzdem wollen wir, wie es ja im Titel des Geset- Schwächsten . zes zu lesen ist, qualitätssteigernden Maßnahmen nicht im Wege stehen und sie auch fördern, besonders dann, Aber kurz zurück zu den Forderungen des Bundesra- wenn die Alternative der Wegfall der Betreuungsplätze tes . Zweitens wünschen sich die Bundesländer, dass eine sein würde . Bagatellgrenze eingezogen wird . So soll bei einer För- derung bis 1 000 Euro diese vom Bund in voller Höhe Die Anforderungen und Auflagen an die Einrichtun- getragen werden . Ich bin nun keine Juristin und möchte gen sind gestiegen, und zwar beispielsweise bei der Es- daher die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit dieser sensversorgung, nicht nur bei der Bewegung . Wenn in Forderung den Experten überlassen. Ich empfinde aber diesem Zusammenhang Küchen in den Einrichtungen eine mögliche Kostenteilung bei Einzelmaßnahmen von den neuen Bedingungen angepasst werden müssen, so 90 Prozent für den Bund und 10 Prozent für alle anderen soll das durchaus möglich sein . Beteiligten als äußerst fair . Wenn es gelingen kann, mit (Beifall bei der CDU/CSU) einem so geringen Beitrag von unter 1 000 Euro einen Platz zu erhalten, sollte es doch nicht an den 1 000 Euro Darüber hinaus haben wir auch schon eine Vielzahl Unterstützung durch das Bundesland scheitern . von Förderprogrammen auf den Weg gebracht, die ge- zielt die Qualität in den Kinderbetreuungseinrichtungen Über eine Verlängerung der Fristen, wie auch von den fördern . Ich möchte hier nur kurz das KitaPlus-Programm Bundesländern gefordert, sollten wir alle im Sinne der für erweiterte Öffnungszeiten, das neue Programm zum Kommunen noch einmal intensiv beraten . Wir wissen um Kitaeinstieg und die Sprachkitas, für die allein insgesamt die Herausforderungen, vor denen die kommunalen Ver- rund 1 Milliarde Euro zur Verfügung gestellt wurden, waltungen zurzeit stehen . nennen . Es ist erst drei Bundesländern gelungen, aus dem lau- Grundsätzlich aber sollten wir die bestehende Qua- fenden Programm Mittel in voller Höhe zu bewilligen, lität in unseren Kindertageseinrichtungen auch nicht darunter Niedersachsen; jetzt lobe ich einmal mein Hei- schlechter darstellen, als sie ist . Wir wissen, dass das matland . Fachkräfteniveau und der Betreuungsschlüssel in den Einrichtungen trotz des massiven Ausbaus des Angebo- (Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: tes mindestens auf dem gleichen Niveau geblieben sind . 47 Prozent in Bayern!) 22594 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Ingrid Pahlmann (A) Lieber Paul Lehrieder – ich hoffe, du wirst die Nachricht Dadurch, dass so etwas heute immer noch möglich ist, (C) überstehen –, diesmal war es nicht der Freistaat ganz im werden zwei Dinge deutlich: einmal, dass die Große Ko- Süden unseres Landes . alition bei der Novelle des Wissenschaftszeitvertragsge- setzes nicht gut genug gearbeitet hat, und zweitens, dass (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ja, ja!) es die Große Koalition nicht hinkriegt, Rahmenbedingun- Insgesamt liegt uns hier meines Erachtens ein bereits gen für stabile Beschäftigungsverhältnisse und planbare sehr, sehr guter Gesetzentwurf vor . Ich bin auf die An- Karrierewege in der Wissenschaft zu schaffen; denn sie hörung in der kommenden Woche und auf die weiteren weigert sich, Schritte in Richtung einer soliden Grundfi- Beratungen gespannt. Ich hoffe, dass wir uns im Sinne nanzierung zu gehen . Das muss aber endlich passieren . unserer Familien, unserer Kinder einigen werden und Deswegen hat die Linke heute diesen Antrag vorgelegt . dieses gute Gesetz auf den Weg bringen . (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Ich danke Ihnen . neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Als Hauptproblem kristallisieren sich die schwammi- gen Formulierungen im überarbeiteten Wissenschafts- Vizepräsidentin Petra Pau: zeitvertragsgesetz heraus . Jetzt ist zwar endlich festge- Ich schließe die Aussprache . legt worden, dass die Befristung von Arbeitsverträgen nur zum Zwecke der eigenen Qualifizierung zulässig ist, Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- gleichzeitig hat sich die Koalition aber geweigert, ein- wurfs auf Drucksache 18/11408 an die in der Tagesord- deutig zu definieren, was Qualifizierung eigentlich- be nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es deutet . Das hat sie sogar in die Hände der Arbeitgeber dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen . gelegt, die das natürlich in ihrem Sinne nutzen . Das war ja klar . Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Der zuständige Arbeitskreis der Universitätskanzler Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole zum Beispiel interpretiert die neuen Regelungen jetzt Gohlke, Sigrid Hupach, Klaus Ernst, weiterer folgendermaßen: Jede Tätigkeit im Wissenschaftsbetrieb Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE fördere ja die wissenschaftliche Qualifizierung der Be- Prekäre Arbeitsbedingungen in der Wissen- schäftigten und reiche daher aus, um eine Befristung zu schaft wirksam bekämpfen rechtfertigen .– Die TU Berlin war auch sehr kreativ . Für sie gilt zum Beispiel der Kompetenzerwerb beim Verfas- (B) (D) Drucksache 18/11597 sen von Drittmittelanträgen auch als wissenschaftliche Überweisungsvorschlag: Qualifizierung. Das ist doch einfach absurd. Hier muss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- dringend nachgebessert werden . schätzung (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei- nen Widerspruch . Dann ist es so beschlossen . [CDU/CSU]: Schreiben Sie mal einen Drittmittelantrag! Das werden Wir warten noch ab, bis die offensichtlich notwendi- Sie gar nicht hinkriegen!) gen Umgruppierungen in den Fraktionen abgeschlossen sind . Das nächste Problemfeld ist die familienpolitische Komponente . Auch hier überlässt es die Große Koalition Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin dem Ermessen der Arbeitgeber, ob Arbeitsverträge von Nicole Gohlke für die Fraktion Die Linke . Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verlängert (Beifall bei der LINKEN) werden, wenn sie Kinder betreuen . Auch das hat die Gro- ße Koalition ganz bewusst in Kauf genommen . Das geht aber zulasten von Familien, besonders zulasten von Frau- Nicole Gohlke (DIE LINKE): en . Auch das gehört schnellstens korrigiert . Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Letzten Monat postete eine junge Berliner Nachwuchs- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- wissenschaftlerin auf Facebook, sie habe innerhalb der neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) letzten vier Jahre an ein und derselben Hochschule, das heißt bei ein und demselben Arbeitgeber, zehn verschie- Auch vom wissenschaftsunterstützenden Personal in dene Arbeitsverträge gehabt . Ich halte das für einen rie- Verwaltung und Technik – dieses ist aus dem Geltungs- sigen Skandal . bereich des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes heraus- genommen – wird uns berichtet, dass sich für viele die (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Situation kaum verbessert hat . Manche der Kolleginnen Es ist skandalös, dass das offenbar immer noch möglich und Kollegen werden jetzt nach Ablauf der maximalen ist, obwohl sich die Bundesregierung letztes Jahr endlich Befristungsdauer einfach gar nicht weiterbeschäftigt und dazu durchgerungen hat, das Sonderbefristungsrecht in verlieren ihren Arbeitsplatz . Das hat auch etwas damit zu der Wissenschaft zu reformieren . tun, dass gerade die Hochschulen zur Einrichtung von Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22595

Nicole Gohlke (A) Dauerstellen keine oder nur geringe finanzielle Spielräu- wie Sie es immer wieder bezeichnen, werden wir mit al- (C) me sehen . ler Entschiedenheit bekämpfen . (Dr .Philipp Lengsfeld [CDU/CSU]: Weil Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- so industriefeindlich sind, Frau Kollegin! Das neten der SPD – Nicole Gohlke [DIE LINKE]: liegt an Ihnen!) Dann mal los!) Sie dürfen dauerhafte Planstellen zum Beispiel gar Gute Arbeitsbedingungen brauchen zunächst eine aus- nicht aus Projektmitteln des Bundes finanzieren. Es ist reichende und verlässliche Grundfinanzierung; auch da ein Problem, wenn sich die laufenden Grundmittel der sind wir uns einig . Hochschulen von der Jahrtausendwende bis 2014 trotz (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Gut!) steigender Studierendenzahlen nur um die Hälfte erhöht haben, während die Drittmittel im selben Zeitraum um Aber jetzt kommt der entscheidende Unterschied zwi- 150 Prozent gestiegen sind; denn Drittmittel sind das Ge- schen uns . genteil von Planungssicherheit . (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Aha!) (Dr .Thomas Feist [CDU/CSU]: Mit Planungs- Der entscheidende Unterschied ist: Diese Grundfinanzie- sicherheit und Planwirtschaft kennen Sie sich rung muss verbunden sein mit einer zeitgemäßen Perso- ja aus!) nalstruktur . Beides sind Punkte, für die die Länder ver- antwortlich sind . Die Wahrheit ist: Die Situation der Wissenschaft und der Beschäftigten bleibt prekär, solange die Bundesregierung (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Aha! Was nicht endlich eine Kehrtwende in der Wissenschaftsfi- nicht alles im Grundgesetz steht!) nanzierung einleitet . Dafür wäre es allerhöchste Zeit . Die Länder – jetzt gut zuhören! – haben ebenso wie der Bund in den vergangenen Jahren eine recht gute Ein- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- nahmesituation gehabt . neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Das liegt im (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Sehr rich- Zuständigkeitsbereich der Länder, Frau Kolle- tig!) gin!) Wenn Sie sich einmal die Ausgaben des Bundes für die Für uns Linke ist klar: Wir wollen gute Arbeit, auch Hochschulen vom Jahr 2010 bis zum Jahr 2014 anschau- in der Wissenschaft . Die Einrichtungen und die Beschäf- en, stellen Sie fest: Sie sind um 56 Prozent gestiegen, (B) tigten brauchen endlich Verlässlichkeit und Planungs- (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Ui!) (D) sicherheit, und zwar nicht nur für Prestigeprojekte wie Ihre Exzellenzinitiative. Also: Verstetigen Sie den Hoch- die der Länder um 19 Prozent . schulpakt, und sagen Sie endlich, wie es mit dem Hoch- ( [CDU/CSU]: Da stimmt schulbau weitergehen soll! Das sind Sie den Beschäftig- doch etwas nicht!) ten schuldig . Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Prioritätensetzung für Bil- Vielen Dank. dung und Wissenschaft sieht für mich anders aus . (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU – Kai Gehring neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wow! 19 Prozent Steigerung sind toll, wenn man keine Steuern einnimmt!) Vizepräsidentin Petra Pau: Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Bund kann Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin wichtige Rahmenbedingungen setzen . Im Gegensatz zu Alexandra Dinges-Dierig das Wort . Ihnen von den Linken reden wir nicht Jahrzehnte über (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- prekäre Arbeitsbedingungen – übrigens ohne auch nur neten der SPD – Tankred Schipanski [CDU/ einmal definiert zu haben, was eigentlich gute Arbeits- CSU]: Gott sei Dank!) bedingungen sind, auch nicht gestern Nachmittag auf der Podiumsdiskussion –, sondern wir als CDU/CSU wissen, was gute Arbeitsbedingungen sind. Wir haben sie defi- Alexandra Dinges-Dierig (CDU/CSU): niert und wollen sie für alle Beschäftigten im Wissen- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schaftssystem . Deshalb haben wir analysiert, wie die Si- Verehrte Gäste auf den Tribünen! Bereits vor einem gu- tuation heute ist, und wir haben gehandelt . Dies sind – da ten Jahr habe ich an gleicher Stelle gesagt, dass die Zu- muss ich Ihnen völlig recht geben – die ersten Schritte kunft des Wissenschaftsstandortes Deutschland in hohem hin zu einer Veränderung. Maße davon abhängig ist, inwiefern es uns gelingt, die Was haben wir – nur in den letzten zwölf Monaten – besten Köpfe zu holen oder zu behalten; „behalten“ im verändert? Ich mache es im Zeitraffer und ganz kurz; Sinne von „halten“ . Deshalb spielen gute Bedingungen denn ich habe nur wenig Redezeit . am Arbeitsplatz – da stimme ich Ihnen zu, Frau Gohlke – eine enorme Rolle . Ich sage an dieser Stelle für die CDU/ (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- CSU aber auch ganz klar: Ein Befristungsunwesen, so NEN]: Mehr als die Opposition!) 22596 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Alexandra Dinges-Dierig (A) Wir haben zuerst ein neues Hochschulstatistikgesetz auf den Ländern sind nicht mehr stellengesteuert, sondern (C) den Weg gebracht . Warum? Wir brauchen Erkenntnisse budgetgesteuert . Die budgetgesteuerten Hochschulen über die Personalstruktur; sonst können wir keine ent- können sehr wohl Dauerstellen aus Drittmitteln einrich- sprechenden Maßnahmen aufsetzen . ten, weil sie wissen, wie viele Mittel sie im Jahr haben, und weil ein Teil dieser Mittel über die Jahre verlässlich (Beifall des Abg . Dr . zur Verfügung steht. [SPD]) Wir haben den Ländern die Last der BAföG-Kosten Sie haben aber völlig recht: Für die stellengesteuerten genommen . Das waren immerhin 1,17 Milliarden Euro . Hochschulen gilt das nicht . Das ist aber eine Länderauf- Für die Gäste auf der Tribüne, die mit dieser Größen- gabe . Die Länder müssen lernen, anders zu arbeiten . Sie ordnung vielleicht nicht viel anfangen können, sage ich: müssen sich heute endlich für die Zukunft und nicht für Hätten sie diese Gelder – „hätten“, also Konjunktiv – in das Gestern aufstellen . die Hochschulen gesteckt, wären das rund 12 000 Stellen (Beifall bei der CDU/CSU) gewesen . Wenn wir diese Stellen auf alle Hochschulen verteilt hätten, wären das pro Hochschule im Schnitt 40 Ich bin mir sicher, dass das Thema Personal inzwi- unbefristete neue Stellen jährlich gewesen . schen überall angekommen ist . Jetzt müssen wir in der (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Politik Geduld haben . NEN]: Hätte, hätte!) (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Die Frage ist, Damit hätte man etwas anfangen können, wenn man es ob die Beschäftigten Geduld haben!) gewollt hätte . Im Gesetz steht, dass die Evaluation des Wissenschafts- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: zeitvertragsgesetzes im Jahr 2020 erfolgt . Das werden Ja! Es sind auch viele Lehrerinnen- und Lehr- wir abwarten . Bis dahin haben wir auch Erkenntnisse erstellen geschaffen worden!) zum Hochschulstatistikgesetz . Dann werden wir sehen, ob diesem ersten Schritt ein zweiter Schritt folgt . Wir haben das Wissenschaftszeitvertragsgesetz mit Augenmaß novelliert . Wir wollten eindeutig bessere Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit . Rahmenbedingungen . Wir wollten, dass sich eine Befris- tung an der Qualifizierung orientiert; sie muss also ange- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) messen sein . Das müssen die Hochschulen jetzt lernen, und das muss mit den Arbeitnehmern und vor allem zwi- Vizepräsidentin Petra Pau: (B) schen Personalrat und Leitung besprochen werden . Sie (D) und nicht wir müssen es aushandeln . Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun der Kollege Kai Gehring . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD – Tankred Schipanski [CDU/ CSU]: Sehr richtig! Man muss das Gesetz Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): eben auch einmal lesen!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben das Tenure-Track-Programm geschaffen, Groß war zu Beginn dieser Wahlperiode die Einigkeit im das einen planbaren Einstieg bietet . Wir reden hier über Hohen Haus, dass Nachwuchswissenschaftlerinnen und tausend neue unbefristete Stellen, die mit diesem Pro- -wissenschaftler klarere Karriereperspektiven, bessere gramm geschaffen werden. Arbeitsbedingungen und mehr Familienfreundlichkeit benötigen . (Beifall des Abg . Dr . Ernst Dieter Rossmann [SPD]) (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Deshalb haben wir auch viel gemacht!) Um diese Stellen zu bekommen, ist ein Personalentwick- lungskonzept Pflicht. Das ist das, was wir in Zukunft Das war eine sehr günstige Ausgangslage, um Großes zu brauchen . bewegen . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: Was wir Wenn wir all diese Laufbahnen positiv begleiten wol- getan haben!) len, dann brauchen wir noch mehr Sicherheit bezüglich Diese Chance haben Union und SPD verspielt . der Erkenntnisse über die Menschen, die dort arbeiten, und die Strukturen. Ich hoffe sehr, dass uns sowohl (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN durch die Erfahrungen mit dem Wissenschaftszeitver- sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Albert tragsgesetz als auch durch die neuen Erkenntnisse über Rupprecht [CDU/CSU]: Irrtum!) die Personalstruktur durch das Hochschulstatistikgesetz Schwachstellen, aber auch die Stärken aufgezeigt wer- Für faire statt prekäre Wissenschaftskarrieren zu sor- den . gen, ist nun mal ein Marathonlauf, aber der Koalition ist schon nach 100 Metern die Puste ausgegangen . Frau Gohlke, das ist ein ganz wichtiger Punkt: Sie sa- gen, Dauerstellen und Projektmittel gehen nicht . Schau- (Dr . [SPD]: Also, ist ja mu- en Sie einmal in die Länder . Ganz viele Hochschulen in tig!) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22597

Kai Gehring (A) Bessere Bedingungen in der Wissenschaft bleiben auf der verfehlen Sie das eigentliche Ziel, einen klaren recht- (C) Strecke, und das ist schlecht; denn wir dürfen kein Talent lichen Rahmen für bessere Arbeitsbedingungen in der vergraulen . Wissenschaft zu schaffen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN – Albert Rupprecht sowie bei Abgeordneten der LINKEN) [CDU/CSU]: Sie sind selber nicht hinterher- gekommen!) Beim WissZeitVG hilft weder Trainingslager noch Doping, sondern nur eine Novelle, die klare Mindestver- Kurzatmig ist ihr sogenanntes Nachwuchsprogramm . tragslaufzeiten, einen Wegfall der Tarifsperre und eine Bei 1 000 Tenure-Track-Professuren an Universitäten echte Familienkomponente bringt . bleiben unklare Perspektiven und wenig Planbarkeit für viel zu viele Alltag . Auch fehlt Ihrem Tenure-Track-Pro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gramm eine explizite Förderung von Frauen, während sowie der Abg . Nicole Gohlke [DIE LINKE]) zugleich die Zukunft des Professorinnenprogramms völ- lig ungewiss ist . Für dauerhafte Karrierewege neben der Gänzlich außer Sichtweite ist das Ziel, die Grundfi- Professur sorgen Sie nicht, und die Tenure-Track-Profes- nanzierung der Hochschulen zu verbessern . Es ist echt suren sind viel zu wenig lukrativ und attraktiv für viele problematisch, sich von Pakt zu Pakt zu hangeln; Universitäten . (Albert Rupprecht [CDU/CSU]: 1,4 Milliar- (Dr . Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Abwar- den jedes Jahr! – Gegenruf der Abg . Nicole ten!) Gohlke [DIE LINKE]: Das ist ein alter Hut! Das können Sie nicht vier Jahre lang sagen!) Die Fachhochschulen haben Union und SPD gleich jahrelang vergessen, denn das erschwert es den Hochschulen, zusätzliche ver- lässliche Dauerstellen für Daueraufgaben zu schaffen. (Dr . Simone Raatz [SPD]: Das stimmt nicht!) Es wird noch besser . Beim neuen Unionspapier schril- obwohl sie besonders damit zu kämpfen haben, Profes- len bei mir sämtliche Alarmglocken, weil Sie offensicht- sorinnen und Professoren zu gewinnen . Ein Nachwuchs- lich die Axt an den Hochschulpakt legen wollen . programm für die FHs gibt es noch nicht . Machen Sie das doch endlich! Wer regiert denn? Fazit: Mit Ihrem Nach- (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Richtig!) wuchsprogramm müssen Sie noch mal ins Trainingsla- ger . Wenn Sie das tun, dann reißen Sie mutwillig Löcher in die Finanzierung der Universitäten und vor allem der (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fachhochschulen vor Ort . Nicht mit uns! Wir brauchen (D) und bei der LINKEN – Dr .Simone Raatz eine verlässliche Grundfinanzierung. [SPD]: Liegt so gut wie auf dem Tisch!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schnappatmung bekomme ich allerdings bei Ihrer No- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) velle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes . (Dr .Thomas Feist [CDU/CSU]: Das möchte Auch künftig wollen viele junge Menschen studieren . ich einmal sehen!) Der Studierendenberg wird nicht zum Tal, sondern zu ei- nem Hochplateau . Wir wollen diesen jungen Menschen Es fehlt noch eine systematische Untersuchung . Sie Freiräume ermöglichen, anstatt sie zu versperren . Des- kommt erst 2020, also fast am Ende der nächsten Legis- halb sind und bleiben eine ausreichende Zahl an Studi- laturperiode, enplätzen und gute Studienbedingungen unser Anspruch . (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Ja, eben! Wa- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rum denn nicht früher?) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) obwohl man schon jetzt weiß – das haben die Anhörun- Über 90 Prozent der Verträge in der Wissenschaft – gen gezeigt –, dass Ihre Novelle nicht vernünftig wirken über 90 Prozent! – sind befristet . Über die Hälfte dieser kann und viel zu große Hoffnungen damit verbunden Verträge hat eine unsäglich kurze Laufzeit von unter ei- werden . nem Jahr . Mindestvertragslaufzeiten sind Fehlanzeige, (Dr . Simone Raatz [SPD]: „Hatte“, nicht (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Natürlich!) „hat“!) und undefiniert ist zum Beispiel, was unter Qualifizie- Nur 22 Prozent der Promotionen werden abgeschlossen . rung zu verstehen ist Über 10 Prozent der Promovierenden verdienen weniger (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Genau!) als 826 Euro im Monat . und was eine angemessene Befristungsdauer für einen (Tankred Schipanski [CDU/CSU]: Aus wel- Qualifizierungsschritt sein soll. chem Jahr sind denn die Zahlen? 2014?) Damit werden sich noch viele Anwälte und auch fin- Sie sind also armutsgefährdet . Diese niederschmettern- dige Personaler in den Chefetagen der Wissenschaft zu den Zahlen aus dem Bundesbericht Wissenschaftlicher beschäftigen haben . Durch solche Schwammigkeiten Nachwuchs mahnen: Da müssen wir ran! Dieses Befris- 22598 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Kai Gehring (A) tungsunwesen muss enden . So können wir mit Talenten auch an unseren außeruniversitären Forschungseinrich- (C) für die Wissensgesellschaft jedenfalls nicht umgehen . tungen so ist . Das ist für mich überhaupt nicht erklärbar . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall der Abg . Dr . Ernst Dieter Rossmann sowie bei Abgeordneten der LINKEN) [SPD] und Nicole Gohlke [DIE LINKE]) Deswegen ist es dringend notwendig, schnell zu Jeder kann hier Beispiele nennen, auch ich . Sie haben weiterführenden Schritten zu kommen . Jetzt stehen ein das Beispiel genannt, dass jemand zehn befristete Verträ- vernünftiges Wissenschaftszeitvertragsgesetz für mehr ge hintereinander bekommen hat . Ich kenne eine junge Sicherheit an, um gut forschen zu können, ein Personal- Wissenschaftlerin, die noch an ihrer Doktorarbeit arbeitet programm für die Fachhochschulen, eine bessere Grund- und in dieser Zeit schon 15 verschiedene Arbeitsverträge finanzierung für die Hochschulen und auch mehr Verant- unterschreiben musste. Von diesen 15 Kurzzeitverträgen wortungsbewusstsein in der Wissenschaft für die eigenen hatten manche nur eine Laufzeit von einem Monat . Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in puncto Personalent- wicklung und Karrierewege . Ich war gestern beim Parlamentarischen Abend der AiF . Mir gegenüber stand ein Wissenschaftler, schon ein Diesen Marathon gilt es zu laufen . Wir sind dazu be- gestandener Mann, der mittlerweile schon 50 befristete reit . Das, was Sie vorgelegt haben, ist wirklich Stück- Arbeitsverträge unterschrieben hatte . Das geht natürlich werk . Das Befristungsunwesen lässt sich damit leider nicht; das ist klar . Dem haben wir nun einen Riegel vor- nicht überwinden . Deshalb: Da muss mehr passieren . geschoben . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Jeder von uns kann irgendwelche Beispiele nennen, und wir könnten uns sicherlich gegenseitig mit Zahlen Vizepräsidentin Petra Pau: übertrumpfen . Aber das ist nicht das, was wir wollen . Wir Das Wort hat die Kollegin Dr .Simone Raatz für die wollen mit dieser hohen Zahl an befristeten Verträgen SPD-Fraktion . Schluss machen . (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Diese kurzen Laufzeiten und die fehlenden Karri- der CDU/CSU) ereperspektiven schrecken insbesondere junge Frauen ab, die ihre berufliche Zukunft dann leider nicht in der Dr. Simone Raatz (SPD): Wissenschaft sehen . Ich denke, das können wir uns in Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und der Zukunft definitiv nicht mehr leisten. Auch, liebe Kol- (B) Kollegen! Trotz der Äußerungen von Frau Gohlke und leginnen und Kollegen, ist dies ungerecht und darüber (D) Herrn Gehring muss ich doch sagen – ich denke, das ist hinaus familien- und gleichstellungsfeindlich . Darum unbestritten –: Wir haben in dieser Legislatur vieles an haben wir, wie gesagt, den Missbrauch von Befristungen Verbesserungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs in dieser Legislatur endlich eingedämmt . Wir haben das auf den Weg gebracht . Das muss man einmal anerken- Wissenschaftszeitvertragsgesetz novelliert, und ich be- nen; man sollte nicht immer nur herumnörgeln . tone: wir, die Fraktionen von SPD und CDU/CSU . Wir haben das auf den Weg gebracht . In Ihrem Antrag steht, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass es von der Bundesregierung kommt . Die hat es jetzt der CDU/CSU) umgesetzt, aber auf den Weg gebracht haben wir es als Aber – das ist richtig –: Jetzt heißt es dranbleiben, ins- Koalitionsfraktionen, und das möchte ich mir auch nicht besondere am Thema „Gute Arbeit in der Wissenschaft“ . nehmen lassen . Frau Gohlke, jetzt sollten Sie einmal zuhören; das, was (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) jetzt kommt, hören Sie nicht so oft: Ich möchte Ihnen und den Kolleginnen und Kollegen von der Linken für den Das Gesetz auf den Prüfstand zu stellen und zu no- Antrag Danke sagen . Ihr Antrag unterstützt nämlich un- vellieren, war nicht leicht; das muss man sagen . Die ser Thema „Gute Arbeit in der Wissenschaft“ in einigen Mehrheit der Akteure in Wissenschaft und Politik sieht Punkten . Das muss man einmal anerkennen . Es ist schön, zwar, dass bei den Arbeitsverträgen in der Wissenschaft dass Sie das präsent halten und uns natürlich damit im- etwas aus dem Ruder gelaufen ist, trotzdem bleibt es eine mer auch den Spiegel vorhalten . Mammutaufgabe, Lösungen zu finden, die allen Beteilig- ten und Belangen gerecht werden . Ich gebe Ihnen recht: Es ist wirklich ein Unding, dass heutzutage jede zweite Neueinstellung – nicht in der Ja, Frau Gohlke, und ja, Herr Gehring, auch wir hätten Wissenschaft, sondern prinzipiell – befristet erfolgt . Das uns an manchen Stellen eine Konkretisierung gewünscht . geht nicht . (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten NEN]: Das machen wir mit Rot-Rot-Grün!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Andererseits muss ich sagen: In diesen Einrichtungen Dazu kommt, dass es in der Forschung – die Zahl haben arbeiten Leute, die auch einen Kopf auf den Schultern wir häufig gehört – fast 90 Prozent sind. Außerdem hat- haben und ihn benutzen können . Die wissen, wie wichtig ten diese befristeten Verträge – „hatten“, nicht „haben“ – es ist, gutes Personal zu halten, und das kann man heute häufig eine sehr kurze Laufzeit, und zwar nicht nur an nur halten mit vernünftigen Arbeitsbedingungen . Darum unseren Hochschulen. Ich finde es bedenklich, dass dies appellieren wir zum Beispiel auch an die Eigenverant- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22599

Dr. Simone Raatz (A) wortung unserer Wissenschaftseinrichtungen . Alles im- Wichtig ist – und darauf hat meine Kollegin schon (C) mer vorzugeben, halte ich nicht für den richtigen Weg . hingewiesen –, dass Personalplanung oder bestehende Personalentwicklungskonzepte ein verbindliches För- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der derkriterium bei der Bewilligung von Projektmitteln sein CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE müssen . Finanzielle Einschnitte zeigen dann auf jeden GRÜNEN]: Deshalb haben Sie eine Frauen- Fall ihre Wirkung . quote beschlossen!) Mit der Reform haben wir das alte Wissenschaftszeit- Aber, wie ich schon sagte, allein politische Initiativen vertragsgesetz vom Kopf auf die Füße gestellt . Wir ha- verbessern die Personalsituation noch nicht . Was wir da- ben aus einem Befristungsgesetz ein Qualifizierungsge- rüber hinaus brauchen – und das ist mir ganz wichtig –, setz gemacht und die Zeit der willkürlichen Befristungen sind Präsidentinnen und Präsidenten, Rektorinnen und damit hoffentlich endgültig beendet. Seit einem Jahr ist Rektoren sowie Lehrstuhlinhaber, die sich als gute Ar- dieses Gesetz nun in Kraft . Die junge Wissenschaftlerin, beitgeber verstehen, von der ich gerade erzählt habe, aber auch viele andere junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der dadurch endlich einen vernünftigen Arbeitsvertrag und CDU/CSU) damit mehr Planungssicherheit als bisher, und das freut mich erst einmal . Das sollte uns insgesamt erst einmal und die auch alles dafür tun, um den wissenschaftlichen freuen . Nachwuchs durch eine gute Betreuung zu wissenschaft- lichem Erfolg zu führen . Und da haben wir noch sehr viel Schön wäre gewesen, wenn sich das bereits in den Luft nach oben . Dazu gehört auch, dass man Perspek- Zahlen des Bundesberichts Wissenschaftlicher Nach- tiven aufzeigt; entweder innerhalb oder außerhalb der wuchs widergespiegelt hätte, doch die aktuellsten Zahlen Hochschule . Dazu zählen für mich auch Fachhochschu- in diesem Bericht, auf die sich auch Herr Gehring bezo- len oder Stellen in der Wirtschaft . gen hat, sind von 2014 . Man muss sagen: Damit kann man nichts anfangen . Das ist schade . Wir müssen also im Für einen Wandel ist es auch wichtig, dass wir Wis- Endeffekt den nächsten Bericht abwarten, um zu sehen, senschaftlerinnen und Wissenschaftler haben, die nicht was unser Wissenschaftszeitvertragsgesetz bewirkt hat . nur fachlich exzellent sind, sondern sich auch gesell- schaftspolitisch engagieren, die eben wissen, wie man Liebe Kolleginnen und Kollegen, allein die gesetzli- sich organisiert und wie man die eigenen Rechte im End- chen Rahmenbedingungen zu ändern, reicht aber nicht . effekt durchsetzt. Auch hier können wir einmal gucken, Für planbare Karrierewege braucht es auch Program- welchen Organisationsgrad wir im wissenschaftlichen me zur besseren Stellenausstattung an der Hochschule . (B) Mittelbau haben . Der ist sehr gering . Daran liegt es auch . (D) Auch darauf haben meine Vorrednerinnen und Vorredner Da müssen die Leute auch einmal selbst für ihre Sache hingewiesen . So haben wir ein Bund-Länder-Programm für den wissenschaftlichen Nachwuchs auf den Weg ge- einstehen . bracht . Für einen Zeitraum von über zehn Jahren haben (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Kai wir immerhin zusätzliche 1 000 Tenure-Track-Stellen fi- Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sich nanziert . Allein für Sachsen sind das 52 zusätzliche Stel- mit Dreimonatsverträgen zu organisieren, ist len. Das finde ich erst einmal gut. Das ist eine Zahl, mit nicht so leicht!) der man etwas anfangen kann . (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Denn eines ist gewiss – damit komme ich zum Schluss –: Nur mit motivierten und engagierten Wis- Darüber hinaus – das wissen wir, und das muss man senschaftlerinnen und Wissenschaftlern werden wir die nicht dauernd betonen, aber ich sage es an dieser Stelle Innovationsfähigkeit unseres Landes auch zukünftig si- noch einmal – hat der Bund seit 2015 die komplette Fi- chern . Nur mit unseren Wissenschaftlerinnen und Wis- nanzierung des BAföGs übernommen . Damit stehen den senschaftlern werden wir einen Beitrag zur Bewältigung Ländern über 1 Milliarde Euro jährlich zur Verfügung. der großen globalen Herausforderungen wie Klima- Allein für Sachsen sind das über 80 Millionen Euro . Da- wandel, Energieversorgung oder Digitalisierung leisten . mit kann man etwas anfangen . Auch damit kann man die Dazu gehören – das ist klar – gute Arbeitsbedingungen, Stellensituation verbessern . Planungssicherheit und auch attraktive Karriereoptionen . (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Danke . Und wie geht es jetzt weiter? Sicher nicht mit den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten unrealistischen und durch nichts begründeten Forderun- der CDU/CSU) gen Ihres Antrags nach 100 000 zusätzlichen Stellen . Schon aus diesem Grund können wir Ihrem Antrag so

nicht zustimmen . Unbestritten ist aber, dass die Grund- Vizepräsidentin Petra Pau: finanzierung der Hochschulen nachhaltig verbessert wer- Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege den muss . Das Aufheben des Kooperationsverbotes im Dr. Wolfgang Stefinger das Wort. Hochschulbereich gibt jetzt Möglichkeiten, und diese Möglichkeiten sollten wir auch nutzen . (Beifall bei der CDU/CSU) 22600 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) Dr. Wolfgang Stefinger (CDU/CSU): abzuwarten und Kritik auf eine solidere Faktenlage zu (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und stellen . Kollegen! Wenn man den Antrag der Linken und seinen (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Also dann erst Titel liest, wieder 2020 etwas anfangen und bis dahin nichts machen?) (Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Gera- ten Sie in Verzückung!) Und bitte, liebe Linken, suggerieren Sie nicht immer, als würden sich nur die Linken oder auch die Grünen um dann könnte man glatt den Eindruck gewinnen, als stünde gute Karriereperspektiven in der Wissenschaft kümmern . es um unser Wissenschaftssystem richtig schlecht . Daher Das tun wir nämlich auch . Die Koalition hat bewiesen: schlage ich vor, dass wir uns einmal die Fakten ansehen . Gute Karriereperspektiven für junge Wissenschaftlerin- nen und Wissenschaftler sind uns mindestens genauso Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung sind wichtig . auf einem historischen Höchststand . Niemals zuvor wur- de in Deutschland so viel in Forschung und Entwicklung (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: investiert . Staat und Wirtschaft haben 2015 erstmals das Sie kündigen an! – Gegenruf des Abg . Tankred 3-Prozent-Ziel erreicht . Schipanski [CDU/CSU]: Wir kündigen nicht nur an, wir setzen es um!) (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Koalition hat deswegen einige Initiativen auf den NEN]: Es geht jetzt aber um Befristung!) Weg gebracht . Das ist schon angesprochen worden . Mit dem neuen Tenure-Track-Programm zur Förderung des Wir gehören zu den weltweiten Innovationsführern . wissenschaftlichen Nachwuchses wollen wir akademi- Nie zuvor gab es übrigens auch mehr Jobs im Bereich sche Karrierepfade planbarer und transparenter machen, Forschung und Entwicklung . Mehr als 600 000 Men- die Anziehungskraft unseres Wissenschaftssystems wei- schen sind in diesem Bereich tätig . ter erhöhen, aber auch die Chancengleichheit voranbrin- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf stärken. NEN]: Über 90 Prozent befristet!) Wir nehmen dafür auch Geld in die Hand, nämlich über 1 Milliarde Euro . Deutschland hat eine hohe Publikationsintensität und Hier sind auch die Länder gefordert . Ich freue mich einen Spitzenwert bei der Exzellenzrate wissenschaftli- darauf, wenn die Linken oder auch die Grünen in ihren cher Veröffentlichungen, und Deutschland wird auch für Landesregierungen den Beweis erbringen, ob nur gere- (B) ausländische Forscherinnen und Forscher immer attrak- det wird oder in den Landeshaushalten auch tatsächlich (D) tiver . Ihr Anteil in den Hochschulen und außeruniver- gehandelt wird . sitären Forschungseinrichtungen ist in den letzten zehn Jahren erheblich gestiegen . Um Fehlentwicklungen in der Befristungspraxis ent- gegenzuwirken, haben wir – das ist schon angesprochen Sie sehen: Unser Wissenschaftssystem steht hervorra- worden – das Wissenschaftszeitvertragsgesetz novelliert gend da, und das hat auch mit den richtigen politischen und eine Reform mit Augenmaß umgesetzt . Wir berück- Weichenstellungen der letzten Jahre zu tun . sichtigen die berechtigten Interessen der Beschäftigten im Wissenschaftsbetrieb und sichern zugleich die im (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Wissenschaftssystem unerlässliche Flexibilität und Dy- ordneten der SPD) namik . Unsachgemäßen Kurzbefristungen von jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die uns na- Nun wollen die Linken mit ihrem Antrag die Axt an türlich auch ein Dorn im Auge sind, wollen wir mit dem Grundpfeiler unseres erfolgreichen Wissenschaftssys- Gesetz einen Riegel vorschieben . Wir werden dann se- tems legen . hen, was die Evaluierung bringt . (Susanna Karawanskij [DIE LINKE]: Das Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Pakt Bild hatten wir heute schon einmal!) für Forschung und Innovation, den Sie in Ihrem Antrag ansprechen und den Sie abschaffen wollen, ist ein gro- Der Pakt für Forschung und Innovation – so steht es in ßer Erfolg . Er hat sich nämlich bewährt, und er wirkt . Ihrem Antrag – soll abgeschafft werden, und es soll auch Das hat der Monitoringbericht 2016 der Gemeinsamen keinen Wettbewerb mehr geben . Stattdessen lesen wir Wissenschaftskonferenz abermals bestätigt . Mit ihm von kostenträchtigen Forderungen, verbunden mit dem bekommen die beteiligten Wissenschaftsorganisationen Ruf nach immer höherer Lastenübernahme durch den finanzielle Planungssicherheit und verpflichten sich auf Bund . bestimmte forschungspolitische Ziele, übrigens auch auf verlässliche Karriereperspektiven . Es ist schon darauf hingewiesen worden: Fast auf den Tag genau vor einem Jahr ist das novellierte Wissen- Für die Union ist klar: Wir wollen Leistung und Ex- schaftszeitvertragsgesetz in Kraft getreten . Die in Ihrem zellenz fördern und faire Chancen bieten . Unser Wis- Antrag genannten Zahlen beinhalten jedoch überwie- senschaftssystem braucht eine gewisse Flexibilität und gend nur Auswertungen bis 2014. Von daher wären Sie Dynamik, um Innovationen zu ermöglichen . Weil in den gut beraten gewesen, zunächst einmal die Wirkung der letzten Wochen immer wieder von einem gerechten Bil- beschlossenen Vorhaben und der Gesetzesnovellierung dungssystem gesprochen und in den Medien berichtet Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22601

Dr. Wolfgang Stefinger (A) wurde, darf ich daran erinnern: Seit 2005 haben sich die werden in der Zahlungsdiensterichtlinie rechtlich gere- (C) Ausgaben des Bildungs- und Forschungsministeriums gelt und fundamentiert . Wir haben in der digitalen Welt mehr als verdoppelt . In diesem Jahr stehen dem Bund für einen massiven Wandel bzw . technologischen Fortschritt Bildung, Wissenschaft und Forschung 17,5 Milliarden zu verzeichnen . Deshalb müssen wir überlegen, wie wir Euro zur Verfügung. Das soll uns mal einer nachmachen! sowohl im Bereich des Zivilrechts als auch im Bereich des Aufsichtsrechts dafür neue, vernünftige Rahmen- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: bedingungen schaffen können. Zum Zivilrecht wird der Herr Schäuble kann es ja im nächsten Jahr ab- Kollege Lange aus dem Justizministerium etwas sagen . senken!) Ich will mich daher auf die Themen des Aufsichtsrechts Seit Angela Merkel Bundeskanzlerin ist, wurde massiv konzentrieren . in Deutschlands Zukunft investiert, und gleichzeitig wur- Unser Ziel ist, den Technologiewandel zu ermöglichen den keine neuen Schulden gemacht . Das ist gerechte Po- und damit neue Marktchancen zu eröffnen, die Sicher- litik für alle Generationen . heit im Zahlungsverkehr trotz der neuen Entwicklungen (Beifall bei der CDU/CSU – Kai Gehring sicherzustellen und den Kunden bei dieser Entwicklung [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Künftig so zu schützen, dass er nicht Gefahr läuft, sein Geld zu wächst nur die Verteidigung!) verlieren . Im Aufsichtsrecht sehen wir deshalb drei Din- ge vor . Vizepräsidentin Claudia Roth: Erstens . Diejenigen, die als Zahlungsdienstleister auf- Vielen Dank, lieber Kollege Stefinger. – Schönen gu- treten, und diejenigen, die mit Kontoinformationen han- ten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen! – Ich schlie- deln, werden in Zukunft der Finanzaufsicht, der BaFin, ße die Debatte . unterstellt . Bislang unterstehen diese Dienstleister nicht der Aufsicht . Nun machen wir einen qualitativen Sprung, Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf um die weißen von den nicht weißen Schafen zu trennen Drucksache 18/11597 an den Ausschuss für Bildung, und um für Ordnung auf diesem Feld zu sorgen . Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgeschla- gen . Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall . Zum Zweiten verpflichten wir kontoführende Banken, Dann ist die Überweisung so beschlossen . diesen Dienstleistern in Zukunft Informationen über die Konten verfügbar zu machen . Das heißt, sie müssen ei- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: nen Zugang ermöglichen, allerdings natürlich nur dann, Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- wenn der Kontoinhaber in diesen Zugang eingewilligt gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- hat und wenn die IT-Sicherheit und der Datenschutz si- (B) zung der Zweiten Zahlungsdiensterichtlinie chergestellt sind – der Datenschutz deshalb, damit die (D) Konteninformationen nicht in falsche Hände gelangen, Drucksache 18/11495 und die IT-Sicherheit, damit sich kein unbefugter Dritter Überweisungsvorschlag: zu Informationen oder dem Konto selbst Zugang ver- Finanzausschuss (f) schaffen kann. Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Wir glauben, dass durch den Ansatz, diesen Dienst- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind leistern einen Rechtsanspruch auf Zugang zu gewähren, 25 Minuten für die Aussprache vorgesehen .– Ich höre in Deutschland neue Geschäftsmodelle ermöglicht wer- viel, aber keinen Widerspruch . Dann ist es so beschlos- den und die Kunden, die diese neuen Geschäftsmodelle sen . nutzen, damit am Ende des Tages einen gewissen Mehr- Darf ich die Kolleginnen und Kollegen bitten, sich an wert haben . der SPD zu orientieren? – Dort haben sich alle brav hin- Für die Sicherheit von Zahlungen werden bei der Au- gesetzt und warten gespannt auf die Debatte . thentifizierung des Kunden mindestens zwei Kompo- (Matthias Hauer [CDU/CSU]: Das sind auch nenten verlangt . Um das einmal anschaulich zu machen: nur fünf!) Wir haben heute sehr oft einen Zahlvorgang, bei dem wir die EC-Karte nutzen und zusätzlich eine Nummer ein- Damit eröffne ich die Aussprache und gebe das Wort geben müssen . Das sind zwei voneinander unabhängige dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr .Michael Komponenten . Beim Zahlvorgang im Internet haben wir Meister . auch die Karte und eine TAN, die die Unterschrift ersetzt . Diesen Zwei-Komponenten-Vorgang wollen wir für die Dr. Michael Meister, Parl . Staatssekretär beim Bun- Sicherheit festschreiben . desminister der Finanzen: Das Ganze wird mit einer EU-Verordnung verzahnt, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! in der dieser Zahlungsvorgang im EU-Raum einheitlich Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Zweiten geregelt ist, sodass sich die Bürger jenseits dessen, was Zahlungsdiensterichtlinie – das hört sich zunächst etwas wir national umsetzen, darauf verlassen können, dass es technisch und schwierig an . Das ist allerdings ein The- einen einheitlichen Ansatz im gesamten EU-Raum gibt . ma, das uns alle betrifft; denn jeder von uns hat schon Ich glaube, das ist ein vernünftiger Weg . im Laden oder im Internet bargeldlos gezahlt, ob nun mit einer Debitkarte oder einer Kreditkarte, ob kontakt- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- los oder mit dem Handy . Genau solche Bezahlvorgänge ordneten der SPD) 22602 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Parl. Staatssekretär Dr. Michael Meister (A) Wir versuchen, die Marktchancen und die neuen Tech- Wir kennen alle Fälle – vielleicht sind wir sogar selbst (C) nologieentwicklungen auf der einen Seite mit der Sicher- schon Opfer davon geworden –, bei denen sich Unbe- heit des Zahlungsverkehrs und dem Kundenschutz auf fugte mit immer wieder neuen Tricks Zugang zu Konten der anderen Seite in eine ausgewogene und vernünftige verschafft haben. Das wird dann als Phishing, Hacking, Balance zu bringen . Skimming usw . bezeichnet . Wir haben die Aufgabe, diese Richtlinie bis zum Ja- Die Umsetzung dieses Gesetzes birgt Risiken . Bis nuar kommenden Jahres umzusetzen . Da könnte man heute bestehen genau an der Schnittstelle zu den Kun- sagen: Na ja, wir könnten eigentlich geruhsam die Bun- denkonten zu wenig sichere Standards, bzw . es sind noch destagswahl abwarten und dann an die Umsetzung he- keine festgesetzt worden . Dies ist ein erhebliches Risiko rangehen .– Ich glaube allerdings, wenn man sich den für die Konteninhaber . Mit Sicherheitslücken im On- Kalender anschaut, stellt man fest, dass es klug ist, sich lineverkehr werden wir uns auch weiterhin beschäftigen dieser Aufgabe noch vor Ende der Legislaturperiode zu müssen . stellen. Dazu möchte ich Sie herzlich einladen und hoffe Wir müssen auch akribisch auf den Datenschutz auf gute Beratungen . schauen. Dazu gehört, dass wir darauf achten, dass Ver- Danke schön . fahren wie Screen Scraping weiterhin nicht erlaubt sind . Um das kurz zu erklären: Dabei wird zum Beispiel ein (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Drittanbieter im Account des Verbrauchers selber tätig und löst dabei einen Zahlungsvorgang aus . Damit ent- Vizepräsidentin Claudia Roth: steht so etwas wie eine vorübergehende Identitätsaneig- Vielen Dank, Dr. Meister. – Jetzt stellt sich bei uns nung . Das ist problematisch . Da muss man ganz genau hier oben die Frage, ob es neben den weißen und den schauen, wie sich das gestaltet, gerade im Bereich des schwarzen Schafen auch die nicht weißen gibt? Also sind Datenschutzes . Wir müssen auch schauen, dass solche die nicht weißen Schafe schwarze, oder ist da noch ir- FinTechs, wie ich sie gerade beschrieben habe, nicht so gendetwas zwischen? etwas werden wie eine Quengelware, etwas, was wir von den Supermarktkassen kennen . (Margaret Horb [CDU/CSU]: Die sind noch grün hinter den Ohren!) Man muss es sich einmal vorstellen: Dienstleistungs- anbieter könnten sensible Daten auslesen oder auswerten; – Grüne Schafe? Nein! – Aber Sie sehen, wir lauschen dann meldet sich selbstständig eine App und sagt: Guten interessiert Ihrer Rede . Tag, Herr Murmann, ich habe gesehen, Sie haben noch Nächste Rednerin: Susanna Karawanskij für die Lin- keinen Riester-Vertrag. Wie wäre es denn hiermit? – Wir (B) ke . müssen also aufpassen, dass Kontoinformationsdienst- (D) leister nur auf Informationen, die der Nutzer tatsächlich (Beifall bei der LINKEN) gegeben hat, und auf in diesem Zusammenhang stehende Zahlungsvorgänge zugreifen können . Susanna Karawanskij (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Sperriger Titel: Zahlungsdiensterichtlinie . Das liest sich auf dem Papier erst einmal ziemlich gut . Das klingt kompliziert, geht uns aber alle etwas an . Laut Text dürfen sensible Zahlungsdaten für keinen an- deren als für den vom Nutzer ausdrücklich geforderten Drei Ziele sollen mit diesem Gesetz verfolgt werden: Zweck angefordert werden . Es darf auf keine anderen Innovationen im Zahlungsverkehr sollen gefördert, die Daten zugegriffen werden, und sie dürfen auch nicht ge- Sicherheit von Zahlungen soll verbessert und vor allen speichert werden . Der Zahlungsauslösedienstleister darf Dingen sollen die Rechte der Kunden von Zahlungs- nur eine Zahlung des Bankinstituts anstoßen und selber dienstleistern gestärkt werden . nicht über das Konto verfügen . Besagter Dienstleister Zentral in der Debatte ist der Datenzugang für Dritt­ darf die Zahlungsdaten der Kunden nicht an Dritte wei- anbieter . Geldanbieter müssen ab 2018 Wettbewerbern tergeben . wie sogenannten FinTechs sowie anderen Zahlungs- Ich möchte das Augenmerk noch darauf lenken – das dienstleistern sämtliche Konteninformationen zugäng- ist sozusagen das, was im Gesetzentwurf festgeschrieben lich machen und dann entsprechend die Zahlungsaufträ- ist –, dass diese enge Zweckbindung bestehen bleibt und ge weiterleiten . Das ist gewiss innovativ . Wie sicher und dass wir hier nur ganz enge Räume schaffen, damit dem kundenfreundlich das in der Praxis tatsächlich ist, wird Missbrauch vorgebeugt werden kann . sich erst noch erweisen müssen . (Beifall bei der LINKEN) Die Zahlungsdienstleister, also die kontoführenden Banken, müssen zukünftig zwei bisher gesetzlich nicht Ich möchte noch auf einen Punkt eingehen. Ich hoffe regulierten Dienstleistern den Zugang zum Konto ge- sehr, dass sich folgender positiver Aspekt im Gesetzge- währen, zum einen den Zahlungsauslösedienstleistern, bungsverfahren durchsetzt: die geringe Haftungsgrenze die eine Erlaubnis benötigen, und zum anderen den Kon- für Verbraucher, wenn es um nicht autorisierte Karten- toinformationsdienstleistern, die bei der Aufsichtsbehör- zahlungen geht . Bislang mussten Kunden 150 Euro aus de registriert werden müssen . In beiden Fällen besteht eigener Tasche zahlen . Künftig kann die Bank vom Kon- für die Banken eine gesetzliche Pflicht, den Zugang zum toinhaber höchstens 50 Euro Schadensersatz verlangen . Konto online zu gewährleisten . Somit würde den Kunden nicht mehr unterstellt, dass sie Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22603

Susanna Karawanskij (A) grob fahrlässig gehandelt haben, etwa weil sie ihre PIN nen und Verbraucher: Händler und Dienstleister dürfen in (C) neben ihrer Bankkarte liegen ließen. Ich hoffe sehr, dass Zukunft in vielen Fällen keine Gebühren mehr dafür ver- sich im Gesetzgebungsverfahren durchsetzt, dass künftig langen, dass ihre Kunden mit SEPA-Überweisung, SE- die Banken den Kunden nicht grobe Fahrlässigkeit oder PA-Lastschrift oder einer gängigen Kreditkarte bezahlen . Vorsatz unterstellen können, sondern dass die Banken In Deutschland kann man sich eine Lastschrift ohne ebendiese beweisen müssen . Angabe von Gründen binnen acht Wochen erstatten las- Wir Linken schreiben bei allen notwendigen Innovati- sen . Dieses sogenannte bedingungslose Erstattungsrecht onen die Sicherheit von Zahlungen und den Verbraucher- war bislang vertraglich geregelt und hat ganz wesent- schutz ganz groß . lich zur Akzeptanz des Lastschriftverfahrens bei uns in Deutschland beigetragen . Es wird jetzt ausdrücklich ge- Vielen Dank. setzlich geregelt und gilt in Zukunft europaweit . (Beifall bei der LINKEN) Für nicht autorisierte Zahlungen haften Zahler der- zeit zwar begrenzt, aber immerhin noch in Höhe von Vizepräsidentin Claudia Roth: 150 Euro . Dieser Betrag wird nunmehr auf 50 Euro ab- Vielen Dank, Frau Kollegin Karawanskij. – Nächster gesenkt . Redner: der Parlamentarische Staatssekretär Christian Lange . Weiter, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird der Kunde bei missbräuchlicher Nutzung seiner abhanden- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gekommenen Zahlungskarte besser geschützt . Die Bank der CDU/CSU) muss in Zukunft unterstützende Beweismittel vorlegen, wenn sie behauptet, dass der Kunde den Missbrauch vor- Christian Lange, Parl . Staatssekretär beim Bundes- sätzlich oder grob fahrlässig ermöglicht hat . minister der Justiz und für Verbraucherschutz: Bei Fehlüberweisungen ist es für den Überweisenden Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen oft schwierig, den Geldbetrag zurückzuerhalten . Sein ei- und Kollegen! Wir alle haben es bei Bestellungen im In- gener Zahlungsdienstleister muss ihn hierbei unterstüt- ternet sicher schon selbst gemerkt: Die Möglichkeiten, zen . Mit dem Gesetzentwurf wird jetzt auch die Bank des schnell und unkompliziert zu zahlen, sind größer gewor- Empfängers verpflichtet, die notwendigen Informationen den. Vielleicht haben wir uns aber auch schon einmal mitzuteilen, damit der Zahler sein Geld zurückerhält . gefragt, was eigentlich passiert, wenn bei diesen Vorgän- gen etwas schiefgeht . Wer haftet eigentlich, wenn eine Also, meine Damen und Herren: eine gute Sache – Zahlung ausgelöst wurde, die die betreffende Person gar eine gute Sache für Verbraucherinnen und Verbraucher. (B) nicht autorisiert hat? Wer trägt die Beweislast? Das klang Deshalb darf auch ich Sie um Unterstützung des Gesetz- (D) gerade eben an . Wie und von wem bekommen wir unser entwurfs der Bundesregierung bitten . Geld zurück, wenn außer der Bank noch ein sogenannter Herzlichen Dank . Zahlungsauslösedienst in den Zahlungsvorgang einge- schaltet war? (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Dass Verbraucher vor unautorisierten Zahlungen oder Vizepräsidentin Claudia Roth: Fehlüberweisungen auch in den Fällen, in denen sie auf neue Zahlungsdienste zurückgreifen, geschützt werden, Vielen Dank, Christian Lange. – Nächster Redner: ist von großer Bedeutung; denn die Öffnung des Marktes Dr . Gerhard Schick für Bündnis 90/Die Grünen . für neue Dienstleistungen, so wünschenswert sie ist, soll nicht dazu führen, dass neue Risiken auf Verbraucherin- Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nen und Verbraucher abgewälzt werden. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon angeklungen: Was die Umsetzung der Zweiten Zu dem Thema Zahlungssicherheit hat Ihnen mein Zahlungsdiensterichtlinie beinhaltet, hat eine große Pra- Kollege aus dem Bundesfinanzministerium Dr. Meister xisrelevanz . Es gibt ganz viele Details und Hintergründe, die aufsichtsrechtlichen Regelungen bereits erläutert . mit denen wir uns am liebsten nicht beschäftigen . Wir Mit dem zivilrechtlichen Teil des Ihnen nun vorliegenden als Gesetzgeber müssen uns aber sehr intensiv damit be- Gesetzentwurfes gliedern wir die Zahlungsauslösediens- schäftigen, damit es nachher im Alltag möglichst wenig te in das bestehende zivilrechtliche Haftungsregime ein . Ärger oder Geldverlust gibt . Der Kontoinhaber kann sich bei nicht autorisierten Zah- lungen grundsätzlich weiter an sein Kontoinstitut halten, Das Umsetzungsgesetz ist da im Kern auf dem richti- das wiederum – auch das wird in Zukunft rechtssicher gen Weg. Vieles ist vorgegeben. Es sind auch schon viele geregelt sein – bei dem Zahlungsauslösedienst Regress Aspekte genannt worden, auf die zu achten ist . Ich will nehmen kann . Damit wird vermieden, dass Kontoinhaber ein Beispiel nehmen, eine Flugbuchung im Internet: Sie von einem Zahlungsdienstleister an den anderen verwie- suchen Ihre Flugstrecke, vergleichen die Preise, wählen sen werden und am Ende leer ausgehen . Das wollen wir das günstigste Angebot, klicken durch den Buchungs- nicht . prozess und wollen mit der Kreditkarte bezahlen . Dann gibt es plötzlich einen Aufschlag . Zum Flugpreis kommt (Beifall bei der SPD) noch die Optional Payment Charge dazu . Es wird alles Darüber hinaus, meine Damen und Herren, gibt es etwas teurer und intransparent . Dann überlegen Sie, ob weitere wesentliche Verbesserungen für Verbraucherin- Sie noch einmal von vorne anfangen. Vielleicht ist dann 22604 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Dr. Gerhard Schick (A) aber das Angebot plötzlich weg, und der Preis ist nicht Danke . (C) mehr derselbe wie vorher . – Es stellt sich also die Fra- ge: Was ist eigentlich das richtige Zahlungsmittel? Viele (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verbraucher gehen den einfachen Weg und bleiben auf sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) höheren Kosten als notwendig sitzen . Da für einen guten Rahmen für Verbraucherinnen und Verbraucher zu sor- Vizepräsidentin Claudia Roth: gen, ist richtig und notwendig . Vielen Dank, Gerhard Schick. – Nächster Redner ist Matthias Hauer für die CDU/CSU-Fraktion . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Das Problem beschränkt sich nicht auf Flugbuchungen, sondern das gibt es bei jeder Art von Transaktion . Matthias Hauer (CDU/CSU): Das ist allerdings nur eine der Neuerungen, die wir Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und jetzt in deutsches Recht umsetzen sollen . Die Richtli- Herren! Wir beginnen heute mit den Beratungen zur deut- nie beinhaltet einen Strauß von Neuerungen, die den schen Umsetzung der Zweiten Zahlungsdiensterichtlinie gemeinsamen Zahlungsverkehrsraum vorantreiben und der EU. Damit stärken wir die Rechte der Verbraucherin- Zahlungen für den Verbraucher grenzüberschreitend ein- nen und Verbraucher. Wir passen den Rechtsrahmen an facher und billiger machen . Derzeit betragen die Kosten den technologischen Fortschritt an . Wir fördern Innova- bei den Verbrauchern für Zahlungen in der Europäischen tion und sorgen für mehr Sicherheit im Zahlungsverkehr . Union immer noch knapp 130 Milliarden Euro . Da sind Dafür werden wir das Aufsichtsrecht und das Zivilrecht also durch die Europäisierung für Verbraucherinnen und ändern . Gerade die Regelungen bzw . Änderungen im Verbraucher richtig viele Vorteile herauszuholen. Bürgerlichen Gesetzbuch werden für Verbesserungen für Verbraucherinnen und Verbraucher sorgen. Die Details Gleichzeitig schafft die Richtlinie für bestimmte Innova- dazu haben gerade die Parlamentarischen Staatssekretäre tionen, die sich am Markt etabliert haben, einen Rechts- Herr Dr . Meister und Herr Lange ausgeführt . rahmen, sodass diese nicht länger in einem Graubereich Wir werden die parlamentarischen Beratungen aber agieren müssen . Das ist wichtig; denn diese neuen Me- auch dazu nutzen, noch einmal auf die Auswirkungen des thoden – das ist schon genannt worden – verlangen uns Kleinanlegerschutzgesetzes aus dem Jahr 2015 zu sehen . sensible Daten ab . Sogenannte Zahlungsauslösediens- Und wir werden uns die Regelungen zur Finanzierung te – den meisten in Form der Sofortüberweisung be- durch Crowdfunding im Detail anschauen . Dazu gab es kannt – werden immer häufiger angeboten und genutzt. eine Evaluierung durch die Bundesregierung . Auch die (B) Die Händler bekommen eine sofortige Zahlungsgarantie . Ergebnisse daraus werden wir in dieses Gesetz mit ein- (D) Der Kunde benötigt weder eine Kreditkarte noch einen fließen lassen. anderen Service, sondern nur ein ganz normales Bank- konto . Er muss noch nicht einmal die Homepage seiner „Geld ist geprägte Freiheit“ . Das sagte der russische Bank besuchen, sondern kann alles über die Händlersei- Schriftsteller Dostojewski bereits im 19 . Jahrhundert . te abwickeln . Das alles ist sehr praktisch . Doch diesen Das Zitat ist, zugegeben, etwas abgegriffen – wie viel- praktischen Möglichkeiten steht eben auch ein Miss- leicht auch die eine oder andere Euro-Münze, die Sie brauchspotenzial und – das ist schon angedeutet wor- heute im Portemonnaie dabei haben . Es stimmt aber noch den – die Frage gegenüber: Was geschieht denn, wenn heute . Dostojewski meinte keine Bitcoins und kein Gi- etwas schiefgeht? Wer haftet dann? Ist es das Kreditin- ralgeld, er meinte Bargeld . Bargeld ist mehr als geprägte stitut, der Zahlungsauslösedient oder der Händler? Oder Freiheit . Es ist auch gelebter Datenschutz . Jeder soll auch bin ich als Verbraucher letztlich derjenige, an dem die weiterhin frei entscheiden können, ob er lieber bar oder Kosten hängen bleiben? Deswegen ist es notwendig, dass bargeldlos bezahlt . Die Freiheit des Bargeldverkehrs ist wir jetzt auch bei der Umsetzung in Bezug auf die Details uns sehr wichtig . noch einmal darauf achten, dass es gerade nicht die Ver- braucherin oder der Verbraucher ist – sie haben häufig (Beifall bei der CDU/CSU) die geringste Kenntnis –, welche bzw . welcher nachher Gerade der Onlineeinkauf kommt am bargeldlosen die Lasten trägt . Zahlungsverkehr aber nicht vorbei . Egal ob am Compu- ter, über Smartphone, per App oder auf anderem Wege: Wir wollen uns dafür einsetzen, dass es bei allen Be- Innovative Unternehmen haben für jede Menge techni- teiligten in der Kette immer einen Anreiz gibt, sich für schen Fortschritt gesorgt . Es gibt viele neue Dienstleister, die Lösung einzusetzen, bei der es am wenigsten Miss- die bisher in einem aufsichtsrechtlichen Graubereich tä- brauchspotenzial gibt . Das ist nicht ganz trivial; denn tig waren . Das ändern wir jetzt . Wir sorgen für eine Auf- heute ist es ja häufig so, dass es für die Anbieter gar kei- sicht durch die BaFin . Im Übrigen stärken wir mit dem nen Anreiz gibt, das möglichst sicher zu machen, weil sie Gesetz auch den Verbraucherschutz und die Sicherheit selber so nachher keinen Schaden haben . bei bargeldlosen Zahlungen . Das ist jetzt genau die Linie, die wir finden müssen: Wer häufig online einkauft oder bucht, kennt den Be- Wir müssen für Innovationen offen sein, gleichzeitig den griff „Zahlungsmittelentgelt“. Gerade der sorgt für viel bürokratischen Aufwand gering halten und das Miss- Frust bei Kundinnen und Kunden sowie für Zusatzkos- brauchspotenzial eindämmen . Darauf werden wir jetzt ten . Herr Dr .Schick von den Grünen hat das gerade am bei den Diskussionen über die Umsetzung achten . Beispiel einer Flugbuchung deutlich gemacht . Ich neh- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22605

Matthias Hauer (A) me einmal das Beispiel einer Bahnkartenbuchung . Wie Man hätte schon glauben können, wir reden über die Bar- (C) läuft sie ab? Man sucht sich eine Bahnverbindung heraus geldzahlungsrichtlinie . Das machen wir aber nicht, mei- und schaut, zu welcher Uhrzeit man fahren möchte . Man ne Damen und Herren, sondern wir reden heute über die durchforstet mehrere Ticketoptionen und sucht sich ei- Umsetzung der Zweiten Zahlungsdiensterichtlinie der nen Sitzplatz in einem bestimmten Abteil aus . Man gibt EU . Dabei geht es eben nicht um Bargeld, sondern um seine persönlichen Daten – den Namen und die Adres- bargeldlose Überweisungen . se – ein . Und ganz am Ende, nachdem man alles mühsam eingegeben hat, stellt man fest: Wenn man mit einer Kre- (Matthias Hauer [CDU/CSU]: Die SPD zahlt ditkarte bezahlt, wird es teuer . Man wird bei Bahnfahrten nur bargeldlos!) mit bis zu 3 Euro zur Kasse gebeten . Bei Flugbuchungen Ich glaube, das ist ein sehr wichtiger Schritt, den wir hier können es – da ergänze ich den Kollegen Dr . Schick ger- machen . Das kann ich Ihnen als Digitalpolitiker einerseits ne – schnell 10 Euro, 20 Euro oder noch mehr werden . und Finanzpolitiker andererseits sagen . Wir haben gerade Bei Hotelbuchungen oder im Onlinehandel ist das oft in diesem Feld eine sehr dynamische Entwicklung . Das ähnlich . Thema FinTech ist angesprochen worden, wobei man da Wir machen damit nun Schluss . Bei Zahlungen per aufpassen muss: Nicht jedes Unternehmen, das irgendet- Überweisung, per Lastschrift oder mit gängigen Kredit- was mit Internet macht, ist auch gleich ein FinTech . Aber karten wird es kein Zahlungsmittelentgelt mehr geben . das ist ein anderes Thema . Ich will auf zwei Punkte aus Das führt auch zu mehr Transparenz beim Preisvergleich . dem Gesetzentwurf eingehen, die meiner Meinung nach sehr wichtig sind . (Beifall bei der CDU/CSU – Richard Pitterle [DIE LINKE]: Nur Bares ist Wahres!) Das Verbot von Aufschlägen, Surcharging genannt – es muss ja heute alles einen britischen oder amerikanischen – Herr Pitterle, Sie haben das richtig erkannt: Nur Ba- Namen haben –, ist eben schon angesprochen worden . res ist Wahres . Das ist nur manchmal im Internet etwas Hier gibt es ganz klar eine Lücke im Verbraucherschutz, schwierig . wenn Menschen, die Buchungen vornehmen, egal ob sie Mehr Verbraucherschutz schaffen wir aber auch für jetzt mit der Bahn oder mit dem Flugzeug reisen, darüber alle Bankkunden . Die Rückbuchung von Lastschriften getäuscht werden, was dieser Flug oder diese Bahnfahrt wird verbraucherfreundlicher ausgestaltet . Gleiches gilt eigentlich kostet . Damit machen wir jetzt Schluss . Jeder auch für die Haftung bei nicht autorisierten Zahlungs- weiß jetzt: Der Preis, der am Anfang steht, ist auch das, vorgängen, zum Beispiel beim Kreditkartenmissbrauch . was ich am Ende zahlen muss . Das ist, glaube ich, ein Auch diese Neuregelungen kommen Verbraucherinnen ganz wichtiger Schritt für den Verbraucherschutz, den (B) und Verbrauchern zugute. Wir werden die anstehenden wir an dieser Stelle machen . (D) Beratungen dazu nutzen, die noch offenen Fragen zu klä- ren . Wir werden uns intensiv austauschen mit Experten, (Beifall bei der SPD – Dr . mit den betroffenen Verbänden, mit Verbraucherschüt- [CDU/CSU]: Das war jetzt aber sehr verwir- zern . Dabei stehen für uns der sichere Zahlungsverkehr, rend!) ein hohes Maß an Datenschutz und verbraucherfreund- Damit kommen wir zum zweiten Teil, dem gesamten liche Lösungen im Vordergrund. Gleichzeitig wollen Bereich der sogenannten Zahlungsdienste, der Auslöse- wir aber auch Raum lassen für weitere Innovationen im dienste, der Informationsdienste. Im Bereich des Ver- Bereich des Zahlungsverkehrs, für neue kundenorientier- braucherschutzes gilt: Geben Sie niemandem Ihre PIN . te Dienstleistungen und für zusätzliche Arbeitsplätze in Und was machen viele Leute heute? Sie geben ihre PIN diesem Bereich in Deutschland . im Internet auf der Seite eines Drittanbieters ein . Sie ma- Vielen Dank. chen also genau das, wovor man sie immer gewarnt hat, nämlich fahrlässig diese Geheimzahl herauszugeben . Das (Beifall bei der CDU/CSU) Umsetzungsgesetz greift dieses Problem auf . Wir fangen an, diesen Bereich neu zu regeln . Das heißt: Wenn sich Vizepräsidentin Claudia Roth: ein Anbieter zwischen den Kunden und die Bank setzt, Vielen Dank, Matthias Hauer. – Der letzte Redner in um Zahlungen, zum Beispiel in einem Onlineshop, abzu- dieser Debatte: Dr .Jens Zimmermann für die SPD-Frak- wickeln, dann muss dieser Anbieter auch reguliert wer- tion . den, dann muss er die gleichen Sicherheitsanforderungen erfüllen wie eine Bank . Auch das greifen wir in diesem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Umsetzungsgesetz auf, meine Damen und Herren . der CDU/CSU) Ich glaube, wir werden in den weiteren Beratungen noch an der einen oder anderen Stelle wie immer ein Dr. Jens Zimmermann (SPD): bisschen herumschrauben . Aber mein Eindruck bis jetzt Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um die ist, dass wir da eine sehr gute Vorlage aus den beiden Verwirrung, die mein Vorredner in die Debatte hineinge- Ministerien bekommen haben und dass wir weit vor dem bracht hat, aufzulösen: Januar 2018 zu einem Abschluss kommen . (Widerspruch bei der CDU/CSU – Matthias Vielen Dank. Hauer [CDU/CSU]: Ich erkläre Ihnen das gleich noch mal!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 22606 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) Vizepräsidentin Claudia Roth: wie sinnvoll diese ILO-Konvention 169 ist und dass es (C) Vielen Dank, Dr. Zimmermann. – Ich schließe die sinnvoll ist, sie auch in Deutschland zu ratifizieren. Aussprache, bedanke mich für eine wirklich spannende Wie schützen wir die Rechte von Indigenen? Wie Debatte – viel gelernt – und wünsche Ihnen gute wei- schützen wir die indigene Lebensweise? Wie schaffen tere Verhandlungen im Ausschuss über diesen wichtigen wir es, dass Nachteile, die indigene Völker durch Groß- Entwurf . infrastrukturprojekte, durch den Abbau von Rohstoffen Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- haben, ausgeglichen werden? Wie bekommen wir es hin, wurfes auf Drucksache 18/11495 an die in der Tagesord- dass Konflikte um das von vielen Indigenen als heilige nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .– Es gibt Land empfundene Gebiet vernünftig gelöst werden kön- keine anderweitigen Vorschläge dazu. Dann ist die Über- nen? Dafür bietet die ILO-Konvention 169 besondere weisung so beschlossen . Aushandlungs- und Entscheidungsinstrumente, mit de- nen man schauen kann, wie man bei solchen Großpro- Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf: jekten, zum Beispiel bei Staudämmen oder Ölpipelines, Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- die Rechte Indigener sichert, wie man einen intelligenten richts des Ausschusses für Menschenrechte und Aushandlungsprozess hinbekommt . Deswegen macht die humanitäre Hilfe (17 .Ausschuss) zu dem Antrag Ratifizierung jetzt Sinn. der Abgeordneten Tom Koenigs, Claudia Roth Die ILO-Konvention 169 ist das einzige völker- (Augsburg), , weiterer Abgeord- rechtlich verbindliche Dokument, das die Rechte von neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Indigenen anerkennt . Die UN-Sonderberichterstatterin NEN für die Rechte indigener Völker Victoria Tauli-Corpuz Rechte indigener Völker stärken durch Ratifi- drängt auf eine schnelle Umsetzung . Mittlerweile haben kation der ILO-Konvention 169 22 Staaten weltweit die ILO-Konvention 169 ratifiziert, davon drei Staaten der Europäischen Union – die Nie- Drucksachen 18/4688, 18/11569 derlande, Dänemark und Spanien –, auch Norwegen, ein Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Nicht-EU-Land, aber ein europäisches Land . Auch Lu- die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei- xemburg ist auf dem Weg . Deswegen ist die Frage, wa- nen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen . rum Deutschland dies eigentlich nicht tun sollte, gerade vor dem Hintergrund, dass die deutsche Bundesregierung Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort an einen Nationalen Aktionsplan „Wirtschaft und Men- Frank Schwabe für die SPD-Fraktion . schenrechte“ verabschiedet hat, in dem diese Konvention genannt wird . (B) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (D) Was den Bundestag betrifft, haben wir uns mit dem Frank Schwabe (SPD): Thema oft beschäftigt . Es gibt einen Antrag von Rot- Grün, auf den sicherlich gleich noch einmal Bezug ge- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! nommen wird, aus dem Jahre 2011 . Wer den Antrag der Verehrte Damen und Herren! Was haben der Protest der Grünen liest, dem kommt vieles bekannt vor – aus dem Sioux gegen eine Ölpipeline in Dakota in den USA, die Antrag von 2011 . Proteste ecuadorianischer indigener Gemeinden gegen chinesische Investitionen, und der Mord an Berta Caceres Wir haben einen ähnlichen Antrag formuliert, haben aus Honduras, die als Angehörige der indigenen Volks- ihn dem Koalitionspartner schon zugeleitet . Es liegt am gruppe der Lenca gegen ein Staudammprojekt gekämpft Ende an Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen des Ko- hat, gemeinsam? Das sind drei Beispiele dafür, wie die alitionspartners, ob wir im Deutschen Bundestag noch Rechte von mindestens 370 Millionen Indigenen welt- zu einer gemeinsamen Beschlussfassung kommen kön- weit gefährdet sind und wie sie missachtet werden . Da- nen . Der Bundesrat hat sich bereits klar positioniert und mit das geändert wird, gibt es die ILO-Konvention 169 . hat uns bereits im Jahr 2015 aufgefordert, einen solchen Ratifikationsprozess einzuleiten. Ich will aber auch sa- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen, dass wir Sozialdemokraten uns selbstverständlich DIE GRÜNEN) an den Koalitionsvertrag gebunden fühlen und am Ende Damit es da gar keine Missverständnisse gibt: Die So- nur gemeinsam mit dem Koalitionspartner – und den zialdemokratische Fraktion ist dafür, dass wir diese Kon- Oppositionsfraktionen – zu einer solchen Entscheidung vention ratifizieren, weil es eigentlich – das werden wir kommen können . Wir Sozialdemokraten – ich sage es vielleicht in der Debatte hören –, inhaltlich jedenfalls, noch mal – sind aber entschieden der Meinung, dass wir keine Argumente dagegen gibt . dem Wunsch des Bundesrates nachkommen und end- lich – nach einem wirklich langen und zähen Prozess und Reisen bildet . Der Deutsche Bundestag hat Ende des zähen Diskussionen hier im Deutschen Bundestag über Jahres 2015 eine Delegation nach Mexiko und nach Peru viele Jahre hinweg – diese Entscheidung treffen sollten. entsandt . Der Kollege Tempel war zum Beispiel dabei . Wir haben uns dort intensiv mit der ILO-Konvention 169 Die Bundesländer haben in ihrer Entschließung deut- auseinandergesetzt . Ich empfehle all denjenigen, die viel- lich gemacht, dass es indigene Völker im Sinne der leicht noch nicht überzeugt sind, mit den Stiftungen der ILO-Konvention 169 in Deutschland gar nicht gibt . Das Parteien zu reden, zum Beispiel mit der Konrad-Adenau- stimmt zweifellos. Dennoch tragen wir besondere Ver- er-Stiftung . Diese hat uns sehr nachvollziehbar dargelegt, antwortung für die indigenen Gruppen weltweit – gerade Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22607

Frank Schwabe (A) in den Ländern, in denen Menschen von Infrastruktur- Deutschland daher von dem Abkommen nicht betroffen (C) projekten betroffen sind, die zum Beispiel von deutschen sei. Darum geht es aber nicht. Die Ratifizierung durch Unternehmen auf den Weg gebracht werden . So etwas Deutschland würde dem Abkommen international mehr haben wir zum Beispiel in Peru; da geht es um Kupfer- Gewicht verleihen, und die Regierung würde sich gleich- abbau und anderes . Insofern tragen wir eine besondere zeitig verpflichten, in ihren Außenwirtschaftsbeziehun- Verantwortung. gen die ILO-Konvention zu beachten . Wie gesagt: Dies würde aber die Rohstoffinteressen deutscher Konzerne Wir könnten also ein deutliches Zeichen setzen, ein berühren . Das scheint der eigentliche Hintergrund der Zeichen der Solidarität mit den indigenen Völkern in der Weigerung zu sein . Welt . Die Niederlande haben es gemacht, andere Länder haben es gemacht . Warum sollten wir das nicht können? Ich möchte hier zwei Beispiele nennen: Wir könnten ein Beispiel geben und unsere Glaubwür- digkeit untermauern . Gerade wenn Gruppen aus den ent- Beispiel Amazonas . Durch den exzessiven Anbau von sprechenden Ländern zu uns kommen oder wir in diese Soja, Mais und Zuckerrohr schrumpft der Amazonas-Re- Länder fahren, um dort für Menschenrechte zu werben, genwald immer schneller . Damit wird immer mehr Le- täte es unserer Glaubwürdigkeit und unserem Engage- bensraum von indigenen Völkern zerstört. Es entstehen ment gut, wenn wir sagen könnten: Ja, in Deutschland riesige Monokulturen, deren Erträge dann als Futtermit- haben wir diese ILO-Konvention ratifiziert. tel für die Massentierhaltung in den Staaten der EU oder für Biodiesel eingesetzt werden . Allein für die Massen- Vielen Dank. tierhaltung in Deutschland werden mehr als 10 Millio- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nen Hektar Land außerhalb Deutschlands benötigt, um DIE GRÜNEN) darauf die Futtermittel für die Turboschweine und die Hochleistungskühe zu produzieren . Würde Deutschland die ILO-Konvention ratifizieren, müssten diese Landzer-

Vizepräsidentin Claudia Roth: störung und der Landraub zumindest überprüft werden, Vielen Dank, Frank Schwabe. – Nächste Rednerin: wenn wir ihn schon nicht stoppen können . Annette Groth für die Linke . Beispiel Palmölanbau . Etwa 85 Prozent der weltwei- (Beifall bei der LINKEN) ten Palmölerträge kommen aus Indonesien und Malaysia . Von dem exzessiven Anbau von Palmöl sind Millionen Annette Groth (DIE LINKE): Indigene betroffen. Für die Produktion des Palmöls wer- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! den riesige Urwaldflächen vernichtet und systematisch (B) Sehr geehrte Damen und Herren! Frank, dann drücke ich Menschen vertrieben . In Indonesien allein werden dabei (D) doch die Daumen, dass ihr euren Koalitionspartner noch die Menschenrechte von mehr als 45 Millionen Angehö- überzeugen könnt, diese wichtige Konvention zu ratifi- rigen indigener Völker verletzt. Das ist ein echter Skan- zieren . dal . (Dr . Karamba Diaby [SPD]: Da helfen Sie (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg . mal!) Frank Schwabe [SPD]) Das wäre wirklich ein toller Akt . Die ILO-Konvention sorgt für die Einhaltung der (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Menschenrechte, insbesondere des Rechts auf kulturelle neten der SPD – Dr . Karamba Diaby [SPD]: Selbstbestimmung indigener Völker. Die Bundesregie- Macht mal!) rung sollte nicht nur diese Konvention dem Parlament zur Ratifizierung vorlegen, sondern sie müsste auch Ich finde, es ist schon sehr schändlich, dass sich die das deutsche Recht weiterentwickeln. Indigene Völker Bundesregierung bislang immer geweigert hat, diese so sollten ein verbrieftes Recht erhalten, in Deutschland wichtige Konvention zu ratifizieren. Denn es geht, wie gegen Investitionsentscheidungen vorgehen zu können, schon gesagt, um den unglaublich wichtigen Schutz für und hier Rechtsschutz erhalten, wenn sie den Klageweg indigene Völker. Viele wissen es ja nicht – du hast es beschreiten; das fordern Menschenrechtsorganisationen gesagt –: 370 Millionen Menschen in 90 Staaten gehören schon seit vielen Jahren . Damit könnte Deutschland ein indigenen Völkern an. In ihren Lebensräumen befinden positives Signal für eine gerechtere Weltwirtschaft set- sich mehr als 60 Prozent der weltweit begehrtesten Roh- zen, und die brauchen wir dringend . stoffe. Deshalb muss davon ausgegangen werden, dass die Weigerung der Bundesregierung dazu dient, wirt- Danke für Ihre Aufmerksamkeit . schaftliche Interessen der international agierenden Roh- stoffkonzerne vor die Interessen der indigenen Völker zu (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- stellen . Das ILO-Abkommen beinhaltet auch UN-Min- NIS 90/DIE GRÜNEN) deststandards für die Konsultation indigener Völker, wenn Projekte auf ihrem Land umgesetzt werden sollen . Vizepräsidentin Claudia Roth: Die Begründung der Bundesregierung für die Nicht- Vielen Dank, Frau Kollegin Groth. – Nächste Redne- ratifizierung ist, gelinde gesagt, relativ lächerlich; denn rin: Sylvia Pantel für die CDU/CSU-Fraktion . als Grund wird angegeben, dass es auf dem deutschen Staatsgebiet keine indigenen Völker gebe und dass (Beifall bei der CDU/CSU) 22608 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) Sylvia Pantel (CDU/CSU): tion zu unterzeichnen . Bereits im September 2007 hat (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und die Bundesregierung bei der Generalversammlung der Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heu- Vereinten Nationen mit eindeutiger Mehrheit zusammen te beschäftigen wir uns im Bundestag zum wiederholten mit 143 von 158 Staaten für die Rechte indigener Völker Male – wie Sie das eben auch gesagt haben – mit dem gestimmt . Thema der Ratifizierung der Konvention 169 der Interna- tionalen Arbeitsorganisation zu indigenen Völkern. Vizepräsidentin Claudia Roth: Als indigene Völker bezeichnet man die Nachfah- Frau Kollegin, erlauben Sie eine Frage oder Bemer- ren der Erstsiedler einer Region . Wir haben eben schon kung von Herrn Ströbele? mehrfach gehört, dass es ungefähr 370 Millionen Indige- ne gibt, die in etwa 90 Staaten leben . Sie machen knapp Sylvia Pantel (CDU/CSU): 5 Prozent der Weltbevölkerung aus . Das ist schon eine Ja . beachtliche Zahl . (Beifall des Abg . Tom Koenigs [BÜND- Vizepräsidentin Claudia Roth: NIS 90/DIE GRÜNEN]) Herr Ströbele, bitte . Von den 7 000 Sprachen, die weltweit existieren, wer- den mehr als 4 000 Sprachen von indigenen Völkern ge- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sprochen . Die internationale Gemeinschaft hat sich den NEN): Schutz der Rechte indigener Volksgruppen, ihrer Kultur Danke, Frau Präsidentin . – Danke, Frau Kollegin, dass und ihres Lebensraums zur Aufgabe gemacht, um der Sie die Frage zulassen . – Sie wissen vielleicht, dass in Gefahr von Diskriminierung und Ausgrenzung entgegen- diesen Staaten Lateinamerikas sehr häufig die Rechte zuarbeiten . indigener Völker in der jeweiligen Verfassung verankert Die Internationale Arbeitsorganisation hat bereits sind, es leider trotzdem mit der Wahrung dieser Rechte 1989 ein Übereinkommen zum Schutz indigener Völker häufig nicht weit her ist – häufig, nicht immer natürlich. verabschiedet. Eine mögliche Ratifizierung dieses Über- In diesem Zusammenhang meine Frage: Wir diskutieren einkommens, der Konvention 169, wurde seitdem mehr- heute nicht zum ersten Mal im Deutschen Bundestag über fach geprüft . Bisher haben nur 22 der 187 Mitgliedstaa- dieses Thema, sondern schon zum x-ten Mal . In Deutsch- ten der ILO dieses Übereinkommen ratifiziert. land steht immer ein Diskussionspunkt im Raum – das war schon zur Zeit von Rot-Grün so –: Wir erkennen das (Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE nicht an, weil wir die Sorben im Land haben . – Ist Ih- (B) GRÜNEN]: Das ist nicht gut!) nen das bekannt? Teilen Sie die Sorge, dass die Sorben in (D) Bei den Unterzeichnern handelt es sich hauptsächlich um Deutschland zu viele Rechte bekommen könnten, insbe- lateinamerikanische Länder mit einem hohen indigenen sondere was die von ihnen besiedelten Gebiete betrifft? Bevölkerungsanteil . Das ist nur konsequent; Sylvia Pantel (CDU/CSU): (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!) Nein, diese Sorge teile ich nicht . Wenn Sie meinen Ausführungen bis zum Schluss lauschen, werden Sie denn die ILO-Konvention 169 richtet sich eben an Staa- eine Antwort auf diese Frage bekommen . Ich möchte ten, auf deren Gebieten indigene Bevölkerungsgruppen meine Rede nicht zerrupfen . Ich werde diesen Aspekt leben. Das trifft auf Deutschland – wir haben es eben aber behandeln . Wenn Sie danach noch Fragen haben, schon festgestellt – nicht zu . Das ist einer der Gründe, können Sie diese dann gerne stellen . warum die Bundesregierung bisher davon Abstand ge- nommen hat, das Übereinkommen zu ratifizieren; aber (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE eben nur einer der Gründe . Bisher haben auch nur vier GRÜNEN]: Danke!) europäische Staaten – auch das wurde erwähnt – diese Konvention aus Solidaritätsgründen ratifiziert. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Dr . Karamba Diaby [SPD]: Können wir auch Schauen wir mal . machen!) (Heiterkeit) – Liebe Kollegen, Sie kennen doch die Realität . Sie wis- sen doch, dass selbst die Länder, die ratifiziert haben, die Sylvia Pantel (CDU/CSU): Rechte der indigenen Völker praktisch kaum beachten. Ich glaube, Fragen lassen Sie immer zu, oder? (Dr . Karamba Diaby [SPD]: Das ist aber kei- Verbindliche Standards zielen darauf ab, die Rechte ne Erklärung!) indigener Bevölkerungsgruppen zu sichern . Artikel 46 dieser Erklärung zählt die Schutzrechte der Indigenen – Es ist keine Erklärung, wie Sie sagen – mag ja sein –, ausführlich auf . Die große Zahl an Unterzeichnern, zu aber es ist ein Beleg dafür, dass die Ratifizierung schlecht- denen eben auch die Bundesregierung gehört, unter- hin keine Hilfe sein muss . streicht die besondere Wahrnehmung indigener Völker Wir setzen uns anders für die Rechte der indigenen seitens der internationalen Gemeinschaft und die Wich- Völker ein. Wir halten es nicht für nötig, die Konven- tigkeit, die ihnen beigemessen wird . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22609

Sylvia Pantel (A) Die Bundesregierung setzt sich bei den Vereinten Na- Unterzeichnerliste lässt schnell erkennen, dass fast aus- (C) tionen und in ihrer Zusammenarbeit mit anderen Regie- schließlich lateinamerikanische Länder die Resolution rungen permanent für die Verbesserung der Lage indige- ratifiziert haben. Dies ist auch verständlich: Diese Kon- ner Bevölkerungsgruppen ein . Unser Schwerpunkt liegt vention richtet sich nämlich in erster Linie an diejenigen auf der Wahrung ihrer Rechte zur Kontrolle über ihre Länder, in denen indigene Völker leben. Es leben natür- Einrichtungen, ihre Lebensweise, ihre wirtschaftliche lich auch indigene Völker in Ländern, die diese Konven- Entwicklung, ihre Identität, Sprache und Religion . Wir tion nicht ratifiziert haben. In Deutschland – das haben unterstützen die zügige Umsetzung von Verfassungsvor- wir eben und auch schon mehrfach gesagt – leben eben schriften in den betroffenen Ländern sowie die Einbin- keine . dung in die politischen Prozesse . (Michael Brand [CDU/CSU]: Die Sorben!) Die deutsche Entwicklungspolitik ist entlang men- Eine Ratifizierung durch die Bundesregierung wäre schenrechtlicher Standards so ausgerichtet, dass die nur eine symbolische Geste und würde an der Situation Stärkung und Unterstützung indigener Völker immer im indigener Bevölkerungsgruppen nur wenig ändern . Un- Blickfeld ist . So fördert das Bundesministerium für wirt- serer Regierung geht es aber in erster Linie eben nicht um schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mit über symbolische Gesten, sondern um konkrete Taten . Des- 28 Millionen Euro Projekte, die die Rechte indigener halb befürworten wir es nach wie vor, wenn die Länder Völker stärken. Die Gesamtsumme der verschiedenen mit indigenen Bevölkerungsgruppen diese Konvention Förderprojekte liegt weitaus höher . Für den Erhalt und ratifizieren – und eben nicht Deutschland. Ausbau interkultureller Universitäten Indigener werden über 6 Millionen Euro und für die Stärkung indigener Die Berücksichtigung der Interessen indigener Völ- Organisationen in Lateinamerika über 14 Millionen Euro ker ist seit Jahren nicht nur fester Bestandteil deutscher investiert. Außerdem stärken wir indigene Völker in Entwicklungspolitik, sondern eben auch der Außen- und Honduras mit 30 000 Euro . Das heißt, es laufen verschie- Wirtschaftspolitik . Um sich für die Rechte indigener dene Projekte . Die Zahlen kann man nicht im Einzelnen Völker einzusetzen, bedarf es nicht der Ratifizierung. ausweisen; aber die Bundesregierung macht da eine gan- (Beifall des Abg . Michael Brand [CDU/ ze Menge . CSU]) Unsere Politik orientiert sich auch an den Leitlinien In Deutschland leben Minderheiten, die die deutsche der Vereinten Nationen von 2011 zu Menschenrechten Staatsangehörigkeit besitzen, wie zum Beispiel die Frie- und Wirtschaft . Die OECD-Leitlinie für verantwor- sen und Dänen im Norden und die Sorben im Osten so- tungsvolle Landpolitik ist ebenfalls Grundlage unserer wie die Sinti und Roma im restlichen Gebiet der Bundes- (B) Entwicklungspolitik . Die Liste ist lang . Das Bundesmi- republik . (D) nisterium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wicklung hat 2011 die Achtung der Menschenrechte in- (Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- digener Völker mit dem Konzept „Menschenrechte in der NEN]: Und die Schwaben in Berlin! – Heiter- deutschen Entwicklungspolitik“ ausdrücklich verankert . keit) Zusätzlich unterstützt die Bundesregierung die Überar- – Manchmal sind die Fähigkeiten der Schwaben gar nicht beitung der Schutzstandards der Weltbank, um so einen schlecht . Denn man muss ja gucken, dass man das Geld besseren Schutz indigener Bevölkerungsgruppen zu er- zusammenhält, damit man es für das Richtige ausgibt . reichen . (Heiterkeit) 2014 fand im Rahmen der UN-Generalversammlung zum ersten Mal eine Weltkonferenz indigener Völker An dieser Stelle möchte ich auf unseren Ansatz der statt. UN-Mitgliedstaaten und Vertreter indigener Völker integrativen Minderheitenpolitik hinweisen . Er steht im nutzten diese Möglichkeit, um auf die Situation indigener Gegensatz zu dem segregativen Ansatz der Konvention . Völker aufmerksam zu machen. Die Entwicklungspoli- Auch aus diesem Grund halten wir die Ratifizierung we- tik in unserem Land unterstützt das Ziel der Konferenz, der für notwendig noch für sinnvoll . eindeutige Schritte für die Verwirklichung der Rechte Sie führen das Argument an, Deutschland solle wie indigener Völker einzuleiten. Eine wichtige Vorausset- beispielsweise die Niederlande die Konvention aus soli- zung für die Verwirklichung dieser Rechte ist die aktive darischen Gründen ratifizieren. Diese Möglichkeit hätten Mitarbeit der indigenen Völker. Sie – lieber Herr Ströbele, Sie hatten es angedeutet – be- All diese erwähnten Projekte der internationalen Ge- reits 1999 bis 2005 gehabt . Auch Sie hatten damals keine meinschaft enthalten Rechte, die in wesentlichen Punk- Solidarratifikation vorgenommen. ten über die ILO-Konvention 169 hinausgehen . Die Grü- (Michael Brand [CDU/CSU]: Innenminister nen – das sagten Sie eben – fordern in ihrem Antrag die Ströbele, das wäre ja zu schön gewesen!) Bundesregierung auf, diese Konvention zu ratifizieren, obwohl sie wissen müssten, dass die Ratifizierung kaum Wir sind der Ansicht, dass sich die Situation der indi- etwas an der Situation der Indigenen vor Ort geändert genen Völker durch die Ratifizierung dieser Konvention hat . nicht verbessern würde. Wir erwarten eine Ratifizierung von denjenigen Ländern, in denen indigene Völker an- Bislang wurde diese Konvention von 22 der gesiedelt sind. Außerdem ist nicht die Ratifizierung, 187 ILO-Mitgliedstaaten ratifiziert. Allein diese Zahl sondern sind die Achtung und die Einhaltung der Rechte zeigt, wie wenig davon erwartet wird . Ein Blick auf die der indigenen Völker wichtig. Da die Ratifizierung der 22610 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Sylvia Pantel (A) ILO-Konvention 169 durch Deutschland keine direkte les SPD-Genossen – oder beim Koalitionspartner nicht (C) Verbesserung bewirken würde, unterstützen wir die Vor- durchsetzen konnten . Die Beschreibung, die du gibst, gehensweise der Bundesregierung . Frank, ist ja völlig richtig; aber es fehlt doch irgendetwas . Karin Roth, Esslingen, fand dazu 2011 bewegende Wor- Die Einhaltung der Rechte dieser Bevölkerungsgrup- te . Dies sei politisch folgerichtig und wichtig . Bis heute pe ist erstrebenswert . Selbstverständlich unterstützen wir betonen Bischöfe gegenüber der Katholischen Nachrich- die Rechte der Minderheiten, und das zeigen wir in unse- ten-Agentur, zum Beispiel der brasilianische Kardinal rer umfangreichen Entwicklungshilfe und in Taten . Claudio Hummes heute, dass die Einhaltung der Men- (Beifall bei der CDU/CSU) schenrechte der indigenen Völker in den Amazonas-Ge- bieten notwendig ist und dass sie notleidend sind . Seit Jahrzehnten setzen wir uns in Deutschland erfolg- reich für die Integration von Minderheiten ein . Wir set- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zen auf Integration und nicht auf Segregation . Deshalb ist der segregative Ansatz der ILO-Konvention aus unserer Es gibt aber nicht nur diese Fürsprecher . Ich denke an Sicht nicht erstrebenswert, und wir lehnen eine Ratifizie- den Bundesrat . Manche Ihrer Rednerinnen und Redner rung ab . haben sich ja bei anderer Gelegenheit darüber beklagt, dass die Genossen oder Regierungen in den Ländern (Dr .Karamba Diaby [SPD]: Schade!) nicht dabei sind . Jetzt sind sie dabei . Jetzt lässt sich also Herzlichen Dank . die Gelegenheit nutzen . (Beifall bei der CDU/CSU) Es gibt auch eine Bürgervereinigung bzw. eine Ver- einigung von Personen, die den ökologischen Wert, die ökologische Bedeutung der indigenen Völker für uns be- Vizepräsidentin Claudia Roth: tonen . Das ist das Klima-Bündnis . Dieses Bündnis ver- Vielen Dank, Frau Kollegin Pantel. – Letzter Redner bindet 1 716 europäische Gemeinden mit einer Bevölke- in dieser Debatte: Tom Koenigs für Bündnis 90/Die Grü- rung von 54 Millionen im Sinne des Klimaschutzes . Die nen . Indigenen sind die besten Klimaschützer, die wir haben . Deshalb lohnt es sich, diese nicht nur aus Solidarität zu Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): unterstützen, sondern auch, weil unsere Unternehmen Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und in den indigenen Gebieten dieser Länder arbeiten, zum Herren! Frau Pantel, mit dem segregativen Ansatz – das Beispiel in Cesar in Kolumbien, wo wir garzweilerartig ist ein Schmarren . Das ist auch diskutiert worden, und Kohleabbau durch Abnahme fördern . Es gibt Unterneh- das ist ein absoluter Unsinn . mensverpflichtungen, die dann einzulösen wären. Es gibt (B) Rechte, die auch gegenüber uns wirken könnten . Dieses (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ökologische Element, dass es keine besseren Verteidiger sowie bei Abgeordneten der SPD) gegen die Abholzung des Regenwaldes als die indigenen Niemand geht davon aus . Sie sagen ja selbst, dass wir Völker gibt, muss man doch sehen; Sie sehen es leider affirmative, positive Programme mit den indigenen Min- nicht . In diese Richtung geht die Konvention . derheiten machen, und da machen wir eine ganze Menge . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das freut mich, und das unterstützen wir auch, wenn es sowie bei Abgeordneten der SPD) von der Bundesregierung gemacht wird . Die ILO-Kon- vention gibt aber Rechte, und das ist etwas ganz anderes . Ich finde, nachdem wir so oft darüber diskutiert haben und dieses Thema so viele Sonntags-, Montags-, Diens- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tags-, Mittwochs- und Donnerstagsreden gefüllt hat, soll- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- te man zumindest das ökologische Argument dann doch ten der SPD – Sylvia Pantel [CDU/CSU]: Die mal ernst nehmen . Der SPD kann man sagen: Als ihr die würdet ihr nicht geben!) Minister gestellt habt, habt ihr es nicht durchbekommen, Wenn man ein romantisches patriarchalisches oder obwohl ihr mit uns in einer Koalition wart . Als ihr in der matriarchalisches Verhältnis zu den Indigenen hat – Opposition wart, habt ihr mit uns Anträge gestellt . Auch nicht? 94 grüne Bände von Karl May, Lex Barker und so in der jetzigen Koalition bekommt ihr es nicht durch . etwas –, dann sagt man: Es reicht ja, dass wir so gnädig Ich möchte daran erinnern, dass etwas fehlt . Gestern sind und dass wir so viele Programme haben . Hier geht haben wir alle in diesem Hohen Hause den großen Reden es aber um Rechte der indigenen Völker. Diese Rechte der Präsidenten gelauscht . Das war toll . In allen Reden verlangen diese Völker seit der Kolonialisierung, und hat eines vollkommen gefehlt, obwohl der Entwurf für zwar sowohl der militärischen, der Conquista, als auch die Entwicklung der Welt sehr umfassend war: die Um- der wirtschaftlichen. Diese Völker sind nach wie vor in welt . hohem Maße diskriminiert . Dieses Hohe Haus hat ja schon einmal beschlossen, (Dr .Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE die Bundesregierung zur Ratifizierung aufzufordern. Das GRÜNEN]: So ist es!) war 2002 . In den verschiedenen Wahlperioden mussten Diese brauchen wir aber für unsere Zukunft . Deshalb dann die unglückseligen Rednerinnen und Redner der brauchen Sie die Grünen . SPD immer begründen, warum sie das entweder bei ihren Wirtschaftsministern und Finanzministern – al- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22611

Tom Koenigs (A) Auch die SPD braucht die Grünen . Gestern wurde uns mit dem bestialischen Anschlag (C) vor dem britischen Parlament erneut in Erinnerung ge- (Frank Tempel [DIE LINKE]: Aber nicht rufen, wie notwendig wirksame Waffen – ich verwende Schwarz-Grün! Da gibt es auch noch andere bewusst den Plural; denn nicht ein Instrument ist für alle Konstellationen!) Probleme geeignet – im Antiterrorkampf sind und dass wir unser Instrumentarium immer entsprechend anpassen Vizepräsidentin Claudia Roth: müssen, wenn wir Lücken entdecken . Vielen Dank, Tom Koenigs. – Ich schließe die Aus- In der vergangenen Woche haben wir in Paris zum sprache . wiederholten Male gesehen, dass der Flugverkehr und Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- die Flughäfen selbst nach wie vor besonders attraktive ses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zum An- Ziele für Terroranschläge abgeben. Vor allem aber nut- trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ti- zen international vernetzte Terrorgruppen und natürlich tel „Rechte indigener Völker stärken durch Ratifikation auch die grenzüberschreitende organisierte Kriminali- der ILO-Konvention 169“. Der Ausschuss empfiehlt in tät den internationalen Flugverkehr, um ihre dunklen seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/11569, Netzwerke aufzubauen und ihre Anschläge zu planen . den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Es ist unerlässlich, dass wir die Reisewege von Terror- Drucksache 18/4688 abzulehnen . Wer stimmt für diese gefährdern und Kriminellen nachvollziehen können, um Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- diese gefährlichen Netzwerke aufspüren und möglichst tungen gibt es nicht . Die Beschlussempfehlung ist damit zerschlagen zu können . Deshalb ist es gut, dass wir die- angenommen . se Richtlinie haben . Aber natürlich wirkt sie nur, wenn Deutschland als größter EU-Mitgliedstaat sie nun auch Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 14 auf: zügig in nationales Recht umsetzt und sie damit über- Erste Beratung des von der Bundesregierung haupt erst wirksam macht . eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Den Sicherheitsbehörden wird ein neues Instrument Verarbeitung von Fluggastdaten zur Umset- an die Hand gegeben, das den bereits bestehenden eu- zung der Richtlinie (EU) 2016/681 (Fluggast- ropaweiten Austausch von Erkenntnissen zu verdächti- datengesetz – FlugDaG) gen Personen sinnvoll ergänzt . Dieses neue Instrument Drucksache 18/11501 ermöglicht den Behörden unter anderem, bereits bekann- te Personen durch einen Abgleich von Fluggastdaten Überweisungsvorschlag: mit Fahndungsbeständen zu identifizieren, bevor diese Personen die Bundesrepublik Deutschland mit einem (B) Innenausschuss (f) (D) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Flugzeug verlassen oder hier landen . Erforderliche Maß- Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur nahmen können so durch die zuständigen Sicherheitsbe- Ausschuss für Tourismus hörden rechtzeitig vorbereitet werden . Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss Digitale Agenda Durch die Auswertung von Fluggastdaten wird es zu- Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO dem möglich sein, Beweismaterial zusammenzutragen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für und mögliche Komplizen von Straftätern aufzuspüren . die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre dazu So kann zum Beispiel im Rahmen eines Ermittlungsver- keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen . fahrens gegen eine terrorverdächtige Person durch einen Abgleich von Fluggastdaten mit ihren Personalien nach- Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem vollzogen werden, ob und wann sie sich in Kriegsgebie- Parlamentarischen Staatssekretär Dr .Günter Krings . te begeben hat, etwa zur Ausbildung oder um dort an (Beifall bei der CDU/CSU) Kampfhandlungen teilzunehmen . Zugleich kann nach- vollzogen werden, ob andere Personen zur gleichen Zeit die gleichen – möglicherweise sehr ungewöhnlichen – Dr. Günter Krings, Parl . Staatssekretär beim Bun- Reiserouten gewählt haben . desminister des Innern: Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehr- Meine Damen und Herren, diese Richtlinie beweist ten Damen und Herren Kollegen! Es hat lange gedauert zugleich – das ist mir besonders wichtig –, dass sich ein und großen Einsatzes gerade des deutschen Innenminis- großer Gewinn an Sicherheit durchaus mit einem hohen ters, von Thomas de Maizière, bedurft, aber schließlich Datenschutzniveau verknüpfen lässt . In diesem Geiste hat die Europäische Union doch geliefert . Im Mai letzten erfolgt nun auch die Umsetzung in das deutsche Recht . Jahres ist die europäische Richtlinie über die Verwen- Der Datenschutzbeauftragte des Bundeskriminalamts dung von Fluggastdaten endlich in Kraft getreten . Am und die Bundesdatenschutzbeauftragte werden bei der Ende hat auch eine Mehrheit des Europäischen Parla- Verarbeitung der Fluggastdaten eine zentrale Rolle spie- ments eingesehen, dass wir die Fluggastdaten aus dem len . Darüber hinaus enthält der Entwurf verschiedene grenzüberschreitenden Luftverkehr dringend brauchen, Verfahrensregeln zum Schutz personenbezogener Daten. um Terrorismus und schwere Kriminalität besser, wirk- Ich will als Beispiel nur die Depersonalisierung von Da- samer bekämpfen zu können . ten nach einer gewissen Frist, aber auch die vollständige Protokollierung und Dokumentierung der Verarbeitung (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . von Fluggastdaten nennen, durch die das behördliche [SPD]) Handeln nachvollzogen werden kann . 22612 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Parl. Staatssekretär Dr. Günter Krings (A) Meine Damen und Herren, mit dem Entwurf des Flug- tenspeicherung mit Blick auf die Kommunikationsdaten . (C) gastdatengesetzes werden wir ein wichtiges neues Instru­ ­ Das Urteil – kurz zusammengefasst – war mehr als deut- ment zur Bekämpfung von Terrorismus und schwerer lich: Diese Speicherung war nicht mit der europäischen Kriminalität schaffen. Grundrechtecharta vereinbar . Wir haben zur Umsetzung der Richtlinie bis 2018 Zeit . Warum können wir denn Europa ist in Sicherheitsfragen inzwischen ein wich- nicht seriöserweise abwarten, wie das EuGH zu dem tiger und starker Akteur geworden . Das begrüße ich aus- PNR-Abkommen zwischen der EU und Kanada urteilen drücklich; denn sowohl für den Schutz vor Terror und wird? Es wäre doch das Mindeste, das abzuwarten, um organisierter Kriminalität als auch für den Datenschutz auf der sicheren Seite zu sein . Ich kann das nicht verste- brauchen wir eine europaweite vertrauensvolle Zusam- hen . Das ist unseriöse Politik . menarbeit . Für uns ist es wichtig, dass wir die Sicher- heitsstandards, die die Europäische Union damit setzt, (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- zügig in nationales Recht umsetzen; denn in Europa darf NIS 90/DIE GRÜNEN – [CDU/ es keine Zonen unterschiedlicher Sicherheit geben . CSU]: Warten bis zum nächsten Anschlag!) (Beifall bei der CDU/CSU) Zur Grundproblematik des Gesetzentwurfs, den Sie hier heute vorgelegt haben, will ich den Deutschen Rich- Das ist übrigens auch der Grund – das darf ich noch er- terbund zitieren. Er sagt, wie ich finde, prägnant zusam- gänzen –, warum wir den Beschlüssen des Europäischen mengefasst: Rates bewusst folgen und diese Fluggastdaten nicht nur bei transkontinentalen Flügen, sondern auch bei Flügen Bei den gesammelten Daten handelt es sich um sen- innerhalb Europas verarbeiten . sible und umfassende persönliche, finanzielle als auch soziale Informationen der Fluggäste, so dass Ich bitte um eine ebenso intensive wie zügige Bera- ein ganz erheblicher Eingriff in die grundrechtlich tung und Verabschiedung dieses wichtigen Gesetzent- geschützten Interessen der Betroffenen hinsichtlich wurfes . ihrer informationellen Selbstbestimmung stattfin- Vielen herzlichen Dank. det . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- So sieht es aus . Deswegen lehnen wir das, was heute vor- ordneten der SPD) gelegt wird, ab . (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Vizepräsidentin Claudia Roth: neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank, Dr. Krings. – Nächster Redner: Jan Wir müssen das Ganze doch einmal ganz praktisch (B) Korte für die Linke . weiterdenken . Angesichts der Gefahr des internationalen (D) (Beifall bei der LINKEN) Terrorismus muss es doch der Grundsatz sein, nicht alle Mittel, die möglich sind, auch voll auszuschöpfen . Der Zweck heiligt doch nicht die Mittel . Wir müssen darü- Jan Korte (DIE LINKE): ber nachdenken, was passiert ist und was noch passieren Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! kann und müssen uns dabei ganz praktische Fragen stel- Kollege Krings, genau das, was Sie gerade vorgetragen len . Was ist denn, wenn Terroristen und Gefährder, die et- haben, bringt nach unserer Auffassung eben nicht mehr was planen, gar keine Flugzeuge mehr benutzen, weil sie Sicherheit, sondern ist eine Simulation von Sicherheit . mitbekommen haben, dass diese am meisten überwacht (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- werden? neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Dann hat Die schrecklichen Anschläge haben gezeigt – das ist ei- es etwas gebracht!) nes der Hauptprobleme –, dass ein Großteil der Täter dort Sie fahren dann mit dem Auto über die Grenze, Kolle- aufgewachsen ist, oftmals in kleinkriminellen Milieus; ge Binninger . Was ist in dieser Logik das Nächstbeste? auch in London war es, wie wir heute erfahren mussten, Wird dann in jedes Auto ein Chip installiert, um zu kon- ein britischer Staatsbürger . Das, was Sie hier vorschla- trollieren, wann die Bürger der Europäischen Union nach gen, ist doch eine Simulation von Sicherheit . Was wir Frankreich oder sonst wohin fahren? Das kann doch nicht brauchen, sind gut abgestimmte Deradikalisierungspro- die Logik in einer demokratisch verfassten Europäischen gramme und Präventionsmaßnahmen auf europäischer Union sein . Ebene . Das wäre der richtige Weg . (Beifall bei der LINKEN – Dr . Stephan (Beifall bei der LINKEN – Clemens Harbarth [CDU/CSU]: Sie sprechen heute zu Binninger [CDU/CSU]: Tun wir beides!) einem ernsten Thema! Dem wird Ihr Beitrag nicht gerecht!) Das Problem ist, dass es hier wieder einmal um eine Vorratsdatenspeicherung geht, also um eine anlasslose Was ich nun wirklich für ein sicherheitsrelevantes und lückenlose Datenspeicherung von Fluggastdaten . Problem halte – dazu kommt von Ihnen überhaupt gar Auch wenn Sie unsere grundsätzlichen Bedenken dazu nichts –, ist die Situation an deutschen Flughäfen . Ich er- nicht teilen, will ich zumindest einen Verfahrensvor- innere nur an die ungenügenden Fluggepäckkontrollen . schlag machen . Im Jahre 2016 gab es bekanntermaßen Bei Tests im Rahmen der Europäischen Union konnte ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Vorratsda- man ganze Handgranaten in die Flugzeuge mitnehmen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22613

Jan Korte (A) Ich frage mich: Was machen Sie da? Wir haben ein wirk- hin . Man kann feststellen, dass vier europäische Staa- (C) lich großes Problem, nämlich die Privatisierung von Si- ten überhaupt nicht involviert sind, nämlich Rumänien, cherheitsdienstleistungen . Früher wurde diese Arbeit von Bulgarien, Kroatien und Zypern . Das heißt, schon da top ausgebildeten Bundespolizisten gemacht; nun ist dies entstehen erhebliche Sicherheitslücken . Zudem werden an private Sicherheitsdienstleister ausgegliedert worden . die Schengener Informationssysteme mithilfe biometri- Das müssen wir rückgängig machen . Das ist sicherheits- scher Daten aufgerüstet . Ich frage mich, wie das in der relevant, liebe Kolleginnen und Kollegen . PNR-Gesetzgebung Berücksichtigung findet und wie die Daten abgerufen werden sollen . Diese sich abzeichnen- (Beifall bei der LINKEN) den Sicherheitslücken könnten doch von Bedeutung sein . Ich finde, das, was Europa so verteidigenswert macht, die Freizügigkeit, die Möglichkeit, einen Raum zu ha- Darüber hinaus ist zu beachten, dass die Bundespo- ben, der im Großen und Ganzen frei von Überwachung lizei, die nach § 31a des Bundespolizeigesetzes bisher ist, sollten wir in Zeiten der Bedrohung durch den Terro- die Daten erhoben hat, Bestandteil dieses neuen Systems rismus nicht leichtfertig aufgeben . Deswegen glaube ich, wird. Ich war der Auffassung, dass es vielleicht gar nicht dass das, was Sie machen, der völlig falsche Weg ist und so schlecht gewesen wäre, wenn man diese Aufgabe bei ein falsches Zeichen für ein freies Europa . der Bundespolizei belassen hätte, anstatt eine neue Be- hörde damit zu beauftragen, die erst anfangen muss, die- Danke . ses System aufzubauen . (Beifall bei der LINKEN) Die Erfahrungen, die die Bundespolizei mit dem Ge- setz gemacht hat – das ist entscheidend –, liegen vor . Vizepräsidentin Claudia Roth: Im Jahr 2015 sind bei 100 000 Flugdaten insgesamt Vielen Dank, Jan Korte. – Nächster Redner: Wolfgang 550 000 Euro an Gebühren für Ordnungswidrigkeiten an- Gunkel für die SPD-Fraktion . gefallen . Das bedeutet also, dass bei immerhin 1 100 Flü- gen, wenn man 500 Euro als Mindeststrafe nimmt, keine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Daten übermittelt worden sind . der CDU/CSU) Jetzt hat man sich für das INPOL-System entschieden, was richtig ist; alles andere wäre datenrechtlich noch Wolfgang Gunkel (SPD): problematischer gewesen . Das bedeutet also, dass man, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe wenn man dies verhindern will, sehr stark auf Außenhil- Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst den fe, nämlich auf die Fluggesellschaften, angewiesen ist . Hinterbliebenen der Opfer des Londoner Anschlags mein Ich glaube, das ist einer der Punkte, die man noch einmal (B) Beileid ausdrücken . Es war erschütternd, zu sehen, wie überdenken muss . (D) schnell uns das Thema wieder einholt, was das Erleben und Bekämpfen von Terrorismus angeht . Insgesamt gesehen kommt zum Tragen – der Rich- terbund ist schon zitiert worden; ich will das nicht wie- Insofern ist es natürlich schwer, am vorliegenden Ge- derholen –, dass wir neben dem, was bei SIS II und den setzentwurf etwas zu kritisieren . Ich will aber trotzdem anderen Datenschutzsystemen herauskommt, am Ende einige Schwachstellen aufzeigen . Herr Krings, Sie haben doch einige Unsicherheiten haben, und die sind natürlich den großen Rahmen vorgegeben und erläutert . Der Kol- auch für die Folgezeit von Bedeutung . Ich will daran er- lege Korte hat darauf hingewiesen, dass es auch entschei- innern, dass wir noch eine Anhörung haben werden . Ich dend sein kann, hier etwas zurückzustecken . weiß, dass dies nicht viel ändern wird . 2004 wurde ein Gesetz beschlossen, nach dem wir mit API-Daten, die von der Bundespolizei erhoben wer- (Dr .Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE den, ausgestattet werden . Dieses Personalienpaket reicht GRÜNEN]: Na, bitte!) nach unserer Auffassung vollkommen aus als Grundlage Das Gesetz kommt so, wie es vorgesehen ist . Das war zur Bekämpfung des Terrorismus . Die Erweiterung der schon immer so; daran hat sich nicht viel geändert . Es ist Regelungen ist nach meiner Ansicht sehr großzügig aus- aber interessant, zu hören, was die Experten dazu sagen gefallen . Beispielsweise verstehe ich nicht, warum man werden . Ich glaube, daraus kann noch die eine oder an- zur Bekämpfung des Terrorismus den Namen der Sach- dere Erkenntnis erwachsen. Vielleicht gelingt es ja, hier bearbeiterin im Reisebüro benötigt . Aber das ist nur ein noch die eine oder andere Veränderung vorzunehmen. Punkt . An und für sich geht es nicht darum, die Speicher- fristen anzugreifen oder Ähnliches . Es ist sicher richtig, (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Eben!) dass man vor Abflug wissen muss, wer im Flugzeug sitzt Ich will noch etwas zu den Datenschutzbestimmungen und wer unter Umständen als Gefährder angesehen wer- sagen . Wir haben schon einmal kurz darüber gesprochen . den kann . Insgesamt hätten wir es gut gefunden, wenn Es ist der Hinweis auf die Drittstaatenregelung, die ich das Ganze etwas weniger komfortabel ausgefallen wäre . noch einmal anführen will . Das Bundesverfassungsge- An der Umsetzung dieser Richtlinie werden wir aber richt hat in seinem Urteil zum BKA-Gesetz gesagt: An nicht vorbeikommen . Insofern will ich das an dieser Stel- Staaten, die menschenrechtswidrige Verhältnisse haben le so stehen lassen . oder die nicht sicherstellen können, dass mit einem er- Des Weiteren ist interessant, wie man die Verknüp- heblichen datenrechtlichen Standard mit den Daten um- fung zu den anderen Daten herstellen will . Ich weise hier gegangen wird, sollte nicht übermittelt werden .– Auch insbesondere auf das Schengener Informationssystem II das ist eine Frage der Interpretation . Ihr verweist immer 22614 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Wolfgang Gunkel (A) auf die §§ 78 bis 80 Datenschutzgesetz, in denen das den Flügen vorschreibt, planen Sie zusätzlich die Spei- (C) drinstehen soll . cherung von Flugdaten innerhalb der EU . (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Steht ja (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Richtiger- auch drin!) weise! – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Unglaublich!) Das ist alles gut und schön; aber bei den Begriffen gibt es Interpretationsmöglichkeiten . So kommt es auf denje- Sammeln soll diese Massendaten eine beim BKA an- nigen an, der entscheidet, wer was übermitteln darf, wer gesiedelte Zentralstelle . Allein die Errichtung dieser Stel- beispielsweise Menschenrechte verletzt oder wer nicht le soll sage und schreibe 78 Millionen Euro kosten . Der datenrechtliche Standards voraussetzt, wie wir hier in laufende Betrieb wird mit mindestens weiteren 65 Milli- Europa . Wer Daten abgibt, der hat die Kontrolle darüber onen Euro pro Jahr veranschlagt . verloren . (Zuruf von der CDU/CSU: Sicherheit kostet Das sind die Punkte, die ich hier noch einmal anführen Geld!) wollte . Es ist klar, dass wir in der derzeitigen Lage nicht Da kann man nur sagen: Die Umsetzung ist auch vor die- gegen diesen Gesetzentwurf sprechen können . Wir wer- sem Hintergrund absurd; den ihn natürlich befürworten . So wird die SPD-Fraktion diesem Gesetzentwurf zustimmen . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Schönen Dank . denn das PNR-Abkommen der EU mit Kanada – das hat (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Kollege Korte zu Recht angesprochen – liegt derzeit der CDU/CSU – Clemens Binninger [CDU/ zur Überprüfung beim EuGH, und es ist sehr wahrschein- CSU]: Damit habe ich nicht mehr gerechnet!) lich bei all den Bedenken, die es gibt, dass das Abkom- men und damit auch die Richtlinie in vielen Punkten eben nicht mit den Grundrechten der EU und auch nicht Vizepräsidentin Claudia Roth: mit unserem Grundgesetz vereinbar ist . Vielen Dank, Wolfgang Gunkel. – Nächster Redner: Dr . Konstantin von Notz für Bündnis 90/Die Grünen . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Jetzt Das zeigt, wie übereilt Sie agieren und wie teuer das für kommt ein Befürworter!) uns werden kann . (B) Insgesamt wird hier die Widersprüchlichkeit Ihres (D) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Konstantin von Notz Agierens deutlich . Sie tun die Fragen, über die wir reden, NEN): gerne als lästigen und nicht mehr zeitgemäßen Daten- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe schutz ab, weil Sie offenbar nicht verstehen oder nicht Kolleginnen und Kollegen! Die Unionsfraktion war rich- verstehen wollen, dass es um den Kernbereich unserer tig froh, dass das eben noch ein so gutes Ende genommen Verfassung geht, um Menschenwürde, Persönlichkeits- hat . Trotzdem: Der Kollege hat viele sehr kritische Dinge rechte und Privatsphäre . aufgezählt . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die von Ihnen umzusetzende Richtlinie, die jetzt mit und bei der LINKEN) diesem Umsetzungsgesetz hier aufschlägt, war schon im Europäischen Parlament hochumstritten . Die juristischen Es hilft niemandem, wenn wir wie gestern zwei Bundes- Dienste sowohl des Rates der EU als auch des Europä- präsidenten gemeinsam beklatschen, einen neuen und ischen Parlaments halten sie bis heute für rechtswidrig, einen scheidenden, wenn diese Präsidenten zu Recht und wir auch . Deswegen sagen wir Nein, meine Damen fordern, wir müssten gerade jetzt, in diesen schwierigen und Herren . Zeiten unsere Freiheit, unsere offene Gesellschaft und unseren Rechtsstaat verteidigen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Verdachtsunabhängig werden in Ihrem Entwurf von wenn Sie von der Großen Koalition im Wochentakt ver- allen Bürgerinnen und Bürgern, auch von Ihnen, wenn fassungswidrige Gesetzentwürfe vorlegen . Das ist hoch Sie in ein Flugzeug steigen, 60 Datenkategorien gespei- widersprüchlich . chert, darunter sämtliche Kontaktangaben, Sitzplatz, Ge- päck bis hin zu den Sachbearbeiterinnen des Reisebüros . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Aber natürlich lassen Sie als Große Koalition selbst ein Zuruf von der SPD: Im Wochentakt?) solches Gesetz nicht so, wie es ist, sondern satteln noch Erst letzten Dezember hat der EuGH zum wiederhol- einmal anständig drauf; ten Male die anlasslose Speicherung von Telekommuni- (Zuruf von der CDU/CSU: Zur Sicherheit!) kationsdaten für ungültig erklärt . In seinem Schlussplä- doyer bezeichnet der Generalanwalt das Abkommen denn während die EU-Richtlinie die Speicherung der als unvereinbar mit EU-Grundrechten . Die massiven Fluggastdaten nur von aus der EU und in die EU gehen- Probleme bei dieser Form der Vorratsdatenspeicherung Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22615

Dr. Konstantin von Notz (A) sind evident – Sie wissen das zwar schon alles, aber ich Das wird einer der Schwerpunkte sein, die wir angehen (C) sage es Ihnen noch einmal –: Erstens entstehen unkal- müssen . kulierbare Risiken, wenn Sie solche riesigen Datenmas- sen anhäufen; denn man kann sie nicht sicher speichern . (Frank Tempel [DIE LINKE]: Da machen wir Zweitens entstehen höchst problematische sogenannte mit!) Chilling-Effekte, die unsere Unbefangenheit und Frei- Aber selbst wenn wir etwas für die Deradikalisierung tun, heit, einen Kernwert unserer Gesellschaft, bedrohen . Das heißt das nicht, andere unsichere Flanken nicht zu schlie- sagen nicht nur wir Grünen, das sagen Ihnen auch Verfas- ßen . Es gehört beides dazu . Das ist der Unterschied . Es sungsrichter, aber Sie wollen nicht hören . geht darum, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen . Sie kennen die Argumente . Sie kennen auch die Ur- Wir tun beides, und deshalb ist es richtig . teile des Bundesverfassungsgerichts . Dennoch verabrei- Kollege von Notz, Sie sagen, wir gingen wieder ein- chen Sie unserem Rechtsstaat erneut eine Dosis Gift fort- mal über die Richtlinie hinaus und erfassten auch Flüge schleichender Präventivüberwachung . Sie konzentrieren innerhalb von Europa . sich eben nicht, Herr Kollege Binninger, auf Personen, die verdächtig sind . Das hat sich gestern in London wie- (Dr .Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE der gezeigt . Es war wieder jemand, den man auf dem GRÜNEN]: Ja!) Zettel hatte. Sie schaffen Datenberge von uns allen, von 80 Millionen Bundesbürgerinnen und Bundesbürgern . Ja, völlig zu Recht . Deswegen machen wir nicht mit . (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ganz herzlichen Dank . Wie kommt man dazu, ernsthaft zu glauben, Terrorver- dächtige reisten aus den USA nach Europa oder umge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kehrt, aber nicht von Madrid nach Berlin? Mir ist die sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Sicherheit der Flüge innerhalb von Europa genauso wichtig . Deshalb nehmen wir sie mit auf . Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Vielen Dank, Konstantin von Notz. – Der letzte ordneten der SPD) Redner in dieser Debatte ist der schon angesprochene Clemens Binninger für die CDU/CSU-Fraktion . Man kann doch nicht sagen, dass sie uninteressant sind . (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . Kollege Gunkel, deine Sorge war: Was passiert mit (B) Burkhard Lischka [SPD]) den Daten, die wir an Drittstaaten außerhalb der EU (D) übermitteln? Es ist wahr: Das ist eine Entscheidung, die abgewogen werden muss . Aber wir haben zwei Siche- (CDU/CSU): Clemens Binninger rungssysteme: zum einen den Bezug auf das Bundesda- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! tenschutzgesetz, und zum anderen haben wir im gesam- Ich fürchte, meine Redezeit wird nicht ganz reichen, um ten Gesetz ein so hohes Datenschutzniveau eingezogen, all das auszuräumen, was wieder einmal reflexartig in dass jede einzelne dieser Übermittlungen an einen Dritt- den Raum geworfen wurde . staat außerhalb der EU dem Datenschutzbeauftragten des BKA mitgeteilt werden muss, der das dann noch einmal (Dr .Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE prüfen kann . Wir haben also zwei Sicherungsebenen ein- GRÜNEN]: Und das waren nur vier Minuten!) gezogen . Ich sehe an der Stelle wirklich keine Bedenken . Wenn Sie ernsthaft von Gift für den Rechtsstaat sprechen, Die Debatte über die PNR-Daten bzw . das Fluggastda- dann liegen Sie ziemlich daneben, Kollege von Notz . tenabkommen läuft schon eine gewisse Zeit . Zu Beginn (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg . wurde zu Recht kritisiert, dass es sich um weit mehr als Burkhard Lischka [SPD] – Sylvia Kotting-Uhl 30 Merkmale handelt; sogar Daten zum Essen wurden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen erhoben . Aber viele Merkmale sind nicht mehr drin . Es Sie beweisen! – Britta Haßelmann [BÜND- gibt jetzt 19 Merkmale – das zwanzigste ist nur ein Fol- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Warten wir mal auf gemerkmal –, die sich fast ausschließlich auf die Reise, das nächste Verfassungsgerichtsurteil!) den Reisenden, sein Gepäck und seine Mitreisenden be- ziehen . Das macht auch Sinn; denn wir wollen wissen, Aber vielleicht der Reihe nach; dann vergesse ich wer nach Deutschland kommen will, auch keinen . Kollege Korte, Sie haben recht: Wir müss- ten einiges für die Deradikalisierung tun . (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit wem ich dahin reise?) (Beifall des Abg . Frank Tempel [DIE LINKE]) bevor eine gefährliche Person die Grenze übertritt und wir dann die Kontrolle verlieren . Das gehört zu einem Konzept dazu . Das gilt auch für Ge- fängnisse, wo neue Radikalisierung stattfindet. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr .Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Frank Tempel [DIE LINKE]: Das ist richtig! Darum geht es doch überhaupt nicht, Herr Da sind wir uns einig!) Binninger!) 22616 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Clemens Binninger (A) Es geht nicht nur um Terrorismusbekämpfung, son- – Einen Moment! Nur zuhören! Ich habe bei Ihrem Zuruf (C) dern auch um die Bekämpfung der organisierten Krimi- extra auf Repeat gedrückt . Jetzt kann ich antworten, und nalität, des Waffenhandels, des Rauschgifthandels und die Präsidentin gibt mir zehn Sekunden mehr Zeit . des Menschenhandels . Wir brauchen die entsprechenden Daten, um zu erkennen, wie sich Täter bewegen, und um (Heiterkeit) Netzwerke zu entdecken . Es besteht die Möglichkeit, die Wir speichern die Daten offen gerade einmal sechs Daten mit Mustern abzugleichen . Auf diese Muster hat Monate . Sechs Monate! Dann werden sie entpersonali- auch der Datenschutzbeauftragte Zugriff. Sie dürfen nur siert und anonymisiert . Sie bleiben dann als Blackbox – mit ihm zusammen erstellt werden . So erreichen wir bei- für niemanden sichtbar – länger gespeichert; fünf Jahre des: Wir erkennen Netzwerke und gewährleisten gleich- sind es nicht . Aber niemand kann die Daten mehr erken- zeitig ein hohes Datenschutzniveau . Das ist ein guter nen . Nur sechs Monate sind die Daten sichtbar . Wenn Mittelweg . Es gibt keinen Grund, Kollege von Notz, so man dann auf die Blackbox zugreifen will, braucht man zu skandalisieren und mit der immer gleichen reflexar- eine neue Befugnis, einen konkreten Grund bzw . „Anfas- tigen Behauptung zu argumentieren, die Freiheitsrechte ser“. Von einer massenhaften und unkontrollierten Spei- seien massenhaft gefährdet . cherung sind wir jedenfalls weit entfernt . (Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/ Es ist ein gutes Gesetz, das die Sicherheit verbessert . DIE GRÜNEN]: Das sagen die Gerichte, Herr Wir werden dem Gesetzentwurf zustimmen. Ich hoffe, Binninger!) dass ihr von der SPD das auch tun werdet . Ihnen, meine Damen und Herren von den Grünen, rate ich es . – Jetzt sage ich, was ich sagen will .– Ich habe Angst, dass Terroristen in ein Flugzeug steigen . Ich werde alles Danke schön . dafür tun, dass das nicht passiert . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Dr . Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE ordneten der SPD) GRÜNEN]: Ja, gut!) Das ist meine Sorge . Wir sorgen uns um die Sicherheit . Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Clemens Binninger. – Damit schließe (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ich die Aussprache . ordneten der SPD) Herr Gunkel, ich wünsche Ihnen eine inspirierende Jeder, der ein Flugzeug besteigt – gerade wir Abgeord- Anhörung . Wir beschließen ja öfter Anhörungen . Diese nete tun das sehr oft – und irgendwohin fliegt, wird froh sollten schon eine Funktion haben . (B) sein, zu wissen, dass die Daten der Passagiere, die mit an (D) Bord sind, zuvor von einer Sicherheitsbehörde überprüft Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurden, wurfs auf Drucksache 18/11501 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es (Dr .Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. GRÜNEN]: Das ist nicht der Punkt! Sie wol- Dann ist die Überweisung so beschlossen . len sie jahrelang speichern! Darum geht es!) Danke für die lebendige Debatte . Das ist Demokratie . um zu verhindern, dass Kriminelle, Terrorverdächtige Bleiben Sie dabei! Es geht spannend weiter . oder andere gefährliche Personen mitfliegen. Dafür wird jeder dankbar sein . Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite- GRÜNEN]: Ich will auch nicht, dass solche rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Leute in die S-Bahn steigen!) sowie der Abgeordneten Agnieszka Brugger, Jürgen Trittin, Katja Keul, weiterer Abgeordneter Angesichts dessen ist die Aussage, die Freiheit sei einge- und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schränkt, weit hergeholt . Verhandlungen über einen Atomwaffenver- Herr von Notz, ich habe Ihren Zuruf nicht gehört . botsvertrag aktiv unterstützen Wenn Sie ihn wiederholen, reagiere ich darauf . Drucksache 18/11609 (Dr .Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Überweisungsvorschlag: GRÜNEN]: Es geht doch nicht darum, dass Auswärtiger Ausschuss (f) die Leute ihre Angaben machen, wenn sie in Verteidigungsausschuss ein Flugzeug steigen, sondern es geht darum, Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe dass Sie es jahrelang speichern! Darum geht es!) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Dazu gibt es – Vielen Dank, ich hätte sonst die Sorge um die lange keinen Widerspruch . Dann ist das so beschlossen . andauernde Speicherung fast vergessen . Wenn sich die Kollegen entschieden haben, ob sie (Dr .Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE dabei sein wollen oder nicht, eröffne ich gerne die Aus- GRÜNEN]: Das ist der Punkt!) sprache. – Ich eröffne die Aussprache und gebe als ers- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22617

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) ter Rednerin Inge Höger für die Fraktion Die Linke das Die Bundesregierung allerdings stimmte zusammen mit (C) Wort . den Atommächten Frankreich, Großbritannien, Russland und den USA gegen diese Resolution . (Beifall bei der LINKEN) (Dr .Christoph Bergner [CDU/CSU]: Es wa- ren aber noch mehr dabei!) Inge Höger (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich be- Am 27. März beginnen die Verhandlungen, und Deutsch- ginne mit einem Zitat: land will nicht teilnehmen . Das ist ein Skandal . (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Solange nukleare Waffen existieren, besteht ein re- NIS 90/DIE GRÜNEN) ales Risiko, dass sie eingesetzt werden, mit Absicht oder durch Zufall . Statt ein Verbot von Atomwaffen voranzubringen, droht US-Präsident Trump, das Atomwaffenarsenal der Die Menschheit habe bislang mehrmals sehr viel Glück USA auszubauen und noch umfassender zu modernisie- gehabt, dass es nicht zu einer atomaren Katastrophe ge- ren . Daraufhin meinte der CDU-Politiker Kiesewetter, kommen ist . Im Zitat heißt es weiter: Europa brauche nun einen eigenen Atomschirm . Inzwi- Aber können wir uns weiter auf unser Glück ver- schen wird in Bild, Spiegel, Zeit und FAZ über eine nu- lassen? kleare Bewaffnung Deutschlands debattiert. Das ist- er schreckend . Weder Deutschland noch die Welt brauchen Diese Aussage stammt von Sebastian Kurz, dem Außen- Atombomben. Die Welt muss vielmehr atomwaffenfrei minister Österreichs . Österreich hat sich in den letzten werden . Monaten mit vielen anderen nicht paktgebundenen Staa- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- ten für Verhandlungen über ein Verbot von Nuklearwaf- NIS 90/DIE GRÜNEN) fen eingesetzt . In Deutschland ist eine Mehrheit der Bevölkerung für Bereits nach der Explosion von Atombomben in ein Verbot von Atomwaffen. Auch die Bundesregierung, Hiroshima und Nagasaki am Ende des Zweiten Weltkrie- Frau Merkel, Herr Gabriel – sie alle reden immer wieder ges forderte die UNO im Januar 1946 die Abschaffung viel von Abrüstung. Nun geht es um konkrete Verhand- von Atomwaffen. lungen, und sie wollen nicht dabei sein . Das ist völlig (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE unverständlich . GRÜNEN]: Trump sieht das anders!) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (B) NIS 90/DIE GRÜNEN) (D) Erst 1968 wurde dann der Atomwaffensperrvertrag un- terzeichnet. Er erlaubt den Atomwaffenmächten, ihre Die Begründung für die Nichtteilname ist, eine Atom- Bomben zu behalten, verpflichtet sie aber zur Abrüstung waffenkonvention sei nur sinnvoll, wenn alle Atommäch- und die Nichtnuklearwaffenstaaten darauf, keine Nukle- te von Anfang an dabei seien . Die Logik erschließt sich arwaffen zu erwerben. nicht . Trotz Atomwaffensperrvertrag beharren die offiziellen (Zuruf von der LINKEN: Da ist auch keine Atommächte seit Jahrzehnten auf dem Besitz von Nu­ Logik!) kle­arwaffen. Sie widersetzen sich ernsthaften Verbots- Das Gegenteil ist der Fall. Nur durch Verhandlungen verhandlungen . Die letzten Überprüfungskonferenzen kann man bei der Abrüstung zu einer atomwaffenfreien über die Nichtverbreitung von Atombomben scheiterten Welt vorankommen. Auch Bio- und Chemiewaffen sind an dieser Haltung . Selbst die vor Jahren beschlossenen international geächtet, ohne dass alle von Anfang an Verhandlungen über einen Nahen Osten ohne Massen- dabei waren. Ein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag vernichtungswaffen wurden nicht aufgenommen. macht auch auf all diejenigen Druck, die ihn nicht gleich Nach wie vor gibt es weltweit über 15 000 Atombom- unterzeichnen wollen . ben, und aktuell sollen sie sogar modernisiert werden, (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- auch die nicht weit von meinem Heimatort stationierten NIS 90/DIE GRÜNEN) US-Atomwaffen in Büchel in der Eifel. Wenn die Bundesregierung die Sicherheitsinteressen Die Zerstörungskraft sowie die katastrophalen huma- aller Staaten ernst nimmt, muss sie sich an den Verbots- nitären und ökologischen Folgen eines Einsatzes von verhandlungen beteiligen, gerade als NATO-Mitglied . Nuklearwaffen verbieten es, mit ihnen zu drohen. Trotz- dem sind Atomwaffen die einzigen Massenvernichtungs- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- waffen, die noch nicht völkerrechtlich geächtet sind. Dies NIS 90/DIE GRÜNEN) will eine Initiative von nicht paktgebundenen Staaten än- dern . Im vergangenen Jahr hat sich eine überwältigende Vizepräsidentin Claudia Roth: Mehrheit in der Generalversammlung der Vereinten Nati- Vielen Dank, Inge Höger. – Nächste Rednerin: onen für Verbotsverhandlungen ausgesprochen. Dr . Katja Leikert für die CDU/CSU-Fraktion . (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- GRÜNEN]: Das war gut!) ordneten der SPD) 22618 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) Dr. Katja Leikert (CDU/CSU): Erstens . Natürlich können wir uns wünschen, dass die (C) Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kollegin- Kernwaffenstaaten, die offiziellen und die inoffiziellen, nen und Kollegen! Die Fraktionen Die Linke und Bünd- faktisch gemeinsam zu der Einsicht kommen, dass es für nis 90/Die Grünen beschäftigen uns heute mit einem alle besser wäre, wenn sie auf Kernwaffen verzichteten. gemeinsam formulierten Antrag für eine nuklearwaffen- Die Bereitschaft der Kernwaffenstaaten dazu liegt aber freie Welt . Sie fordern die Bundesregierung auf, an den schlichtweg nicht vor . Das ist eine Tatsache, an der wir Verhandlungen über ein Kernwaffenverbot teilzuneh- nicht vorbeikommen . men . Sie werden wohl keinen hier im Plenum und unter Zweitens . Ihr Antrag ist unrealistisch, nicht nur, weil den Zuhörerinnen und Zuhörern finden, der sich nicht er die Grundlagen der internationalen Machtverteilung wünschen würde, dass es keine Atomwaffen mehr gibt. schlichtweg ignoriert, sondern auch, weil die von Ihnen (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE geforderten Verhandlungen aus unserer Sicht das wert- GRÜNEN]: Man muss etwas dagegen tun!) vollste Vertragswerk, das wir im Bereich der nuklearen Abrüstung haben, gefährden würden: den internationalen – Hören Sie erst einmal zu! – Sie stellen es sich so vor, Nichtverbreitungsvertrag . dass man auf einer Seite Papier zusammen mit ein paar anderen Staaten zusammen aufschreibt, dass Kernwaffen Sie wollen, dass wir am Ende ein Papier haben, auf verschwinden und dass wir sie ächten sollen . dem steht – ich habe das schon erklärt –: Wir ächten Atomwaffen. – Darin stünde aber nichts, was mit den- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE jenigen Staaten passieren soll, die kernwaffenfähiges GRÜNEN]: Ja!) Material schon haben, oder was mit denjenigen Staaten passieren soll, die schon Atomwaffen haben oder ein Pro- Wir alle wissen, dass es sich rein um eine Initiative der gramm für die zivile Nutzung von Atomenergie haben . Nichtkernwaffenstaaten handelt. Das ist ein bisschen so, Wer soll das denn alles überprüfen? als wenn sich die Mäuse eines Viertels dazu verabreden, etwas gegen die Katzen zu tun . Sie riskieren, dass sich die Nichtkernwaffenstaaten aus dem Nichtverbreitungsvertrag zurückziehen und (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE dass damit die Kontrollen ihrer Atomanlagen durch die GRÜNEN]: Die Katzen haben keine Atom- Internationale Atomenergie-Organisation entfallen . Wie waffen!) wollen wir dann in Zukunft eigentlich noch verhindern, – Jetzt hören Sie bitte noch einmal kurz zu! dass nicht die nächsten Staaten nachziehen und heimlich Atomwaffen entwickeln? Es ärgert mich, dass Sie genau Ganz ehrlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der wissen, dass wir schon viel weiter sind mit dem beste- (B) Opposition, ich schätze Sie wirklich sehr – ich bin auch henden Regime, und die etablierten Verifikationsmecha- (D) im Gespräch mit Einzelnen von Ihnen –, gerade wegen nismen über Bord werfen wollen . Ihres abrüstungspolitischen Engagements . Ich respek- tiere das auch und finde gut, dass viele aus friedenspo- Drittens. Alle Verhandlungen innerhalb des Nicht- litischen Ideen heraus und mit viel Idealismus Politik verbreitungsvertrags haben einen entscheidenden Vor- betreiben. Viel von diesem Idealismus teilen wir. Aber teil – auch das wissen Sie –, dass nämlich beide Seiten gerade weil Sie in Ihren Reihen viel Kenntnis im Bereich verhandeln: die Atomwaffenstaaten und die Nichtatom- Abrüstung und Nichtverbreitung von Atomwaffen haben, waffenstaaten. Das ist aus unserer Sicht absolut essen- bin ich, ehrlich gesagt, regelrecht enttäuscht über die- ziell; denn was wir in dieser Welt nicht brauchen kön- sen Antrag . Ich sage es gleich vorab: Ihr Weg gefährdet nen – das ist etwas, was wir alle hier bedauern –, sind ein aus unserer Sicht alle bisherigen Erfolge der nuklearen weiteres Wettrüsten und eine weitere Spaltung in diesem Abrüstung . Bereich . (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Beifall bei der CDU/CSU) Dr .Alexander S . Neu [DIE LINKE]: Nebel- kerzen!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Sie kennen genau das klare Ziel der schwarz-roten Frau Kollegin, erlauben Sie eine Bemerkung oder Koalition: Wir stehen für eine nuklearwaffenfreie Welt. Zwischenfrage von Dr . Neu? Dieses Ziel ist ausdrücklich auch so im Koalitionsvertrag benannt . Sie wissen genau, dass Deutschland weltweit Dr. Katja Leikert (CDU/CSU): ein anerkannter und geschätzter Verhandlungspartner für Ja . nukleare Abrüstung ist . (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE): ordneten der SPD – Inge Höger [DIE LINKE]: Frau Dr . Leikert, Ihnen ist bekannt, dass im Jahre 2010 Sie nimmt ja nicht teil!) fast alle Fraktionen im Deutschen Bundestag gemeinsam einen Antrag verabschiedet haben, der darauf abzielte, Sie wissen auch, dass Deutschland in seiner Rolle als die Atomwaffen aus Deutschland abzuziehen. Ist Ihnen Brückenbauer schon viel erreicht hat . Wenn Sie ganz bekannt, ja? ehrlich zu sich selbst sind, dann wissen Sie auch, dass Ihr Antrag an vielen Stellen schlichtweg weltfremd ist . Ich Im Jahre 2012 hat Deutschland im Rahmen des Chi- möchte Ihnen das gerne erläutern . cagoer NATO-Gipfels seine Souveränität in der Frage Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22619

Dr. Alexander S. Neu (A) des Abzuges der Nuklearwaffen aus Deutschland an die Ich möchte noch ein weiteres Element hervorheben: (C) NATO abgegeben. Ist das Ihrer Auffassung nach ein Bei- Deutschland – auch das wissen Sie – setzt sich schon lan- trag zu einer nuklearwaffenfreien Welt? ge dafür ein, dass der Umfassende Nukleare Teststopp- vertrag gestärkt und weiter ratifiziert wird. Auch dieses Dr. Katja Leikert (CDU/CSU): Engagement wollen wir in Zukunft aufrechterhalten . Vielen Dank für Ihre Frage. Ich stelle gern eine Rück- Sie sehen, dass all diese Schritte zu einem klaren Kon- frage an Sie: Was machen wir hier in Deutschland, wenn zept führen . wir nicht mehr Teil der NATO sind, wenn wir so tun, als würden wir nicht ein Stück weit von der nuklearen Teil- Lassen Sie mich daher feststellen: Solange die macht- habe profitieren? politischen Realitäten – wir können uns andere wün- schen – so sind, wie sie sind, solange einzelne Staaten (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: in der Lage sind, immer wieder zu destabilisieren – dazu Was?) zählt auch Russland; Sie haben gerade nur über die Mo- dernisierung des amerikanischen Atomwaffenarsenals Vizepräsidentin Claudia Roth: gesprochen; das ist sehr einseitig –, Eigentlich haben wir hier jetzt keine Dialogveranstal- (Inge Höger [DIE LINKE]: Wenn der eine tung . anfängt, rüsten die anderen nach!) (Heiterkeit) so lange ist es gut für uns, wenn wir eine starke Allianz Aber gut, kurze Rückfrage . mit unseren NATO-Partnern bilden . So viel Realitätsbe- wusstsein muss sein . Dr. Katja Leikert (CDU/CSU): Deshalb wird die CDU/CSU-Fraktion keinen Antrag Nein, das ist okay . Ich mache jetzt einfach weiter, weil unterstützen, mit dem wir uns aus unseren Bündnis- ich noch einmal zu diesem Punkt komme . pflichten – dazu gehört die nukleare Teilhabe – innerhalb Wir halten den Antrag von Linken und Grünen an die- der NATO verabschieden . Ich sage es hier ganz deutlich: ser Stelle für sinnlos bis gefährlich; ich habe das vorhin Ich möchte im Deutschen Bundestag nichts beschließen, schon ausgeführt . was unsere Sicherheit gefährdet . Die CDU/CSU-Fraktion setzt vielmehr auf das große (Beifall bei der CDU/CSU) Engagement Deutschlands innerhalb des Nichtverbrei- Gleichzeitig wissen wir, dass die nukleare Abrüstung tungsregimes, das wir aufrechterhalten und ausbauen immer wieder neue Impulse braucht . Wir werden auch (B) wollen . Wir verfolgen dabei einen schrittweisen Ansatz, (D) weiterhin alles dafür tun, um hier greifbare Erfolge zu und Sie kennen ihn auch . Ich nenne nur drei Punkte, die erzielen . Was wir dabei aber nicht zulassen werden – das uns dabei besonders wichtig sind . unterscheidet uns von Ihrem Antrag –, ist, dass die her- Ein Baustein dabei ist Transparenz . Ohne Transpa- vorragenden bestehenden Verträge und Initiativen zur renz mit Blick auf die Atomwaffenarsenale der Atom- nuklearen Abrüstung für ein einziges wirkungsloses Blatt waffenstaaten – das ist uns allen, die wir hier sind, Papier geopfert werden . bewusst – werden wir keine messbaren Fortschritte er- zielen . Deshalb werden wir auch weiterhin innerhalb der Ich möchte Ihnen aber abschließend eine Brücke bau- Non-Proliferation and Disarmament Initiative – Sie wis- en und freue mich im Zuge der Beratung über richtig gute sen, wie engagiert Deutschland da ist – in den Dialog mit Initiativen für eine nuklearwaffenfreie Welt, die wir alle den fünf Atommächten treten . wollen . (Zuruf von der LINKEN: Was machen Sie Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend . mit Israel?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- So haben wir es schon geschafft, mehr Transparenz in ordneten der SPD) Bezug auf die Kernwaffenarsenale der Atomwaffenstaa- ten zu bekommen . Wir alle sind natürlich noch nicht be- Vizepräsidentin Claudia Roth: sonders zufrieden mit den Fortschritten, die dort erzielt wurden, aber wir wollen an dieser Initiative festhalten Vielen Dank, Katja Leikert. – Nächste Rednerin: und sie weiter ausbauen . Agnieszka Brugger für Bündnis 90/Die Grünen . Zu unserem schrittweisen Ansatz gehört auch, dass Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wir die Produktion von spaltbarem Material unterbinden NEN): wollen . All das erreichen Sie nicht mit Ihrem nuklearen­ Bann . Hier haben wir eine konkrete Resolution, die Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Deutschland gemeinsam mit Kanada und den Nieder- Kollegin Katja Leikert, der Vergleich mit den Mäusen landen in die UN-Generalversammlung eingebracht hat . und Katzen ging doch etwas am Kern der Debatte vorbei . Eine Expertengruppe wird mögliche Vertragselemente (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) für einen Fissile Material Cut-off Treaty identifizieren. Wir haben dabei sichergestellt, dass zumindest vier Ich möchte darauf gerne mit einem Zitat antworten, das Kernwaffenstaaten eng eingebunden sind. so lautet: 22620 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Agnieszka Brugger (A) Der Mensch erfand die Atombombe, doch keine schwierigen außenpolitischen Zeiten, in denen wir uns (C) Maus der Welt würde eine Mausefalle konstruieren . gerade befinden, ist das doch genau das Gegenteil von dem, was diese Welt gerade dringend benötigt . Das hat niemand Geringerer als Albert Einstein gesagt . Angesichts der neuen Eiszeit zwischen Russland und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den USA braucht es doch jetzt mehr denn je klare, klu- und bei der LINKEN) ge Stimmen der sicherheitspolitischen Vernunft, die für Die beiden größten Atommächte der Welt, Russland Rüstungskontrolle und Abrüstung streiten, und die USA, verfügen über 90 Prozent der weltweiten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nuklearwaffenarsenale. Beide haben ihre vor Jahrzehn- und bei der LINKEN) ten gegebenen Versprechen nicht erfüllt. Statt abzurüsten, werden in Moskau und in Washington gerade gigantische aber nicht eine Bundesregierung, die ihren guten Ruf und Beträge in die Modernisierung dieser Waffen investiert. ihre abrüstungspolitische Glaubwürdigkeit aufs Spiel Beide Seiten blockieren Fortschritte und stellen mit ih- setzt . ren Taten und Ankündigungen bestehende Abrüstungs- vereinbarungen infrage und damit auch auf eine harte Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Probe . Donald Trump und Wladimir Putin spielen sogar wir fordern Sie im gemeinsamen Antrag der Linken und mit der Gefahr eines neuen Wettrüstens . Liebe Kollegin- der Grünen auf: Lassen Sie uns zu dem Konsens von nen und Kollegen, da ist es doch kein Wunder, dass über 2010 zurückkehren, wo wir gemeinsam – alle Fraktionen 100 Staaten endgültig der Geduldsfaden gerissen ist . in diesem Hohen Haus – den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland gefordert haben! Sorgen wir zusammen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dafür, dass ihr Verbleib über die Modernisierung nicht und bei der LINKEN) zementiert wird, dass nicht gleichzeitig Millionenbeträ- ge für die Anpassungen am Trägersystem Tornado ver- Nicht nur die Zivilgesellschaft streitet für ein Verbot wendet und verschwendet werden! Die Bundesregierung dieser grausamen Waffen, damit sie endlich – wie ande- muss ganz klar und unmissverständlich diesen finanziell, re Massenvernichtungswaffen, die biologischen und die völkerrechtlich und politisch aberwitzigen Rufen nach chemischen – mit einem internationalen Vertrag geächtet europäischen oder gar deutschen Atomwaffen eine Ab- werden. Vielmehr haben 123 Staaten in der Generalver- sage erteilen . sammlung der Vereinten Nationen ein klares Zeichen gegen diesen quälenden Stillstand gesetzt und für Ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN handlungen über einen Verbotsvertrag gestimmt. Es ist und bei der LINKEN) eine überwältigende Mehrheit, und es ist eine historische (B) Entscheidung . Außerdem ist es ein überfälliger und rich- Wir fordern Sie aber vor allem dazu auf, dass die Bun- (D) tiger Schritt . desregierung das längst überfällige Verbot dieser barbari- schen Massenvernichtungswaffen nicht weiter behindert (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und boykottiert, sondern es mit Kraft und Ideen unter- und bei der LINKEN) stützt . Frau Kollegin Leikert, wenn Sie sich damit ausein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN andergesetzt hätten, hätten Sie auch festgestellt, dass und bei der LINKEN) niemand den Atomwaffensperrvertrag oder Nichtverbrei- tungsvertrag abschaffen will, sondern es handelt sich um Als Bundesregierung haben Sie in den letzten Jahren im- eine Ergänzung und Stärkung der bisherigen Abrüstungs- mer wieder von einer neuen deutschen Verantwortung in regime . der Außen- und Sicherheitspolitik gesprochen . Statt sich hier mutlos im Schatten der Nuklearwaffenstaaten weg- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zuducken, haben Sie hier die Gelegenheit, sie ganz kon- und bei der LINKEN) kret zu übernehmen . Tun Sie es! Was hat dann die schwarz-rote Bundesregierung ge- Vielen Dank. tan, die ja immer erklärt, sich dem Ziel einer atomwaf- fenfreien Welt verpflichtet zu fühlen? Sie hat nicht mit Ja, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht einmal mit Enthaltung, sondern mit Nein gestimmt . und bei der LINKEN) Allein das ist ein abrüstungspolitisches Armutszeugnis . Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Vielen Dank, Agnieszka Brugger. – Die letzte Red- nerin in dieser Debatte: Dr .Ute Finckh-Krämer für die Es geht ja noch weiter . Die Bundesregierung sagt so- sozialdemokratische Fraktion . gar Nein zur Teilnahme an den Gesprächen . Damit boy- kottieren Sie diesen historischen Schritt . Das ist eine gro- (Beifall bei der SPD) ße Fehlentscheidung . Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer oben auf den Tribü- Das ist nicht nur mutlos, sondern auch eine Schwächung nen! Ich möchte mich zunächst bei all denen bedan- der Vereinten Nationen und des Multilateralismus. In den ken, die sich Gedanken um nukleare Abrüstung machen Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22621

Dr. Ute Finckh-Krämer (A) und das Ziel, das uns, glaube ich, alle eint – dass diese dieser Richtung nachzudenken, Tagungen auszurichten, (C) schrecklichen Waffen irgendwann wieder von der Erde Konferenzen von Fachleuten sind einige der Aktivitäten verschwinden –, unterstützen sowie mit uns darüber dis- der Bundesregierung, und darüber bin ich froh . kutieren . Auch möchte ich mich bei denen bedanken, die im Augenblick Briefe an Außenminister Gabriel schrei- Wir waren am 8 .März dieses Jahres als Unteraus- ben, in denen sie ihn bitten, sich an den Verhandlungen schuss „Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbrei- zu beteiligen, sowie bei denjenigen, die schon über diese tung“ eingeladen, uns zum Ende der fünften derartigen Verhandlungen, die jetzt Ende dieses Monats beginnen, Konferenz, die hier in Berlin stattgefunden hat, von den hinausschauen und sich überlegen, was es noch alles an Arbeitsgruppenleitern dieser Organisation briefen zu las- guten Gelegenheiten gibt, abrüstungspolitisch aktiv zu sen, was sie diskutiert und beschlossen haben . Bei die- werden . sem Briefing waren ein Kollege von der CDU und ich dabei . Die anderen hatten leider keine Zeit . Bei Inge (Beifall des Abg . Dr .Alexander S . Neu [DIE Höger weiß ich, dass das mit Schwierigkeiten am Mitt- LINKE]) wochnachmittag in Sitzungswochen zusammenhängt . Da ist die SPD mit fünf Mitgliedern im Menschenrechtsaus- In der Resolution 71/258 des UN-Sicherheitsrates, mit schuss etwas besser aufgestellt . der die Verhandlungen über den Ban Treaty, einen Atom- waffenverbotsvertrag, beschlossen wurden, ist auch der Insofern: Deutschland ist aktiv im Bereich der nukle- Beschluss der UN-Generalversammlung von 2013 be- aren Abrüstung . Deutschland gehört zu der Gruppe der kräftigt worden, ein „high-level meeting … on nuclear Freunde des Nichtverbreitungsvertrags und zu den Befür- disarmament“ durchzuführen . Das hieße wahrscheinlich, wortern eines Nuklearen Teststoppabkommens . Einige dass eine solche Konferenz im September 2018 stattfän- von uns waren vor etwa anderthalb Jahren im Auswärti- de und eine Vorbereitungskonferenz im Januar oder Fe- gen Amt, wo eine Ausstellung zu der Verifikationsorgani- bruar . Eine solche High-Level-Konferenz zu Atomwaf- sation eröffnet wurde, die zu dem noch gar nicht in Kraft fen hat es noch nie gegeben . Gestern habe ich deswegen befindlichen Nuklearen Teststoppabkommen gehört. Das im Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskontrolle und heißt: Auch in diesem Bereich ist Deutschland aktiv und Nichtverbreitung“ die Vertreterin der Bundesregierung versucht zum Beispiel zu erreichen, dass die noch feh- danach gefragt, ob die Bundesregierung sich darauf vor- lenden Annex-B-Staaten das Abkommen unterzeichnen bereitet, an dieser High-Level-Konferenz teilzunehmen . bzw ,. soweit sie es schon unterzeichnet haben, auch rati- Die Antwort lautete: Ja. Ich finde es einen wichtigen fizieren, damit dieses wichtige Rüstungskontrollabkom- Schritt, dass die Bundesregierung an einem solchen Be- men in Kraft treten kann, mit dem auch ein Teil der Zie- schluss, der vor der neuen Eskalation zwischen Russland le, die mit dem Ban Treaty verfolgt werden, verwirklicht (B) und den USA oder Russland und der NATO gefasst wor- werden soll, nämlich das Verbot von Atomwaffentests. (D) den ist, festhält . Ein anderer Punkt, wo es meiner Ansicht nach gute Vizepräsidentin Claudia Roth: deutsche Aktivitäten gibt, ist die International Partner­ Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ship for Nuclear Disarmament Verification. Denn wir -bemerkung von Dr . Neu? wissen: Wenn Atomwaffen verboten werden, wird es viel länger als bei den Chemiewaffen dauern, bis sie tatsäch- lich alle abgerüstet sind. Bei den Chemiewaffen ist der Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD): Verbotsvertrag 1997 in Kraft getreten. Man hat damals Ja . gehofft, dass man innerhalb von zehn Jahren alle Che- miewaffen der Unterzeichnerstaaten vernichten kann. Im Augenblick ist die Schätzung, dass die Vernichtung der Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE): US-amerikanischen Chemiewaffen noch bis 2023 dauert. Frau Kollegin Finckh-Krämer, Sie haben eine Viel- zahl von Maßnahmen und Initiativen dargelegt . Sie ha- (Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE ben sich nicht dazu geäußert, wie sich die SPD zu unse- GRÜNEN]: Ein Grund mehr, heute dafür zu rem Antrag verhält . Können Sie dazu noch etwas sagen? stimmen!)

Diese International Partnership hat den Vorteil, dass Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD): auf Einladung der USA seit 2014 tatsächlich bei fünf Treffen darüber geredet wurde, was denn notwendig ist, Wir diskutieren den Antrag in erster Lesung, das heißt, um Nuklearwaffen so abrüsten und zerstören zu können, es folgt noch eine Ausschussbefassung . So wie er im Au- dass dies für die anderen Vertragspartner nachvollziehbar genblick vorliegt, werden wir vermutlich gemeinsam mit ist. Das ist eine Parallele zum Chemiewaffenabkommen; der Union mit Nein stimmen . denn beim Chemiewaffenabkommen wurde ja nicht nur (Dr .Alexander S . Neu [DIE LINKE], an die ein Abkommen beschlossen, sondern es wurde auch eine SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ge- Verifikations- und Überprüfungseinrichtung geschaffen: wandt: Habt ihr gehört?) die Organisation für das Verbot chemischer Waffen. Die- se kontrolliert seitdem alle Einrichtungen, die Chemie- Aber uns ist wichtig, dass auch ein solcher Antrag zur waffen vernichten. Aber sie kontrolliert auch Einrichtun- Diskussion beiträgt . Deswegen habe ich erwähnt, wie gen, Firmen und Labore, die mit Substanzen arbeiten, aus wichtig es aus meiner Sicht ist, dass sich zivilgesell- denen erneut Chemiewaffen gebaut werden könnten. In schaftliche Gruppen, dass wir uns im Plenum mit dem 22622 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Dr. Ute Finckh-Krämer (A) Antrag, mit dem Vorhaben eines Atomwaffenverbotsver- gibt es keine weiteren Vorschläge. Dann ist die Überwei- (C) trags befassen . sung so beschlossen . (Beifall bei der SPD) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Ich habe aufgezeigt, was wir mittragen, was das Aus- Erste Beratung des von der Bundesregierung wärtige Amt als federführendes Ministerium für Abrüs- eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Geset- tung und Rüstungskontrolle mitträgt, was zumindest im zes zur Änderung des Energiesteuer- und des Geiste dieser Verhandlungen ist. Ich persönlich kann Stromsteuergesetzes mir vorstellen, dass nach der ersten Verhandlungswoche Drucksache 18/11493 vielleicht einige der Ängste, die die Kollegin Leikert ge- schildert hat, nicht mehr ganz so groß sind und dass dann Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) die Frage, wie man mit der zweiten und dritten Verhand- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz lungsrunde umgeht, hier neu diskutiert wird . Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ich finde auch wichtig, dass bei der Frage – das hat Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Frau Höger beschrieben –, bei der sich Russland und die Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor­ USA im Augenblick ineinander verhaken, nämlich wie sicherheit man die bilateralen Abrüstungs- oder Rüstungskontroll­ Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO abkommen im Bereich der nuklearen Waffen aufrechter- Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden .– hält, am Leben erhält, Deutschland wiederum aktiv ist Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch 2). und zum Beispiel in der Deep Cuts Commission, einer trilateralen Kommission mit Wissenschaftlern aus Russ- Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- land, den USA und Deutschland, diskutiert, wie die zum wurfs auf Drucksache 18/11493 an die in der Tagesord- Teil gefährdeten bilateralen Abkommen wie der INF-Ver- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .– Auch trag am Leben erhalten werden können, wie die gegen- dazu gibt es keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist seitigen Vorwürfe geklärt werden können. Ich weiß von die Überweisung so beschlossen . einem Wissenschaftler der Deep Cuts Commission, dass Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: der INF-Vertrag dort aktuell Thema ist und dass es dazu ein Papier geben wird. Ich finde es einen wichtigen Bei- Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- trag der Bundesregierung und des Außenministeriums, regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- dass solche Wissenschaftlerkommissionen unterstützt zes zur Reform der strafrechtlichen Vermö- werden . Damit leisten wir einen Beitrag zu dem Ziel, das gensabschöpfung (B) wir gemeinsam mit denjenigen haben, die aus verständli- Drucksachen 18/9525, 18/10146, 18/10307 (D) chen Gründen einen Atomwaffenverbotsvertrag fordern, Nr. 7 nämlich das Ziel einer atomwaffenfreien Welt. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- (Beifall bei der SPD) ses für Recht und Verbraucherschutz (6. Aus- schuss) Vizepräsidentin Claudia Roth: Drucksache 18/11640 Vielen Dank, Kollegin Finckh-Krämer. – Damit schließe ich die Aussprache . Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden .– Auch damit sind Sie einverstanden 3). Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/11609 an die in der Tagesordnung aufge- Wir kommen zur Abstimmung . Der Ausschuss für führten Ausschüsse vorgeschlagen . Sind Sie damit ein- Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Be- verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen . schlussempfehlung auf Drucksache 18/11640, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: chen 18/9525 und 18/10146 in der Ausschussfassung an- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- zunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur in der Ausschussfassung zustimmen wollen, jetzt um das Änderung des Europol-Gesetzes Handzeichen .– Wer stimmt dagegen? – Dann gibt es kei- ne Enthaltungen . Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Drucksache 18/11502 Beratung angenommen . Zugestimmt haben CDU/CSU Überweisungsvorschlag: und SPD, dagegen waren die Linke und Bündnis 90/Die Innenausschuss (f) Grünen . Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Dritte Beratung Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden . Sind Sie damit einverstanden? – Gut 1). und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die diesem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erhe- Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- ben .– Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann wurfs auf Drucksache 18/11502 an die in der Tagesord- ist der Gesetzentwurf angenommen . Zugestimmt haben nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .– Dazu 2) 5 Anlage 1) 4 Anlage 3) 6 Anlage Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22623

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) CDU/CSU und SPD, dagegen waren Bündnis 90/Die Es stand dort ursprünglich mal die Forderung im (C) Grünen und die Linke . Raum, dass es eine allgemeine Fortbildungspflicht für Anwälte geben soll Ich übergebe und wünsche Ihnen noch einen schönen Restabend . (Beifall des Abg . Harald Petzold [Havelland] [DIE LINKE]) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: – sicherlich, man kann nicht gegen Fortbildung sein –, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: und zwar in dem Sinne, dass sich Anwälte grundsätzlich Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- jedes Jahr fortbilden müssen, zusätzlich zu den bereits regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes bestehenden Fortbildungspflichten, die die meisten An- zur Umsetzung der Berufsanerkennungsricht- wälte in diesem Land, zum Beispiel die Fachanwälte, linie und zur Änderung weiterer Vorschriften haben . im Bereich der rechtsberatenden Berufe Wir haben diese Satzungsermächtigung, die ursprüng- Drucksachen 18/9521, 18/9948, 18/10102 lich im Regierungsentwurf vorgesehen war, in der Koa- Nr. 13 lition sehr ernsthaft geprüft, und wir sind entsprechend Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- dem Struck’schen Gesetz zu dem Ergebnis gekommen, ses für Recht und Verbraucherschutz (6. Aus- dass wir uns dem Vorschlag im Entwurf nicht anschlie- schuss) ßen werden, sondern uns als Parlamentarier dafür einset- zen, dass diese Satzungsermächtigung gestrichen wird . Drucksache 18/11468 Ich gebe zu, es gab deswegen Kritik von den Berufs- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Christian verbänden . Die Kritik von einigen war teilweise sogar Flisek, SPD-Fraktion . sehr schrill; das muss man auch sehr deutlich sagen . Aber (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ich möchte Ihnen erklären, warum wir der Meinung sind, der CDU/CSU) dass das der richtige Schritt ist . Beim Anwaltsmarkt haben wir es mit einem Markt Christian Flisek (SPD): zu tun, der sich seit vielen Jahren spezialisiert . Es wur- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolle- de in den letzten Jahren eine Vielzahl von Fachanwalt- ginnen und Kollegen! Gut Ding will manchmal Weile schaften eingeführt . Jeder, der diesen Bereich einigerma- haben, und so ist es auch mit der Umsetzung der Be- ßen kennt, weiß, wie mühsam es mittlerweile ist, einen (B) rufsanerkennungsrichtlinie . Wir haben mit diesem Um- Fachanwaltstitel zu erwerben und auch zu halten . Wenn (D) setzungsgesetz und den Änderungen am Berufsrecht der Sie mit der Materie vertraut sind, dann wissen Sie, dass rechtsberatenden Berufe eine EU-Richtlinie umgesetzt, man, wenn man Fachanwalt ist, sich mittlerweile jedes und wir sind jetzt durchaus ein wenig hinterher; die Frist Jahr 15 Stunden fortzubilden hat . ist eigentlich abgelaufen . Aber das lag mit Sicherheit nicht nur am Parlament; das muss man mal sehr deutlich (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: so sagen . Wir jedenfalls haben diesen ganzen Komplex Das ist ja wohl das Minimum!) verschiedener Änderungen in der Koalition sehr ordent- Das ist gut, und das ist richtig, aber wir glauben: Gerade lich beraten . Es ist ein durchaus komplexer Katalog von auf einem Anwaltsmarkt, der sich seit Jahren wegen der Einzeländerungen, die wir hier abzuarbeiten hatten, und Fachanwaltschaften so ausdifferenziert, bedarf es nach- wir haben es uns damit nicht leicht gemacht . Insofern hat träglich nicht noch einer allgemeinen Fortbildungspflicht das Ganze etwas Zeit in Anspruch genommen . Zuletzt, für Anwälte, auf den letzten Metern, ist es zu Verzögerungen gekom- men, die zumindest wir als SPD-Fraktion nicht direkt zu (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: verantworten haben . Die gibt es ja schon! Das steht doch im Ge- (Elisabeth Winkelmeier-Becker [CDU/CSU]: setz!) Wir auch nicht!) die, wenn man der BRAK, der Bundesrechtsanwaltskam- Aber es ist heute ein guter Tag, weil es überhaupt zu die- mer, und dem Anwaltsverein hätte glauben wollen, wei- ser Beratung kommt . tere 10 bis 15 Stunden jedes Jahr in Anspruch genommen hätte . Die Reformen – das habe ich bereits gesagt – lösen zahlreiche Probleme im Berufsrecht der rechtsberaten- (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: den Berufe . Ich möchte mich in meiner Rede – das sage Es geht doch nur um die Ausgestaltung!) ich hier gleich zu Beginn – auf einen Bereich konzen- trieren, nämlich auf eine Forderung, die vom Deutschen Wir sind der Überzeugung – Frau Keul, Sie haben Anwaltverein und von der Bundesrechtsanwaltskammer gleich die Gelegenheit, in Ihrer Rede darauf hinzuwir- erhoben worden ist: Es geht um die Fortbildungspflicht ken –, dass man die Anwälte auch im Sinne eines Funkti- für Anwälte allgemein . onierens des Anwaltsmarktes nicht überfordern darf . (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Dr .André Hahn [DIE LINKE]: Bei der SPD Und vom Bundesjustizministerium!) könnte das vielleicht helfen!) 22624 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Christian Flisek (A) Deswegen sage ich Ihnen sehr deutlich: Ich glaube, dass der nicht zu machen . Insofern bleibt es jetzt dabei, dass (C) wir mit einer allgemeinen Fortbildungspflicht weit über wir an dieser Stelle keine Regelung mehr haben . das Ziel hinausgeschossen wären . (Dr .André Hahn [DIE LINKE]: Aber mit uns (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ginge es!) Das steht doch jetzt schon im Gesetz!) – Herr Hahn, schauen wir mal . Es dauert ja nicht mehr Ich sage Ihnen noch etwas: Wir tun hier immer so, lange: Am 24 . September sind Wahlen . Dann werden wir als wenn der Deutsche Anwaltsverein oder die Bundes- überlegen, was mit anderen Parteien so möglich ist . rechtsanwaltskammer hier völlig uneigennützig agieren würden . Das ist mitnichten der Fall . Wenn man sich die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Zahl der zugelassenen Anwälte in Deutschland anschaut und wenn man sich anschaut, wer im Wesentlichen An- Aber warten wir erst einmal ab, ja? bieter solcher Fortbildungsleistungen ist, dann stellt man fest, dass das Fortbildungsinstitute sind, die vom An- Meine Damen und Herren, das ist aber nicht das Ein- waltsverein oder von der BRAK geführt werden . Wenn zige, das wir geregelt haben . Wir haben zum Beispiel Sie die durchschnittlichen Preise eines Tagesseminars auch – und das ist mir persönlich wichtig – bei den Syn- hochrechnen, dann stellen Sie fest: Wir reden hier über dikusanwälten dafür gesorgt, dass ihnen für den Zeitraum einen zusätzlichen Markt, den sich die Damen und Her- zwischen Antrag auf Zulassung und Erteilung der Zulas- ren verschaffen wollten, dessen Umsatz mindestens im sung keine versorgungsrechtlichen Nachteile entstehen . dreistelligen Millionenbereich liegt . Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt . (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich möchte zum Schluss noch erwähnen, dass wir da- Das ist wirklich haarsträubend!) für gesorgt haben, dass in Zukunft bei Kammerversamm- Dass das Angebot völlig uneigennützig sei und dass das lungen bei der Vorstandswahl die Briefwahl obligatorisch Angebot sozusagen nur von dem Gedanken der Quali- ist . Das ist mir ein ganz wichtiger Punkt, weil ich aus tätssicherung getragen sei, das kann ich, offen gespro- einem Kammerbezirk komme, in dem sich viele Tausend chen, nicht glauben . Anwälte an dieser Wahl nicht beteiligen . Es geht darum, dafür zu sorgen, dass man nicht zum Zwecke der Wahl Wir haben in der Koalition intensiv über das Thema zur Versammlung hinfahren muss, sondern sich auch per debattiert, und wir sind zu dem Ergebnis gekommen, Briefwahl an einer solchen Wahl beteiligen kann . dass wir eine allgemeine Fortbildungspflicht für Anwälte zum jetzigen Zeitpunkt nicht wollen, weil wir glauben, (B) dass der Anwaltsmarkt derzeit Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (D) Herr Kollege Flisek . (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Steht jetzt schon im Gesetz!) auch im Sinne der rechtssuchenden Kreise, der Verbrau- Christian Flisek (SPD): cherinnen und Verbraucher, über ausreichende Qualitäts- Ich komme zum Schluss .– Es geht darum, die Legi- siegel und auch über ausreichende Titel verfügt, die alle timation von solchen Wahlen zu stärken . Ich glaube, das mit Fortbildungspflichten behaftet sind, durch die dafür ist ein ganz guter Schritt . Was bei der Bundestagswahl Sorge getragen wird, dass Qualität am Markt existiert gang und gäbe, üblich und möglich ist, das muss in Zu- und dass transparent nachgefragt werden kann . kunft auch bei Kammerwahlen möglich sein . Aber wir werden von der Opposition gleich sicherlich hören, wa- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- rum das alles des Teufels ist . ordneten der SPD – Dr .André Hahn [DIE LINKE]: Na ja! Na ja!) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich möchte an dieser Stelle noch einmal den Vorschlag NEN]: Nein!) der SPD-Fraktion ansprechen . Wir haben durchaus ver- Ich bin gespannt, meine Damen und Herren . sucht, einen sachgerechten Kompromiss vorzulegen . Wir haben gesagt: Wenn eine solche Fortbildungspflicht ein- In diesem Sinne bitte ich um Zustimmung zu diesem geführt wird, dann wollen wir dafür sorgen, dass Fachan- Gesetzentwurf . waltsfortbildungen anerkannt werden und dass junge An- wälte in den ersten fünf Jahren nicht überfordert werden . Herzlichen Dank . All das haben wir vorgeschlagen . Ich muss sagen: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Ich fand es schade, dass es vonseiten der Union keine ten der CDU/CSU – Dr .André Hahn [DIE Zustimmung zu unserem Vorschlag gab. Wir hätten uns LINKE]: Ganz so schlimm ist es gar nicht!) durchaus vorstellen können, gemeinsam einen Kom- promissvorschlag zustande zu bringen, mit dem wir ein Stück weit auf den Anwaltsverein und auf die Bundes- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: rechtsanwaltskammer zugegangen wären . Wir haben von Vielen Dank. – Nächster Redner ist für die Fraktion beiden Institutionen das Signal bekommen, dass sie mit Die Linke der Kollege Jörn Wunderlich . unserem Kompromissvorschlag einverstanden sind . Aber das war mit den Kolleginnen und Kollegen der Union lei- (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22625

(A) Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Ich weiß gar nicht, was die Kolleginnen und Kollegen (C) von der Koalition gegen Sanktionen haben. Bei Hartz IV Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sind Sie doch auch nicht so zimperlich . Liebe Teufelchen! (Beifall des Abg . Harald Petzold [Havelland] (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU, [DIE LINKE]) der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE Die Koalition fand die von der Bundesregierung vor- GRÜNEN]: Die links oder die rechts? – Britta geschlagene Regelung gut, die Opposition findet sie gut, Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: die betroffenen Berufsverbände finden sie gut. Alle wol- Also ich kann nicht gemeint sein!) len das, und trotzdem wird diese Regelung wieder ge- strichen . Das soll man mal einem erklären . Ich kann das In erster Linie handelt es sich hier um ein begrüßenswer- keinem erklären . tes Vorhaben. Die seit langem geforderten an vielen Stel- (Christian Flisek [SPD]: Ich kann das schon len sinnvollen Änderungen und die sprachliche Straffung erklären!) sind ja ganz gut, aber dann hört es auch schon fast auf . – Ja, das meinen Sie, dass Sie das erklären können . Aufgrund meiner knappen Redezeit möchte ich mich (Christian Flisek [SPD]: Das habe ich doch hier auf zwei Punkte beschränken, die Herr Flisek schon gerade gemacht!) angesprochen hat . Es geht um die Konkretisierung der anwaltlichen Fortbildung . Dieses Thema ist bislang ge- – Das war aber ein untauglicher Versuch – um im Juris- regelt in § 43a der Bundesrechtsanwaltsordnung . Dort tendeutsch zu bleiben . heißt es: „Der Rechtsanwalt ist verpflichtet, sich fortzu- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . bilden.“ Die Fortbildungspflicht besteht also schon. Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nachdem bekannt wurde, dass die Koalition die Genau! – [CDU/CSU]: Eben!) Weiterbildungspflicht aus dem Gesetzentwurf streichen will – sie wurde letztlich auch gestrichen – meldeten Jetzt will man den Kammern die Möglichkeit eröff- sich sowohl die Bundesrechtsanwaltskammer als auch nen, das auszugestalten, Sanktionen zu verhängen und der Deutsche Anwaltsverein und baten darum, diese die Briefwahl zu ermöglichen . So war es im ursprüng- verpflichtende Fortbildung der Satzungsversammlung lichen Gesetzentwurf vorgesehen . Zu den geplanten der Bundesrechtsanwaltskammer zu ermöglichen . Wenn (B) Änderungen gehörte auch die Einführung der Pflicht, jetzt wieder das Argument kommt, der Vorstand der Bun- (D) im Zusammenhang mit der Zulassung Kenntnisse im desrechtsanwaltskammer, die Vorstände aller Kammern Anwaltsrecht zu erlangen; auch das war erfreulich . Dies seien mangels Teilnahme der Mitglieder an den Vor- sollte den Verbraucher und letztlich auch den Anwalt standswahlen gar nicht hinreichend legitimiert – solche schützen und absichern . Man muss sich doch nur einmal Argumente habe ich gehört –, den Vergleich mit anderen Berufsgruppen anschauen, (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mit Ärzten oder Lehrern beispielsweise, für die die Fort- NEN]: Bei uns waren es wieder ganz viele!) bildung auch bindend ist . Und um den Start in die An- waltstätigkeit nicht zu sehr zu erschweren – das ist schon möchte ich Sie fragen, auf welche Legitimität Sie sich angesprochen worden –, sollte die Teilnahme an diesen berufen, wenn hier im Parlament Gesetzentwürfe mit 30 Lehrveranstaltungen auch noch im ersten Jahr nach der Jastimmen verabschiedet werden . Zulassung möglich sein . (Christian Flisek [SPD]: Au, au, au! – Katja Jetzt komme ich zum Kernstück der Fortbildungs- Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sollen pflicht: Auch die Regelung, dass seitens der Kammer wir auch Briefwahl machen?) Sanktionen bei Nichtbeachtung der Pflicht verhängt wer- Darüber hinaus sollte die Briefwahl durch jeweiligen den können, wäre sinnvoll gewesen . Das Tolle ist, dass Kammerbeschluss und nicht generell eröffnet werden. der Kollege Flisek von der SPD in der ersten Lesung die- Gerade durch die unterschiedliche Größe der einzelnen se Regelung noch als sinnvoll erachtet hat . Kammerbezirke – das ist angesprochen worden – sollte diese Entscheidung den einzelnen Kammern im Rahmen (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg . ihrer funktionalen Selbstverwaltung vorbehalten bleiben . Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Christian Flisek [SPD]: Ein Flickenteppich Er hat in der ersten Lesung vor sechs Monaten hier ge- in Deutschland, oder was?) sagt – ich zitiere aus dem Protokoll –: Nun aber soll die verbindlich vorgesehene Briefwahl in der Form erfolgen können, dass die Briefwahlzettel auch ... eine Fortbildungspflicht ohne entsprechenden in der Kammerversammlung abgegeben werden können . Druck zur tatsächlichen Durchsetzung der Ver- Tolle Regelung! pflichtung ist inkonsequent. Gut ist, dass die Koalition mit ihrem Änderungsan- (Dr .André Hahn [DIE LINKE]: Das glaube trag – so wie auch die Linke – dafür gesorgt hat, dass ich jetzt nicht!) die Änderung im Rechtsdienstleistungsgesetz dergestalt 22626 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Jörn Wunderlich (A) vorgenommen wird, dass unqualifizierte Rechtsdienst- zu 2 000 Euro zu verhängen . Diese Regelungsvorschläge (C) leistungsangebote aus dem Ausland heraus nicht mehr lehnt die Unionsfraktion aus guten Gründen ab . möglich sein sollen . Aber dies allein kann die bestehen- den Mängel nicht ausgleichen . (Beifall bei der CDU/CSU – Dr .André Hahn [DIE LINKE]: Ohne gute Gründe!) Alles in allem wird meine Fraktion daher dieses Ge- setz ablehnen, es sei denn, der Änderungsantrag der Es mag sein, dass Berufsanfängern berufsrechtliche Grünen findet hier in diesem Hohen Hause Zustimmung. Kenntnisse fehlen . Um diese Kenntnisse zu vermitteln, Dann können wir dem Gesetz zustimmen, weil er den bedarf es aber keiner Fortbildungsstunden und erst recht alten Rechtsstand wiederherstellte, so wie vom Justizmi- keines Gesetzes . Es würde ausreichen, wenn die Be- nisterium und der Regierung gewollt, von den Beteilig- rufsanfänger direkt nach der Erstzulassung von der je- ten gewünscht und ursprünglich von allen Parlamentari- weiligen Kammer nachdrücklich durch eine entsprechen- ern hier im Haus auch gewollt . de Zusammenfassung auf einem Merkblatt informiert würden, wo auf die wichtigsten Vorschriften hingewie- Danke für die Aufmerksamkeit . sen wird . (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer soll das jetzt glauben?)

Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Das sind immerhin studierte Leute, und sie wissen, wie sie auch mit fremder Rechtsmaterie umzugehen haben . Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege Detlef Seif das Wort . Weder das Justizministerium noch die Berufsverbän- (Beifall bei der CDU/CSU) de konnten angebliche Qualitätsmängel der anwaltlichen Tätigkeit belegen . Auch aus einschlägigen Statistiken der Berufshaftpflichtversicherer folgt kein Nachweis für eine Detlef Seif (CDU/CSU): Verschlechterung der anwaltlichen Arbeit. Die allermeis- Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Meine Damen und ten Rechtsanwälte bilden sich in ihrem eigenen Interesse Herren! Heute beraten wir den Entwurf eines Gesetzes selbst fort . Soweit einige Prozent der 164 000 Rechtsan- der Bundesregierung zur Umsetzung der Berufsanerken- wälte sich nicht fortbilden, ist fraglich, ob die Einführung nungsrichtlinie . von Zwangsstunden zur Fortbildung überhaupt zu einer (B) Verbesserung des Kenntnisstandes dieser Personen füh- (D) (Dr .André Hahn [DIE LINKE]: Ach was!) ren wird . Entscheidend ist aber: Es ist doch völlig unver- hältnismäßig, die anderen Rechtsanwälte, die weit über- Die Richtlinie war spätestens zum 18 . Januar 2016 in wiegende Zahl – rund 90 Prozent, rund 140 000 – mit nationales Recht umzusetzen, und das wäre auch unpro­ einer derartigen Fortbildungspflicht zu überfrachten, die blematisch möglich gewesen . Man hat sich aber nicht auf sanktionsbewehrt ist, sie wie Schuljungen auf die Bank die Kernvorschriften beschränkt, sondern diesen Gesetz- zu schicken . entwurf mit vielen zusätzlichen Vorschlägen regelrecht überfrachtet. Wenn wir uns das Verfahren angucken, Jetzt kommen wir zur rechtlichen Seite . Es gibt die stellen wir fest: Das ist natürlich unvertretbar, und man Wesentlichkeitstheorie, und unter Berücksichtigung die- kann im Interesse der Qualität unserer Arbeit und auch ser Theorie muss der Gesetzgeber wesentliche Regelun- der Schnelligkeit nur dringend empfehlen, dass zukünf- gen selbst treffen. Wenn wir das wollten, müssten wir als tig Gesetzentwürfe, die EU-Richtlinien betreffen, im We- Gesetzgeber die Rahmenbedingungen schon selbst fest- sentlichen nur auf diese Themen bezogen sind und nicht legen und können sie nicht über eine Satzungsbefugnis im Omnibusverfahren alles total überfrachtet wird . an ein Selbstverwaltungsorgan übertragen . (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist kein Omnibus! Das stand im Entwurf Aber auch im Interesse einer möglichen Interessen- des Justizministers!) kollision wäre es geboten, dann hier ein entsprechendes Gesetz zu machen . Wir reden von einem neuen Markt, Zwei im ursprünglichen Gesetzentwurf vorgesehene bis zu 150 Millionen Euro netto Jahresumsatz, und das Vorschläge haben für eine besonders intensive Diskus- Risiko ist groß, dass Vertreter berufsständischer Orga- sion gesorgt, auch heute wieder, einerseits die Verpflich- nisationen ein Interesse daran haben, dass ihre Fortbil- tung von Berufsanfängern, sich im Jahr zehn Stunden dungsinstitute am Markt beteiligt werden, und sie die In- fortzubilden, und zwar bezogen auf das Berufsrecht, teressen der Anwaltschaft dabei aus dem Blick verlieren . andererseits die Regelung, nach der die Satzungsver- sammlung der Bundesrechtsanwaltskammer, aber auch Meine Damen und Herren, wenn man das Wirken im der Patentanwaltskammer die Befugnis erhalten sollten, Gesetzgebungsverfahren sieht, hat man wirklich den Ein- durch Satzung die bestehende Fortbildungsverpflichtung druck: Da sind knallharte Lobbyisten unterwegs, und die zu konkretisieren, verbunden allerdings auch mit der bestärken diese Einschätzung . Möglichkeit, die dann gesetzlich geschaffen werden soll- te, über die Rüge hinauszugehen und ein Bußgeld von bis (Beifall des Abg . Christian Flisek [SPD]) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22627

Detlef Seif (A) Einige behaupten, dass die Anwaltschaft selbst die buß- Erfreulich ist auch die Einführung der Briefwahl bei (C) geldbewehrte Fortbildungspflicht wünscht; das haben wir den Vorstandswahlen der Rechtsanwaltskammer. Dass auch gerade wieder gehört . Das ist so aber nicht richtig . die Kammern die Briefwahlen jetzt nicht nur durchführen können, sondern auch müssen, ist allerdings eher skurril . (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So, jetzt bitte die richtige Entscheidung zitie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ren!) und bei der LINKEN) Selbst in der Satzungsversammlung der Bundes- Diese Entscheidung hätte man den Kammern selbst über- rechtsanwaltskammer gehen die Ansichten auseinander . lassen können . Fragen Sie doch mal die Rechtsanwälte, die sich selbst fortbilden – das sind die allermeisten –, was sie von dem Die wichtigste Neuerung im Regierungsentwurf war Gesetzesvorschlag halten, und dann lassen Sie die Ant- vor allem die Konkretisierung der Fortbildungspflicht für wort einmal auf sich wirken . die Anwaltschaft, und zwar durch die Satzungsversamm- lung, also durch das frei gewählte Anwaltsparlament . Die Sicherung der Qualität der anwaltlichen Tätigkeit Die Fortbildungspflicht dient der Qualitätssicherung für liegt der Unionsfraktion am Herzen . die Verbraucher und der Förderung und Stärkung der (Dr .André Hahn [DIE LINKE]: Ach Gott!) anwaltlichen Selbstverwaltung. Dieser Vorschlag wurde auch im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens von Deshalb wird sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion allen Experten begrüßt, auch von dem Kollegen Flisek, nach Abschluss dieses gesetzlichen Verfahrens im Rah- wie wir gerade gehört haben . men eines Kolloquiums mit Experten darüber austau- schen, ob und in welcher Form eine Qualitätsverbesse- Das Gleiche gilt für die Einführung eines Nachwei- rung erreicht werden kann, ses über Grundkenntnisse im anwaltlichen Berufsrecht . Auch dies ist eine Forderung, die sowohl die Rechtsu- (Dr .André Hahn [DIE LINKE]: Irgend- chenden als auch die Rechtsanwälte selbst vor Haftungs- wann!) fallen schützen soll . Deswegen ist es völlig unverständ- und zwar durch eine maßgeschneiderte Regelung und lich, warum diese guten und notwendigen Regelungen nicht durch eine pauschale und belastende Vorgabe für ersatzlos aus dem Gesetzentwurf verschwunden sind . alle Rechtsanwälte . Die Erklärungen für diesen Rückschritt sind schwammig und überzeugen nicht . Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU) (B) und bei der LINKEN) (D) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Eine übermäßige finanzielle und zeitliche Belastung Vielen Dank. – Die nächste Rednerin ist Katja Keul, sehe ich durch eine Fortbildungsveranstaltung von zehn Bündnis 90/Die Grünen . Stunden im Jahr eher nicht . Für Berufseinsteiger gibt es in der Regel ohnehin entsprechende Vergünstigungen. Außerdem gab es den sinnvollen Vorschlag, die Fortbil- Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dungspflicht in den ersten fünf Jahren nach dem zweiten Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Staatsexamen zugunsten der Berufsanfänger auszuset- Kollegen! Wir haben es gehört: Mit dem Gesetz sollte zen . Das wäre schon deswegen sinnvoll, weil den frisch ursprünglich nicht nur die Berufsanerkennungsrichtlinie Examinierten die Ausbildungsinhalte ohnehin noch prä- umgesetzt werden, sondern darüber hinaus auch das Be- sent sind und die Regelung vor allem die älteren Berufs- rufsrecht der Rechtsanwälte modernisiert werden . Dieses kollegen zur regelmäßigen Fortbildung anhalten sollte . zweite Ziel wurde nun gründlich verfehlt . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE sowie bei Abgeordneten der LINKEN) GRÜNEN]: Aha!) Die Veränderungen aus dem Parlament heraus wären Dann hieß es – das haben wir eben auch noch mal ge- besser unterblieben . Jetzt ist das Gesetz quasi entkernt, hört –, es ginge in Wahrheit um die Profitinteressen der indem es auf Qualitätssicherung und Verbraucherschutz Fortbildungsveranstalter, zu denen unter anderem auch gänzlich verzichtet . Das ist mehr als schade . die Kammern gehören . Das ist nun wirklich ein merk- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN würdiges Argument: Weil Fortbildung Geld kostet, ver- und bei der LINKEN) zichten wir lieber ganz darauf . Dabei wäre die zusätzliche Nachfrage ohnehin gar nicht so riesig, weil die Fachan- Fangen wir trotzdem mit dem kleinen positiven As- waltsfortbildungen ja auf die allgemeine Fortbildung pekt an: Der Anwendungsbereich des Rechtsdienstleis- angerechnet werden sollten . Aus gutem Grund nehmen tungsgesetzes steht künftig auch bei grenzüberschrei- schon heute die meisten Anwälte an Fachanwaltsfortbil- tender Beratung nicht mehr in Zweifel . Die jetzige dungen teil . Trotzdem wollten Sie das nicht . Formulierung stellt klar: Der Rechtsuchende oder die Rechtsuchende soll bei einer grenzüberschreitenden Be- (Christian Flisek [SPD]: Wer? Wer wollte das ratung immer dann geschützt sein, wenn Gegenstand der nicht? – Gegenruf des Abg . Dr .André Hahn Beratung deutsches Recht ist . [DIE LINKE]: Na ihr wolltet das nicht!) 22628 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Katja Keul (A) Es drängt sich vielmehr ein ganz anderer Grund für Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) die Streichung auf. Angeblich soll es überflüssig und NEN]: Wo ist er denn?) unzumutbar sein, wenn Unternehmensanwälte – so Herr Seif im Ausschuss –, die doch ohnehin jahrelang nur für Vizepräsidentin Ulla Schmidt: ihr Unternehmen tätig sind und dort ihr eigenes Spezi- algebiet bearbeiten, mit derartigen Fortbildungspflichten Vielen Dank. – Jetzt hat der Kollege Alexander belästigt werden . Hoffmann für die CDU/CSU-Fraktion die Chance, diese Debatte abzuschließen . (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Aha! Nur die Altersvorsorge! – Detlef (Beifall bei der CDU/CSU ) Seif [CDU/CSU]: Frau Keul, das ist kein Zitat von mir! Das ist falsch!) Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Da rächt sich jetzt das freundliche Entgegenkommen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kollegin- gegenüber den Syndikusanwälten im letzten Jahr . Als es nen und Kollegen! Wir stärken Europa, indem wir grenz- darum ging, Mitglied im anwaltlichen Versorgungswerk überschreitende Vorgänge erleichtern. Dieser Satz gilt sein zu dürfen, war es allen so wichtig, ihre Arbeit als auch in der Rechtsberatung . Deswegen ist es richtig, die anwaltliche verstanden zu wissen . Möglichkeit zu eröffnen, dass Rechtsanwälte, Patentan- wälte und Berufe, die unter das Rechtsdienstleistungsge- (Dr . Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Das ist setz fallen, grenzüberschreitend agieren können . Das ist verkehrt, was Sie da jetzt sagen! – Weiterer nicht zuletzt schon Ausfluss der Dienstleistungsfreiheit. Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Populis- Dabei muss es aber unser Ziel sein, die Qualität unserer mus!) juristischen Ausbildung und die Qualität der juristischen Das hörte allerdings bereits bei der Erkenntnis auf, dass Beratung im Land auf einem möglichst hohen Niveau zu anwaltliche Tätigkeit auch eine Berufshaftpflicht nach halten . sich zieht . Wir haben ein hohes Niveau, und deswegen darf es (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auch keinen Automatismus geben, nach dem Motto: Wer NEN]: Rosinenpickerei!) in einem Land rechtsberatend tätig sein darf, der darf das dann automatisch auch in einem anderen . Wir brauchen Auch jetzt will man sich nicht mit weiteren störenden Qualität in der Rechtsberatung, und wir brauchen eine Pflichten belasten. So geht das nicht. Lage, die denjenigen, die diese Beratung in Anspruch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nehmen, das Vertrauen gibt: Jawohl, ich bin dort in je- (B) und bei der LINKEN – Dr . Jan-Marco Luczak dem Falle in guten Händen . – Deswegen ist es richtig, (D) [CDU/CSU]: Sie haben das Syndikusgesetz dass dieser Gesetzentwurf nach wie vor darauf abstellt, nicht verstanden, Frau Kollegin!) dass wir eine mindestens gleichwertige Berufsqualifika- tion brauchen und dass ansonsten eine Eignungsprüfung Wer seine anwaltliche Tätigkeit ernst nimmt, muss erforderlich ist . vorrangig die Interessen der Rechtsuchenden in den Blick nehmen . Außerdem dient konsequente Qualitätssi- Ich persönlich glaube aber, dass wir für die Beibehal- cherung auch den Interessen der Anwaltschaft selbst und tung des hohen Niveaus der Rechtsberatung, das wir im der Rechtspflege insgesamt. Wer sich daran nicht betei- Land haben, nicht als Grundvoraussetzung eine Fortbil- ligen möchte, sollte auf eine Anwaltszulassung besser dungspflicht für Berufsanfänger im Bereich des Berufs- verzichten . rechts brauchen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Für die Älteren!) Diesen entkernten Gesetzentwurf lehnen wir ab . Dem die wir dann auch noch mit einer Sanktionsmöglichkeit Entwurf Ihres Justizministers hätten wir gerne zuge- versehen . Das ist auch der wesentliche Unterschied zwi- stimmt. Deswegen stellen wir dessen ursprüngliche Vor- schen den Formulierungen, wie wir sie heute haben, auch schläge mit unserem Änderungsantrag hier und heute in der Fachanwaltsordnung, wo das ja als Obliegenheit noch einmal zur Abstimmung . formuliert ist . (Dr .André Hahn [DIE LINKE]: Sehr vernünf- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß nicht, wie tig! – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- es Ihnen geht . Aber wenn ich mich an meine Referendar- NEN: Zweite Chance!) zeit zurückerinnere, dann muss ich feststellen, dass wir Nutzen Sie die Chance! weitaus mehr als zehn Stunden Berufsrecht gemacht ha- ben . Wenn wir heute in der Debatte den Eindruck erwe- Vielen Dank. cken, dass wir bei neuen Rechtsanwälten unter Umstän- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den nicht bundesweit ein dementsprechend hohes Niveau und bei der LINKEN – Britta Haßelmann auf dem Gebiet des Berufsrechts haben, dann müssen wir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also, wir diese Diskussion eigentlich um die Frage bereichern: stimmen für die Heiko-Maas-Sache! – Katja Wie gelingt es uns dann, bundesweit schon in der Ausbil- Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ge- dung im Bereich der Kenntnisse über das Berufsrecht ein nau, wir stimmen für ! – Hans- solches Niveau zu etablieren? Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22629

Alexander Hoffmann (A) Im Übrigen glaube ich, dass Fortbildung, Weiterbil- che 18/11468, den Gesetzentwurf der Bundesregierung (C) dung und das Sich-mit-der-Rechtslage-Entwickeln ein auf den Drucksachen 18/9521 und 18/9948 in der Aus- originäres Eigeninteresse eines jeden Rechtsanwalts sein schussfassung anzunehmen . muss . Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd- (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/11626 vor, über Genau!) den wir zuerst abstimmen . Wenn man sich den heutigen Markt anschaut, dann muss (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: man feststellen: Rechtsanwalt sein ist heute kein Zucker- Genau, das ist der Entwurf der Bundesregie- schlecken mehr, weil der Konkurrenzdruck so groß ist, rung!) dass man in dem Moment, in dem man das Eigeninteres- se an Fortbildung nicht mehr verfolgt, unter Umständen Wer stimmt für den Änderungsantrag von Bündnis 90/ komplett abgehängt wird . Die Zahlen in diesem Bereich Die Grünen? – sprechen Bände . Es gibt Zahlen des Soldan Instituts, (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nach denen sich 90 Prozent aller Rechtsanwälte regelmä- Wir stimmen für die Bundesregierung! – Britta ßig fortbilden. Deswegen empfinde ich es als völlig ver- Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: fehlt, wenn in dieser Debatte der Eindruck erweckt wird, Wir stimmen für Heiko Maas! – Gegenruf des dass die Qualität für Bürgerinnen und Bürger schlechter Abg . Christian Flisek [SPD]: Das könnt ihr wird, weil wir nicht sanktionsbewehrt eine Fortbildungs- mal öfters tun!) pflicht etablieren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Wer stimmt dagegen? – Das ist die Koalition; das war ordneten der SPD) eindeutig die Mehrheit . – Enthaltungen sehe ich nicht . Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt . Der Kollege Seif hat es vorhin angesprochen: Auch in der BRAK ist das Stimmungsbild gespalten . Es ist nicht Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der so, dass alle sagen, es gebe nur diesen einen Weg, Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- chen .– Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist (Dr .André Hahn [DIE LINKE]: Aber sehr der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen viele!) der Koalition gegen die Stimmen der Opposition ange- und ich denke, diesen Eindruck sollten wir in dieser De- nommen . batte auch nicht erwecken . Dritte Beratung (B) Wenn wir auf die besonderen Änderungen im berufs- und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, aufzuste- (D) ständischen Recht der Rechtsanwälte und in bestimmten hen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen .– Wer Rechtsgebieten zurückblicken, dann stellen wir fest: Es ist dagegen? – Enthaltungen sehe ich nicht . Damit ist war eigentlich nie ein Problem für die Rechtsanwälte, der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichen sich punktgenau auf die neue Rechtslage und die neue Stimmenverhältnis angenommen . Situation vorzubereiten . Erinnern Sie sich nur an die gro- ße Änderung im Gebührenrecht . Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Ausgerechnet dieses Beispiel halte ich nicht regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- für gelungen!) zes zur Änderung von Vorschriften im Bereich Ich glaube, insoweit wird deutlich, dass die Anwälte und des Internationalen Privat- und Zivilverfah- Anwältinnen, die wir hier im Land haben, keinen An- rensrechts sporn in Form eines sanktionsbewehrten Zwangsmittels Drucksache 18/10714 brauchen . Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Recht Ich halte die Formulierung, die im Moment auf dem und Verbraucherschutz (6. Ausschuss) Tisch liegt, für sehr gelungen und möchte deswegen um Ihre Zustimmung werben . Drucksache 18/11637 Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit . Hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben wer- den . – Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind 1). (Beifall bei der CDU/CSU) Wir kommen zur Abstimmung . Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Be-

Vizepräsidentin Ulla Schmidt: schlussempfehlung auf Drucksache 18/11637, den Vielen Dank. – Damit ist die Aussprache beendet. Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- che 18/10714 in der Ausschussfassung anzunehmen . desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umset- Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der zung der Berufsanerkennungsrichtlinie und zur Änderung Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- weiterer Vorschriften im Bereich der rechtsberatenden chen .– Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Berufe. Der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- 1) 7 Anlage 22630 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege (C) Stimmen aller Fraktionen angenommen . Andreas Lämmel, CDU/CSU-Fraktion . Dritte Beratung (Beifall bei der CDU/CSU) und Schlussabstimmung . Ich bitte alle, die dem Ge- setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben .– Wer Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Ge- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! setzentwurf in dritter Beratung einstimmig angenommen . Es gibt natürlich keine schlechte Zeit, um sich über die Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Unterstützung innovativer Unternehmen zu unterhalten . Es gibt jedoch auch bessere Zeiten als jetzt . Aber wir Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- wollen das heute so nehmen, wie es kommt, und uns um regierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten diese Zeit intensiv damit auseinandersetzen, wie wir in Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes Deutschland die Szene der innovativen Unternehmen noch besser unterstützen können . Drucksachen 18/10944, 18/11284, 18/11472 Nr. 1.2 Die innovativen kleinen und mittleren Unternehmen Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Er- in Deutschland bilden das starke Rückgrat der deutschen nährung und Landwirtschaft (10 .Ausschuss) Wirtschaft, meine Damen und Herren . Sie sorgen für technologischen Fortschritt in Deutschland und sichern Drucksache 18/11635 hochqualifizierte Arbeitsplätze. Eine Vielzahl von ih- nen gehört zu den sogenannten Hidden Champions, also Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben Weltmarktführern, deren Namen man aber nicht genau werden . – Sie sind damit einverstanden 1). kennt . Wir kommen zur Abstimmung . Der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Be- (Dr .André Hahn [DIE LINKE]: Alles trotz schlussempfehlung auf Drucksache 18/11635, den CDU!) Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksa- – Lieber Kollege Hahn, du weißt ja, dass wir trotz der chen 18/10944 und 18/11284 in der Ausschussfassung PDS in Sachsen hervorragende Fortschritte gemacht ha- anzunehmen . Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- ben . Gerade Sachsen ist ja ein Land der innovativen Un- wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ternehmen . Insofern kann das so nicht stimmen . das Handzeichen . – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält (B) sich? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit (Beifall bei der CDU/CSU – Jörn Wunderlich (D) den Stimmen aller Fraktionen bei einer Enthaltung aus [DIE LINKE]: Oh, oh, oh!) der Fraktion Die Linke angenommen . Meine Damen und Herren, trotzdem muss man ehr- (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: licherweise sagen: Verschiedene Studien attestieren Er muss wissen, worum es geht! – Dr .André dem innovativen Mittelstand in den letzten Jahren eine Hahn [DIE LINKE]: Bei uns darf man frei ab- nachlassende Innovationskraft . Wenn man den Studien stimmen!) glauben darf, dann ist es so, dass die Zahl der forschen- Dritte Beratung den Unternehmen in Deutschland seit einigen Jahren stagniert . Die Ausgaben für Innovationen, also für die und Schlussabstimmung . Ich bitte diejenigen, die dem Forschung, in den kleinen und mittleren Unternehmen, Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben .– haben sich, gemessen am Umsatz, in den letzten 15 Jah- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- ren nahezu halbiert . Auch die Zahl der Gründer wächst entwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis ange- schon seit Jahren nicht mehr in Deutschland . Damit ist nommen . natürlich der Nachwuchs für zukünftige innovative Un- ternehmen gefährdet . Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Deswegen brauchen wir einen frischen Wind in der Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ Szene der innovativen Unternehmen . Genau darauf zielt CSU und SPD unser Antrag . Wir haben im Prinzip drei Punkte heraus- Innovationskraft von kleinen und mittleren gegriffen – sie sind uns in vielen Diskussionen mit Ver- Unternehmen stärken – Anreize für mehr tretern innovativer Unternehmen und von Forschungsin- Investitionen in Forschung und Entwicklung stituten immer wieder genannt werden –, die notwendig schaffen sind, um hier etwas Bewegung in die ganze Sache zu bringen . Drucksache 18/11594 Erstens . Die Finanzierung von Innovationen und Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Start-ups muss erleichtert werden . Das ist ein ständiges die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei- Thema; gar keine Frage. Viele Vorschläge liegen auf dem nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen . Tisch . Trotzdem muss man deutlich sagen: In den letzten Jahren der Großen Koalition und seitdem Bundeskanz- 1) 8 Anlage lerin Angela Merkel im Amt ist, also seit 2005, haben Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22631

Andreas G. Lämmel (A) sich die Ausgaben für Forschung und Technologie enorm Erlauben Sie mir heute Abend, eine Schulnote zu ver- (C) erhöht, meine Damen und Herren . geben; denn man kann resümieren: Schön, dass Sie alles aufgeschrieben haben. Vollständigkeit: Note 1. Was man (Beifall bei der CDU/CSU) aber nicht in eine Schulnote pressen kann, ist eine poli- Die Förderung des innovativen Mittelstandes hat sich tische Frage . Die Antragsteller, CDU/CSU und SPD, re- nahezu verdoppelt und beträgt jetzt fast 1,6 Milliarden gieren seit dreieinhalb Jahren hier . Sie stellen zusammen Euro pro Jahr . Das ist schon ein ziemlich bedeutender eine komfortable Mehrheit . Wenn sie es ernst meinen mit Betrag . Hier gibt es zwei Säulen: zum einen das Zentrale dem Thema, dann muss die Frage erlaubt sein, warum Innovationsprogramm Mittelstand und zum anderen die wir heute Abend nur einen Antrag haben und keine ent- Projektförderung über die Industrielle Gemeinschafts- sprechende Gesetzesinitiative . forschung . Es geht darum, die Finanzierung dieser Pro- gramme in den nächsten Jahren zu sichern . Innerhalb der (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Koalition haben wir vor, die Mittel – sie sind in der mit- NIS 90/DIE GRÜNEN) telfristigen Finanzplanung schon ausgewiesen – für diese Programme deutlich zu steigern . Bei der Lektüre Ihres Antrags bekommt man ein Zweiter Punkt . Die Bildungs- und Forschungskoope- bisschen den Eindruck, dass wir kurz vor der Bundes- ration – das halte ich aufgrund meiner eigenen Erfahrung tagswahl – und fast hätten wir es kurz vor Mitternacht aus der Landespolitik in Sachsen für sehr wichtig – muss gehabt – einen Schaufensterantrag auf der Tagesordnung weiter forciert werden . Es handelt sich um Kooperatio- haben. Ich finde das Thema zu wichtig, Herr Lämmel, nen zwischen Unternehmen und Universitäten, zwischen als dass wir es hier im Ad-hoc-Verfahren einfach mal so Unternehmen und außeruniversitären Forschungsein- durchwinken . Das ist kein seriöses parlamentarisches richtungen, von Unternehmen untereinander . Das ist, Verfahren. glaube ich, für die nächste Zukunft sehr wichtig, obwohl wir auch hier in den letzten Jahren eigentlich deutliche (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Fortschritte gemacht haben . Wir haben 15 Spitzencluster NIS 90/DIE GRÜNEN) aus dem Spitzencluster-Wettbewerb – das ist schon sehr gut –, und wir haben immerhin über 400 Netzwerke zum Wenn Sie ernsthaft eine Debatte wollen – und ich Beispiel aus der BMBF-Innovationsinitiative „Unterneh- glaube, wir liegen bei ganz vielen Einzelfragen gar nicht men Region“ . so weit auseinander –, dann überweisen Sie Ihr Papier in die zuständigen Ausschüsse und lassen Sie uns darüber Dritter und letzter Punkt aus unserem Programm ist, die diskutieren . (B) KMUs fit zu machen für die digitale Wirtschaft. Glaubt (D) man den verschiedenen Stimmen aus der Wissenschaft (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und und den verschiedenen Studien, dann ist es angeblich so, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dass der Mittelstand die Digitalisierung verschläft . Aus meiner Sicht ist das nicht so . Trotzdem muss hier darauf Aus der Sicht der Linksfraktion ist klar: Kleine und hingewiesen werden: Wer heute in der Digitalisierung mittelständische Unternehmen sind eine tragende Säule nicht die richtigen Schritte geht, wird es in der Zukunft unserer Volkswirtschaft. Millionen Menschen haben über schwer haben . Deshalb gilt es für uns, das Thema digitale diese Unternehmen ein Einkommen, weil sie zum Bei- Wirtschaft voranzubringen und die KMUs weiter zu un- spiel Unternehmer, Teilhaber oder auch Mitarbeiter sind . terstützen . Die Plattform Industrie 4 0. ist hier schon ein Im Gegensatz zu den großen privatrechtlichen, aber auch wichtiger Schritt in die richtige Richtung . vielen öffentlichen Unternehmen sind ihre Möglichkei- Ich bitte Sie ganz herzlich um Zustimmung zu unse- ten, Forschung und Entwicklung selbst zu betreiben, rem Antrag . aufgrund ihrer Größe meist sehr begrenzt . Sie sind also auf Hilfe von außen, auf Zuschüsse, auf Programme usw . (Beifall bei der CDU/CSU) angewiesen .

Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Ich bin nun sehr gespannt, was mit Ihrem Antrag kon- Vielen Dank. – Für die Fraktion Die Linke hat jetzt kret passiert, welche Konsequenzen er für den Rest der Thomas Lutze das Wort . Wahlperiode hat und welche Aussagen dann im Wahl- kampf getroffen werden. Man muss, glaube ich, kein (Beifall bei der LINKEN) Prophet sein, um voraussagen zu können: Dieses Thema werden wir in der nächsten Wahlperiode wieder auf der Thomas Lutze (DIE LINKE): Tagesordnung haben. Ich hoffe, dann mit einer anderen Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! In Bundesregierung und einer anderen Mehrheit hier im 34 Punkten listen Sie auf, was man alles machen müsste Haus . und machen könnte, wenn man die Stellung von kleinen und mittelständischen Unternehmen in der Bundesre- Vielen Dank. publik stärken wollte . Und Sie betonen zu Recht, dass der Zugang und die Perspektiven für diese Unternehmen (Beifall bei der LINKEN – Dr . Matthias zum Beispiel im Bereich Forschung und Entwicklung Heider [CDU/CSU]: Machen Sie sich keine verbessert werden müssen . Hoffnung!) 22632 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Sehr geehrte Damen und Herren, unser gesamtstaat- (C) Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Sabine liches Ziel, die F-und-E-Ausgaben auf 3 Prozent des Poschmann, SPD-Fraktion . Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen, haben wir inzwischen erreicht . Das ist ein Erfolg . Wir dürfen jetzt aber nicht (Beifall bei der SPD) stehen bleiben; denn andere Volkswirtschaften haben die 3 Prozent längst hinter sich gelassen . Deshalb möchten Sabine Poschmann (SPD): wir mit unserem Antrag die Gesamtinvestitionen in For- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen schung und Entwicklung in Deutschland bis 2025 auf und Herren! Vorab möchte ich etwas zu Herrn Lutze sa- 3,5 Prozent des BIP steigern . gen, und zwar: Sie hätten unseren Antrag besser lesen Wir Sozialdemokraten sind bereit, noch weiter zu sollen . Dann hätten Sie festgestellt, dass 19 Punkte, der gehen . Die deutsche Förderarchitektur ist auf eine klas- überwiegende Teil unseres Antrags, besagen, was wir sische Projektförderung fokussiert . Was wir unserer befürworten, was wir bisher alles auf die Reihe gekriegt Meinung nach ebenfalls benötigen, ist eine steuerliche haben und wo wir überall schon etwas für Innovation und Forschungsförderung . Wenn wir den Entdeckergeist der den Mittelstand getan haben . kleinen Betriebe wecken wollen, brauchen wir eine brei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- te Förderung, die diese auch erreicht . ten der CDU/CSU – Dr .André Hahn [DIE Daher finde ich es sehr bedauerlich, dass Sie, liebe LINKE]: Na ja!) Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, unse- 15 Punkte besagen dagegen, wo wir noch aufbauen kön- ren Vorschlag für eine steuerliche Forschungsförderung nen . Das ist also nicht die Mehrheit . Wir haben schon nicht mittragen wollen, sehr viel getan in dieser Wahlperiode . (Dr .André Hahn [DIE LINKE]: Aber so sind Deshalb denke ich, man kann zwar immer noch darü- die! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Man ber hinausgehen, aber ich freue mich, dass auch die Linke braucht im Haushalt für ZIM nur mehr Mittel mit uns diesen Weg geht . Denn wir alle wissen: Unsere zu bewilligen! Ist alles schon da!) Forschungs- und Entwicklungslandschaft genießt welt- erst recht, da Niedersachsen und Bayern ein gutes Kon- weit hohes Ansehen . Der jüngsten OECD-Studie zufolge zept vorgelegt haben und nun sogar Bundesfinanzminis- zählt Deutschland zu den fünf führenden Forschungsna- ter Schäuble Sympathien für unseren Vorstoß gezeigt hat. tionen und hat seine Innovationskraft in den vergangenen Jahren deutlich gesteigert . (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Gesamtinvestitionen für Forschung und Entwick- Vielleicht fehlt für den tatsächlichen Schritt dann doch (B) lung haben zuletzt einen Höchstwert von 158 Milliarden der Mut. Vielleicht hat es Herr Schäuble nicht ernst ge- (D) Euro erreicht. Wir befinden uns insgesamt also auf einem meint . Die SPD jedenfalls steht bereit, das entsprechende richtigen Weg . Gesetz mit dem Koalitionspartner noch vor der Sommer- pause auf den Weg zu bringen . Die eigentlichen Wachstumstreiber sind aber die gro- ßen Unternehmen . Während diese ihre F-und-E-Ausga- (Dr .Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE ben kontinuierlich steigern, fällt der Anteil der kleineren GRÜNEN]: Ja, macht das! – Dr .André Hahn Betriebe mit weniger als 500 Mitarbeitern seit Jahren [DIE LINKE]: Geht auch mit uns! – Jörn weiter zurück . Wir laufen also Gefahr, dass ein großer Wunderlich [DIE LINKE]: Nicht mit mir!) Teil des Mittelstandes den Anschluss verliert . Diese Ent- – Vielleicht nach der Sommerpause. wicklung müssen wir gerade in Zeiten von Digitalisie- rung und Internationalisierung stoppen, und wir müssen Meine Damen und Herren, Innovationen dürfen nicht versuchen, sie umzudrehen . am fehlenden Kapital scheitern . Wir begrüßen ausdrück- lich, dass die KfW-Bank die Finanzierung von Start-ups Wir wollen den Pioniergeist kleiner Unternehmen deutlich ausweitet . Wir wollen damit sicherstellen, dass wecken und ihr F-und-E-Potenzial stärken . Genau da- jungen, innovativen Unternehmen in allen Entwick- rauf zielt unser heutiger Antrag ab . Er bietet eine gute lungsphasen ausreichend Kapital zur Verfügung steht. Grundlage und ist das Ergebnis vieler Gespräche, die wir Die aktuellen Gründerzahlen zeigen: Da ist noch Luft . seit einem Jahr noch viel intensiver mit allen mittelstän- Da geht noch was . dischen Akteuren geführt haben . Wenn ich von Innovationen spreche, meine ich nicht al- Ein wesentlicher Punkt ist für uns, kleineren Betrieben lein technische Neuerungen . Unser Innovationsverständ- den Zugang zu Förderprogrammen zu erleichtern. Vie- nis reicht weiter . Wir als SPD-Fraktion beziehen dabei les ist für sie einfach zu kompliziert . Wir brauchen Wege ausdrücklich soziales Unternehmertum ein, das mit neu- durch den Förderdschungel . Deshalb muss die Projekt- en Ideen und Geschäftsmodellen die Lebensqualität der förderung transparenter und einfacher gestaltet werden . Menschen verbessern will . Das können Gutschein-Apps Der Anker ist und bleibt das Zentrale Innovationspro- für Flüchtlinge sein oder Projekte wie die Solidarische gramm Mittelstand, ZIM, mit dem wir technologische Landwirtschaft, bei der eine Gruppe von Verbrauchern Neuerungen auf den Weg bringen . Aber auch hier können mit einem Partner in der Landwirtschaft kooperiert . Der wir noch eine Schippe drauflegen, indem wir das Volu- Kreativität sind hier – genauso wie in der Technik – keine men bei ZIM von 543 Millionen Euro auf 700 Millionen Grenzen gesetzt . Auch solche Start-ups werden künftig Euro erhöhen . deutlich stärker in den Blick genommen und durch die Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22633

Sabine Poschmann (A) Öffnung der Programme hoffentlich unterstützt. Sie sind tel des Volumens von Venture Capital in den USA aus. (C) eine wahre Schatztruhe . Je mehr Menschen sich für die Wenn wir uns mit diesem Thema befassen, müssen wir Lösung gesellschaftlicher Probleme engagieren, desto uns auch – so steht es in Ihrem Koalitionsvertrag – mit größer werden die Auswahl und die Ideenvielfalt . Damit Fragen zum Wagniskapital ernsthaft befassen . Was ist da- punkten wir gleich mehrfach . Wir stärken privates Un- raus geworden? Ist Ihr vorliegender Antrag die Antwort ternehmertum, entlasten staatliche Organisationen und darauf? Aber ich bitte Sie, meine Damen und Herren! stoßen Kooperationen zwischen innovativen Sozialun- Das kann doch wohl nicht wahr sein, dass Sie, obwohl ternehmen und Wohlfahrtsverbänden an . Sie diese Lücke schon identifiziert haben, gar nichts vor- legen . Meine Damen und Herren, der deutsche Mittelstand ist eine Lok für unser Wachstum . Lassen Sie uns die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Weichenstellung weiter verbessern, damit die Fahrt noch kraftvoller vorangeht . Ich nenne Ihnen ein Beispiel . Wenn ein Unternehmer Herzlichen Dank . ein von der TU München entwickeltes elektrisch ange- triebenes und an die Erfordernisse der heutigen Welt (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) angepasstes Auto sieht und sagt, dass er das hier bauen möchte, dann braucht er aber Kapital in einer Größenord- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: nung von 75 Millionen bis 125 Millionen Euro . Solche Danke schön .– Für Bündnis 90/Die Grünen spricht Summen müssen Sie generieren, wenn Sie solche Projek- jetzt Dr .Thomas Gambke . te angehen . Wir brauchen Antworten darauf, woher wir das private Kapital dafür bekommen, wie die rechtlichen Rahmenbedingungen beschaffen sein müssen und wie (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Thomas Gambke der Staat das fördern kann . Aber von Ihnen gibt es keine NEN): Antworten auf diese Fragen . Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn meine Rede Sie möglicherweise zu anderen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Erwartungen verleitet: Wir werden dem Antrag zustim- men . Er enthält eine Reihe aufgelisteter richtiger Punkte . Nun komme ich zum Punkt der steuerlichen For- Es gibt kaum etwas, dem wir widersprechen würden . Herr schungsförderung . Dazu hatten wir einen Gesetzentwurf Lämmel, Sie haben sich ein bisschen darüber beschwert, eingebracht . Dazu gab es eine Anhörung und zahllose dass wir heute zu relativ später Zeit dieses Thema auf die Fachgespräche . Daraus haben Sie dann einen Prüfauftrag Tagesordnung gesetzt haben . Ich bin recht stolz, dass Sie gemacht . Das ist doch lächerlich! (B) noch da sind . Ich habe mich in den letzten zwei Tagen (D) immer wieder gewehrt, meine Rede zu Protokoll zu ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ben, eine Rede über einen Antrag, der vor noch nicht ein- und bei der LINKEN – Dr .André Hahn [DIE mal 48 Stunden in dieses Parlament eingebracht wurde . LINKE]: Alibi!)

Sie schreiben zu Beginn Ihres Antrags richtigerweise: Entweder wollen Sie es, oder Sie wollen es nicht . Was Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunft Sie nun vorgelegt haben, dient nur dazu, im Wahlkampf Deutschlands hängt maßgeblich davon ab, wie gut sagen zu können: Wir kümmern uns . – Aber nichts ist es uns gelingt, innovative Ideen zu verwirklichen . gemacht . Selbst Herr Schäuble – ich habe mich ja ge- Es geht darum, zukunftsfähige Lösungen für die wundert – hat schon zugestimmt, und Sie blockieren das großen Herausforderungen unserer Zeit zu finden. immer noch . Der Ball lag auf dem Elfmeterpunkt . Wa- rum haben Sie ihn nicht versenkt? Das machen Sie mit einer Protokollrede, wenn es nach Ihnen gegangen wäre? Das machen Sie, wenn es nach Ich nenne Ihnen dazu noch ein ganz wesentliches Ihnen geht, mit einer Sofortabstimmung? Das machen Argument: Es geht nicht um Projektförderung gegen Sie, ohne uns irgendwelche konkreten Maßnahmen vor- steuerliche Forschungsförderung . Wir kommen bei inter- zustellen? Ich bin erschüttert . disziplinären, neuen und innovativen Ideen mit der Pro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – jektförderung nicht weiter . Wir kommen bei den kleinen Dr . [CDU/CSU]: Aber Sie und mittleren Unternehmen nicht weiter, hinter denen stimmen zu!) kein Akademiker steht, sondern ein Fachmann, der mög- licherweise noch nicht einmal eine Ingenieurausbildung Viele von Ihnen, die aus den Fachabteilungen kom- hat . Dieser bekommt nämlich kein Geld aus den Mitteln men, haben an der Anhörung zu den ERP-Mitteln am für Projektförderung für das, was er an guter Entwick- letzten Montag teilgenommen . Auf Ihre Frage wurden lungsarbeit leistet . Das kann man nur mit der steuerlichen die mir bekannten und Ihnen wahrscheinlich noch nicht Forschungsförderung erreichen . bekannten Zahlen betreffend das Volumen von Venture Capital in Deutschland im Vergleich zu dem in den USA (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) genannt – ich bin versucht, Sie zu fragen, ob Sie mir die- se Zahlen nennen können –: 60 Milliarden Dollar in den Ich kann nur noch einmal sagen: Ich bin erschüttert USA und 800 Millionen Euro bei uns. Das Volumen von über diesen dünnen Antrag, der inhaltlich zwar nicht Venture Capital in Deutschland macht – bei einem Fak- falsch ist, der aber vollkommen an der Problemstellung tor 10 der beiden Volkswirtschaften – etwa ein Hunderts- vorbeigeht . 22634 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Dr. Thomas Gambke (A) Vielen Dank. Genau bei diesen Punkten setzen wir mit unserem An- (C) trag an . Wir beschreiben ein ganzes Bündel von Maß- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nahmen des BMWi und BMBF vor allem im Bereich der und bei der LINKEN) Fachkräftesicherung, aber auch, Kollege Gambke, im Bereich der Innovationsfinanzierung, um die Innovati- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: onshemmnisse weiter abzubauen . Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht Ich möchte einige Beispiele kurz nennen. Vor allem jetzt Dr .Stefan Kaufmann . unsere Hightech-Strategie hat wichtige Impulse gesetzt und die Rahmenbedingungen für Innovationen entgegen (Beifall bei der CDU/CSU) Ihren Unkenrufen hier in den letzten Jahren deutlich ver- bessert . Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In seiner unvergessenen Im Bereich des BMBF wurde die KMU-Förderung „Ruck-Rede“ vor fast genau 20 Jahren formulierte Ro- um immerhin 30 Prozent auf nunmehr 320 Millionen man Herzog treffend: „Die Fähigkeit zur Innovation ent- Euro pro Jahr aufgestockt . Im Bildungsbereich bringen scheidet über unser Schicksal.“ Dies trifft auch für die wir die Digitalisierung vor allem auch in der beruflichen kleinen und mittleren Unternehmen in unserem Lande zu . Bildung voran und sorgen dafür, dass der künftige Fach- Es ist schicksalhaft für deren erfolgreiches Fortbestehen, kräftebedarf gesichert werden kann . dass sie innovativ bleiben, dass sie Schritt halten; denn (Beifall bei der CDU/CSU) nur so – das haben wir schon gemeinsam festgestellt, und dem widerspricht auch Herr Gambke nicht – bleiben sie Ich darf an dieser Stelle das im letzten Jahr von Mi- wettbewerbsfähig, und zwar nicht nur national, sondern nisterin Johanna Wanka vorgestellte Zehn-Punkte-Pro- auch weltweit . gramm „Vorfahrt für den Mittelstand“ ausdrücklich loben . Darin hat das BMBF die Förderpolitik für mehr Dieser weltweite Wettbewerb ist hart . Der deutlich Innovationen bei KMU neu aufgestellt . Mit dem Pro- schnellste Rechner der Welt – „Sonnenweg“, 93 Pe- gramm werden neue Ideen, Anwendungsmöglichkeiten taflops – steht nicht in Europa. Er steht auch nicht in den und Geschäftsmodelle gefördert und eine weite Verbrei- USA . Er steht in China, und dort wurde er im Übrigen tung von Forschungsergebnissen und Modelllösungen auch entwickelt . unter den KMU vorangetrieben . Hier setzen wir auf niederschwellige Angebote und vor allem auch auf die (B) Mit dem vorliegenden Antrag haben die Koaliti- Hebelwirkung von Netzwerken – auch das hat Kollege (D) onsfraktionen ein, wie ich meine, wirklich gelungenes Lämmel schon angesprochen –, insbesondere auf Part- Portfolio der Innovationsförderung für den Mittelstand nerschaften von KMU mit regionalen Hochschulen oder seitens des Bundes aufgezeichnet . Gleichzeitig legen auch mit außeruniversitären Forschungseinrichtungen . wir – Frau Kollegin Poschmann hat es gesagt – der Bun- desregierung einen Forderungskatalog vor, mit dem wir Meine Damen und Herren, für die Zukunft braucht es weitere Ideen für die weitere Stärkung der Innovations- aber weitere, noch größere Anstrengungen . Deshalb spre- kraft der deutschen KMU formulieren . Denn: Wir sind chen wir uns ganz klar für das 3,5-Prozent-Ziel aus und gut, aber wir müssen noch besser werden . für ein effizientes Modell zur steuerlichen F-und-E-För- derung . Herr Gambke, wir sind noch nicht ganz am Ziel Woran genau lässt sich dies nun festmachen? Das der Diskussion; aber wir sind ein weites Stück vorange- EFI-Gutachten, auf das wir Bezug nehmen, wurde ge- kommen . Wenn der entscheidende Schritt nicht mehr in nannt . Dort wurde festgestellt, dass nur rund 42 Prozent dieser Legislatur kommt, dann kommt er auf jeden Fall der KMU im Zeitraum von 2013 bis 2015 Innovationsak- in der nächsten . tivitäten aufwiesen . Damit sind die deutschen KMU im (Beifall bei der CDU/CSU – Dr .André Hahn europäischen Vergleich zwar führend, aber die Innovati- [DIE LINKE]: Aber dann ohne euch!) onsintensität – Herr Kollege Lämmel hat es gesagt –, also die Innovationsausgaben in Relation zum Gesamtumsatz, Dafür steht die Union . ist rückläufig, sie sank nämlich von 1,7 Prozent im Jahr 2006 auf 1,5 Prozent im Jahr 2015 . Für erfolgversprechende Start-ups – auch das wurde genannt; ein ganz wichtiges Thema – werden wir zusätz- Was sind die Gründe? Was sind die sogenannten Inno- liche Möglichkeiten zur Mobilisierung von Wagniskapi- vationshemmnisse? Was hindert die KMU daran, Inno- tal schaffen. Auch da sind wir dran. Insbesondere hin- vationsaktivitäten zu entfalten? sichtlich der Seed-Phase sind wir uns weitgehend einig, dass es vor allem dort noch Probleme gibt . (Dr .André Hahn [DIE LINKE]: Die CDU!) Wenn uns dies alles gelingt – da bin ich sehr zuver- Hier liefert das EFI-Gutachten einige interessante Ant- sichtlich –, dann muss uns auch um das Schicksal unserer worten . Es sind ganz allgemein zu hohe Innovationskos- KMU und damit um die künftige Innovationsfähigkeit ten, ein zu hohes wirtschaftliches Risiko, außerdem ein der deutschen Wirtschaft insgesamt nicht bange sein . Mangel an geeignetem Fachpersonal – auch das ist ein Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit . wichtiger Punkt – sowie an internen Finanzierungsquel- len . (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22635

(A) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor­ (C) sicherheit Vielen Dank. – Damit ist die Aussprache beendet. Ausschuss für Tourismus Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Ausschuss Digitale Agenda Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf der Drucksa- Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben che 18/11594 mit dem Titel „Innovationskraft von klei- werden . – Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind 2). nen und mittleren Unternehmen stärken – Anreize für mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung schaf- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- fen“ . Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen wurfs auf Drucksache 18/11533 an die in der Tagesord- Abstimmung in der Sache . Die Fraktion Bündnis 90/Die nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen .– Ich sehe Grünen wünscht Überweisung zur Federführung an den dazu keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Über- Ausschuss für Wirtschaft und Energie und zur Mitbera- weisung so beschlossen . tung an den Finanzausschuss, an den Haushaltsausschuss sowie an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Technikfolgenabschätzung . Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fort- Antrag auf Ausschussüberweisung ab . Ich frage deshalb: schreibung der Vorschriften für Blut- und Wer stimmt für die von der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Gewebezubereitungen und zur Änderung an- nen beantragte Überweisung? – Das sind die Grünen und derer Vorschriften die Linke . Wer stimmt dagegen? – Das sind die CDU/ CSU und die SPD . Wer enthält sich? – Keiner . Damit ist Drucksache 18/11488 der Antrag auf Ausschussüberweisung abgelehnt . Überweisungsvorschlag: Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag auf Ausschuss für Gesundheit (f) Drucksache 18/11594 in der Sache . Wer stimmt für die- Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor­ sen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – sicherheit Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden . – Ich Linke angenommen . sehe, Sie sind damit einverstanden 3). Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Die Fraktionen haben vereinbart, dass der Gesetzent- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- wurf auf Drucksache 18/11488 an die in der Tagesord- (B) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Moder- nung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden soll . – (D) nisierung der Netzentgeltstruktur (Netzent- Ich sehe auch hierzu keine anderen Vorschläge. Dann ist geltmodernisierungsgesetz) so beschlossen . Drucksache 18/11528 Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicher- (18 .Ausschuss) gemäß § 56a der Geschäftsord- heit nung Die Reden hierzu sollen zu Protokoll gegeben wer- Technikfolgenabschätzung (TA) den . – Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind 1). Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- Synthetische Biologie – Die nächste Stufe der wurfs auf Drucksache 18/11528 an die in der Tagesord- Bio- und Gentechnologie nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen . Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Ich sehe, das ist nicht Drucksache 18/7216 der Fall . Dann ist die Überweisung so beschlossen . Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen­ Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: abschätzung (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Wirtschaft und Energie gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Änderung des Gesetzes über den Deutschen Ausschuss für Gesundheit Wetterdienst Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor­ sicherheit Drucksache 18/11533 Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Innenausschuss die Aussprache 25 Minuten vorgesehen . – Ich höre kei- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz nen Widerspruch . Dann ist so beschlossen . Ausschuss für Wirtschaft und Energie 2) Anlage 10 1) 9 Anlage 3) Anlage 11 22636 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Stephan fünf Jahre später gegründete deutsche Branchenprimus (C) Albani, CDU/CSU-Fraktion . MorphoSys ist mit 1,6 Milliarden Euro lediglich 2 Pro- zent davon wert . (Beifall bei der CDU/CSU) Doch nicht nur Wirtschaft und Arbeitsmarkt, vielmehr Stephan Albani (CDU/CSU): auch die Menschen profitieren in diesem Bereich von der Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Synthetischen Biologie . Es gibt bereits vielversprechen- Kollegen! Meine Damen und Herren! Einige haben ja de Ansätze in der Heilung schwerer Erbkrankheiten wie noch bis heute Abend durchgehalten .– Wissenschaftli- der Mukoviszidose oder im Bereich der personalisierten cher Fortschritt birgt Risiken . Darüber sind wir uns alle Krebsbehandlung . Auch die Möglichkeiten im Bereich im Klaren . Dennoch ist der Umgang damit sehr unter- der Wirkstoffforschung sind vor dem Hintergrund welt- schiedlich . Den Umgang mit Neuerungen in den eigenen weit zunehmender Resistenzen von großer Bedeutung . vier Wänden oder im Verkehrsbereich kann man durch- Vieles davon sind zunächst kühne Visionen. Nur wenn aus als weitestgehend entspannt bezeichnen . Hier sind wir uns als Gesellschaft dieser Chancen annehmen, kön- wir neugierig und vertrauen uns schon mal eher, aber nen wir diese Realität werden lassen . immer zugleich auch zögerlich neuen Flugzeugen oder rückwärts einparkenden Assistenzsystemen an . (Beifall bei der CDU/CSU) Ganz anders ist dies im Bereich der Gentechnolo- Dafür braucht es jedoch gesellschaftliche Akzeptanz für gie oder eben der Synthetischen Biologie . Diese macht diese Forschung . Einseitig gefärbte Darstellung, Skanda- Angst, oftmals aber unter Ausblendung der Fakten . Die lisierungen oder eine Art Postfaktendebatte, wie wir sie verheerenden Zukunftsszenarien von Bioterrorismus, in diesem Hause vor kurzem schon einmal hatten, wären Designermenschen und Menschen, die beim Gottspie- eher verheerend . len scheitern, sind Stoff für Kinofilme. Glücklicherwei- se stellte Bischof Karl Lehmann bereits 1996 fest, dass Wir brauchen kulturelles Startkapital für diese For- Gentechnik kein Teufelswerk sein muss . schung und für die Diskussion in der Gesellschaft . Auch Der vorliegende TAB-Bericht verschafft uns wichti- hier kann und muss die Politik eine wichtige Anschubfi- ge Klarheit darüber, was Synthetische Biologie ist und nanzierung leisten . Wir brauchen eine gute sowie sachli- was nicht . Die im Bericht enthaltenen Anwendungsfel- che Informationsgrundlage . Der TAB-Bericht im Auftrag der verdeutlichen, welche enormen Chancen für unser dieses Hauses ist hier ein wichtiger, ein erster Schritt in Land aus diesem rasant wachsenden Forschungsfeld ent- diese Richtung . Wichtig ist aber auch, dass wir die Men- schen von Betroffenen zu Beteiligten und Wissenden ma- (B) stehen können . So bietet sich vor allem in der Medizin (D) bedeutendes Innovationspotenzial . Kurz- und langfristig chen . Den Dialog kann die Politik einleiten und moderie- kann die Synthetische Biologie zu neuen Entwicklun- ren – und das bitte sachbezogen . gen bei molekularbiologisch basierten Diagnose- und Mir geht es nicht darum, die Synthetische Biologie Therapieverfahren, der Impfstoffentwicklung sowie der einseitig positiv darzustellen . Ich will aber dazu beitra- Krebsbehandlung führen – exakt also den Gesundheits- gen, dass das Gleichgewicht zwischen Risiko- und Chan- forschungsfeldern, auf denen unser Land heute und auch cenbeurteilung wiederhergestellt wird . in Zukunft eine Führungsrolle einnimmt und einnehmen soll . Wenn wir den Menschen aber zeigen, dass die For- Das Beispiel zeigt, wie wichtig es aus politischer schung aus unserer Welt eine bessere und gesündere Sicht ist, diese Chancen zu fördern – ganz im Sinne von macht, sorgen wir für Akzeptanz. Denn auch Hoffnung ­Weizsäckers Dreisatz: Die Technik von heute ist das Brot steuert unser Verhalten. So ergab eine Umfrage im ver- von morgen . Die Wissenschaft von heute ist die Technik gangenen Jahr, dass die große Mehrheit ihre medizini- von morgen . schen Daten für neue, personalisierte Therapieansätze zur Verfügung stellen würde. Datenschutz und Medizin- Dabei stellen Experten immer wieder fest, dass die forschung schließen sich aber nicht gegenseitig aus . Man Finanzierung von Biotech-Start-ups und der Zugang zu kann beides zum Wohle der Menschen in Einklang mit- Risikokapital bei uns durchaus ausbaufähig sind . Der einander bringen . Das wird auch unsere Aufgabe bei der Bericht stellt fest, dass das BMBF in den vergangenen Synthetischen Biologie sein – mit Wissen und Ruhe und 20 Jahren eine sehr aktive Rolle bei der Unterstützung stets sachbezogen . Denn wenn wir das nicht tun: Gute von Unternehmensgründungen in der Biotechnologie Nacht! gespielt hat . Auch wir haben seitens der Unionsfraktion immer wieder für öffentliches und privates Risikokapital Herzlichen Dank . gekämpft – durchaus mit Erfolg . (Beifall bei der CDU/CSU) Dennoch fehlt es in der Branche an den nötigen Mit- teln . Medizinische Forschung ist kostenintensiv, stark reguliert und langwierig . Kapitalgeber für Biotechgrün- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: dungen brauchen einen langen Atem . Das kann sich aus- Vielen Dank. – Als Nächster hat jetzt Ralph Lenkert zahlen, wie zum Beispiel große Biotechunternehmen aus für die Linke das Wort . den USA belegen . So ist der 1987 gegründete Biotechrie- se Gilead Sciences heute 80 Milliarden Euro wert . Der (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22637

(A) Ralph Lenkert (DIE LINKE): Wenn ich all dies betrachte, glaube ich, dass Verbote (C) nicht durchsetzbar sind . Also schlage ich vor, Syntheti- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen sche Biologie bestmöglich zu regulieren . und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger! Niemand kann die komplexe Entwicklung in Wissenschaft, For- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- schung und Technologie überschauen . Hätten Sie vor NIS 90/DIE GRÜNEN) zehn Jahren die Möglichkeit von Smartphones erahnt? Für Synthetische Biologie ist das Gentechnikgesetz an- Und hätten Sie erahnt, dass Wikipedia für viele zum mo- zuwenden . Gentechnik in der Landwirtschaft bleibt ver- bilen Brockhaus wird? boten. Der Verkauf, Handel und Besitz von Anlagen und Geräten für „Gene Editing“-Verfahren sind – wie Waf- Warum hole ich so weit aus? Zur Debatte steht ein fenhandel und Waffenbesitz – zu regulieren. Patente auf Bericht über die Technikfolgenabschätzung bei Syn- Lebewesen werden nicht erteilt . thetischer Biologie . Deren Möglichkeiten und Chancen werden von den Beratern des Bundestages im Büro für (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Technikfolgen-Abschätzung, dem TAB, dargestellt . Die NIS 90/DIE GRÜNEN) Auswirkungen auf die Gesellschaft dagegen lassen sich Liebe Bürgerinnen und Bürger, wir stehen erst am nur erahnen . Anfang einer Debatte über eine sich rasant entwickelnde Technik . Lassen Sie uns die Chancen erhalten und die Worum geht es? Ich zitiere aus der Definition für Syn- Risiken minimieren . thetische Biologie: Danke . Mit Synthetischer Biologie wird die Herstellung (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- von am Reißbrett entworfenen und konstruierten NIS 90/DIE GRÜNEN) Zellen und Organismen bezeichnet . Charakteristi- sche Forschungsansätze sind die Herstellung kom- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: pletter synthetischer Genome, die Konstruktion Vielen Dank. – Da die Kollegen René Röspel und sogenannter Minimalzellen sowie der Einsatz nicht- Dr .Philipp Lengsfeld aufgrund von Erkrankungen ihre natürlicher Zellen . Reden zu Protokoll gegeben haben1), hat jetzt nur noch der Kollege Harald Ebner, Bündnis 90/Die Grünen, die Die technischen Methoden dafür sind bereits ent- Gelegenheit, das Wort zu ergreifen und die Debatte zu wickelt und werden unter dem Begriff „Gene Editing“ beschließen . (B) zusammengefasst . Schon heute kann man Gene – auch (D) komplett in mehrzelligen bzw . vielzelligen Organis- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- men – gezielt austauschen oder verändern. Vielleicht NEN]: Was heißt „nur“? – Sven Volmering wird man so in wenigen Jahren Aids, Krebs oder Erb- [CDU/CSU]: Da haben wir den ganzen Tag krankheiten heilen . Aber vielleicht designen manche El- drauf gewartet! – Dr . Stefan Kaufmann [CDU/ tern ihr Wunschbaby, indem sie Größe, Haar- und Au- CSU]: Das muss jetzt aber auch die Rede des genfarbe sowie weitere Merkmale bestimmen. Vielleicht Tages werden!) kann man dann Fleisch ohne Tierhaltung produzieren . Und vielleicht werden auch neue Pflanzen und Tiere kre- Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): iert . Wenn Sie dies als reine Science-Fiction abtun, dann Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und lesen Sie die TAB-Berichte 164, 168 oder 169, welche Kollegen! Kaum eine andere technologische Entwick- die vorhandenen Möglichkeiten beschreiben . lung hat Wissenschaft und Medien in den letzten Jah- ren so stark bewegt wie die Entdeckung der Genschere, Die Labortechnik für viele synthetische Biologie- CRISPR/Cas und andere Ansätze der neuen Gentechnik . verfahren – wie beispielsweise „Gene Editing“ – ist Der Bericht des Büros für Technikfolgen-Abschätzung preiswert . Für ein paar 1 000 Dollar können Sie diese zur Synthetischen Biologie gibt uns als Bundestag und erwerben – frei käuflich. Synthetische Biologie hat zwei damit auch der Gesellschaft hierzu wichtiges Rüstzeug Seiten . Positives sehen wir zum Beispiel in der Medizin, an die Hand . wenn bisher unheilbare Krankheiten behandelt werden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) können und wenn Insulin für Patienten verträglicher und ohne Leid für Schweine aus genveränderten Bakterien Herr Albani, ich weiß nicht, ob Sie den Bericht wirk- gewonnen werden kann . Die Risiken aber sind groß, lich durchgeschaut haben . sei es, weil Tausende von Do-it-yourself-Biohackern in (Sven Volmering [CDU/CSU]: Ja! Hat er!) Hinterzimmern und Garagen an Technik für Genmani- pulation – und damit an Genveränderungen – arbeiten Zur Not empfehle ich auch den TAB-Fokus . Auch das hilft . und eventuell ungewollt Unfälle passieren, sei es, wenn Geheimdienste, Armeen und Terroristen weltweit diese (Sven Volmering [CDU/CSU]: Den hat er Möglichkeiten als Kampfmittel einsetzen wollen, oder auch gelesen!) sei es, wenn skrupellose Geschäftemacher diese Techni- ken rücksichtslos zur Profitsteigerung einsetzen. 1) Anlage 12 22638 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

Harald Ebner (A) Noch ist es kaum möglich, die tatsächlichen Potenzia- Regulierungsrahmen für den Umgang mit den neuen (C) le und den Nutzen dieser Technologien realistisch einzu- Technologien sicherzustellen, und dazu gehören auch die schätzen, auch weil sie auf sehr vielen Gebieten einsetz- Zulassungsverfahren . bar scheinen, von Medizin über Rohstoffherstellung bis hin zur Pflanzenzüchtung. Die mit der Technik in Verbin- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dung gebrachten Erwartungen sind nicht nur hoch, son- Wie der TAB-Bericht zeigt, werfen die neuen Gen- dern gehen leider oft auch am wissenschaftlichen Stand technikmethoden neue oder verschärfte Risikofragen auf erstaunlich naive Weise vorbei . auf: Wollen wir alles zulassen, was technisch möglich (Sven Volmering [CDU/CSU]: Wieso das ist, auch Eingriffe in die menschliche Keimbahn? Wel- denn?) che Folgen hätte der Einsatz der Gene-Drive-Technolo- gie, bei der gezielt genetisch veränderte Sequenzen zur So lautete eine Schlagzeile dieser Woche in der Berliner Weiterverbreitung in freilebenden Populationen ausge- Morgenpost „Können Superpflanzen den Hunger besie- bracht werden? Können wir die Gefahren geplanter Aus- gen?“ . Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, Welter- rottung tatsächlich ökologisch verantworten? Können nährung ist eben nicht in erster Linie eine Mengenfrage . wir alle Auswirkungen vorhersehen? Selbst die Leopol- Das hat bereits der TAB-Bericht von 2011 zum Thema dina warnt vor den Risiken . Und wie gehen wir damit Welternährung deutlich gemacht . um, dass Do-it-yourself-Biologen spielend leicht im Ga- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ragenlabor neue Gentechnikorganismen erschaffen kön- nen? Das zeigt uns: Laissez faire kann keine Option sein . Schon bei der klassischen Gentechnik wurde alles Mögliche versprochen. Heute wissen wir: Die Verspre- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) chen haben sich nicht bewahrheitet. Gentech-Pflanzen haben eben keine höheren Erträge gebracht, der Pesti- Wir brauchen eine breite gesellschaftliche Debatte . zideinsatz ist gestiegen statt gesunken, und trockenheits- Wer Akzeptanz für Genome Editing will, etwa im medi- und salztolerante Sorten gibt es zwar längst, aber sie zinischen Bereich, der muss auch dafür sorgen, dass die- stammen nicht aus dem Genlabor . Gerade bei der Tro- se Debatte stattfindet, und darf nicht die neue Gentechnik ckenheitstoleranz, eine der Schlüsseleigenschaften für den Menschen durch die Hintertür aufzwingen . Deshalb Zukunftsfragen des Pflanzenbaus, liegt das auf der Hand; ist es falsch – mein letzter Satz –, dass die Bundesregie- denn da wird durch ein äußerst komplexes Zusammen- rung im Entwurf des Gentechnikgesetzes die neue Gen- spiel vieler Gene diese Eigenschaft bestimmt . Genau da technik unter dem Radar der Regulierung durchwinken kommen CRISPR/Cas und Co . eben auch an ihre Gren- will und damit vollendete Tatsachen schafft. Das ist der zen . Wir dürfen uns nicht von verlockenden vermeintli- falsche Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen . Deshalb (B) chen Potenzialen dazu verleiten lassen, für einen neuen sollte auch die Bundesregierung den TAB-Bericht drin- (D) Technologiezweig aus reiner Innovationsbegeisterung gend lesen . auf eine Regulierung zu verzichten . Danke schön und gute Nacht . (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg . Ralph Lenkert [DIE LINKE]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir müssen gewährleisten, dass Gemeinwohlinte- ressen und ethische Grundsätze gewahrt bleiben . Der Vizepräsidentin Ulla Schmidt: TAB-Bericht, aber auch weitere Gutachten machen deut- Vielen Dank, Herr Kollege. – Damit ist die Ausspra- lich, dass es sich beim Genome Editing um gentechnische che beendet . Ansätze handelt, auch im juristischen Sinne . Deshalb ist für uns klar: Auch neue Gentechnik ist Gentechnik und Wir kommen zur Abstimmung . Zwischen den Frak- muss genauso reguliert werden . tionen wurde vereinbart, die Vorlage auf Drucksa- che 18/7216 an die in der Tagesordnung aufgeführten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausschüsse zu überweisen .– Ich sehe, Sie sind damit sowie bei Abgeordneten der LINKEN) einverstanden . Dann ist das so beschlossen . Wenn in Lebensmitteln Gentechnik drinsteckt, muss Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: auch Gentechnik draufstehen, und wenn der Eingriff per se nicht nachweisbar ist, müssen wir auf einem anderen Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Weg für Rückverfolgbarkeit sorgen . richts des Innenausschusses (4 .Ausschuss) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU Wir reden hier über mächtige Instrumente . Man kann und SPD damit wenig, aber man kann damit auch sehr viel am Innovativer Staat – Potenziale einer digi- Erbgut verändern, und das viel schneller und billiger als talen Verwaltung nutzen und elektronische bisher . Und deshalb ist es ganz klar: Auch bei der neuen Verwaltungsdienstleistungen ausbauen Gentechnik handelt es sich um eine Risikotechnologie, bei der viele Sicherheitsfragen nicht geklärt sind . Das – zu dem Antrag der Abgeordneten Dieter gilt besonders für Bereiche, wo geneditierte, lebensfä- Janecek, Dr . Konstantin von Notz, Kerstin hige Organismen in die Umwelt entlassen werden . Das Andreae, weiterer Abgeordneter und der Frak- Vorsorgeprinzip gebietet es eben, einen angemessenen tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22639

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Stillstand beim E-Government beheben – der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/ (C) Für einen innovativen Staat und eine mo- Die Grünen angenommen . derne Verwaltung Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die -Ab Drucksachen 18/9788, 18/9056, 18/10865 lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen auf Drucksache 18/9056 mit dem Titel „Stillstand Hierzu sollen die Reden zu Protokoll gegeben wer- beim E-Government beheben – Für einen innovativen den . – Sie sind einverstanden . Dann ist das so beschlos- Staat und eine moderne Verwaltung“. Wer stimmt für sen .1) diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den fehlung des Innenausschuss auf Drucksache 18/10865 . Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Frak- Fraktion Die Linke angenommen . tionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/9788 Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesord- mit dem Titel „Innovativer Staat – Potenziale einer di- nung . gitalen Verwaltung nutzen und elektronische Verwal- tungsdienstleistungen ausbauen“ . Wer stimmt für diese Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer tages auf morgen, Freitag, den 24 .März 2017, 9 Uhr, ein . enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Die Sitzung ist geschlossen . Ich wünsche Ihnen noch Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen einen schönen Restabend .

1) Anlage 13 (Schluss: 22 .23 Uhr)

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22641

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Albsteiger, Katrin CDU/CSU 23 .03 .2017 Schmidt, Dr . Frithjof BÜNDNIS 90/ 23 .03 .2017 DIE GRÜNEN Barthle, Norbert CDU/CSU 23 .03 .2017 Schwarzelühr-Sutter, SPD 23 .03 .2017 Binder, Karin DIE LINKE 23 .03 .2017 Rita

Bülow, Marco SPD 23 .03 .2017 Stauche, Carola CDU/CSU 23 .03 .2017

Dröge, Katharina * BÜNDNIS 90/ 23 .03 .2017 Strebl, Matthäus CDU/CSU 23 .03 .2017 DIE GRÜNEN Tank, Azize DIE LINKE 23 .03 .2017 Funk, Alexander CDU/CSU 23 .03 .2017 Tressel, Markus BÜNDNIS 90/ 23 .03 .2017 Gabriel, Sigmar SPD 23 .03 .2017 DIE GRÜNEN

Groneberg, Gabriele SPD 23 .03 .2017 Wagenknecht, Dr . Sahra DIE LINKE 23 .03 .2017

Gysi, Dr . Gregor DIE LINKE 23 .03 .2017 Wöllert, Birgit DIE LINKE 23 .03 .2017

Hajek, Rainer CDU/CSU 23 .03 .2017 *aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes

(B) Heller, Uda CDU/CSU 23 .03 .2017 (D) Anlage 2 Jelpke, Ulla DIE LINKE 23 .03 .2017 Erklärung nach § 31 GO Klein, Volkmar CDU/CSU 23 .03 .2017 der Abgeordneten Dr. Thomas Feist, Michael Kretschmer, Yvonne Magwas, Maria Michalk Kudla, Bettina CDU/CSU 23 .03 .2017 und Marco Wanderwitz (alle CDU/CSU) zu der Abstimmung über den von den Fraktionen CDU/ Lerchenfeld, Philipp CDU/CSU 23 .03 .2017 CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein- Graf gebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Fortent- wicklung des Gesetzes zur Suche und Auswahl Möhring, Cornelia DIE LINKE 23 .03 .2017 eines Standortes für ein Endlager für Wärme ent- wickelnde radioaktive Abfälle und anderer Gesetze Mosblech, Volker CDU/CSU 23 .03 .2017 (Tagesordnungspunkt 3) Müntefering, Michelle SPD 23 .03 .2017 Wir können dem Gesetz zur Fortentwicklung des Ge- setzes zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Pfeiffer, Dr. Joachim CDU/CSU 23 .03 .2017 Endlager für Wärme entwickelnde radioaktive Abfälle (StandAG) nicht zustimmen . Post, Florian SPD 23 .03 .2017 Obwohl in der Schlussberatung des federführenden Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reak- Pronold, Florian SPD 23 .03 .2017 torsicherheit Zugeständnisse seitens des Bundesumwelt- ministeriums hinsichtlich der Forschungsreaktoren des Rüthrich, Susann * SPD 23 .03 .2017 Forschungszentrums Rossendorf gemacht wurden, bleibt ein endgültiges Exportverbot Teil des Standortauswahl- Sarrazin, Manuel BÜNDNIS 90/ 23 .03 .2017 gesetzes . Der Freistaat Sachsen trägt vorerst als einziges DIE GRÜNEN Bundesland weiter die Lasten für die Zwischenlagerung der Kernbrennstoffe aus dem DDR-Reaktor. Schlecht, Michael DIE LINKE 23 .03 .2017 Die im Protokoll des Umweltausschusses vom Schmidt (Ühlingen), CDU/CSU 23 .03 .2017 22. März 2017 getroffene Verabredung, Gespräche sei- Gabriele tens des Bundes mit dem Freistaat Sachsen über mögli- 22642 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) che Kompensationsleistungen zu führen, sind unverzüg- hinterfragendes und lernendes Verfahren“ und mit größt- (C) lich einzuleiten . möglicher Bürgerbeteiligung von Anfang an . Weitaus schwerer wiegt jedoch die unzureichende Zur heutigen Abstimmung im Bundestag: Formulierung hinsichtlich der Sicherungsvorschriften in Im Vergleich zum Kabinettsbeschluss der Bundes- § 21 . Die vorgesehene Regelung hindert die Weiterent- regierung – Dezember 2016 – wurden bereits bis zur wicklung des Bergbaus im Freistaat Sachsen . In einigen parlamentarischen Einbringung des Gesetzentwurfs Gebieten mit zu betrachtendem Wirtsgestein wurden der Bundestagsfraktionen zur ersten Lesung – Febru- in den vergangenen Jahren bergbauliche Erkundungen ar 2017 – mehrere Verbesserungen und Klarstellungen durchgeführt, die zur Genehmigung anstünden . Diese am Text erreicht . Das geschah insbesondere auf Drängen werden nun erheblich beeinträchtigt . Für den Fall, dass der grünen Bundestagsfraktion . einzelne Gebiete oberirdisch erkundet werden, ist dort von einer langjährigen Veränderungssperre auszugehen. So wurden zum Beispiel die Stellung des Partizipa- Leider konnte sich nicht auf eine klarstellende Formu- tionsbeauftragten sowie die Aufgabenbeschreibung des lierung geeinigt werden, die bestehende oder beantragte Nationalen Begleitgremiums (NBG) erweitert und kon- Bergbauvorhaben von einer Veränderungssperre aus­ kretisiert . Und es wurde korrigiert, dass die Aufgabe des nimmt . Bundesamtes für kerntechnische Entsorgungssicherheit (BfE), zu Ausnahmen nach § 21 Stellung zu nehmen, Dies betrifft in erster Linie ländlich geprägte Regio- nicht erst Monate später in Kraft tritt als der Rest des nen im Freistaat Sachsen . Deren Zukunftsfähigkeit hängt Gesetzes . besonders von Arbeitsplätzen ab . Eine mittelfristige Un- terbrechung der laufenden Projekte würde einem Ab- Auch enthält das Gesetz durch den von Bündnis 90/ bruch des jeweiligen Vorhabens gleichkommen. Das ist Die Grünen, SPD und CDU/CSU eingebrachten Ände- nicht akzeptabel . rungsantrag jetzt erneut mehrere deutliche Verbesserun- gen im Vergleich zum Stand des Gesetzestextes von der ersten Lesung im Februar. Diese Verbesserungen wurden vor allem von Bündnis 90/Die Grünen in die Verhand- Anlage 3 lungen zwischen den Bundestagsfraktionen erfolgreich Erklärungen nach § 31 GO eingebracht und wurden von Sachverständigen in der Expertenanhörung im Umweltausschuss des Bundestags zu der Abstimmung über den von den Fraktionen bestätigt . CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Fort- Beispielsweise hat die Inanspruchnahme des Rechts- (B) entwicklung des Gesetzes zur Suche und Auswahl schutzes nach § 17 und § 19 nun aufschiebende Wirkung (D) eines Standortes für ein Endlager für Wärme ent- im Verfahren. wickelnde radioaktive Abfälle und anderer Gesetze Besonders wichtig ist mir das zügige Inkrafttreten der (Tagesordnungspunkt 3) Sicherung potenzieller Atommüll-Endlager-Standorte in ganz Deutschland – Stichwort „bundesweite Verände- Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rungssperre“. Damit sollen Anträge auf Rohstoffabbau Mit der heutigen Abstimmung wird das Standortauswahl- oder andere Bohrungen nicht genehmigt werden, solan- gesetz (StandAG) von 2013 novelliert – dabei liegen Er- ge sich ein Gebiet noch im Suchverfahren befindet. Mit gebnisse der mehrjährigen Arbeit der „Atommüll-Kom- den in § 21 aufgenommenen Schutzvorkehrungen wird mission“ – Kommission zur Lagerung hoch radioaktiver nun erstmals ein Großteil der bundesweit vorhandenen Abfälle/Endlagerkommission – zugrunde . Wirtsgesteine vor schädigendem Zugriff geschützt. Eine deutliche Verbesserung gegenüber dem Status quo, denn Mir ist ein echter Neubeginn bei der Suche nach ei- bisher galt die Veränderungssperre ausschließlich für nem bestmöglichen Aufbewahrungsort in Deutschland Gorleben . für den hochradioaktiven Atommüll wichtig . Und unter Umständen wird es am Ende nur der „am wenigsten un- Die Sicherung potenzieller Standorte ist für mich eine geeignete“ Standort . ganz zentrale Grundvoraussetzung für ein faires Verfah- ren, damit es im letzten Schritt der Endlagersuche über- Als Bundestagsabgeordnete für Bündnis 90/Die Grü- haupt mehrere unbeschädigte Standorte in den verschie- nen aus dem Wahlkreis Lüneburg-Lüchow-Dannenberg denen Wirtsgesteinen gibt, die untertägig erkundet und kenne ich die über 40‑jährige Geschichte der bisherigen miteinander verglichen werden können . Dafür habe ich verfehlten Atommüllpolitik in Deutschland nur zu gut . mich seit Jahren eingesetzt . Gerade der Missstand, dass Gorleben 1977 nicht durch ein wissenschaftsbasiertes vergleichendes Verfahren für Ein Gesetz oder ein Verfahren kann geändert werden. die Erkundung als Atommüll-Endlager ausgewählt wur- Rücksprünge sind hier möglich . Doch wenn die Geologie de, ist der Hauptgrund für den heutigen neuen Anlauf . einmal irreversibel geschädigt wurde, dann steht der ent- Auch mir ist es ein besonders dringliches Anliegen, die sprechende Standort für die sichere Lagerung des Atom- Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen, sondern mülls über 1 Million Jahre nicht mehr zu Verfügung. aus ihnen zu lernen . Deswegen ist es so wichtig, dass potenzielle Standorte nicht für andere kurzfristige Interessen genutzt werden, Deswegen erwarte ich eine transparente, und an wis- sondern die Option erhalten bleibt, tatsächlich einen ge- senschaftlichen Kriterien orientierte Suche als „selbst- eigneten Ort für den Atommüll zu finden. Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22643

(A) Zwar wurden von den Bundestagsfraktionen die unter Umständen ein nicht geeigneter Standort länger im (C) möglichen Ausnahmen in § 21 Absatz 2 für untertägige Verfahren bleibt als nötig. Und dies ist aus meiner Sicht Nutzung – im Vergleich zum Gesetzentwurf der Bundes- nicht zielführend . regierung – weiter eingeschränkt, aber aus meiner Sicht gehen die Ausnahmen noch zu weit . Nach sorgfältiger Abwägung all dieser Punkte werde ich mich bei der Abstimmung zum Gesetz enthalten . Eine ganz entscheidende Verbesserung ist, dass nun das BfE laut § 21 nicht nur eine Stellungnahme zu mög- (CDU/CSU): Mit der Verab- lichen Ausnahmen bei Anträgen auf untertägige Nut- Dr. Anja Weisgerber schiedung des Standortauswahlgesetzes (StandAG) im zung abgeben wird, sondern in vielen Fällen sogar ein Sommer 2013 haben Bund und Länder gemeinsam die Vetorecht hat. Diesen Punkt hatte ich während der Ex- Voraussetzungen dafür geschaffen, die Suche nach einem pertenanhörung im Umweltausschuss angesprochen . Ich Endlager für Wärme entwickelnde hochradioaktive Ab- erwarte hierdurch einen recht weitgehenden Schutz für fälle auf eine neue Grundlage zu stellen . Auch die auf potenzielle Endlagerstandorte . Basis dieses Gesetzes einberufene Kommission „Lage- Insgesamt gibt es somit im Vergleich zur bisherigen rung hoch radioaktiver Abfallstoffe“ und ihr am 28. Juni Gesetzeslage im StandAG einige Verbesserungen. Durch 2016 beschlossener Abschlussbericht mit den Empfeh- die Umsetzung der Ergebnisse der Atommüll-Kommis- lungen für ein neues Endlagersuchverfahren waren zen- sion wird die neue Rechtslage insgesamt besser sein, als trale Meilensteine für einen zukunftsweisenden Konsens, wenn das StandAG von 2013 weiterhin unverändert in den ich grundsätzlich mittrage . Dieser Konsens kann in Kraft wäre. Zu diesen Verbesserungen gehört zum Bei- meinen Augen zu einer möglichen Befriedung eines jahr- spiel auch der Rechtsschutz für Bürgerinnen und Bürger zehntelangen und die gesamte Gesellschaft beschäftigen- und Grundeigentümerinnen und Grundeigentümer . Hier- den Konflikts beitragen. Als Abgeordnete des Wahlkrei- für hatten sich in der Atommüll-Kommission sowohl die ses mit dem stillgelegten Kernkraftwerk Grafenrheinfeld Vertreter und Vertreterinnen von Bündnis 90/Die Grünen sehe ich es auch als wichtig an, der Region mit dem Ge- als auch der Vertreter des Bundes für Umwelt und Natur- setz hinsichtlich der Endlagerung der hochradioaktiven schutz Deutschland (BUND) eingesetzt . Abfälle eine Perspektive zu geben . Nicht zuletzt war für mich ausschlaggebend, dass durch die Festlegung, Meine Kritik am heute abzustimmenden Gesetz, unter das Endlager in allen drei Wirtsgesteinen zu suchen, der anderem: Standort Gorleben weiterhin Teil der Endlagersuche sein Für ein vergleichendes wissenschaftliches Verfahren wird . Dies sind die Hauptgründe meiner Zustimmung sollten immer mindestens zwei Standorte pro Wirtsge- zum StandAG-Fortentwicklungsgesetz . stein – Ton, Salz, Kristallin – mit der gleichen Erkennt- (B) nistiefe erkundet werden . Dieses aus meiner Sicht ganz Kritisch sehe ich die im Gesetz vorgesehene Gleichran- (D) zentrale Prinzip wurde bedauerlicherweise nicht im Ge- gigkeit verschiedener Endlagerkonzepte in den Wirtsge- setz festgeschrieben . Hierzu gab es schon in der Atom- steinen Steinsalz, Ton- und Kristallingestein . Dies habe müll-Kommission leider keine Einigung . ich auch während der parlamentarischen Beratungen zum Ausdruck gebracht . Laut § 8 sei die Rolle des Nationalen Begleitgremiums (NBG) die „vermittelnde und unabhängige Begleitung“, Nach dem internationalen Stand von Wissenschaft Zweck ist, „Vertrauen in die Verfahrensdurchführung und Technik kann in Steinsalz, Ton- und wohl auch in zu ermöglichen“ . Relevant dafür, dass das NBG diese Kristallingestein ein sicheres Endlager für hochradio- Aufgabe auch erfüllen kann, sind ausreichende finanzi- aktive Abfälle für eine Million Jahre realisiert werden . elle Mittel, breite Befugnisse und echte Unabhängigkeit . Kristallingestein ist jedoch im Gegensatz zu Steinsalz Diese Rahmenbedingungen und Rechte des NBG können und Tongestein meist geklüftet . Deshalb müssen dann nur in eingeschränktem Maße gesetzlich verankert wer- geotechnische und technische Barrieren – Streckenver- den . Jedoch erwarte ich von allen Bundestagsfraktionen füllung aus Bentonit (Ton) plus Endlagerbehälter – die ein klares Bekenntnis hierzu – auch hinsichtlich der zu- Isolation der Abfälle für den langen Betrachtungszeit- künftigen Haushaltsberatungen . raum gewährleisten . Das Konzept des einschlusswirksa- men Gebirgsbereichs (ewG), bei welchem die Geologie § 22 wurde nach der Anhörung konkretisiert und die Hauptlasst der Isolation der Abfälle von der Biosphä- hier deutlich gemacht, dass Erkundungsmaßnahmen re trägt, ist dann nicht zu realisieren . so geplant und durchgeführt werden müssen, „dass der einschlusswirksame Gebirgsbereich nur in dem für den Der vorliegende Gesetzentwurf legt für die künftige erforderlichen Informationsgewinn unvermeidlichen Endlagersuche den hohen Anspruch der „bestmöglichen Ausmaß verritzt und seine Integrität nicht gefährdet Sicherheit“ mit einem Vergleich von Standorten fest. Vor wird“ . Doch auch in der neuen Fassung des Gesetzes soll diesem Hintergrund gibt es einen maßgeblichen Unter- eine Schädigung eines Standortes, die möglicherweise schied zwischen dem ewG- und dem Kristallinkonzept: durch die Erkundung entstanden ist, nicht sofort zum Im ewG-Konzept beruhen die Aussagen der Langzeit- Ausschluss dieses Standortes führen, selbst wenn da- sicherheit maßgeblich auf der Geologie, welche viel ro- durch negative Einflüsse auf den Spannungszustand oder buster für 1 Million Jahre zu prognostizieren ist als für die Permeabilität des Gebirges entstanden sind . Stattdes- Konzepte mit geotechnischen und technischen Barrieren . sen soll erst bei der vorläufigen Sicherheitsuntersuchung geprüft werden, ob ein sicherer Einschluss trotz dieser Ich bin mir sicher, dass vor dem Hintergrund der Folgen sichergestellt werden kann . Das führt dazu, dass „bestmöglichen Sicherheit“ nur ein Endlagerstandort 22644 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) mit dem Konzept des einschlusswirksamen Gebirgsbe- hat der europäische Datenschutzbeauftrage erweiterte (C) reiches (ewG) sich am Ende des Endlagersuchverfahrens Kontrollrechte gegenüber Europol erhalten, und auch durchsetzen wird bzw . kein Endlagerkonzept mit maß- eine parlamentarische Kontrolle ist nun vorgesehen . Die- geblichen technischen oder geotechnischen Barrieren in se wird zukünftig durch ein gemeinsames Gremium der Deutschland zum Einsatz kommen wird . Letztendlich nationalen Parlamente und des europäischen Parlaments wird dies dann aber nur die Durchführung des Verfahrens ausgeübt . erbringen . An der genauen Ausgestaltung dieser neuen und mei- Aufgrund der Klarstellung im Gesetzentwurf, dass nes Erachtens zukunftsweisenden Zusammenarbeit der europäischen und nationalen Ebene wird derzeit fieber- – bei einem Behälterkonzept deutlich höhere Anfor- haft unter Beteiligung aller europäischen Parlamente derungen an die Langzeitintegrität des Behälters zu gearbeitet. Ich hoffe, dass wir bis zum Wirksamwerden stellen sind, der neuen Europol-Verordnung Anfang Mai hier Vollzug – der Nachweis des sicheren Einschlusses der Ra- melden können . dionuklide für eine Million Jahre im Vergleich zu Um Europol die neuen Aufgaben zu ermöglichen, ist anderen Standorten mit dem Anspruch der „best- aber auch auf Ebene der Mitgliedstaaten die Umsetzung möglichen Sicherheit“ geführt werden muss, der neuen Verordnung in nationales Recht nötig. Mit dem – der Bund nach Verabschiedung des „Gesetzes zur nun vorliegenden ersten Gesetz zur Änderung des Euro- Neuordnung der Verantwortung der kerntechni- polgesetzes wird diese Umsetzungsarbeit vom Bundes- schen Entsorgung“ entsprechend dem Verursa- tag in Angriff genommen. cherprinzip die Rückstellungen der Energieversor- Einer der wesentlichen Punkte der Änderungen, die gungsunternehmen für die atomare Zwischen- und auf EU-Ebene vorgenommen wurden ist, dass zukünftig Endlagerung übertragen bekommen hat und im der Kreis der Polizeibehörden, die Vollzugriff auf die Da- Gegenzug nun für diese Aufgabe voll organisato- ten von Europol bekommen können, erweitert wird . In risch und finanziell verantwortlich ist und Deutschland soll der Bundespolizei, dem Zollfahndungs- – aufgrund der überragenden politischen Bedeutung dienst und den Polizeibehörden der Länder dieser Zugriff des überfraktionellen Konsenses auf das Europolsystem und seine Datenbanken gewährt werden . stimme ich dem Gesetz dennoch zu . Dies tue ich insbe- sondere auch für die Bürgerinnen und Bürgern im Land- Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Frage der techni- kreis Schweinfurt, die ein Recht auf eine verlässliche schen Umsetzung . Diese erfolgt im Gegensatz zum bis- (B) Perspektive durch eine mittelfristige Endlagerlösung herigen Ansatz des Europolratsbeschlusses technikneu- (D) haben . tral. Es wird also auf bestimmte Verarbeitungszwecke abgestellt und nicht auf bestimmte technische Systeme . Dies führt innerhalb des Europolsystems zum einen zu mehr Flexibilität, und zum anderen kann das System Anlage 4 besser an zukünftige technische Entwicklung angepasst Zu Protokoll gegebene Reden werden . zur Beratung des von der Bundesregierung ein- Mit den nun zu beschließenden gesetzlichen Ände- gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur rungen wird die polizeiliche Arbeitsebene zukünftig Zu- Änderung des Europol-Gesetzes (Tagesordnungs- griff auf wichtige Erkenntnisse von Europol haben. Dies punkt 16) wird dazu beitragen, die tägliche Polizeiarbeit schnel- ler, erfolgreicher und effizienter zu machen. Gerade in der heutigen Zeit, in der Verbrechen und Verbrecher an Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): Wie kürz- Staatsgrenzen nicht mehr Halt machen – wie der ein- lich bekannt wurde, hat es Mitte Januar in Spanien einen gangs erwähnte erfolgreiche Schlag gegen einen Waf- Schlag gegen einen riesigen Waffenhändlerring gege- fenhändlerring in Spanien zeigt –, ist die effektive und ben, bei dem mehr als 10 000 Waffen sichergestellt und schnelle Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden in der fünf beteiligte Personen festgenommen werden konnten . EU von entscheidender Bedeutung, um den Bürgerinnen Nach Presseberichten war man dem Händlerring im Rah- und Bürgern die Sicherheit zu bieten, die sie von ihrem men der Ermittlungen zum Anschlag auf das jüdische Staat erwarten . Museum in Brüssel im Jahr 2014 auf die Spur gekom- men . Unterstützt wurden diese Ermittlungen durch Euro- Da die neue europäische Verordnung am 1. Mai dieses pol. Dies zeigt, wie wichtig Europol bei der Verbrechens- Jahres in Kraft treten wird, wäre es wichtig, dass wir die bekämpfung in der EU heutzutage ist . parlamentarischen Beratungen zügig abschließen . Damit wäre gewährleistet, dass Deutschland direkt zum Start Mit der Verabschiedung der neuen Europolverord- am reformierten Europolsystem teilnehmen kann . nung im Mai vergangenen Jahres haben das Europapar- lament und der Rat dafür gesorgt, dass die Agentur noch Sowohl vonseiten der Bundesländer als auch vonsei- schlagkräftiger agieren kann . Bei der Erweiterung der ten der Bundesbeauftragten für den Datenschutz wurde Rechte von Europol wurde aber nicht nur die Frage der kein Widerstand gegen das vorliegende Gesetz geäußert . künftigen Schlagkraft, sondern auch des Datenschutzes Dies ist erfreulich und sollte dazu beitragen, dass wir nun und der parlamentarischen Kontrolle berücksichtigt . So anstehende Beratungen schnell abschließen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22645

(A) Packen wir’s an, wir müssen den Bürgerinnen und und Menschenhandel sowie organisierte Eigentumsde- (C) Bürgern zeigen, dass Europa für uns alle einen Mehrwert likte sind Hauptbetätigungsfelder der OK . hat, gerade wenn es um die Sicherheit von uns allen geht . Die organisierte Kriminalität gefährdet aber nicht nur mit ihren Taten die Sicherheit in unserer Gesellschaft, Susanne Mittag (SPD): Kriminalität ist ein weltwei- und zwar alle, Arm und Reich, nein, Terroristen nehmen tes Phänomen . Es macht vor keinen Grenzen Halt, ganz gerne Dienstleistungen von OK-Gruppen, wie zum Bei- im Gegenteil: Kriminelle nutzen Grenzen, um sich der spiel den Menschenschmuggel, Dokumentenfälschungen Verfolgung über Staatsgrenzen hinweg zu entziehen. Sie oder illegalen Waffenhandel, in Anspruch, um so mög- nutzen unterschiedliche Strafverfolgungs- und Ermitt- lichst unter dem Radar der Sicherheitsbehörden einreisen lungssysteme gezielt aus . Die organisierte Kriminalität zu können bzw . ihre Taten vorzubereiten . handelt mit allem Illegalen, mit dem sich viel Geld ver- dienen lässt: Menschen, Drogen, Waffen, Kunstgegen- Um auch hier wirkungsvoll ansetzen zu können, brau- ständen aus Raubgrabungen . Hochwertige Fahrzeuge chen wir eine verbesserte internationale Zusammenarbeit stehen gerade hoch im Kurs . Oder es sind mobile Banden, der Sicherheitsbehörden . Dafür brauchen wir ein gut die Wohnungseinbrüche begehen oder alte Menschen mit aufgestelltes Europäisches Polizeiamt Europol und einen dem sogenannten Enkeltrick betrügen . Sie schlagen mal modernen Rechtsrahmen, in dem Europol agieren kann . in Holland, mal entlang der A2 zu, um sich dann weiter in Das ist die sogenannte Europol-Verordnung. den Osten zu bewegen; ein großer Teil ist in drei Ländern Die Verordnung, die im Mai vergangenen Jahres vom unterwegs . Europäischen Parlament und vom Rat beschlossen wur- Deshalb ist es vollkommen richtig und wichtig, dass de, war ein hartes Stück Arbeit für die Kolleginnen und auch die Polizeien sich besser international vernetzen . Kollegen des Europäischen Parlamentes . Auch der Bun- Innerhalb der Europäischen Union wurde dafür schon destag hat sich eingehend damit befasst. Die zehn Ver- 1999 das Europäische Polizeiamt mit Sitz in Den Haag handlungsrunden im Trilog zeugen davon, dass hier sehr gegründet . Europol, wie das Polizeiamt auch kurz ge- ausdauernd an sinnvollen Lösungen gearbeitet wurde . nannt wird, hilft den nationalen – also auch deutschen – Ich denke, es hat sich gelohnt . Strafverfolgungsbehörden bei der Bekämpfung schwerer Europol hat nun eine parlamentarische Kontrolle, be- internationaler Kriminalität und von Terrorismus . Beides stehend aus Vertretern der nationalen Parlamente und gehört mehr und mehr zusammen . dem zuständigen LIBE- Ausschuss im EP, erhalten . Das Aber zum Beispiel auch Subventionsbetrug, Kriegs- ist wichtig . Denn durch eine starke parlamentarische verbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit Kontrolle entsteht auch die Legitimität und Akzeptanz in den einzelnen Ländern, die eine EU-Polizeibehörde für (B) gehören jetzt zu den Aufgabengebieten von Europol . Eu- (D) ropol fungiert als Knotenpunkt für den Informationsaus- ihre Arbeit braucht . tausch zwischen den nationalen Polizeien zu kriminellen Nun ist die Verordnung beschlossen und tritt am Aktivitäten innerhalb der EU und erstellt gemeinsame 1 . Mai 2018 in Kraft . Wir müssen jetzt kleinere, zuweilen Ermittlungsgruppen . eher redaktionelle Änderungen an unserem Europol-Ge- Aber Europol dient nicht nur zur Informationsvertei- setz vornehmen, um es an die Verordnung anzupassen. lung, sondern bereitet aus den zur Verfügung gestellten Endlich sollen auch die Bundespolizei, der Zollfahn- Daten Analysen zu unterschiedlichen Kriminalitätsberei- dungsdienst und die Länderpolizeien direkten Zugriff auf chen auf . In Den Haag ist also ein Kompetenzzentrum operative Analysedateien bei Europol erhalten . Oftmals mit aus den Mitgliedstaaten entsandten Polizisten ent- müssen die Erkenntnisse schnell erlangt werden . Der standen . veraltete „Dienstweg“ wurde mit der Europol-Verord- nung modifiziert. Hier können durch die internationale Vernetzung ganzheitliche Analysen unterschiedlicher Phänomenbe- Wo mit Daten, besonders mit so sensiblen wie Per- reiche erarbeitet und den Polizeibehörden zur Verfügung sonendaten gearbeitet wird, muss es eine aktuelle und gestellt werden: zum Ermitteln, Verhaften und Werte-Si- rechtssichere Datenschutzsystematik geben . Deshalb chern . wurde auch der Europäische Datenschutzbeauftragte, der zuständig für die Kontrolle von Europol ist, darauf fest- Beispielhaft für solch eine Analyse möchte ich hier gelegt, dass er mit den nationalen Kontrollbehörden für nur kurz den SOCTA-Bericht 2017, der Anfang des Mo- den Datenschutz eng zusammenarbeiten muss . Hierfür nats erschienen ist, nennen . In diesem Bericht beleuch- wurde nach zähem Ringen der Beirat für die Zusammen- tet Europol die schwere und organisierte Kriminalität in arbeit gegründet, der sich aus je einem Vertreter der Kon- Europa . In der EU werden derzeit rund 5 000 bekann- trollbehörden der Mitgliedstaaten und dem Europäischen te Gruppen der OK in Ermittlungen überprüft . Eine Beauftragten für den Datenschutz zusammensetzt . OK-Gruppe besteht dabei aus drei und mehr Personen, die über eine bestimmte Zeitspanne zusammenarbeitet, Die spannende Frage bei Kontrollen ist aber doch um Gewinne aus Straftaten zu erzielen . Rund 76 Prozent immer: Wer benennt denn den Kontrolleur? Eigent- dieser Gruppen haben sechs und mehr Mitglieder, sind lich logisch, dass im Entwurf das Ernennungsrecht des meist hierarchisch organisiert und arbeiten nur bedingt deutschen Vertreters bei der Beauftragten für den Daten- deliktsbezogen, das heißt umgangssprachlich: klauen, schutz und die Informationsfreiheit liegt . Wo sonst? Die was bestellt wird. Vor allem die Bereiche des illegalen sogenannte BfDI ist ja auch in Deutschland die unabhän- Warenhandels im Internet, Drogen, Menschenschmuggel gige Kontrollinstanz im Bereich des Datenschutzes . Des- 22646 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) halb ist es gut, diese Systematik auch beim Beirat für die definiert, was Terrorbekämpfung ist, wer definiert, was (C) Zusammenarbeit für Europol beizubehalten . die nötigen Informationen sind, und – nicht zuletzt – wer prüft nach, was mit diesen Informationen passiert und an Insgesamt halte ich den Entwurf für einen wichtigen wen sie schlussendlich weitergegeben werden? Das alles Schritt zur Bekämpfung der OK und bin gespannt auf die ist völlig unklar . Europol wird zur Blackbox, die für nie- parlamentarischen Beratungen . manden kontrollierbar ist .

Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Bundesregierung will Das gilt noch mehr für den angestrebten Datenaus- das Europol-Gesetz umschreiben, um es an die verän- tausch mit Geheimdiensten . In mehreren Mitgliedstaa- derte europäische Rechtslage anzupassen . Anlass ist die ten gibt es schon eine institutionalisierte Zusammenar- im vorigen Jahr erfolgte Ersetzung des früheren Euro- beit zwischen Polizei- und Geheimdienstbehörden, in pol-Ratsbeschlusses durch die Europol-Verordnung, die Deutschland etwa im Gemeinsamen Terrorabwehrzent- jetzt ihren Niederschlag in einem deutschen Gesetz fin- rum und dem Gemeinsamen Extremismus- und Terroris- den soll . musabwehrzentrum. Voriges Jahr schlug die Europäische Kommission nun vor, ebenfalls ein „Drehkreuz für den Die Linke wird diesem Gesetz die Zustimmung ver- Informationsaustausch“ zwischen europäischen Polizei- weigern, genau wie es unsere Schwesterfraktion im Eu- und Geheimdienstbehörden einzurichten, wobei Europol roparlament gemacht hat. Denn die Europol-Verordnung wiederum eine zentrale Rolle erhalten soll . ist ein Schritt auf dem Weg zu einer Art Super-Polizeibe- hörde, die immer mehr Kompetenzen erhält, ohne dass Die Linke lehnt diese gemeinsamen Zentren in die Kontrollbefugnisse von Parlamenten und Datenschüt- Deutschland ab, weil sie das Trennungsgebot zwischen zern damit Schritt halten . Die Bürgerrechte, insbesondere Polizei und Geheimdiensten unterlaufen . Sie ermöglichen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, es Polizeibehörden, an Informationen zu gelangen, an die bleiben dabei auf der Strecke . sie nach eigenem Recht gar nicht gelangen könnten, und umgekehrt . Dieses Prinzip darf nicht auch noch auf die Sicherlich ist die Koordination europäischer Polizei- ganze EU ausgedehnt werden . Denn natürlich operieren behörden wichtig, damit sich Kriminelle nicht einfach diese Zentren quasi in einem rechtsfreien Raum und sind dem Zugriff entziehen können, indem sie sich in ein weder durch nationale Parlamente zu kontrollieren noch anderes Mitgliedsland absetzen . Es muss aber klare Zu- durch das Europaparlament . Auf diese Weise könnten ständigkeiten und Kontrollbefugnisse geben, und daran etwa deutsche Polizei- und Geheimdienstbehörden die mangelt es leider . Beschränkungen des Informationsaustauschs, die ihnen deutsches Recht auferlegt, klammheimlich und unbe- Europol hat in den letzten Jahren erheblich aufgerüs- merkt hintergehen . (B) tet . Die Behörde verfügt jetzt beispielsweise über eine (D) sogenannte Meldestelle für Internetinhalte, die gewalt- Die Entwicklung von Europol geht damit in die fal- verherrlichende Seiten aufspüren und ihre Löschung sche Richtung . Internationaler polizeilicher Datenaus- veranlassen soll . Die Kriterien dafür bleiben, wie so vie- tausch muss konkret dem Kampf gegen Kriminalität les bei Europol, im Unklaren . So geht diese Meldestelle dienen und darf nicht zum Selbstzweck werden . Er muss mittlerweile auch gegen Facebook-Gruppen professio- zudem einer parlamentarischen und soweit wie möglich neller Schleusernetzwerke vor, was letztlich dazu führen auch öffentlichen Kontrolle unterliegen. Dieser enge wird, dass die Fluchtwege noch gefährlicher werden . Sie Rahmen wird hier eindeutig verlassen . Die Zweckbin- darf zudem von privaten Konzernen wie Google, Face- dung erhobener Daten, der Respekt vor der informati- book, Twitter usw . die Nutzerdaten anfordern und so ei- onellen Selbstbestimmung, das Prinzip der Trennung nen gigantischen Datenberg anhäufen . polizeilicher und geheimdienstlicher Arbeit, all das wird für hinfällig erklärt . Europol wird Schritt für Schritt zum Unklar bleibt auch, was genau das von Europol An- unkontrollierbaren Datenkraken aufgebaut . Das gibt den fang 2016 eingerichtete Europäische Zentrum für Ter- Einwohnerinnen und Einwohnern der Europäischen Uni- rorismusbekämpfung macht . Europol-Direktor Rob on nicht mehr Sicherheit, sondern es nimmt ihnen Frei- Wainwright bezeichnete das Zentrum im Januar 2017 als heitsrechte . „Meilenstein im Kampf gegen den Terrorismus“; der In- formationsaustausch zwischen den europäischen Polizei- behörden habe erheblich zugenommen .– Das glaube ich Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der gerne, aber ich kann darin nicht nur einen Vorteil sehen, vorliegende Gesetzentwurf reagiert auf die im Mai 2016 sondern ich sehe auch eine Bedrohung für die Bürger- beschlossene neue Verordnung 2016/794 des Europä- rechte, wenn es keine effektive Kontrolle darüber gibt, ischen Parlaments und des Rates zu Europol und be- welche Art von Daten hier auf welcher Grundlage ausge- schränkt sich im Wesentlichen darauf, die nach der Ver- tauscht werden . ordnung zwingend vorgegebenen nationalen Regelungen zu schaffen. Deswegen ist es äußerst bedenklich, wenn die Euro- pol-Verordnung festschreibt, dass die nationalen Polizei- Europol hat dabei weiterhin in erster Linie die Auf- behörden Europol „alle nötigen Informationen“ für die gabe, die Tätigkeit der zuständigen Behörden der Mit- Terrorbekämpfung zukommen lassen sollen . Dem Gesetz gliedstaaten zu stärken sowie deren Zusammenarbeit zufolge sollen die Polizeibehörden der Bundesländer bei der Prävention und Bekämpfung von organisierter selbst Europol zuarbeiten und auch von dort Daten abru- Kriminalität, Terrorismus und anderen Formen schwerer fen können . Da muss doch wenigstens geklärt sein: Wer Kriminalität zu unterstützen . Dabei steht die eigene Da- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22647

(A) tenverarbeitung durch Europol sowie die Weitergabe von im Übrigen dringend angezeigt, weitere Regelungen in (C) Informationen und Analysen an nationale Behörden im den Gesetzentwurf aufzunehmen . Wesentliche Ansätze Zentrum . hinsichtlich der Frage der Zweckbindung polizeilicher Daten hat zum Beispiel die Anhörung zum BKA-Gesetz Ein wesentlicher Punkt dabei ist aber, dass die Abfra- geliefert, die man auch hier aufgreifen könnte . Dazu ist gen nationaler Behörden künftig nicht mehr durch das es jedoch notwendig, Anhörungen nicht nur durchzu- jeweilige Verbindungsbüro, sondern direkt durch die führen, sondern die Stellungnahmen der Experten auch jeweilige nationale Polizeibehörde erfolgen sollen . Ein tatsächlich in das Gesetzgebungsverfahren einfließen zu solcher Schritt war ja zu erwarten . Ob dadurch aber eine lassen . bessere Nutzung der Systeme durch die Mitgliedstaaten erreicht wird, wird man erst in der Praxis sehen können . Und auch das zeigt der vorliegende Gesetzentwurf Neu ist aber auch, dass nationalen Behörden dabei nun deutlich: Europol braucht schon allein aufgrund der Mas- auch der Zugang zu Daten eröffnet wird, die bei Euro- se an polizeilichen Daten, die dort zukünftig zusammen- pol bisher nur zu Analysezwecken verarbeitet werden . In laufen sollen, eine bessere parlamentarische Kontrolle . diesem Zusammenhang besonders wichtig ist daher, dass Als nationales Parlament sollten wir daher unseren ge- der europäische Gesetzgeber dem Thema Datenschutz samten Einfluss geltend machen, das zu gewährleisten. erhebliches Gewicht beimisst . So wurde ein ganz neues Kapitel der Verordnung allein den Datenschutzgarantien Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär beim Bun- gewidmet . desminister des Innern: In der Sicherheitsarchitektur der Europäischen Union nimmt Europol mittlerweile Die Verordnung nimmt außerdem stärker alle Krimi- eine zentrale Rolle beim gemeinsamen Informationsaus- nalitätsformen in den Blick, die durch die Nutzung des tausch und der Zusammenarbeit der Polizeibehörden der Internets erleichtert, gefördert oder begangen werden, Mitgliedstaaten ein . und die Herausforderungen, die sich daraus für die po- lizeiliche Arbeit ergeben . In diesem Zusammenhang de- Am Sitz von Europol in Den Haag arbeiten mittler- finiert die Verordnung eine völlig neue Aufgabe: Euro- weile über 1 000 Personen . Der Haushalt von Europol pol soll zukünftig in Kontakt zu privaten Anbietern von beträgt mehr als 100 Millionen Euro im Jahr . Onlinediensten treten, damit diese auf freiwilliger Basis die Vereinbarkeit bestimmter Inhalte mit ihren jeweiligen Insbesondere im Bereich der Terrorismusbekämpfung Geschäftsbedingungen überprüfen und gegebenenfalls hat Europol in den vergangenen zwei Jahren bedeutende Inhalte oder Links löschen . Fortschritte erzielt . Hervorzuheben sind etwa die Ein- richtung eines Europäischen Zentrums zur Terrorismus- (B) Die Regelung müssen wir uns sehr genau anschauen, bekämpfung und die EU-Internet-Meldestelle . (D) da hier eine Datenweitergabe von einer nationalen Poli- zeibehörde – also beispielsweise der Bundespolizei – an Ein weiterer bedeutender Baustein in dieser Entwick- Europol und von Europol an den privaten Betreiber eines lung war im Mai vergangenen Jahres die Verabschiedung Onlinedienstes – also beispielsweise Facebook – erfolgt, einer neuen Rechtsgrundlage für Europol . und das ist nach meiner Einschätzung etwas, das ein nationaler Gesetzgeber explizit regeln sollte . Immerhin Durch die neue Europol-Verordnung (EU) 2016/794 wird hier eine private Stelle in die Erfüllung öffentlicher werden die Arbeitsfähigkeit von Europol gestärkt und die Aufgaben einbezogen . Die dadurch ausgelösten Restrik- bestehenden hohen Schutzstandards gewahrt . Lassen Sie tionen können durchaus grundrechtsrelevant sein oder mich nur drei Beispiele herausgreifen: Grundrechtseingriffen jedenfalls sehr nahe kommen. Der vorliegende Gesetzentwurf greift diese Fragen jedoch Die Zuständigkeit von Europol wird auf weitere Kri- nicht auf . minalitätsformen erstreckt, darunter der sexuelle Miss- brauch von Kindern, schwerer Diebstahl sowie Völker- Geeignete nationale Regeln wären hier aber besonders mord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. wichtig, um ein rechtsstaatliches Verfahren sicherzustel- len . Immerhin ist davon auszugehen, dass die Folge der Europol erhält mehr Flexibilität bei der Ausgestaltung Übermittlung polizeilicher Daten in aller Regel eine Lö- seiner IT-Strukturen, indem technikneutral auf bestimm- schung oder Sperrung sein wird, wobei auch die Auswir- te Verarbeitungszwecke abgestellt wird, anstatt einzelne kungen auf den Rechtsweg beziehungsweise den Rechts- IT-Systeme durchzuregeln . schutz der Betroffenen sehr schwer wiegen können. Schließlich wird der Informationsaustausch mit den Vor allem ist es aber eine Grundsatzentscheidung, wie Mitgliedstaaten, mit Drittparteien und in eng umgrenzten Private in die Erfüllung von Sicherheitsaufgaben ein- Fällen auch privaten Parteien erweitert . gebunden werden sollen . Ich verweise hier nur auf die Diskussion, die wir gerade zur Erweiterung der privaten Zugleich sind die datenschutzrechtlichen Vorkehrun- Videoüberwachung führen. In der Anhörung zu dem ent- gen bei Europol ausgeweitet worden . Der Europäische sprechenden Gesetzentwurf wurde vonseiten der Sach- Datenschutzbeauftragte erhält erweiterte Befugnisse und verständigen schließlich auch auf die engen datenschutz- kann insbesondere Anordnungen und Untersagungen mit rechtlichen Grenzen hingewiesen . Blick auf Verarbeitungsvorgänge aussprechen. Zudem ist erstmals bei einer EU-Agentur eine parlamentarische Aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit, aber auch im In- Kontrolle durch das Europäische Parlament unter Betei- teresse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit wäre es ligung der nationalen Parlamente vorgesehen . 22648 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) Gegenstand des vorliegenden Gesetzentwurfs ist die In erster Linie dient das Gesetz jedoch der Umset- (C) Anpassung der Vorschriften des Europol-Gesetzes an die zung des Auftrages des Deutschen Bundestages aus dem neue Europol-Verordnung. Sommer 2015, die Steuerbegünstigungen für gasförmige Kraftstoffe – Erdgas und Autogas –, die Ende des Jah- Die Verweise im Europol-Gesetz auf den Euro- res 2018 auslaufen, zu überprüfen, mit dem Ziel, diese pol-Ratsbeschluss sollen an die entsprechenden Vor- zu verlängern . Dies ist mit dem Gesetzentwurf auch zum schriften der Europol-Verordnung angepasst werden. Teil gelungen . Soweit im Europol-Gesetz einzelne IT-Systeme von Europol, wie das Europol-Informationssystem, genannt Ich bin sehr froh, dass es der Bundesregierung gelun- oder vorausgesetzt werden, soll eine Anpassung an die gen ist, den Gesetzentwurf nach fast einem Jahr Ressort- neue zweckorientierte Verarbeitung nach der Euro- abstimmung endlich in den Deutschen Bundestag einge- pol-Verordnung erfolgen. bracht zu haben. Denn dieser schafft endlich Rechts- und Planungssicherheit im nationalen Recht und enthält teil- Die Europol-Verordnung räumt den Mitgliedstaaten weise gute, schlanke Lösungen, die wir im Energiesteu- einen erweiterten Zugang zu Analysedaten bei Europol errecht nicht immer gewohnt waren und sind . ein . Bislang erhalten die Mitgliedstaaten die sie betref- fenden Analyseberichte . Nunmehr sind die Mitglied- Den inhaltlichen Schwerpunkt bilden Maßnahmen, staaten befugt, auf thematische und strategische Analy- um nationale Steuerbegünstigungen im Energie- und sedaten und im Treffer/Kein-Treffer-Verfahren auch auf Stromsteuerbereich an das im Jahr 2014 novellierte operative Analysedaten zuzugreifen . EU-Beihilferecht und die EU-Energiesteuer-Richtlinie Der Gesetzentwurf sieht insoweit vor, den Zugang den anzupassen . Für den Bereich der Elektromobilität wird Behörden einzuräumen, welche derzeit bereits das Euro- das Stromsteuergesetz so angepasst, dass Befreiungen pol-Informationssystem nutzen . und Ermäßigungen insbesondere für den öffentlichen Nahverkehr zukünftig möglich sein werden . Durch den Wechsel der Datenschutzaufsicht bei Euro- pol hin zum Europäischen Datenschutzbeauftragten be- Des Weiteren werden bisherige Ausnahmen – die als darf es einer Anpassung der Entsendung von Vertretern Beihilfe problematisch sein können – abgebaut, zum der nationalen Datenschutzaufsicht in die entsprechen- Beispiel bei KWK-Anlagen oder beim sogenannten Her- den Gremien . stellerprivileg, jedoch ist die ursprünglich vorgesehene Entflechtung von KWK-Ausnahmen und EEG-Förde- Ferner sollen die Vorschriften zur Erstattungspflicht rung durch Einführung der sogenannten Kumulierungs- bei Schäden aus widerrechtlicher Datenverarbeitung an- höchstgrenze nicht mehr Bestandteil des Gesetzentwurfs . gepasst werden . (B) Andererseits müssen jetzt die Fördertatbestände im Ener- (D) Die Ausgestaltung der eben erwähnten parlamentari- giesteuerrecht auf die Fördertatbestände des EEG bzw . schen Kontrolle von Europol unter Beteiligung der na- KWK oder anderer Förderungen von Bund, Ländern und tionalen Parlamente überlässt die Europol-Verordnung Kommunen einzeln aufeinander justiert werden, um den zuständigkeitshalber der interparlamentarischen Verstän- europarechtlichen Anforderungen entsprechen zu kön- digung . nen . Im weiteren Verfahren im Bundestag soll rechtsförm- Der Gesetzentwurf enthält zudem Verfahrensverein- lich eine Anpassung der Verweise an den Entwurf eines fachungen und Regelungen zum Abbau der Bürokratie Gesetzes zur Neustrukturierung des Bundeskriminalamt- und schafft die Ermächtigungsgrundlage für eine elektro- gesetzes erfolgen . Hierfür hat sich auch der Bundesrat nische Kommunikation zwischen den Wirtschaftsbetei- ausgesprochen . ligten und der Verwaltung im Energie- und Stromsteu- erbereich. Hoffen wir, dass diese dann auch reibungslos funktioniert . Doch dazu später . Anlage 5 Wie zuvor angesprochen, ist zudem eine Verlängerung Zu Protokoll gegebene Reden der Steuerbegünstigung für als Kraftstoff verwendetes Erdgas (CNG/ LNG) über das Jahr 2018 bis Ende 2026 – zur Beratung des von der Bundesregierung einge- abschmelzend ab 2024 – enthalten . Damit ist ein Teil der brachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Än- Forderungen des von den Koalitionsfraktionen initiier- derung des Energiesteuer- und des Stromsteuerge- ten Antrags vom Sommer 2015 umgesetzt worden, auch setzes (Tagesordnungspunkt 17) dank Unterstützung von Bundesminister Dobrindt, des- sen Ressort die Steuerausfälle übernimmt . Norbert Schindler (CDU/CSU): Wir befassen uns heute erstmalig mit dem Gesetzentwurf der Bundesre- Über den anderen Teil des Antrages – Verlängerung gierung zur Änderung des Energiesteuer- und Stromsteu- der Steuerbegünstigung für Autogas (LPG) – ist noch ergesetzes, die zwingend notwendig ist, um Vorgaben zu debattieren . Sowohl im Koalitionsvertrag als auch im des Rechts der Europäischen Union in nationales Recht Antrag der Koalitionsfraktionen haben wir uns für eine umzusetzen . Darüber müssen auch Entscheidungen der Verlängerung über 2018 hinaus ausgesprochen. Die Ar- EU-Kommission und des EuGH in die Regelungen des gumente für und wider sind schon vielfach ausgetauscht . Energiesteuer- und Stromsteuergesetzes eingearbeitet Ich möchte hier aber nochmals drei Fakten besonders he- werden . rausstellen: Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . 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(A) Erstens . Auch bei dem schon jetzt im Gesetz vorge- entfallen, und so haben wir hoffentlich für ein paar Jahre (C) sehenen Normalsteuersatz – ohne Steuerermäßigung – Rechtssicherheit und Klarheit im Verwaltungshandeln. bleibt der Einsatz von Autogas gegenüber anderen Ener- Bürokratieabbau im Verhältnis zur EU darf aber nicht gieträgern im Kraftfahrzeugbereich weiter vorteilhaft . zu weiterem Bürokratieaufbau bei den Bürgern führen . Zweitens . Im Gegensatz zu Erdgas wird Autogas Wenn im Vorgriff auf dieses Gesetz nun für die Bean- schon seit vielen Jahren steuerlich gefördert . Dies spie- tragung der Steuerrückerstattung für Agrardiesel zu den gelt sich auch im Tankstellennetz wider, das bei Erdgas schon bestehenden und schwer zu verstehenden Antrags- in dieser Größenordnung nicht existiert und erst noch formularen drei neue eingeführt werden, so widerspricht aufgebaut werden muss . dies dem Sinn des Gesetzes . Deshalb, liebes BMF, liebe Generalzolldirektion: Geht in euch und schafft auch im Drittens . Autogas ist mehr oder weniger ein Ab- Verhältnis zu den Antragstellern den schlanken Staat. fallprodukt aus den Raffinerien, das meines Erachtens durchaus zu einem niedrigeren Preis angeboten werden Dass es uns mithilfe von Bundesminister Schmidt könnte; hier sehe ich auch die Hersteller in der Pflicht. gelungen ist, die Steuerermäßigung für Biodiesel zur Eine Steueranpassung könnte von diesen zum Teil abge- Verwendung in der Landwirtschaft beizubehalten, freut federt werden . mich als Landwirt und Vertreter der Biokraftstoffbranche ganz besonders, da in diesem Bereich unsere Landwirte Trotzdem wäre ein abrupter Ausstieg aus der Förde- gleichzeitig Hersteller und Verwender sind. So kann eine rung kein gutes Signal für die Wirtschaftsbeteiligten, kleine, regionale Kreislaufwirtschaft aussehen, die die seien es LPG-Autobesitzer, Umrüstbetriebe, Tankstel- landwirtschaftlichen Betriebe stärkt . lenpächter oder die Mineralölindustrie . Deshalb werden wir in den weiteren Beratungen abwägen müssen, was Abschließend wünsche ich uns gute Beratungen des wir diesen abverlangen können und wie wir andererseits Zweiten Gesetzes zur Änderung des Energiesteuer- und die Einnahmen aus der Energiesteuer verstetigen können . des Stromsteuergesetzes, mit einem Ergebnis, mit dem Ich plädiere hier offen für eine stufenweise Abschmel- sowohl der Fiskus als auch die von der Besteuerung Be- zung der Steuervergünstigungen . troffenen gut leben können. Wir Parlamentarier gehen jetzt die Fragestellungen an, und seien Sie gewiss, auch Durch die Gesetzesnovelle entfallen zudem eine Viel- bei diesem Gesetzentwurf gilt das „erste Struck’sche Ge- zahl von Einzelgenehmigungsanträgen bei der KOM, setz“: „Kein Gesetz kommt aus dem Parlament so heraus, zum Beispiel bei der Steuerentlastung für Betriebe der wie es eingebracht worden ist .“ Land- und Forstwirtschaft . So kann die Praxis der teil- weisen Steuererstattung für „Agrardiesel“ und „Bioag- Christian Petry (SPD): „Was lange währt, wird (B) rardiesel“ bis zum Auslaufen der Freistellungsanzeige endlich gut!“ – Mit diesen Worten kann man den Wer- (D) bei der KOM weitergeführt werden . Auch hierzu muss degang des vorliegenden Gesetzentwurfs zur Änderung ich noch ins Detail gehen . des Stromsteuer- und Energiesteuergesetzes treffend zu- Kritisch betrachtet werden muss die Streichung des sammenfassen . § 60 EnergStG: Die Streichung ist europarechtlichen Be- Ursprünglicher Kern dieser Gesetzesinitiative war die denken geschuldet, da die Regelung nur für mittelstän- im Koalitionsvertrag von SPD und Union festgelegte dische Unternehmen zur Anwendung kommt und damit Verlängerung der energiesteuerrechtlichen Ausnahmetat- selektiv wirkt – Beihilfe . Auf den Inhalt möchte ich gar bestände für Erdgas und Autogas . Nun wurde der Koaliti- nicht eingehen; ich teile die Bedenken nicht und setze onsvertrag bekanntlich schon im Jahr 2013 ausgehandelt . mich für eine Beibehaltung dieser Regelung ein . Dass wir erst kurz vor dem Ende der Legislaturperiode Weitere Kritikpunkte am ansonsten gelungenen Ge- dieses Vorhaben umsetzen, ist schade. Schließlich hat setzentwurf: Einige Regelungen sind nach EU-Recht der Deutsche Bundestag bereits im Sommer 2015 die nicht zwingend und schießen somit über das Ziel der Bundesregierung zur Vorlage eines entsprechenden Ge- Eins-zu-eins-Umsetzung der Energiesteuerrichtlinie hi- setzentwurfs aufgefordert . Nach einer langwierigen Res- naus . Andere berechtigte Forderungen, wie die Gleich- sortabstimmung liegt nun also der Entwurf vor und wir stellung der Industriegaseproduktion mit anderem produ- starten mit dem parlamentarischen Verfahren. zierenden Gewerbe, werden nicht berücksichtigt . Auch Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich einige Punk- hier halte ich Nachbesserungen für notwendig . te loben, die sich vom ersten Referentenentwurf bis zum Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Bundes- Kabinettsbeschluss geändert haben . finanzministerium bei der Anpassung des Energie- und Eine wesentliche Änderung betrifft das zunächst im Stromsteuergesetzes an neues EU-Recht und an die Entwurf enthaltene allgemeine Kumulierungsverbot von Rechtsprechung nunmehr fast durchgängig vernünftige Steuerbegünstigungen mit anderen Beihilfen . Hier hat und praktikable Lösungen gefunden hat . Auch wenn da- das Bundeswirtschaftsministerium hart verhandelt und bei teilweise die so beliebte Einzelfallgerechtigkeit leidet, schlussendlich eine Streichung dieses Kumulierungsver- so teile ich die Priorität des Gesetzentwurfes: möglichst bots bewirkt . viel Bürokratieabbau, auch im Verhältnis zur KOM. Darüber hinaus wurde im Rahmen der Ressortabstim- Die bisher dauernd notwendigen Notifizierungen bei mung die vom BMF geplante Streichung der Steuerent- der KOM, beim Agrardiesel beispielsweise ein Riesen- lastung für die Stromerzeugung in kleinen Anlagen nicht aufwand für ein halbes Kalenderjahr bis 30 .Juni 2017, übernommen . Das ist ein wichtiger Erfolg des Bundes- 22650 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) wirtschaftsministeriums . Die ursprünglich geplante Neu- wenn wir beim Ausbau der erneuerbaren Energien voran- (C) fassung des § 9 StromStG wird im aktuellen Gesetzes- kommen und die Energieeffizienz steigern. vorhaben nicht weiterverfolgt . Um diese Ziele jedoch zu erreichen, müssen wir Neben diesen positiven Punkten möchte ich aber auch auch im Verkehrssektor besser werden. Der von Barbara auf ein großes Manko des Gesetzentwurfs hinweisen: Hendricks vorgelegte Klimaschutzplan gibt uns kla- Der Entwurf der Bundesregierung enthält einen klaren re Hausaufgaben. Er mahnt uns, im Verkehrsbereich Verstoß gegen den Koalitionsvertrag. Im Koalitionsver- 10 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente einzusparen . Das trag haben wir uns schließlich auf eine Weiterförderung setzt uns unter enormen Handlungsdruck, doch diese He- von Erdgas und Autogas verständigt . Der Regierungsent- rausforderung nehme ich gerne an . wurf nimmt das Autogas jedoch komplett von der Wei- Mit diesem Gesetz bekennen wir uns zu den genann- terförderung aus . ten Zielen und wollen die Steuerbegünstigung für Erdgas Es ist daher nicht überraschend, dass ich an dieser (CNG/LNG) über das Jahr 2018 hinaus verlängern . So Stelle das oft zitierte Struck’sche Gesetz bemühe: „Kein soll nach dem aktuellen Entwurf eine Verlängerung bis Gesetz kommt aus dem Parlament so heraus, wie es ein- Ende 2026 beschlossen werden, wobei die Begünstigung gebracht worden ist .“ ab 2024 schrittweise verringert werden soll . Ausgenom- men von der Verlängerung ist nach dem Kabinettsent- Es gibt gute Gründe dafür, sowohl das Erdgas als auch wurf Autogas . Hierzu wird es noch weitere Beratungen das Autogas über das Jahr 2018 hinaus weiter zu fördern . geben, da sich die Koalitionsfraktionen im Koalitions- Eine Schlüsselrolle bei der Reduzierung der Treib- vertrag und auch der Bundestag in einem Antrag auf eine hausgasemissionen kommt dem Verkehrssektor zu. Da- Verlängerung sowohl von Erd- als auch Flüssiggas ver- bei spielen Erdgas und Autogas eine entscheidende Rol- ständigt haben . Dies schließt die Laufzeit und die Höhe le: Beide Kraftstoffe emittieren im Vergleich zu fossilen der Steuervergünstigung ein . Kern unserer Politik sollte Benzin-Kraftstoffen deutlich weniger CO . es sein, vor allen Dingen die Technologien zu fördern, 2 die im Zuge der Kraftstoffwende – hin zu erneuerbaren Dabei gibt es aktuell circa 500 000 Pkw in Deutsch- Kraftstoffen, wie EE-Strom, EE-Wasserstoff oder EE- land, die mit Autogas betrieben werden, beim Erdgas Gas – Integrationsmöglichkeiten bieten . Deshalb ist es sind es etwa 80 000 Fahrzeuge. Beide Kraftstoffe sind auch folgerichtig, wenn wir Autogas, das vor allen Din- damit noch eine Nischentechnologie, die es auch weiter- gen auch hilft, die NOx-Werte in unseren Städten zu re- hin zu fördern gilt . duzieren, über 2018 hinaus fördern . Erfreulich ist, dass wir bei Autogas schon eine gute Marktdurchdringung Für mich geht es dabei auch um das Einhalten politi- haben, die bereits jetzt auf unseren Straßen hilft, Emissi- (B) (D) scher Versprechen. Die Halter der 500 000 Autogas-Pkw onen zu reduzieren . Mit überschaubaren Kosten zur Um- haben sich darauf verlassen, dass das Autogas auch über rüstung bietet Autogas die Möglichkeit für Menschen, 2018 hinaus gefördert wird . die sonst nicht das nötige Kleingeld haben, sich neue, Ich finde es in diesem Zusammenhang übrigens rich- emissionsarme Technologien anzuschaffen, ihren Beitrag tig, zwischen Erdgas und Autogas zu differenzieren. zur Energiewende zu leisten . Beim Erdgas gibt es eine regenerative Komponente, und Daneben sieht der Gesetzentwurf vor, Steuerbe- die Marktdurchdringung ist noch deutlich schwächer als günstigungen bei der Energie- und Stromsteuer an das beim Autogas. Dies sollten wir bei einer Verlängerung EU-Beihilferecht und die EU-Energiesteuerrichtlinie der steuerlichen Ausnahmetatbestände berücksichtigen . anzupassen . Auch bei der Förderung des ökologischen Über genaue Förderzeiträume werden wir im anste- ÖPNV setzen wir Akzente und stellen Elektrofahrzeuge, henden parlamentarischen Verfahren in Ruhe beraten. die im öffentlichen Personennahverkehr eingesetzt wer- Auch weitere Punkte im Energie- und Stromsteuerrecht, den, künftig steuerlich mit Oberleitungsomnibussen und die vom Gesetzentwurf betroffen sind, werden wir uns Schienenbahnen gleich . anschauen und dort, wo nötig, ändern . Ich finde, das klingt nach einem Strauß guter Nach- In diesem Sinne freue ich mich auf die Beratungen im richten, und glaube, dass wir damit den Weg in die richti- Finanzausschuss . ge Richtung einschlagen . Glück auf! Herbert Behrens (DIE LINKE): Die Automobilin- dustrie bringt Autos auf den Markt, die erheblich drecki- Andreas Rimkus (SPD): Ich spreche ja regelmäßig ger sind als angegeben . Es wird getrickst und getäuscht, vor Ihnen zum Thema Reduktion von Emissionen im um Marktanteile und Profite zu sichern. Die Menschen Verkehr. Auch der vorliegende Gesetzentwurf beinhaltet werden gesundheitlich geschädigt, die Umwelt ver- Maßnahmen, die wichtige Meilensteine auf dem Weg zur dreckt, und die Arbeitsplätze werden durch diese Unter- Energiewende im Verkehr sind. nehmenspolitik gefährdet . Die Klimaziele sind klar: Bis 2050 wollen wir eine Der Abgasskandal, der nicht allein ein Diesel-Abgas­ Reduzierung der Treibhausgasemissionen um 80 bis skandal ist, hat noch einmal deutlich gemacht: Fossile 95 Prozent gegenüber 1990 erreichen . Sektorenübergrei- Brennstoffe und saubere Autos passen nicht zusammen. fend sollen CO2-Emissionen bis 2020 um mindestens Wir brauchen deshalb eine Verkehrswende, die ökolo- 40 Prozent gesenkt werden. Dies schaffen wir jedoch nur, gisch ist und die sozial gerecht ist . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22651

(A) Im Straßenverkehr müssen wir wegkommen von Um noch einmal eins deutlich zu machen: Die Förde- (C) Kraftstoffen, die Menschen und Umwelt belasten. Das rung von Erdgas und Autogas ist eine Zwischenlösung . geht nicht von heute auf morgen . Wir brauchen Zwi- Aber sie kann eine schnell wirksame Zwischenlösung schenschritte, ohne das Ziel, den vollständigen Verzicht sein, die technisch auch durch Umrüstung von Fahrzeu- auf fossile Kraftstoffe, aus den Augen zu verlieren. gen verwirklicht werden kann und die dringend nötig ist . Der Finanzminister will jedoch möglich billig davon- Erdgasbetriebene Fahrzeuge stoßen erheblich weniger kommen, ohne sich um die gefährlichen Schadstoffbelas- Schadstoffe aus als benzin- oder insbesondere dieselbe- tungen insbesondere in den Städten zu kümmern . Nicht triebene Fahrzeuge . Da ist es sinnvoll, mit Steuerermäßi- nur Rauchen gefährdet die Gesundheit, auch Umweltpo- gungen Erdgas als Kraftstoff zu fördern. litik aus dem Finanzministerium schadet der Gesundheit . Aber es sind nicht nur Erdgasautos, sondern auch Fahrzeuge mit Autogas, die weniger Stickoxide, weni- Darum die Forderung der Linken an die Bundesre- gierung: erstens den vorliegenden Entwurf zur Ände- ger Feinstaub und weniger CO2 ausstoßen . Darum ist es überhaupt nicht nachvollziehbar, dass die jetzige Förde- rung des Energiegesetzes überarbeiten; zweitens bei der rung von Autogas als Kraftstoff 2018 auslaufen soll. Überarbeitung auf keinen Fall den Finanzminister für umweltrelevante Fragen zuständig machen; drittens den Erstens . Es gibt einen Beschluss des Deutschen Bun- Koalitionsvertrag einhalten und Erdgas und Autogas als destages von 2015, der die Bundesregierung auffordert, Brückentechnologie bei Kraftstoffen weitgehend gleich die Steuerermäßigung für verflüssigtes Erdgas und für behandeln . Flüssiggas über 2018 hinaus zu verlängern . Zweitens . Es steht sogar im Koalitionsvertrag, dass die Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Gro- Große Koalition die Verlängerung der Steuerermäßigung ße Koalition hat wieder einmal die Chance vergeben, von Erdgas und Flüssiggas als Kraftstoff will. In diesem Deutschland auf die Anforderungen des 21 .Jahrhunderts Tagen wird ja viel vom Koalitionsvertrag gesprochen, einzustellen . Denn beim Energie- und Stromsteuergesetz der selbst dann eingehalten werden muss, wenn eine of- hat sie es versäumt, die wichtige Verknüpfung von Wirt- fenkundig EU-rechtswidrige Ausländer-Maut beschlos- schafts- und Umweltpolitik herzustellen . sen werden soll . Aber im Unterschied zum Maut-Gesetz kann man den vorgelegten Gesetzentwurf zur Energie- Die zweite Novelle des Energiesteuer- und des Strom- steuer verbessern . steuergesetzes soll in erster Linie die nationalen Steuer- begünstigungen an das im Jahr 2014 novellierte EU-Bei- Drittens . In einer Studie des ifeu – Institut für Ener- hilferecht und die EU-Energiesteuerrichtlinie anpassen . gie- und Umweltforschung Heidelberg – für das Finanz- In der Förderlogik der Großen Koalition geht es wieder (B) ministerium heißt es, bis 2030 wird der Anteil der Auto- nur um die Subvention bestimmter Energiequellen . (D) gasfahrzeuge von heute etwa 500 000 auf etwa 700 000 steigen . Bei Erdgasfahrzeugen soll es eine Steigerung Man lässt die Gutachter aufeinander losgehen und geben von 100 000 auf 600 000 . stellvertretend streiten . Dabei gerät das grundlegende Versäumnis der Bundesregierung aus dem Blick: Nötig Nicht nachvollziehbar, zumindest nicht umweltpoli- wäre ein grundlegender Wechsel zu einer konsistenten tisch nachvollziehbar, ist die Ungleichbehandlung von Besteuerung nach ökologischen Kriterien . Erdgas- und Autogasfahrzeugen, weil viertens Erdgas einen geringeren Marktanteil und eine schlechtere Tank- Anstatt zukunftsorientierte Wirtschafts- und Umwelt- stelleninfrastruktur hat, so die ifeu-Studie . Autogas kann politik zu machen, begnügt sich die Bundesregierung mit man an 19 Tankstellen pro 1 000 km2 tanken, Erdgas bei Klientelpolitik . Die Diskussion um die Fortführung der 2,5 pro 1 000 km2. Und das Vertrauen in eine positive Steuererleichterungen für Erd- und Flüssiggas (Autogas) Erdgasautoentwicklung ist nicht sehr verbreitet . Der nie- gerade im Kraftstoffbereich ist dabei symptomatisch. Es dersächsische Energieversorger EWE zum Beispiel hat hat den Anschein, als fände sich die Bundesregierung sich aus der Kaufprämie für Erdgasautos zurückgezo- im Dickicht ihres eigenen Förderdschungels selbst nicht gen ebenso wie die Stadtwerke in meiner Stadt Oster- mehr zurecht . holz-Scharmbeck, die zusätzlich auch die einzige Erd- gastankstelle in der Kreisstadt mit 30 000 Einwohnern Unbestritten ist, dass insbesondere Neuwagen mit zum Ende des Jahres schließen wird . Erdgasantrieb im Vergleich mit ihren Schwestermodel- len sehr gute Umwelteigenschaften aufweisen . So stoßen Heiß debattiert wird heute über Fahrverbote für Diesel Erdgasautos bis zu einem Viertel weniger CO2 aus als und blaue Plaketten für Innenstädte, wo die Menschen vergleichbare Benzinmodelle . unter Feinstaub und Stickoxiden leiden . Und da will ich jetzt mal den Verkehrsminister Dobrindt lobend zitie- Dabei agiert die Koalition aber auch politisch nicht ren . Er sagte der Berliner Zeitung im Juli 2016: „Es ist besonders geschickt . Im Koalitionsvertrag kündigt sie nicht wirkungsvoll, Autos mit Verboten zu belegen, die erst eine Verlängerung der Steuerermäßigungen für Erd- ein- oder zweimal im Monat in die Stadt fahren . Wo wir und Flüssiggas an . Jetzt, fast vier Jahre später, macht ran müssen, sind Fahrzeuge, die sich ständig im Straßen- sie etwas anderes: Die Regierung lässt die Förderung verkehr befinden, etwas Taxis, Busse, Behördenfahrzeu- von Flüssiggas bis 2018 auslaufen, wohingegen Erdgas ge .“ Diese müssten baldmöglichst auf alternative Antrie- befristet und abschmelzend bis Ende 2026 weitergeför- be umgestellt werden . Das diene der Reduzierung von dert werden soll – all das, während in Dieselkraftstoff, Stickoxiden deutlich mehr als Einfahrverbote . den größten Luftverschmutzer in den Städten, mit rund 22652 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) 8 Milliarden Euro jährlich ein Vielfaches an Subventio- abzubauen und ökologisch umzusteuern. Aber der Ver- (C) nen gepumpt wird . such bleibt zu zaghaft und zu widersprüchlich . Damit ist die historische Herausforderung des Klimawandels nicht Das ist nicht nur un-logisch, sondern auch un-ökolo- zu bewältigen . Mehr als eine Enthaltung können Sie da- gisch und das zeigt: Der großen Koalition fehlt bei der für von der grünen Fraktion nicht erwarten . Energiebesteuerung jeder Kompass . Im Gesamtkontext dieser Förderpolitik aber allein Parl. Staatssekretär beim Bun- über den Klimavorteil von Erdgas oder Flüssiggas zu Dr. Michael Meister, desminister der Finanzen: Ich freue mich, Ihnen heute diskutieren, reicht einfach nicht aus . den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Im Bereich der Industrieausnahmeregelungen und Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes vorstellen umweltschädlichen Subventionen lässt sich die Liste zu dürfen . Es handelt sich um einen wichtigen Gesetz- weiter fortsetzen: Neben den jährlich 8 Milliarden Euro entwurf . Wichtig alleine schon daher, weil es um den für Dieselsubventionen gibt es eine ganze Reihe anderer Bereich der Energie- und Stromsteuer geht, der mit rund Millionensubventionen, zum Beispiel für den Luftver- 47,1 Milliarden Euro Steuereinnahmen und über 7 Milli- kehr, und die fortdauernde Subventionierung von schwe- arden Steuerentlastungen einen essenziellen Beitrag zum ren Dienstwagen . Bundeshaushalt leistet .

Um eines ganz klar zu machen: Die unterschiedlichen Der Gesetzentwurf sieht diverse Änderungen im Ener- und nicht nachvollziehbaren Steuersätze und -begünsti- gie- und Stromsteuerrecht vor . Geschuldet ist dies dem gungen aller Kraftstoffarten sind nicht mehr zeitgemäß. Umstand, dass die Bundesregierung gleich mehrfach „in Wir brauchen eine Energiebesteuerung, die sich konse- der Pflicht“ steht. Neben der Umsetzung eines Gesetzge- quent nach CO2-Ausstoß und Energiegehalt ausrichtet, bungsauftrags des Deutschen Bundestages geht es vor- nicht noch mehr widersprüchliche und umweltschädliche nehmlich um Anpassungen der Steuerbegünstigungen an Besteuerung . Ohne dass wir die strukturellen Marktver- das Recht der Europäischen Union aber auch an neuere zerrungen und falschen Preissignale angehen, werden technologische Entwicklungen. Die wesentlichen Vorga- wir die Lage nie in den Griff bekommen. ben stammen aus dem in 2014 novellierten EU-Beihil- Denn machen wir uns nichts vor: Solange Diesel im ferecht, der Energiesteuerrichtlinie sowie Gerichtsent- Verhältnis zum Ökostrom weiter so günstig ist, wird kein scheidungen des Europäischen Gerichtshofes: Strom getankt . Und wenn Heizöl so günstig bleibt, gibt es wenig Anreiz, Gebäude energieeffizient zu moderni- Lassen Sie mich die zentralen Änderungen in Kürze sieren . darstellen . (B) (D) Mit einer konsequenten Besteuerung nach Energie- Erstens: Umsetzung von EU-Recht . Unter anderem wert und CO2-Ausstoß wären die Klimaschutzziele von werden die Regelungen für die Begünstigung hocheffizi- Paris vielleicht noch zu schaffen. Und das würde auch enter KWK-Anlagen beihilferechtskonform ausgestaltet . nicht die deutsche Wettbewerbsfähigkeit schädigen – wie Ferner wird das sogenannte Herstellerprivileg zurückge- gerne behauptet wird. Denn anders als häufig vermutet führt auf den Umfang der nach der Energiesteuerricht- ist der Anteil der Umweltsteuern an den Gesamtsteuer- linie obligatorisch vorgesehenen Steuerbegünstigung für einnahmen in Deutschland nicht besonders hoch . Er liegt selbst hergestellte Energieerzeugnisse . Schließlich sieht nur noch bei unterdurchschnittlichen 9 Prozent, sodass der Gesetzentwurf – im Einklang mit der Energiesteu- die OECD Deutschland empfiehlt, Steuervergünstigun- errichtlinie – eine neue Steuerbegünstigung für Elek- gen für umweltschädliche Aktivitäten abzuschaffen und tro- und sogenannte Plug-in-Hybridfahrzeuge vor, die im Mehreinnahmen durch wirkungsvollere Umweltsteuern öffentlichen Personennahverkehr eingesetzt werden. Da- zu erzielen . mit werden Elektro- und Plug-in-Hybridbusse mit dem bereits geförderten Schienenverkehr gleichgestellt; der Deshalb sage ich: Wir brauchen einen neuen Ansatz . technologischen Entwicklung im Verkehrssektor wird Wir Grünen fordern seit langem eine Energiebesteuerung Rechnung getragen . nach CO2-Ausstoß und Energiewert – ganz konsequent, unabhängig von Technologie, Verursacher oder Energie- Zweitens: die elektronische Kommunikation . Der träger . In diesem Modell würden vermutlich Erdgas oder Gesetzentwurf enthält die Ermächtigungen für eine andere Energieträger mit Klimavorteil einen relativen elektronische Kommunikation zwischen den Wirt- Preisvorteil haben . Das wäre eine bessere Förderung als schaftsbeteiligten und der Verwaltung im Energie- und die Steuermillionen, die jetzt hineinfließen. Stromsteuerbereich, die die Abläufe im Besteuerungs- verfahren weiter vereinfachen werden und das derzeit Konsequent nach Energiewert und CO2 besteuern – das fordert übrigens auch die EU-Kommission seit lan- laufende Projekt zur Modernisierung der IT-Unterstüt- gem . Das zeigt erneut: Die Große Koalition spricht zwar zung für die Verbrauchsteuern (MoeVe) flankieren. gerne von Energiewende, aber ihr fehlen Mut und Kon- zepte, sie umzusetzen . Dies hätten der politische Auftrag Drittens: Verlängerung der Steuerbegünstigung für und auch der eigene Anspruch der Bundesregierung sein Erdgas. Die Steuerbegünstigung für Erdgas als Kraftstoff müssen . (CNG und LNG) wird über das Jahr 2018 hinaus verlän- gert – und das bis 2026 (sukzessive verringert ab 2024) . Wir sehen sehr wohl, dass es bei der Novellierung ei- Die Steuerbegünstigung für Flüssiggas/Autogas (LPG) nige Versuche gibt, die umweltschädlichen Subventionen wird nach Ende 2018 hingegen nicht fortgeführt . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22653

(A) Mit Beschluss vom 2 .Juli 2015 hat der Deutsche Bun- Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Das Strafrecht (C) destag die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetz- verfolgt drei Zielsetzungen: Da ist einmal Strafe, Schuld entwurf zur Verlängerung der Steuerbegünstigung ein- und Sühne als vordringliches Ziel . Daneben hat aber das schließlich valider Gegenfinanzierung auf Grundlage der Strafrecht auch die General- und die Spezialprävention Ergebnisse des Forschungsvorhabens zur Entwicklung im Blick und eben auch den Opferschutz . Ich freue mich, der Energiesteuereinnahmen im Kraftstoffsektor vorzule- dass das vorliegende Gesetz gerade auf die letzten beiden gen . Das entsprechende Gutachten, welches ich Ihnen im Punkte einen Schwerpunkt legt . Dezember 2015 übermittelt habe, sieht keinen fachlichen Präventiv setzt das Gesetz an, da ein Geld- bzw. Ver- Bedarf für eine weitere Förderung von Autogas . mögenszuwachs meist die Hauptmotivation eines Täters Laut dem Institut für Energie- und Umweltforschung ist . Deshalb ist es naheliegend, das Signal auszusenden: Heidelberg (ifeu) bietet vielmehr Erdgas als Kraftstoff „Das nehmen wir dir!“ Es gilt der Satz: „Wer Straftaten mehr strategische Optionen für erneuerbare Energien bekämpfen will, der muss den Profit aus Straftaten be- und gewährleistet einen deutlichen Beitrag zum Klima- kämpfen .“ schutz . Wegen des derzeit noch geringeren Marktanteils Das vorliegende Gesetz setzt genau dort an: Das Recht und schlechterer Tankstelleninfrastruktur gegenüber Au- der Vermögensabschöpfung wird grundlegend verein- togas besteht überdies noch ein größerer Förderbedarf . facht, und wir schließen nicht vertretbare Systemlücken . Hohes Potenzial wird auch bei Erdgas in verflüssigter So wird die bisherige Beschränkung des Anwendungsbe- Form (LNG) gesehen . reichs auf gewerbsmäßige und bandenmäßige Begehung Vor diesem Hintergrund und nicht zuletzt wegen der aufgehoben . Zudem soll eine Einziehung zukünftig auch fehlenden, aber notwendigen Gegenfinanzierung sieht dann möglich sein, wenn klar ist, dass ein Gegenstand der Gesetzentwurf keine Verlängerung der Steuerbegüns- aus einer rechtswidrigen Tat stammt, aber eine Verurtei- tigung auch für Autogas vor . lung nicht möglich ist . Lassen Sie mich auch noch einiges zum Opferschutz Die Nutzung von Autogas als alternativer Kraftstoff ausführen: wird jedoch attraktiv bleiben, da die Besteuerung bei Autogas, auch ohne zusätzliche steuerliche Förderung, Bisher konnte die Strafjustiz zwar im Wege der Rück- weiterhin geringer sein wird als bei Benzin und Diesel . gewinnungshilfe Gegenstände sichern . Der Anspruch musste jedoch zivilrechtlich später durch das Opfer gel- Das sukzessive Auslaufen der Steuerbegünstigung für tend gemacht werden . Das kostete Geld bzw . Zeit, und es Erdgas ab 2024 schafft ausreichend Planungssicherheit, galt das Prinzip „Wer zuerst kommt, der mahlt zuerst“ . sendet zugleich aber ein klares Signal, dass die Steuerbe- (B) günstigung – auch wegen der insgesamt zu erwartenden Nun erfolgt im Rahmen der Strafvollstreckung zu- (D) sinkenden Einnahmen im Kraftstoffsektor – nicht unbe- nächst die Sicherstellung, nach Rechtskraft des Urteils grenzt fortgeführt wird . Dies trägt dem erklärten Ziel des die Verwertung und am Ende die Auskehrung des Er- Subventionsabbaus Rechnung . löses an das Opfer . Das ist unkomplizierter, vor allem aber kostenfrei für das Opfer . Wir gewährleisten so die Der vierte und letzte Punkt fällt aus der Reihe, weil er Gleichbehandlung aller Geschädigten und kommen ge- gerade keine im Gesetzentwurf vorgesehene Änderung gebenenfalls zu einer Quotenregelung wie in der Insol- betrifft, sondern im Gegenteil der Status quo beibehalten venzordnung für den Fall, dass beim Täter kein ausrei- wird . Es geht um die Steuerbefreiungen für Strom aus chendes Vermögen mehr vorhanden ist. Das ist echter erneuerbaren Energieträgern und aus sogenannten Klein- Opferschutz! anlagen mit einer elektrischen Nennleistung bis zu 2 MW Ich kann die Gegenargumente nicht einmal im Ansatz (§ 9 Absatz 1 Nummer 1 und Nummer 3 StromStG) . Die nachvollziehen . Wenn da behauptet wird, das Adhäsions- Bundesregierung hat – nach intensiven Beratungen – be- verfahren sei ein ausreichendes Instrument, dann müsste schlossen, die gegenwärtigen Steuerbefreiungen des § 9 der Praktiker eigentlich wissen, dass das ein stumpfes StromStG unverändert zu lassen, sie aber zur Schaffung Schwert ist . Denn es wird in der Praxis von Richtern re- von Rechtssicherheit für die betreffenden Wirtschaftsteil- gelmäßig gemieden, weil die Durchsetzung zivilrechtli- nehmer parallel mit den beihilferelevanten Tatbeständen cher Ansprüche erhebliche Mehrarbeit verursacht . Diese des Gesetzentwurfes der Europäischen Kommission zur soll hier durch ein schlankeres und effizienteres Verfah- beihilferechtlichen Prüfung vorzulegen . Dies ist bereits ren gerade vermieden werden . Damit glaube ich auch geschehen, und die Kommission hat ihre Prüfung begon- nicht an eine Mehrbelastung der Justiz . Wenn man aller- nen – mit derzeit noch offenem Ergebnis. dings so argumentiert, dann müsste man ehrlicherweise auch die Entlastung auf dem Zivilrechtsweg ausleuchten . Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie sehen Anlage 6 also: Insgesamt ein sehr gelungenes Gesetz, weshalb ich um Ihre Zustimmung bitte . Zu Protokoll gegebene Reden

zur Beratung des von der Bundesregierung einge- Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Als Union sa- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der gen wir ganz klar: Verbrechen dürfen sich nicht lohnen. – strafrechtlichen Vermögensabschöpfung (Tages- Dies erfordert nicht nur mit ausreichenden Befugnissen ordnungspunkt 18) und Ressourcen ausgestattete Polizei- und Ermittlungs- 22654 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) behörden . Auch Strafgesetze müssen so ausgestaltet sein, entgegensteht, die materielle Strafbarkeit der Tat aber un- (C) dass sie eine gezielte Bekämpfung von Straftaten ermög- berührt bleibt – etwa wenn der Täter ins Ausland geflüch- lichen und auch die Folgen von Straftaten in den Blick tet ist . Das ist im höchsten Maße unbefriedigend und ge- nehmen . nau das Gegenteil einer effektiven Strafverfolgung. Dies ändern wir nun: Künftig besteht nicht nur die Möglich- Der Vermögensabschöpfung kommt dabei eine ganz keit, Vermögensgegenstände selbstständig einzuziehen, zentrale Rolle zu, um Vermögenswerte aus strafbaren wenn etwa prozessuale Hindernisse wie Strafklagever- Handlungen schnell, wirksam und umfassend dem Tä- brauch bestehen. Auch bei deliktisch erlangtem Vermö- ter wieder zu entziehen . Das ist in mehrfacher Hinsicht gen unklarer Herkunft – unabhängig vom Nachweis einer wichtig: Erstens schwindet so der Anreiz für die Bege- konkreten rechtswidrigen Tat – ist die selbstständige Ein- hung der Tat. Zweitens wird der finanzielle Boden dafür ziehung möglich . entzogen, auch in Zukunft Straftaten begehen zu kön- nen – insbesondere im Bereich des Terrorismus und der Kritiker wenden ein, dass die selbstständige Einzie- organisierten Kriminalität ist dies ein zentraler Gesichts- hung nicht mit der Eigentumsgarantie aus Artikel 14 punkt . Grundgesetz vereinbar sei und im Widerspruch zur Un- schuldsvermutung stünde . Diese Bedenken haben wir Heute scheitert eine erfolgreiche Vermögensabschöp- sehr ernst genommen . In der Abwägung sehe ich jedoch fung in der Praxis allerdings häufig an der außerordent- nicht, dass diese Kritik durchgreift: Auf der einen Seite lich komplexen und unübersichtlichen Rechtsmaterie . stehen im Interesse der Sicherheit aller Menschen eine Das wollen wir als Union ändern. Die Reform der Ver- effektive Strafverfolgung, der Opferschutz und das Ziel, mögensabschöpfung war für uns daher ein wichtiges die finanziellen Quellen organisierter Kriminalität und und dringendes Vorhaben, das wir im Koalitionsvertrag des Terrorismus auszutrocknen . Auf der anderen Seite verankert haben . Dies setzen wir mit dem vorliegenden stehen die Rechte der Beschuldigten . Gesetz nun um . Ziel ist es, das Abschöpfungsverfahren effektiver und Vor diesem Hintergrund sind an die selbstständige einfacher zu gestalten und die Rechtsposition von Opfern Einziehung bereits hohe rechtsstaatliche Anforderungen zu verbessern. Dazu bedarf es einer Vielzahl an Neurege- zu stellen . Diesen wird unser Gesetz gerecht: lungen, die straf-, zivil- und insolvenzrechtliche Aspekte – So ist die selbstständige Einziehung unabhängig besser miteinander verzahnen und für die Praxis hand- vom Nachweis einer konkreten rechtswidrigen habbar machen . Tat nur im Zusammenhang mit Delikten aus dem Dabei schließen wir Abschöpfungslücken, indem Bereich des Terrorismus oder der organisierten Kriminalität zulässig wie etwa der Bildung krimi- (B) etwa die bisherigen Beschränkungen bei der erweiterten (D) Einziehung aufgehoben werden . Aktuell kann sie nur in neller und terroristischer Vereinigungen oder des Bezug auf bestimmte Straftatbestände angeordnet wer- gewerbs- oder bandenmäßigen Menschenhandels . den . Wird etwa im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens Mit dem Änderungsantrag haben wir die Katalo- wegen Bandendiebstahls Bargeld gefunden, das aus ei- gdaten unter anderem um die Zuhälterei wie auch ner anderen Straftat stammt, so kann dies eingezogen die gewerbs- und bandenmäßige Steuerhehlerei er- werden – bei Ermittlungen wegen Wohnungseinbruchs- gänzt, die typischerweise im Zusammenhang mit diebstahls hingegen nicht. Diese Differenzierung – so- organisierter Kriminalität stehen . gar innerhalb eines Qualifikationstatbestands – ist nicht – Zudem ist die selbstständige Einziehung nur unter nachvollziehbar . Das gleichen wir an . der Voraussetzung der uneingeschränkten rich- Ob ein Vermögenswert aus der einen oder der ande- terlichen Überzeugung zulässig, dass der Vermö- ren rechtswidrigen Tat herrührt, darf keinen Unterschied genswert aus einer rechtswidrigen Tat herrührt . machen . Insofern ist es gut, dass zukünftig jede rechts- Das Gericht kann sich dabei „insbesondere auf ein widrige Tat ausreicht, um die erweiterte Einziehung eines grobes Missverhältnis zwischen dem Wert des Ge- Vermögensgegenstandes anzuordnen, wenn das Gericht genstands und den rechtmäßigen Einkünften des davon überzeugt ist, dass er aus einer anderen rechtswid- Betroffenen“ stützen. rigen Tat stammt . Auch die Unschuldsvermutung ist nicht tangiert, da Das ist ein wichtiger Beitrag für eine effektive Ver- die Vermögensabschöpfung keinen Strafcharakter hat. brechensbekämpfung – genauso wie die umfassende Sie ist auf den Vermögenswert, also die Sache, und nicht Neuregelung der selbstständigen Einziehung: Derzeit auf die Person bezogen . ist es so, dass grundsätzlich keine Möglichkeit besteht, Vermögenswerte einzuziehen, wenn rechtliche Gründe Den Opferschutz stärken wir zum Beispiel auch darü- wie Strafklageverbrauch entgegenstehen . Gleiches gilt, ber, dass wir ersatzlos die gesetzliche Regelung in § 73 wenn kein Zweifel daran besteht, dass das Geld aus ei- Absatz 1 Satz 2 streichen, nach der die Vermögensab- ner rechtswidrigen Straftat herrührt, aber eine konkrete schöpfung versagt wird, wenn dem Opfer Ersatzansprü- Straftat nicht nachgewiesen werden kann, aus der der che gegen den Täter zustehen – bekannt als „Totengräber Vermögensgegenstand stammt. des Verfalls“. Das ist ein unhaltbarer Zustand, weil damit das Opfer – insbesondere im Bereich der Vermögensde- Die Möglichkeit der selbstständigen Anordnung be- likte – mit allen prozessualen Risiken alleine gelassen schränkt sich bislang auf Fälle, bei denen der persönli- wird . Künftig kann der Staat dem Opfer mit dem Mittel chen Verfolgung des Täters ein tatsächliches Hindernis des Strafrechts auch in diesen Fällen zur Seite stehen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22655

(A) Neben einem staatlichen Entschädigungsverfahren schnellen Verfahrensabschlusses verzichtet. Dies führt (C) stärken wir den Opferschutz zudem durch eine bessere dann weiter dazu, dass gerade hohe Schäden nicht aus- Verzahnung mit insolvenzrechtlichen Vorschriften: Nicht geglichen werden und – viel schlimmer noch – dass hohe immer wird am Ende eines Strafverfahrens das Vermö- Beträge aus der kriminellen Tätigkeit beim Täter verblei- gen eines Täters ausreichen, um sämtliche Schäden aus- ben. Dies schwächt, wie ich finde, in ganz erheblichem zugleichen . Insofern ist es richtig, dass das Gesetz auch Maße das Vertrauen in unseren Rechtsstaat. Und deshalb schon vor einer Verurteilung Sicherungsmöglichkeiten ist es eine wichtige Maßnahme, dass zukünftig die Ver- bietet . Nur so kann verhindert werden, dass Gelder zu- mögensabschöpfung zum Regelfall wird . lasten von Opfern verschoben werden . Die Gerichte können dabei die Entscheidung über die Mit dem Änderungsantrag erreichen wir insofern wei- Vermögensabschöpfung vom Strafprozess abtrennen und tere Verbesserungen und führen die Möglichkeit ein, dass in einem Nachverfahren treffen. Bei geringen Schäden die Staatsanwaltschaften aus eigenem Recht einen Antrag kann das Gericht von Vermögensabschöpfung absehen. auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens stellen können. Und es ist sogar möglich, dass die Vermögensabschöp- fung auch nachgeholt werden kann, etwa wenn sich erst Zu beachten ist jedoch, dass die wirtschaftliche Stel- später nachträglich entdecktes Vermögen bei einem im lung eines Unternehmers, insbesondere eines Selbst- Zeitpunkt des Strafverfahrens scheinbar mittellosen Tä- ständigen, durch einen Insolvenzantrag erheblich beein- ter zeigt . trächtigt werden und nicht zuletzt die Existenz bedrohen kann – gerade zu einem Zeitpunkt, zu dem noch die Eine zweite wichtige Neuerung besteht darin, dass zu- Unschuldsvermutung gilt . Insofern ist das Sicherungs- künftig die Vermögensabschöpfung bei allen Straftaten interesse des Staates mit den Belastungen etwa für ein möglich ist . Bislang war dies im Wesentlichen auf den Unternehmen im Einzelfall sorgfältig abzuwägen . Das sogenannten Gewerbestrich und bandenmäßige Taten muss die Staatsanwaltschaft bei der Antragstellung be- beschränkt . rücksichtigen . Die Reform wird dabei das staatsanwaltschaftliche Mit dem Gesetz schließen wir erfolgreich Abschöp- Ermittlungsverfahren und die Hauptverhandlung erleich- fungslücken, vereinfachen die Einziehung deliktisch tern und vereinfachen . Dazu trägt insbesondere bei, dass erlangter Vermögenswerte, erleichtern deren vorläufige die Entscheidung über die Vermögensabschöpfung in der Sicherstellung und stärken die Rechtsposition von Tatop- Hauptverhandlung abgetrennt und später auch nachge- fern . Es ist ein gutes Gesetz, ich bitte daher um Ihre Zu- holt werden kann . stimmung . Nicht nötig sind zukünftig auch die bislang nötigen aufwendigen Beweisfeststellungen zu einer möglichen (B) (D) Dr. Johannes Fechner (SPD): Ich freue mich sehr, Entreicherung des Angeklagten . Und wir stellen klar, dass wir heute nach intensiven Beratungen das Gesetz dass so das Bruttoprinzip gilt . Bislang war in der Recht- zur Vermögensabschöpfung beschließen können. Damit sprechung nicht klar, was tatsächlich abgeschöpft wer- schaffen wir ein wichtiges Instrument, um Opfer einfa- den kann bzw . was der Straftäter gegenrechnen darf . Mit cher zu entschädigen, vor allem aber, um Gewinne aus unserer Regelung tragen wir Sorge für Klarheit in der Verbrechen abzuschöpfen, damit der vielzitierte, aber Strafrechtspraxis . eben auch absolut richtige Grundsatz gilt: Verbrechen Und es wird für die Opfer wesentlich einfacher wer- darf sich nicht auszahlen . den, eine Entschädigung zu erlangen . Das Windhund- Schon das Bundesverfassungsgericht hat in diesem rennen wird der Vergangenheit angehören, vielmehr Sinne geurteilt und festgehalten, dass das Vertrauen der gewährleistet diese Reform, dass alle Verletzten und Bevölkerung in die Gerechtigkeit und in die Unverbrüch- alle Opfer gleichmäßig und gerecht entschädigt werden . lichkeit der Rechtsordnung Schaden nehmen kann, wenn Insbesondere müssen Opfer keinen Vollstreckungstitel Straftäter deliktisch erlangte Vermögensvorteile dauer- mehr gegen den Täter erstreiten, weil die Entschädigung haft behalten dürfen . Und deutlich führt das Bundesver- im Zuge des Strafvollstreckungsverfahrens oder im In- fassungsgericht aus, dass das Vertrauen der Bürger in die solvenzverfahren erfolgen kann, was für die Opfer einfa- Justiz Schaden nehmen kann: Die Duldung strafrechts- cher, schneller und kostengünstiger ist . widriger Vermögensanlagen durch den Staat kann den Die bedeutendste Verbesserung der Rechtslage ist Eindruck hervorrufen, dass sich kriminelles Verhalten aber, dass bei organisierter Kriminalität und Terrorismus auszahlt . zukünftig Vermögen unklarer Herkunft eingezogen wer- Daraus ergibt sich für uns die Pflicht, das rechtsstaat- den kann . Wenn etwa eine Person an einem Flughafen lich Mögliche zu unternehmen, um Straftätern die Ge- in einer Kontrolle mit 100 000 Euro Bargeld erwischt winne aus ihren Verbrechen zu nehmen. Genau diesem wird und das Gericht dann durch weitere Indizien zur Ziel dient der vorliegende Gesetzentwurf zur Vermö- Überzeugung gelangt, dass Geldwäsche vorliegt oder die gensabschöpfung . Ich möchte mich auf die wichtigsten Person als Kurier einer kriminellen oder terroristischen Änderungen beschränken: Vereinigung tätig ist, dann kann das Geld eingezogen werden, ohne dass dem Täter eine konkrete Straftat nach- Wichtig ist, dass die Vermögensabschöpfung zum Re- gewiesen werden muss . Ausreichend ist, dass das Gericht gelfall wird . Leider wird allzu oft, etwa bei komplizierten davon überzeugt ist, dass der Vermögensgegenstand aus Fällen aus der Wirtschaftskriminalität, trotz erheblicher irgendeiner Straftat herrührt . Damit schließen wir eine Schäden auf die Vermögensabschöpfung im Sinne eines große Lücke in der Einziehung von Taterträgen, und da- 22656 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) durch werden den Opfern ganz erhebliche Summen zur Schaden erleidet, da die Strafgerichte schon heute ange- (C) Schadenswiedergutmachung zur Verfügung stehen. sichts knapper personeller Ressourcen an der Grenze der Belastbarkeit arbeiten .“ In den Gesetzesberatungen haben wir, wie ich fin- de, noch die wichtige Klarstellung vorgenommen, dass Vor zwei Wochen hat die Regierung noch bekräftigt, nämlich auch für Altfälle das neue Recht gelten soll . Die dass der Staat von Verfassungs wegen gehalten ist, eine Strafjustiz wird so davor bewahrt, dass es möglicher- funktionstüchtige Strafrechtspflege zu gewährleisten, weise jahrelang ein Nebeneinander von alten nach neu- ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch ver- em Recht gibt . Ab Inkrafttreten des Gesetzes sind aus- holfen werden kann . schließlich die neuen Vorschriften anzuwenden. Ich bin der Überzeugung, dass dieses Gesetz dem Mit dieser Neuregelung zur Vermögensabschöpfung Durchbruch der Gerechtigkeit nicht dient . Nicht nur we- leisten wir einen enorm wichtigen Beitrag zur Bekämp- gen der Belastung der Gerichte und Staatsanwaltschaften . fung von Kriminalität und Terrorismus . Durch dieses Ich finde, gerade im Bereich der Wirtschaftskriminalität Gesetz verlieren Straftäter Beute, und die Opfer werden und bei Firmendreiecksverhältnissen ist der Vermögens- schnell entschädigt . Stimmen wir also diesem guten Ge- abschöpfung ein Riegel vorgeschoben . Ich möchte versu- setz zu . chen, dies an einem Beispiel zu erklären .

Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Bei dem vorlie- Ein Industriekonzern erwirtschaftet durch betrügeri- genden Gesetz geht es nach wie vor – vereinfacht aus- sche Geschäfte 500 Millionen Euro . Diese investiert er gedrückt – um die Frage, wie der vermögensrechtliche in ein Tochterunternehmen, welches legale Geschäfte be- Schaden aus einer Straftat dem Geschädigten wieder zu- treibt, jedoch (leider) keinen Gewinn, sondern Verluste geführt werden kann. In Fällen, in denen der Betroffene macht . Nach zwei Jahren wird das Tochterunternehmen nicht ermittelt werden kann, soll der Vermögensvorteil aufgelöst, die investierten 500 Millionen sind bis auf den aus der Straftat trotzdem nicht beim Täter verbleiben . Verkaufserlös von 200 Millionen weg. Diese werden für Denn nach wie vor gilt: Verbrechen soll sich nicht loh- Abfindungen der Manger verbraucht. Der Betrug fliegt nen . – Klingt erstmal gut . auf . Die Geschäftsführer werden verurteilt . Das zu Un- recht erlangte Vermögen soll abgeschöpft werden. Nun Aber wie soll es umgesetzt werden? Was soll letztlich kann der Mutterkonzern die Investitionen von den er­ dem Täter wieder weggenommen werden? Alles durch gaunerten 500 Millionen abziehen, wozu unter anderem die Tat Erlangte oder doch nur ein Teil? Die Regierung alle mit dem Tochterunternehmen verbundenen Kosten hat dazu ausgeführt, dass es im Kern dabei um die bis- zählen. So auch etwa die Gehälter und Abfindungen der lang strittige Frage ginge, ob und – gegebenenfalls – in Manager etc . (B) welchem Umfang Aufwendungen des Täters berücksich- (D) tigt werden sollten . Der neuen Regelung läge folgender Dies kann der Ladendieb und der Schwarzfahrer nicht . Rechtsgedanke zugrunde: Was in Verbotenes investiert Ein Schelm, wer Arges dabei denkt . Aber es galt ja schon wird, ist unwiederbringlich verloren . Im Übrigen müssen früher der Grundsatz: Die kleinen Diebe hängt man, die Aufwendungen hingegen berücksichtigt werden . Damit großen lässt man laufen . – Mich würde schon interes- sei eine umfassende Abschöpfung gewährleistet . sieren, welcher Konzern bei diesem Gesetzentwurf Pate Die Frage ist, ob es da nicht sinnvoll ist, bei der Ver- gestanden hat . mögensabschöpfung einen Straftatenkatalog für die Taten Nach wie vor bestehen auch nach der Änderung durch einzuführen, bei denen richtige Gewinne gemacht wer- die Koalition Bedenken hinsichtlich der Einbeziehung den . Denn so logisch es auf den ersten Blick erscheint, der Erben in die Vermögensabschöpfung. Hier wird zu alle Straftaten in die Gewinnabschöpfung einzubeziehen, sehr in das entsprechend Artikel 14 GG geschützte Ei- um eine umfassende Gewinnabschöpfung zu gewährleis- gentum eingegriffen. ten, sehe ich doch in der Praxis Schwierigkeiten . Ich den- ke nur an Beförderungserschleichung – das sogenannte Alles in allem bleibt zu konstatieren: Das Gesetz wird Schwarzfahren –, Ladendiebstahl, an Kleinstkriminalität seinem Ziel nicht gerecht, es begünstigt das Großkapi- eben. In all diesen Fällen die Vermögensabschöpfung zu tal und belastet Gerichte und Staatsanwaltschaften über prüfen, ohne die Justiz über Gebühr zu belasten – das Gebühr, ohne für einen personellen Ausgleich zu sorgen schafft man personell einfach nicht mehr. oder entsprechende Regelungen zu treffen, und ist ver- So sieht es ja auch der Deutsche Richterbund, der in fassungsmäßig zumindest bedenklich . seiner Stellungnahme ausgeführt hat, dass der Mehrauf- Die Linke lehnt solch ein Gesetz ab . wand mit dem vorhandenen Personal nicht ausgeglichen werden kann . Diese Annahme entbehre jeder Grundlage . Ich möchte einmal den Deutschen Richterbund aus sei- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ner Stellungnahme zitieren: „Eine erfolgreiche und ge- NEN): Gestern im Rechtsausschuss habe ich schon ver- rechte Opferentschädigung setzt neben der Aufklärung sucht, die Kolleginnen und Kollegen von der Koalition der Schuld- und Straffrage die eingehende Klärung zivil- davon zu überzeugen, dass die von ihnen hier vorge- rechtlicher Positionen im Strafverfahren voraus . Dadurch schlagenen Neuregelungen der Vermögensabschöpfung ist zu besorgen, dass mit dieser zusätzlichen Belastung nicht praxistauglich, sondern viel zu kompliziert sind . durch aufwendige Nebenentscheidungen die Funktions- Vor allem werden sie nicht dazu führen, Opfer von Straf- fähigkeit der Strafrechtspflege in ihrem Kernbereich taten rasch und problemlos zu entschädigen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22657

(A) Das Vorhaben, die strafrechtliche Vermögensabschöp- unklarer Herkunft (§ 76a Absatz 4 StGB-E) halten wir (C) fung zu reformieren, begrüßen wir grundsätzlich . Das sogar für verfassungsrechtlich sehr problematisch . geltende Recht ist unübersichtlich, schwer anwendbar Das Institut der erweiterten Einziehung beispielsweise und fehleranfällig . Die Gerichte wenden es deshalb äu- soll danach auf alle Straftatbestände – auch Kleinkrimi- ßerst zurückhaltend und selten an . Deshalb muss vieles nalität – ausgedehnt werden und nicht mehr, wie jetzt, geändert werden . Opfer von Straftaten müssen in der beschränkt sein auf Taten mit Bezug zur organisierten Tat schneller und einfacher ihr Geld oder ihr Eigentum – Kriminalität und auf banden- und gewerbsmäßig began- Auto, Fahrrad, die goldene Uhr; das, was ihnen durch gene Taten. Und das, obwohl eine Verurteilung wegen eine Straftat entzogen wurde – zurückerhalten oder Er- dieser „anderen rechtswidrigen Taten“ nicht erfolgt ist . satz dafür. Und Verbrechen dürfen sich nicht materiell lohnen . Darüber sind wir uns einig . Außerdem soll nun möglich sein, in einem laufenden Verfahren, „Vermögen unklarer Herkunft unabhängig Die Reformvorschläge, die Sie mit diesem Gesetz vor- vom Nachweis einer konkreten [anderen] rechtswidrigen legen, tragen wir jedoch nicht mit . Ich gestehe zu, dass Tat (selbstständig) einzuziehen, wenn das Gericht davon diese Rechtsmaterie äußerst komplex und schwierig, die überzeugt ist, dass der sichergestellte Gegenstand aus Neuregelung daher eine große Herausforderung ist . Nach (irgend-)einer rechtswidrigen Tat herrührt . Es ist nicht der ersten Runde hier im Plenum hatten Sie angeboten, erforderlich, dass die Tat im Einzelnen festgestellt wird“ . wir sollten nochmals über die einzelnen Änderungen re- Maßgaben für die Einschätzung des Gerichts, ob der Ge- den . Aber es fand erst einmal nur eine Anhörung statt . genstand aus einer rechtswidrigen Tat herrührt, sind unter Kundige Sachverständige, auch aus der Praxis, Vertreter anderem „ein grobes Missverhältnis zwischen dem Wert der Staatsanwaltschaft, Richter, Anwälte fanden lobende des Gegenstandes und den rechtmäßigen Einkünften des Worte für Ihr Projekt, zeigten aber auch Schwächen Ih- Betroffenen“ und „sonstige persönliche und wirtschaftli- res Entwurfs deutlich auf . Das war im November letzten che Verhältnisse des Betroffenen“. Diese Regelung, die Jahres . Umso erstaunter war ich, dass Sie angebotene Be- zu einer faktischen Beweislastumkehr zulasten des Be- richterstattergespräche nicht annahmen und das Gesetz troffenen führt und gegen die Unschuldsvermutung ver- nun nahezu unverändert zur Verabschiedung vorlegen. stößt, wird zu Recht heftig kritisiert . Um daran doch noch etwas zu ändern, hat die Fraktion Es ist richtig, dass bestimmte Fallkonstellationen bis- der Grünen gestern im Rechtsausschuss einen Entschlie- her in der Praxis zu unbefriedigenden Ergebnissen füh- ßungsantrag eingebracht – zu finden in Beschlussempfeh- ren . Ein Beispiel: das geklaute Fahrrad wird im Keller lung und Bericht auf Bundestagsdrucksache 18/11640 –, des Diebes aufgefunden, daneben aber noch ein Geldkof- den die Regierungsfraktionen leider abgelehnt haben . fer mit 500 000 Euro . Da § 242 StGB (Diebstahl) nicht (B) Dieser benennt unsere grundsätzlichen Bedenken zu dem auf § 73d StGB (erweiterter Verfall) verweist, kann das (D) Vorhaben und stützt sich dabei auch auf die Einlassungen Geld aus dem Koffer nach geltendem Recht nicht einge- der Praktiker. Er enthält aber auch Vorschläge für die not- zogen werden . Das versteht erst einmal keiner . wendigsten Änderungen . Trotzdem kann es nicht sein, dass die Bundesregie- Wir bezweifeln stark, dass durch die Vorschläge der rung versucht, solches dolose Vermögen oder Vermögen Bundesregierung Geschädigte von Straftaten wirklich unklarer Herkunft auf Grundlage verfassungswidriger schneller und einfacher entschädigt werden können . Gesetze einzuziehen . Zu guter Gesetzgebung gehört, Zwar sollen nun den Tatgeschädigten der Gang zum Zi- rechtsstaatlich einwandfreie Lösungen zu erarbeiten . vilgericht und damit weitere Kosten erspart bleiben . Häu- Wenn wir anfangen – gerade im Strafrecht – rote Linien fig werden sie aber unzumutbar lange auf die Herausgabe zu überschreiten, dann ist das gefährlich . Das Austesten des Genommenen oder eine Entschädigung warten müs- der Verfassungsmäßigkeit einer Regelung und bewuss- sen . Die Strafjustiz arbeitet langsam . Bis zum rechtskräf- tes Anheimstellen der Verfassungsrechtsprechung ist das tigen Urteil können Jahre vergehen. Vorher gibt es in der Gegenteil guter Gesetzgebung . Ein „Meilenstein“, wie Regel nichts . Dabei kann das Abwarten-Müssen auf das die Neuregelungen zur erweiterten und selbstständigen Strafurteil existenzbedrohend sein . Einziehung im Rechtsausschuss von Vertretern der Gro- ßen Koalition bezeichnet wurden, sind sie also mitnich- Deshalb haben wir vorgeschlagen, in den Vorschriften ten . §§ 73 ff. StGB-E in Verbindung mit § 459h StPO-E zu Bedenken ergeben sich auch hinsichtlich des Vor- verankern, dass, sofern Geschädigte parallel den zivil- schlags in § 73d Absatz 1 Satz 1 StGB-E . Die vorgesehe- rechtlichen Weg beschreiten, dieser prioritär ist und eben ne Abzugsregelung wurde von verschiedenen Seiten als nicht die Rechtskraft des strafrechtlichen Urteils abge- faktische Abkehr vom Bruttoprinzip beurteilt . Dazu wur- wartet werden muss . So besteht für den Geschädigten den wir insbesondere von Vertretern der Richterschaft jedenfalls die Möglichkeit, schneller entschädigt zu wer- angeschrieben. Es wäre doch möglich gewesen, den Vor- den. Vorrangig sollten auch etwaige freiwillige Vereinba- schlag in § 73d StGB Absatz 1 StGB-E dahin gehend zu rungen zur Schadensregulierung mit dem Beschuldigen überarbeiten, dass eine Abkehr vom sogenannten Brutto- gelten. Diese haben daran häufig Interesse, weil sie dann prinzip ausgeschlossen und aktuell bestehende Abschöp- auf ein milderes Urteil hoffen. fungsmöglichkeiten nicht nachteilig beschränkt werden . Die neuen Regelungen zur erweiterten Einziehung Hinzu kommt, dass bei den geplanten Änderungen der (§ 73a StGB-E), der selbstständigen Einziehung (§ 76a Insolvenzordnung das Parlament einhellig das sogenann- Absatz 1 StGB-E) sowie der Einziehung von Vermögen te Fiskusprivileg abgelehnt hat . Hier in diesem Gesetz- 22658 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) entwurf taucht es nun wieder auf . Ist der Täter insolvent, Im Einzelnen enthält der Entwurf zunächst vor al- (C) soll der Staat vorrangig auf sein noch vorhandenes Rest- lem technische Änderungen verschiedener Gesetze im vermögen zugreifen können . Die noch zu verteilende Bereich der Auslandszustellung von Schriftstücken, des Masse wird dadurch für den Rest der Geschädigten ge- Europäischen Mahnverfahrens und des Verfahrens zum schmälert . Das ist nicht vereinbar mit dem Ziel des Ge- Eintreiben geringfügiger Forderungen . setzes – der verbesserten Entschädigung der Verletzten. So stellen wir beispielsweise im Rahmen der Aus- Nein, die höchst komplizierten Neuregelungen zur landszustellung klar, dass die grenzüberschreitende Zu- Vermögenseinziehung sind nicht praxistauglich. Die be- stellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstü- reits jetzt schon überlasteten Strafverfolgungsbehörden cke in Zivil- oder Handelssachen abschließend durch die und Gerichte erhalten Steine statt Brot . Wenn das Gesetz, entsprechende europäische Verordnung geregelt ist. In so wie vorgesehen, konsequent angewandt wird, werden diesem Zusammenhang führen wir auch eine gesetzliche die ohnehin viel kritisierten langen Verfahren noch viel Klarstellung ein, dass für ein fiktives Zustellungsverfah- länger dauern . Ein großer Apparat zur Feststellung der ren, wie es die deutsche Zivilprozessordnung in § 184 Einziehungsgüter, ihrer Einziehung, Aufbewahrung, Ver- kennt, bei der Auslandszustellung kein Raum ist . Damit waltung und Verteilung muss im Bereich der Staatsan- sorgen wir für mehr Rechtssicherheit und Rechtsklarheit waltschaften aufgebaut werden . bei den Beteiligten, wenn es um gerichtliche Auseinan- dersetzungen mit Auslandsbezug geht . Ich fürchte, das neue Gesetz wird genauso wenig von der Praxis angewandt werden wie das bisher geltende . Weitere Anpassungen betreffen die Frist für die Klage- zustellung im Ausland und die Einspruchsfrist gegen ein In zwei Jahren kann der Rechtsausschuss des Bun- Versäumnisurteil, welches im Ausland zugestellt wurde. destags noch einmal Strafrichter, Staatsanwälte und Damit tragen wir dem Umstand Rechnung, dass in diesen Rechtspfleger einladen und sich berichten lassen, warum Konstellationen typischerweise mit längeren Postlaufzei- das wieder nicht klappt mit der Verkürzung der Strafver- ten gerechnet werden muss . fahren und der raschen Opferentschädigung . Sie werden Zudem überarbeiten wir die Vorschriften über die dann feststellen, dass sich Verbrechen immer noch loh- Durchführung der Verordnung zur Einführung eines nen . Leider . Europäischen Mahnverfahrens . Insbesondere wird ein gesonderter Rechtsbehelf eingeführt, mit dem der An- tragsgegner die Aufhebung des Europäischen Zahlungs- Anlage 7 befehls beantragen kann, wenn ihm dieser nicht oder nicht ordnungsgemäß zugestellt wurde . Zu Protokoll gegebene Reden (B) Knackpunkt bei diesem Gesetzentwurf war sicher- (D) zur Beratung des von der Bundesregierung einge- lich die Frage, ob wir unsere Rechtshilfe in Zivilsachen brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung für „pre-trial discovery of documents“-Ersuchen durch von Vorschriften im Bereich des Internationa- US-amerikanische Gerichte öffnen. Diese Möglichkeit len Privat- und Zivilverfahrensrechts (Tagesord- besteht im Rahmen der Umsetzung des Haager Bewei- nungspunkt 20) saufnahmeübereinkommens . Deutschland hatte hiervon zunächst keinen Gebrauch gemacht, und mit der heutigen abschließenden Beratung soll es auch dabei bleiben . Eine Dr. Silke Launert (CDU/CSU): In einer globalisier- entsprechende Änderung wurde aus dem vorliegenden ten Welt sehen wir uns immer häufiger mit grenzüber- Gesetzentwurf herausgenommen . schreitenden Rechtsstreitigkeiten konfrontiert . Das inter- nationale Privat- und Zivilverfahrensrecht gewinnt damit Ich begrüße es ausdrücklich, dass die Änderung auf zunehmend an Bedeutung . Auf EU-Ebene und durch Drängen der Union gestrichen wurde . Anders als im diverse internationale Übereinkommen wurden in der deutschen Recht, wo der Beibringungsgrundsatz gilt, Vergangenheit bereits zahlreiche Instrumente geschaffen, wird der Sachverhalt im amerikanischen Rechtssystem um den Menschen bei Streitigkeiten mit Auslandsbezug im Wege eines gerichtlichen Vorverfahrens der Parteien die Möglichkeit zu geben, ihr Recht einzufordern und ermittelt . Solche Ausforschungsbeweise sind dem deut- durchzusetzen . schen Prozessrecht aber fremd, und das soll auch so blei- ben . Denn würde der Ausforschungsbeweis Einzug hal- Wie es aber so ist mit dem Recht: Es tun sich immer ten, würden vor allem deutsche Unternehmen mit Sitz in wieder Lücken oder auch Rechtsunsicherheiten auf, die den USA erheblichen Risiken ausgesetzt werden . Selbst uns durch die Rechtspraxis oder auch den Europäischen wenn Klagen nicht begründet wären, könnten sie ver- Gerichtshof aufgezeigt werden . Man kann bei den Ge- pflichtet werden, Dokumente in großem Umfang heraus- setzgebungsverfahren eben nicht alles vorab im Blick zugeben . Das wäre mit erheblichen Kosten und Aufwand haben . verbunden und würde den Datenschutz der Betroffenen erheblich schwächen . Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, über den wir heute abschließend beraten, wollen wir daher eine Rei- In Deutschland wird der Datenschutz immer noch he von Vorschriften, die Fälle mit Auslandsbezug regeln, großgeschrieben . Nicht zuletzt deswegen werden wir ändern und an den aktuellen Stand anpassen . Konkret unsere Unternehmen weiterhin bei der Herausgabe von geht es darum, Klarstellungen zu schaffen, Präzisierun- Dokumenten in Zivil-/Handelsverfahren in den USA gen vorzunehmen und Gesetzeslücken zu schließen . schützen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22659

(A) Die Idee, den Ausforschungsbeweis ins deutsche suchen nicht erledigt, die ein Verfahren zum Gegenstand (C) Recht zu übernehmen, war auch verbunden mit der Hoff- haben, das in den Rechtskreisen des Common Law unter nung, dass die USA im Gegenzug ebenfalls weitere Vor- der Bezeichnung „pre-trial discovery of documents“ be- schriften des Haager Beweisaufnahmeübereinkommens kannt ist. In erster Linie geht der Blick dabei auf Verfah- anwenden . Davon ist aber nicht zu auszugehen, weswe- ren vor US-amerikanischen Gerichten . Hier ist es üblich, gen wir erst recht keinen Anlass sehen, unsere Rechtshil- dass Prozessbeteiligte in Vorbereitung auf die mündliche fe für „pre-trial discovery“-Ersuchen zu öffnen. Verhandlung in einem förmlichen Beweisverfahren die Beweismittel offenlegen, auf die sie sich später berufen Was das internationale Privatrecht angeht, werden wir wollen . Deutschland hat hier aus gutem Grund eine ent- heute eine wichtige Lücke schließen: Bislang waren die sprechende Erklärung zu dem Übereinkommen abgege- Voraussetzungen und Wirkungen einer Stellvertretung ben, die verhindert, dass dies bei uns möglich ist . Dies ist aufgrund einer Vollmacht bei grenzüberschreitendem unserem Recht völlig fremd . Sachverhalt nur durch die Rechtsprechung und Literatur herausgearbeitet worden . Das werden wir nun ändern: In Der Gesetzentwurf wollte die Erledigung solcher einem neuen Artikel 8 EGBGB werden künftig die auf Rechtshilfeersuchen nun aber ohne Not zulassen, wenn eine gewillkürte Stellvertretung anwendbaren Kollisi- das Herausgabeverlangen nicht gegen wesentliche deut- onsnormen präzise festgeschrieben, um den Rechtsan- sche Rechtsgrundsätze verstößt, die vorzulegenden wendern klare Regelungen an die Hand zu geben . Dokumente genau bezeichnet werden und von grundle- gender Bedeutung für das Verfahren sind und die Do- Abschließend möchte ich festhalten: Auch wenn das kumente sich im Besitz einer am Verfahren beteiligten vorliegende Gesetz zunächst sehr technisch erscheint, Partei befinden. Auch wenn sich innerhalb dieser Vo- stellt es doch einen weiteren wichtigen Baustein dar, raussetzungen immer noch einige, vor allem aber auch um für mehr Klarheit und Sicherheit im internationalen unbestimmte Hürden befinden, wäre eine solche Rege- Rechtsverkehr zu sorgen und so den Lebensalltag der lung aus unserer Sicht ein Einfallstor zu weiteren Aus- Bürgerinnen und Bürger weiter zu erleichtern . Und er- forschungsmöglichkeiten gegen eine Prozesspartei und freulicherweise waren wir uns da auch ausnahmsweise auch gegen Dritte . Deutsche Unternehmen, die in den fraktionsübergreifend einig . Vereinigten Staaten tätig sind, wären als betroffene Partei oder gegebenenfalls als Dritte erheblichen Risiken aus- Sebastian Steineke (CDU/CSU): Der vorliegen- gesetzt, zum Beispiel bezüglich der Kosten, die mit der de Gesetzentwurf beinhaltet in erster Linie die Klar- Dokumentenherausgabe verbunden sein würden sowie stellung einzelner Vorschriften, weil sich aufgrund des bei datenschutz- und arbeitsrechtlichen Problemen . Sol- internationalen Zivilverfahrensrechts Änderungs- und che Ausforschungsbeweise sind mit dem deutschen Pro- (B) Präzisionsbedarf ergeben hat . Hintergrund hierfür sind zessrecht nicht vereinbar und dürfen auch nicht über den (D) vor allem die Entwicklungen aus der Rechtspraxis und internationalen Rechtsverkehr Einzug halten . der Rechtsprechung, insbesondere der des Europäischen Die Hoffnung des Bundesjustizministeriums bestand Gerichtshofes . Weiterhin war aufgrund der Änderung darin, US-amerikanische Gerichte dazu zu bringen, das der EU-Verordnung zur Einführung eines europäischen Haager Übereinkommen anzuwenden, was in der Pra- Verfahrens für geringfügige Forderungen eine Anpas- xis bislang so gut wie gar nicht der Fall ist . Dies hätte sung zivilprozessualer Vorschriften notwendig. Zuletzt sich durch den vorgesehenen Artikel 14 jedoch in keiner schließen wir mit einer Regelung zur gewillkürten Stell- Weise geändert . Selbst der US Supreme Court sieht das vertretung eine Rechtslücke, die bisher in der Praxis nur Haager Übereinkommen nur als fakultative Ergänzung aufgrund von Richterrecht Anwendung finden konnte. für die Erlangung von Beweismaterial aus dem Ausland . Trotz vieler kleinteiliger Regelungsinhalte dieses Ge- In Deutschland ist es hingegen verbindlich . Schon diese setzentwurfs, die augenscheinlich unproblematisch sind, Auffassung des höchsten amerikanischen Gerichts zeigt, gab es einen zentralen Punkt, den wir als Union sehr wie die Anwendungspraxis in den Vereinigten Staaten kritisch gesehen haben . Und dies war der im Gesetz- aussieht . entwurf der Bundesregierung enthaltene § 14 des Aus- Wir empfehlen stattdessen zunächst eine entsprechen- führungsgesetzes zum Haager Übereinkommen über die de Evaluierung zu den Auswirkungen einer solchen mög- Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schrift- lichen Änderung, insbesondere unter Berücksichtigung stücke im Ausland in Zivil- und Handelssachen und des der Erfahrungen von Frankreich, Dänemark, Finnland, Haager Übereinkommens über die Beweisaufnahme im den Niederlanden und Schweden . Ich freue mich, dass Ausland in Zivil- und Handelssachen . Der Entwurf sah wir mit dem Koalitionspartner hier schnell eine Einigung vor, eine Erledigung von Rechtshilfeersuchen aus dem erzielen und einen entsprechenden gemeinsamen Ände- Ausland unter bestimmten Voraussetzungen zu ermögli- rungsantrag auf den Weg bringen konnten . Damit erwei- chen, wenn das Ersuchen ein Verfahren nach Artikel 23 sen wir den deutschen Unternehmen, die mittlerweile in des Übereinkommens zum Gegenstand hat . Lassen Sie einer beachtlichen Zahl auf dem internationalen Markt mich das nachfolgend etwas näher erläutern . tätig sind, einen großen Dienst . Dies kann man in dieser Deutlichkeit ruhig mal betonen . Bei Verfahren nach Artikel 23 des Haager Über- einkommens handelt es sich um Verfahren, bei denen Im Ausschuss haben alle Fraktionen dieses Hauses der Vertragsstaat, in unserem Fall die Bundesrepublik zugestimmt . Daher bitte ich auch hier um Ihre Zustim- Deutschland, bei der Unterzeichnung, bei der Ratifika- mung zu dem Gesetzentwurf in der Fassung unseres Än- tion oder beim Beitritt erklärt hat, dass er Rechtshilfeer- derungsantrags . 22660 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) (SPD): Der vorliegende Gesetzent- Vertragsparteien. Fehlt es an einer solchen Rechtswahl, (C) wurf befasst sich mit Änderungen im Bereich des inter- knüpft die Regelung in erster Linie an den Ort an, an dem nationalen Privat- und Zivilverfahrensrecht . von der Vollmacht Gebrauch gemacht wird. Ausnahms- weise kann bei der Bevollmächtigung eines Unterneh- Beim internationalen Privatrecht (IPR) handelt es mers oder eines Arbeitnehmers sowie der Unkenntnis sich um die Gesamtheit der Rechtssätze des nationalen des Dritten über den Gebrauchsort an den gewöhnlichen Rechts, die festlegen, welche von mehreren möglichen Aufenthaltsort des Bevollmächtigten oder des Bevoll- internationalen Privatrechtsordnungen in einem Kollisi- mächtigenden angeknüpft werden . Der Gesetzentwurf onsfall angewandt werden . Das IPR regelt private Sach- regelt also abschließend und für jedermann ersichtlich, verhalte also nicht unmittelbar, sondern durch Verweise, wann welche Rechtsordnung im Bereich der gewillkür- die die jeweils anzuwendende Rechtsordnung festlegen . ten Stellvertretung mit Auslandsbezug zu gelten hat . In Deutschland finden sich die Regelungen zum IPR im Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch, dem Diskutiert wurde dabei auch ein spezielles Formerfor- EGBGB . dernis der Rechtswahlvereinbarung . Mit gutem Grund hat man die konkrete Formbedürftigkeit jedoch abge- Das internationale Zivilverfahrensrecht widmet sich lehnt . Schließlich gilt auch in diesem Rahmen die Form- unter anderem der internationalen Zuständigkeit, der vorschrift des Artikel 11 EGBGB . Ein Rechtsgeschäft ist Gerichtsbarkeit und den Besonderheiten von Verfahren damit immer dann formgültig, wenn es die Formerfor- mit Auslandsbezug. Das IZVR ist überwiegend in der Zi- dernisse des Rechts, das auf das seinen Gegenstand bil- vilprozessordnung und internationalen Abkommen gere- dende Rechtsverhältnis anzuwenden ist, oder des Rechts gelt . des Staates erfüllt, in dem es vorgenommen wird . Konkret beinhaltet der vorliegende Gesetzentwurf in Artikel 3 des Gesetzentwurfs sieht zwei Änderun- den Artikeln 1, 2, 4 und 6 notwendige und unproblemati- gen des Gesetzes zur Ausführung des Haager Überein- sche Änderungen der ZPO, des Einführungsgesetzes des kommens vom 15 .November 1965 über die Zustellung Gerichtsverfassungsgesetzes, des Internationalen Famili- gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke im enrechtsverfahrensgesetzes sowie Folgeänderungen . Ausland in Zivil- oder Handelssachen und des Haager Im Bereich der ZPO werden insbesondere die Vor- Übereinkommens vom 18 . März 1970 über die Beweis- schriften über die Auslandszustellung präziser gefasst aufnahme im Ausland in Zivil- oder Handelssachen vom und Anpassungen an geltendes EU-Recht vorgenommen . 22 . Dezember 1977 (HZÜ/HBÜ) vor . Aufgrund einer EuGH-Entscheidung wird ein spezieller Sinnvoll ist die im ersten Teil genannte Kompetenz- Rechtsbehelf im Rahmen des Europäischen Mahnverfah- bündelungen bei Spezialgerichten . Schließlich verlangen rens eingeführt. Weitere Vorschriften der ZPO wurden (B) diese sehr speziellen Fälle kundige und erfahrene Rich- (D) redaktionell an Veränderungen einer EU-Verordnung an- ter . gepasst . Auch wurde eine Konzentrationsermächtigung für die Länder in europäischen Verfahren für geringfü- Ursprünglich befand sich in dem Gesetzentwurf auch gige Forderungen geschaffen. Weiterhin soll eine Ände- eine Regelung für zukünftige Beweisaufnahmeersu- rung des Internationalen Familienrechtsverfahrensgesetz chen . In der Sache ging es um die sogenannte „pre-trial die Befugnisse des Bundesministeriums der Justiz und discovery of documents“ . Diese sollte zukünftig, unter für Verbraucherschutz beim automatisierten Abruf von strengen Voraussetzungen, ermöglicht werden. Bei der Meldedaten erweitern . Es handelt sich also neben redak- „pre-trial discovery of documents“ – übersetzt: vorpro- tionellen Änderungen vor allem um Regelungen, die eine zessuale Dokumentenherausgabe – handelt es sich um stärkere Systematisierung und Kompetenzbündelung die im angloamerikanischen Recht vorgesehene Mög- zum Ziel haben . lichkeit, bereits vor der Verhandlung zur Sache die mög- Artikel 5 des Gesetzentwurfs soll die gewillkürte lichen Wissensträger der Gegenseite intensiv zu befragen Stellvertretung, also die reguläre rechtsgeschäftliche und Einsicht in die Dokumentenlage der Gegenseite zu Stellvertretung im Sinne der §§ 164 ff. BGB, im Fall des nehmen . Aus deutscher Sicht wird dadurch eine unzu- Auslandsbezugs eines Rechtsgeschäfts regeln . lässige Ausforschung der Gegenseite ermöglicht . Eine Gesetzesnovellierung wurde vom BMJV angeregt, weil Durch den neu einzuführenden Artikel 8 EGBGB soll US-amerikanische Gerichte begannen, ihr Prozessrecht eine Gesetzeslücke geschlossen werden . So beruhte das entgegen den Wertungen des Haager Übereinkommens anwendbare Recht bis dato auf Richterrecht, was die extraterritorial anzuwenden . Einzelfallanwendung unnötig verkomplizierte . Auf der Grundlage dieses Richterrechts hat der Deutsche Rat für Zwar war der Gesetzentwurf des BMJV diesbezüglich Internationales Privatrecht einen Entwurf verfasst, der sehr differenziert und hatte ein höheres Maß an Beklag- die durch Rechtsprechung und Literatur herausgearbei- tenschutz deutscher Parteien in den USA zum Ziel . Doch teten und praktizierten, ungeschriebenen Kollisionsnor- haben wir uns als Beteiligte der Koalition mit dem BMJV men zur gewillkürten Stellvertretung rechtlich fixiert. vernünftigerweise darauf verständigt, erst einmal die Re- Dieser liegt nun diesem Gesetzentwurf zugrunde . aktion US-amerikanischer Gerichte auf gleichgerichtete Regelungen in anderen europäischen Staaten (zum Bei- So enthält die Norm unterschiedliche Fallgruppen: spiel in Frankreich oder den Niederlanden) abzuwarten . Grundsätzlich soll die Wahl der Rechtsordnung, also die Schließlich kann es sich hier um datenschutzrechtlich Rechtswahl, bei der Bevollmächtigung vorrangig sein . höchst brisante Dokumente handeln. So haben die Ver- Dies entspricht dem Gedanken der Privatautonomie der bände wiederholt zu verstehen gegeben, dass eine Ge- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22661

(A) setzesneufassung mit erheblichen Risiken für deutsche die Möglichkeit, ein Amtsgericht mehrerer Amtsge- (C) Prozessparteien in den USA verbunden sein könnte . Hier richtsbezirke zum zuständigen Gericht zu erklären, hat gilt es also bedächtig vorzugehen . Der Praxistest in den dieses die Möglichkeit, sich auf das jeweilige Rechtsge- anderen europäischen Ländern wird zeigen, ob es hier biet zu spezialisieren und damit wirkungsvoll, schneller zukünftig einer Regelung bedarf oder nicht . und effizienter im Sinne von Verbraucherinnen und Ver- brauchern Recht zu sprechen . In der Gesamtbetrachtung handelt es sich also um ei- nen sehr ausgewogenen Gesetzentwurf . Neben redakti- Zweites Beispiel: Ein Paar – sie Deutsche, er US-Ame- onellen Änderungen, Kompetenzbündelungen und einer rikaner – haben ein gemeinsames Kind . Sie sind aber stärkeren Systematisierung vorhandener Regelungen nicht verheiratet. Es kommt zu Konflikten, sie wollen das wird vor allem ein höheres Maß an Rechtsklarheit ge- Kind aber nicht darunter leiden lassen und einigen sich schaffen. Dabei werden Gesetzeslücken geschlossen und auf Umgangsmöglichkeiten für die einzelnen Elterntei- notwendige Konkretisierungen und Anpassungen an gel- le. Plötzlich fällt dem Vater ein: Ich fahre mit dem Kind tendes EU-Recht vorgenommen . Dabei wurden viele Im- in die Staaten und bleibe dort dauerhaft; soll doch die pulse aus Rechtsprechung und Rechtspraxis aufgegriffen Mutter sehen, wie sie künftig zu ihrem Umgangsrecht und umgesetzt . kommt . Gerade bei der Regelung zur gewillkürten Stellvertre- Die USA sind ein weites Land und haben Regionen, tung bei Rechtsgeschäften mit Auslandsbezug wurden die hin und wieder auch mal ohne Internet sind . Der ge- Forderungen aus Wissenschaft und Praxis sorgfältig um- wöhnliche Aufenthaltsort des Kindes kann sich verlau- gesetzt, was zu einem erhöhten Maß an Rechtssicherheit fen . in derartigen Fällen führen wird . Die Mutter wartet und wartet, sie schreibt eine E‑Mail Zu loben ist vor allem die gelungene Abstimmung nach der anderen – keine Reaktion von ihrem ehemaligen zwischen dem BMJV, den beteiligten Abgeordneten, den Lebensgefährten . Ihr bleibt nur der Rechtsweg . Bisher Ländern, den Verbänden und der Wissenschaft. Damit ein sehr kompliziertes Verfahren, zu dem sie in die Staa- handelt es sich bei dem vorliegenden Entwurf um ei- ten fahren musste, dort einen Anwalt nehmen, Überset- nen richtigen und wichtigen Beitrag im internationalen zungsleistungen beibringen usw . Privat- und Zivilverfahrensrecht, der auf breiter Zustim- Jetzt wird das Internationale Familienrechtsverfah- mung beruht und von mir und der Fraktion der SPD nur rensgesetz so geändert, dass die zentrale Behörde im zu begrüßen ist . automatisierten Abrufverfahren Daten abrufen kann, wie zum Beispiel derzeitige Staatsangehörigkeiten, frühere (B) Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE): Wir Anschriften, gekennzeichnet nach Haupt- und Neben- (D) diskutieren heute hier abschließend über einen Gesetz- wohnungen, sowie das Einzugs- und Auszugsdatum . entwurf zur Änderung von Vorschriften im Bereich des Dadurch könnte die Mutter von Deutschland aus und internationalen Privat- und Zivilverfahrensrechts . Die deutlich schneller und unkomplizierter als bisher an In- Linke wird – das kann ich vorab schon zusichern – die- formationen über den gewöhnlichen Aufenthaltsort ihres sem Gesetz ihre Zustimmung geben . Auch wenn wir im Kindes herankommen . Detail durchaus Kritik haben, bedeuten die Änderungen, Präzisierungen und Ergänzungen von Vorschriften des Ich weiß, dies ändert alles noch gar nichts an einer internationalen Zivilverfahrensrechts für die Bürgerin- ganzen Reihe von Rechtsproblemen, mit denen Bürge- nen und Bürger Verbesserungen, zu ihrem guten Recht rinnen und Bürger ebenfalls konfrontiert sein können . kommen zu können . Und die Regelungen betreffen, wie gesagt, nur den Be- reich des internationalen Privat- und Zivilrechts . Aber es Zwei Beispiele dafür: Stellen Sie sich vor, Sie verkau- sind Schritte in die richtige Richtung . Außerdem werden fen über ein Onlineverkaufsportal eine Ware an einen In- Lücken im internationalen Privatrecht geschlossen . Auch teressenten aus Dänemark, Holland, Schweden . Sie wer- im internationalen Zivilverfahrensrecht gab es in mehr- den sich über das Internet einig . Sie versenden die Ware, facher Hinsicht Klarstellungs- und Änderungsbedarf, erhalten aber kein Geld . Auf Ihre mahnenden E‑Mails einschließlich der Rechtshilfe und des internationalen gibt es keine Antwort . Sie müssen sich an ein Gericht Familienverfahrensrechts . wenden, um Ihr Geld einzuklagen . Darüber hinaus hat die jüngste Rechtsprechung des Dies war bisher ein umständliches und für viele Ver- Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu Rechtsunsicher- braucherinnen und Verbraucher schwer nachvollzieh- heiten für die Rechtspraxis geführt . Der bestehende bares Verfahren. Oft musste man zum Landgericht ge- Rechtshilfeverkehr mit den USA ist um weitere Möglich- hen – für viele mit weiten Wegen verbunden . Ein Richter keiten ergänzt worden . All dies ist im Sinne der Bürge- konnte entscheiden, dass er nicht zuständig ist, sondern rinnen und Bürger und wird von der Linken unterstützt . ein anderer Richter – eine sogenannte gewillkürte Stell- vertretung . Allerdings können wir der Bundesregierung eine wichtige Kritik nicht ersparen: Im ursprünglichen Ge- Dies wird jetzt geändert und für die Bürgerinnen und setzentwurf haben Sie ohne Not das im deutschen Zi- Bürger nachvollziehbarer gestaltet, indem Gerichte be- vilverfahrensrecht geltende Ausforschungsverbot im reits auf der Ebene von Amtsgerichten – also in meinem grenzüberschreitenden Rechtsverkehr, insbesondere Wahlkreis wäre das zum Beispiel in Oranienburg mög- im Verhältnis zu den USA, aufgegeben, ohne dass dem lich – zu zuständigen Gerichten erklärt werden . Durch greifbare Vorteile gegenübergestanden hätten. Es be- 22662 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) durfte erst wieder erheblichen Protestes aus der Zivil- Das steht im Gegensatz zur Grundmaxime des deut- (C) gesellschaft und eines Änderungsantrages im Rahmen schen Zivilprozessrechts, wonach – als Ausprägung des des parlamentarischen Verfahrens, um diese Absicht zu Beibringungsgrundsatzes – die Ausforschung der Gegen- vereiteln . Dies ermöglicht uns die Zustimmung zu dem seite unzulässig ist . Dieser Grundsatz sollte nicht ohne vorliegenden Gesetzentwurf in geänderter Fassung . Not durchbrochen werden . Zugegebenermaßen ist auch die aktuelle Rechtsla- Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit dem ge etwas unbefriedigend . Nachdem deutsche Gerichte Gesetzentwurf, den wir heute hier beraten, sollen einige Rechtshilfeersuchen aus den USA, die auf Dokumenten- Vorschriften im Bereich des internationalen Privat- und herausgabe im Rahmen der „pre-trial discovery“ gerich- Zivilverfahrensrechts geändert oder klargestellt werden . tet waren, abgelehnt hatten, begannen US-Gerichte, ihr Es ist ein kleiner Rundumschlag, der Regelungen in der eigenes Zivilverfahrensrecht extraterritorial anzuwen- Zivilprozessordnung, den Einführungsgesetzen zum den. Wird die Vorlage von Dokumenten unter Berufung BGB, dem Gerichtsverfassungsgesetz und dem Famili- auf das deutsche Recht verweigert, drohen der deutschen enrechtsverfahrensgesetz betrifft. Das Vorhaben greift Partei im US-Verfahren prozessuale Nachteile. Der vom verschiedene Entwicklungen aus Rechtsprechung und Vorbehalt zum Haager Übereinkommen intendierte Praxis auf und ist im Interesse der Rechtsklarheit zu be- Schutz der deutschen Prozesspartei läuft dann leer . grüßen . Dass aber eine – mit rechtlichen Hürden versehene – In der ZPO werden insbesondere die Vorschriften über Anwendung der Regelung des Haager Übereinkommens die Auslandszustellung präzisiert . Bei geringfügigen For- über die Dokumentenherausgabe zum Ziel führen wür- derungen wird für europäische Verfahren eine Zuständig- de, ist zweifelhaft . Denn auch wenn der Weg der grenz­ keitskonzentration ermöglicht . Im Europäischen Mahn- überschreitenden Beweisaufnahme „pre-trial“ über das verfahren soll bei Nichtzustellung des Europäischen Ausführungsgesetz zum Haager Übereinkommen er- Zahlungsbefehls ein Rechtsbehelf eingeführt werden . öffnet wäre, würde dies nur einen zusätzlichen Weg für die US-Gerichte bedeuten, nicht den bisher gegangen Ins Kollisionsrecht des EGBGB wird eine Regelung Weg – die Anwendung des eigenen Verfahrensrechts – zum anwendbaren Recht bei Stellvertretung aufgenom- ausschließen . Im Ergebnis wäre also nichts gewonnen, men. So wird der Rechtswahl des Vollmachtgebers Vor- wenn die USA weiterhin auf die Anwendung ihres eige- rang eingeräumt und Regelungen für Fälle getroffen, nen, weitergehenden Rechtes setzen würde . Und wenn wenn keine Rechtswahl erfolgt ist . Dies entspricht den die Erreichung des Ziels eines Gesetzes so unsicher ist, bisher in der Praxis angewandten Kriterien . sollten wir dafür keine nationalen prozessrechtlichen Grundsätze über Bord werfen . (B) Im Internationalen Familienrechtsverfahrensgesetz (D) werden die Möglichkeiten zum Abrufen von Meldedaten Die Bundesregierung tut also gut daran, wenn sie zu- durch das Bundesamt für Justiz erweitert . Das Bundes- nächst die Auswirkungen auf die US-Praxis in anderen amt für Justiz ist zum Beispiel zuständig für die Rück- Vertragsstaaten des Haager Übereinkommens untersucht, führung von entführten Kindern . Die im automatisierten die bereits das Verfahren der Dokumentenherausgabe Verfahren abrufbaren Daten sollen zur Ermittlung des über das Übereinkommen zulassen . Nur wenn dort posi- Aufenthaltes eines Kindes um Staatsangehörigkeit und tive Erfahrungen festgestellt werden, lohnt es sich über- frühere Anschriften ergänzt werden . haupt, hier über eine begrenzte Öffnung des deutschen Verfahrensrechts zu diskutieren, um die aktuelle US-Pra- Im parlamentarischen Verfahren ist glücklicherweise xis abzuwehren . die rechtspolitisch fragwürdige Erweiterung der Rechts- hilfemöglichkeiten nach dem Haager Übereinkommen Gesetzesänderungen müssen auf einer ausreichenden über die Beweisaufnahme im Ausland in Zivil- und Han- Faktenanalyse basieren . Diesen Grundsatz hat die Ko- delssachen entfallen, die ursprünglich im Gesetzentwurf alition hier letztlich beherzigt – die ursprünglich vom der Bundesregierung vorgesehen war . Bundesjustizministerium vorgesehene Fassung des Re- gierungsentwurfes wurde entsprechend geändert . In Deutschland gilt zwar auch bisher schon dieses Haager Übereinkommen, doch die Bundesrepublik Ich wünschte nur, die Koalition würde auch bei ande- Deutschland hat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, ren Bereichen die Faktenlage auswerten, bevor sie Geset- einen Vorbehalt gegen die Vorgaben zur Dokumentenhe- ze ändert oder beschließt . rausgabe einzulegen . Rechtshilfeersuchen, die das im Common Law verbreitete „pre-trial discovery“-Verfah- ren zum Gegenstand haben, werden entsprechend dem Anlage 8 Vorbehalt nicht erledigt. Zu Protokoll gegebene Reden Ursprünglich war von der Bundesregierung vorge- sehen, dass auf Rechtshilfeersuchen beispielsweise aus zur Beratung des von der Bundesregierung einge- den USA unter bestimmten Voraussetzungen Dokumente brachten Entwurfs eines Zehnten Gesetzes zur Än- herausgegeben werden sollten, wenn die Beweisaufnah- derung des Weingesetzes (Tagesordnungspunkt 21) me im „pre-trial discovery“-Verfahren stattfindet, also in einem bei uns nicht vorhandenen Beweisermittlungsver- Kordula Kovac (CDU/CSU): Manchen von Ihnen fahren zwischen Klageerhebung und Hauptverhandlung . mag es aufgefallen sein: Bei den verschiedenen Festak- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22663

(A) ten anlässlich der Bundesversammlung wurde überwie- ne ohne Herkunftsbezeichnung, insbesondere für Flächen (C) gend deutscher Wein serviert . Zu meiner großen Freude außerhalb der Anbau- und Landweingebiete . Außerdem sogar auch Wein aus meiner Heimat Südbaden . Das war schreibt das Gesetz bundeseinheitlich 200 Hektoliter/ nicht immer so und ist letztendlich auch ein Verdienst der Hektar vor, sollten die Länder nicht durch eine eigene Arbeit des Parlamentarischen Weinforums . Dieses wurde Rechtsverordnung aktiv werden . nämlich im Jahr 2003 auf überparteiliche Initiative hin gegründet in dem Bestreben, dass bei Veranstaltungen Einem zukünftigen Überangebot kommen wir zu- des Deutschen Bundestages auch deutscher Wein bzw . vor, indem die Begrenzung von Neuanpflanzungen auf deutscher Winzersekt ausgeschenkt wird . 0,3 Prozent der bepflanzten Gesamtfläche auf drei weite- re Jahre bis 2020 ausgeweitet wird . Kann natürlich sein, dass das jetzt dem ein oder an- deren der „Mulitkulti-Fraktion“ gegen den Strich geht, Durch die Kombination dieser beiden Anbauhöchst- aber: Deutscher Wein braucht schließlich den Vergleich grenzen vermeiden wir einen bundesweiten Flickentep- zur ausländischen Konkurrenz nicht zu scheuen . Damit pich und verhindern, dass der Weinsektor durch eine dies auch in Zukunft so bleibt, muss die Politik hin und Mehrmenge von bis zu 9 Millionen Liter Wein pro Jahr wieder die Rahmenbedingungen der Weinbranche in belastet wird . Eine solche Menge würde bei einer Neube- Deutschland überprüfen und gegebenenfalls anpassen . pflanzung von 1 Prozent der Rebflächen in Deutschland, Genau dies tun wir mit dem vorliegenden Gesetz . wie sie die EU erlaubt, zusätzlich auf den Weinmarkt drängen, wenn wir auf nationaler Ebene die 0,3 Pro- Zwar mag der Titel des Gesetzes etwas schwerfällig zent-Begrenzung nicht fortsetzten . über die Lippen kommen, die konkreten Beschlüsse sind aber vor allem durch Vereinfachung von Verwaltung und Durch die Einbeziehung der Stadtstaaten in den Vor- Verfahren und dem Vorbeugen von möglichen Marktstö- wegabzug, also die Erlaubnis der 5-Hektar-Neubepflan- rungen geprägt . Erlauben Sie mir, die wichtigsten Punkte zung, entsprechen wir den Interessen dieser Bundeslän- zusammenzufassen: der, ohne dass der Markt hierdurch signifikant gestört wird . Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden die Bun- desländer ermächtigt, durch Rechtsverordnungen sowohl Last, but not least: Mit der Anhebung der Bagatell­ Schutzgemeinschaften zur Verwaltung der Lastenhefte grenze von 5 auf 10 Ar reduzieren wir nicht nur die Zahl als auch Branchenverbände auf ihrem Hoheitsgebiet zu der abgabepflichtigen Betriebe, sondern verringern auch erlauben . den Verwaltungsaufwand. Die finanziellen Einbußen die- ser Maßnahme entsprechen gerade mal 1,34 Prozent und Durch die nun erlaubte Einführung von Schutzge- können dementsprechend vernachlässigt werden . (B) meinschaften vereinfachen wir die Verwaltung von her- (D) kunftsgeschützten Weinen, da hierdurch die Anträge zur Kurzum vereinfacht dieses Gesetz somit, um es noch Änderung der Produktspezifikationen einer geschützten einmal zu wiederholen, die Verwaltung und beugt Markt- Ursprungsbezeichnung oder einer geschützten geogra- störungen vor . fischen Angabe nicht mehr einzeln durch die Erzeuger, Auf rund 100 000 Hektar Rebfläche werden in sondern durch die jeweilige Schutzgemeinschaft vorbe- Deutschland durchschnittlich 9,5 Millionen Hektoli- reitet und gestellt werden kann . Die genaue Ausgestal- ter Wein pro Jahr erzeugt . Insgesamt konsumieren die tung der Struktur der Schutzgemeinschaften soll durch Deutschen im Jahr rund 20 Millionen Hektoliter Wein . eine Rechtsverordnung der Bundesländer geregelt wer- 13 Millionen Hektoliter davon sind allerdings auslän- den . dische Erzeugnisse . Deutschland ist damit der größte Gleichzeitig gewährleisten wir aber bundeseinheitlich Weinimporteur der Welt . Helfen Sie mit, dass deutsche eine hinreichende Repräsentativität für das entsprechen- Winzerinnen und Winzer auch auf dem einheimischen de Gebiet, indem die Schutzgemeinschaft nur anerkannt Weinmarkt konkurrenzfähig bleiben und stimmen Sie werden kann, wenn sie durch mindestens zwei Drittel der diesem Gesetz zu . Erzeuger des jeweiligen Anbaugebiets vertreten ist und auf sie zusätzlich zwei Drittel der Weinerzeugung ent- Marlene Mortler (CDU/CSU): Die Krise in der fallen . Milchwirtschaft hat es uns im letzten Jahr schmerzlich vor Augen geführt: Wenn wir den Branchen in der Land- Durch das Aufheben des bisherigen Verbots der Bran- wirtschaft keine Eigenverantwortung zugestehen, kön- chenverbände im Weinbau entsprechen wir dem Wunsch nen sie nicht angemessen auf Marktschwankungen und der Bundesländer, ihren spezifischen regionalen Beson- -krisen reagieren . derheiten Rechnung tragen zu können . Mit der dement- sprechend notwendigen Änderung des Agrarmarktstruk- Was die Milchbranche angeht, hat der Deutsche Bun- turgesetzes ermöglichen wir erstmals, dass durch die destag bereits 2016 eine gangbare Lösung gefunden: vielzähligen Fördermöglichkeiten und Funktionen von Seitdem können sich unter anderem Branchenverbän- Branchenverbänden Synergien zwischen Weinbauver- de freiwillig zusammentun, um zeitlich befristet die bänden, Gebietsweinwerbung und Schutzverbänden er- Rohmilchproduktion zu regulieren . möglicht werden . Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf eröffnen wir nun Zukünftige Marktstörungen verhindern wir durch den Ländern die Möglichkeit, der Weinbranche ähnliche eine Länderermächtigung zur Festsetzung eines Hektar- gestalterische Freiheiten zu übertragen . Wir wollen sie – höchstbetrages von bis zu 200 Hektoliter/Hektar für Wei- genauso wie die gesamte Landwirtschaft – fit für den 22664 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) internationalen Wettbewerb und damit für die Zukunft nationalen Konkurrenz abzuheben . Unserem Ziel, auf (C) machen . Klasse anstatt auf Masse zu setzen, kommen wir dadurch einen guten Schritt näher . Der Weinsektor ist, wie kaum eine andere Branche in der Landwirtschaft, aufs Engste mit seinen Anbau- Wir wissen dank vieler praktischer Erkenntnisse, dass regionen verwoben . Diesen besonderen Gegebenheiten Kooperationen innerhalb einer Branche oder sogar von müssen wir Rechnung tragen . Die Länder sollen daher mehreren Branchen gerade in der Landwirtschaft erfolg- künftig selbst für ihr Territorium entscheiden können, ob versprechend sind . Zum Beispiel ist es auch Zuckerrü- sie Branchenverbände anerkennen . Dies soll durch eine benbauern möglich, dass sie sich zusammenschließen, Bundesverordnung ganz oder teilweise an die Landesre- um Preisverhandlungen mit der Industrie zu führen . gierungen delegiert werden . Um der schwierigen Marktlage und dem unaufhalt- Für Weine, die ohne Herkunftsbezeichnung vermark- samen Strukturwandel zu trotzen, schaffen sich unsere tet werden, können zudem Hektarhöchsterträge festge- Bäuerinnen und Bauern immer häufiger mehrere Stand- legt werden . Damit wirken wir Marktverzerrungen ent- beine . Sie wandeln damit oft zwischen den „Branchen- gegen . welten“ . Nehmen Sie nur das Konzept „Ferien auf dem Bauernhof“ . Es vereint die Landwirtschaft mit der Tou- Bereits jetzt ist in der Novelle des Weingesetzes vor- rismuswirtschaft . gesehen, in den Jahren 2018 und 2019 die Neuanpflan- zungen auf 0,3 Prozent der Gesamtrebfläche zu begren- Mit einem schönen Beispiel aus meiner Heimat möch- zen . Damit erreichen wir mehr Preisstabilität . te ich aufzeigen, dass und wie solche integrativen Stra- Vor allem in der Neuregelung für den Zusammen- tegien zu einer Erfolgsgeschichte werden können: In schluss von Branchenverbänden sehe ich große Vorteile, Franken reden wir seit zehn Jahren nicht mehr überei- auch für uns in Bayern: Über reine Marktanpassungs- nander, sondern miteinander . Hier verbindet sich edler strategien hinaus sind es in erster Linie Synergieeffekte, Genuss mit dem Tourismus . Dies wird im ganzheitlichen die Branchenverbände attraktiv machen. Der Verwal- Weintourismuskonzept „Franken – Wein Schöner. Land“. tungsaufwand, um beispielweise EU-Förderungen zu vereint und verdeutlicht . Die Bayerische Landesanstalt beantragen, kann geteilt und damit für einzelne Betriebe für Weinbau und Gartenbau, die Tourismusverbände in verringert werden . Gemeinsame Absatz- und Marke- Franken und die Gebietsweinwerbung Franken haben tingstrategien ermöglichen eine optimale Ausrichtung sich zusammengeschlossen und mit Zertifizierungskrite- auf den Markt . Angebote können gebündelt und gemein- rien Maßstäbe für Exzellenz und Genuss gesetzt . same Werbemaßnahmen auf den Weg gebracht werden . Wir Bayern, insbesondere wir Franken, wollen end- lich die offensichtlichen Vorteile von Branchenverbän- (B) Jede Branche hat darüber hinaus ihre berechtigten (D) Interessen, die sie gegenüber Wirtschaft, Gesellschaft den nutzen und wettbewerbsbedingte Risiken für den und Politik vertreten möchte und muss . Wer mit einer einzelnen Betrieb reduzieren . Stimme für alle oder zumindest viele spricht, kann seine Mit der Neuregelung des Weingesetzes legen wir die Anliegen natürlich wesentlich besser durchsetzen als ein Grundlage für alle Beteiligten, damit sie zielgerichtet Einzelkämpfer . Das zeigt ein Blick in die romanischen und vor allem effizient zusammenarbeiten können. Wir Weinbauländer: Die Champagne und Südtirol sind er- institutionalisieren ihre Kooperation und heben so bereits folgreiche Beispiele für die Einrichtung von Branchen- existierende Zusammenschlüsse im Weinsektor auf eine verbänden . neue Ebene . Unsere Landwirte bewegen sich heute in globalisier- Wein gehört zu unserer Kultur und ist identitätsstif- ten Märkten . Dadurch sind einerseits Handelshemmnis- tend für Regionen wie mein Frankenland . Als Drogenbe- se weggefallen und Absatzmärkte dazugekommen . An- auftragte der Bundesregierung ist mir in diesem Zusam- dererseits müssen sich unsere Bäuerinnen und Bauern menhang besonders wichtig: Ein Genuss ist Wein nur, sowie auch alle anderen international tätigen Branchen wenn er in Maßen getrunken wird .– Es würde dem edlen einer wesentlich breiteren Konkurrenz stellen als früher . Getränk und der Arbeit unserer Winzerinnen und Winzer Derzeit haben wir in Deutschland einen Anteil von nicht gerecht werden, wenn er achtlos und in ungesun- ausländischen Weinen von rund 56 Prozent . Wir sind den Mengen missbräuchlich konsumiert wird . Und in weltweit Weinimportland Nummer eins . Das zeigt, der Schwangerschaft und Stillzeit, aber auch am Lenkrad welch große Vielfalt auf dem deutschen Markt herrscht. und am Arbeitsplatz müssen grundsätzlich 0,0 Promille Gleichzeitig ist der Weinexport gesunken . Unsere eige- gelten . nen Weinerzeugnisse stehen unter einem erheblichen Ich werbe für einen verantwortungsvollen Umgang Marktdruck . Schlimmer noch: Es herrscht ein regelrech- mit Alkohol insgesamt und für die Wertschätzung derje- ter Verdrängungswettbewerb. Zwei Drittel aller Weine nigen, die unseren hervorragenden Wein in harter Hand- im Lebensmitteleinzelhandel und Discount werden für arbeit produzieren . 1,99 Euro verkauft – ein Preis, zu dem in Deutschland schwer qualitätsbewusster Weinbau betrieben werden (SPD): Passend zum Ende der Pro- kann . Gustav Herzog Wein in Düsseldorf beraten wir heute abschließend die Branchenverbände können hierfür die ideale Antwort zehnte Änderung des Weingesetzes . Im Sommer 2015 sein. Sie schärfen und profilieren eine Herkunft als Mar- haben wir die neunte Änderung beschlossen und schon ke . Und sie bieten die Möglichkeit, sich von der inter- damals war absehbar, dass wir 2017 die zehnte und vo- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22665

(A) raussichtlich schon im kommenden Jahr die nächste Ge- wartungshaltungen an dieser Regelung bei den Ländern, (C) setzesänderung haben werden . Gleich nach der Bundes- den Verbänden und den einzelnen Erzeugern bzw. Kelle- tagswahl im September werden wir uns also an die Arbeit reien . Den meiner Meinung gut abgewogenen Kompro- für eine größere Reform machen . Ich bin in diesen Tagen miss werden wir in der gelebten Praxis genau beobachten ganz zuversichtlich, dass ich dann auch wieder in Regie- und gegebenenfalls nachschärfen müssen . rungsverantwortung mit dabei sein werde . Die Gelegenheit dazu liegt, wie bereits erwähnt, mit In gewohnter Manier konnten wir uns als Berichter- dem elften Änderungsgesetz in greifbarer Nähe . Hierzu statter im Parlamentarischen Weinforum auf die wesent- wird für die SPD-Bundestagsfraktion auch gehören, den lichen Dinge informell einigen . Ich bin immer wieder Anteil der deutschen Weinwerbung an dem Stützungs- dankbar für dieses überfraktionelle Gremium, in dem wir programm spürbar anzuheben, um damit insbesondere uns seit mehreren Wahlperioden nicht nur im Vorfeld auf das Auslandsmarketing zu verstärken . eine Gesetzesänderung verständigen können . An dieser Stelle meinen herzlichen Dank an die Kollegin und die Mit dieser Gesetzesänderung setzen wir den Weg ei- Kollegen für die gute Zusammenarbeit in dieser Wahl- ner sehr praxisorientierten, behutsamen Weinbaupolitik periode . fort . Die SPD-Fraktion wird daher gerne zustimmen . Verständigt hatten wir uns zunächst einvernehmlich Roland Claus (DIE LINKE): Es gibt nicht viele poli- auf drei Punkte. Die Verlängerung des 0,3-Prozent-Zu- tische Sachverhalte hier im Hohen Hause, bei denen man wachses bei den Neuanpflanzungen bis 2018, eine Aus- sich so gut überfraktionell einigen kann wie beim Wein . weitung der Höchstertragsregelung auf alle Anbauflächen Aus diesem Grunde wird die Fraktion Die Linke auch in und die Einrichtung einer institutionellen Organisation diesem Jahr der Weingesetz-Novelle zustimmen . zur Betreuung der Lastenhefte für herkunftsgeschützte Weine, also Weine mit geschützter Ursprungsbezeich- Als Vertreter der beiden ostdeutschen Weinbauregio- nung und mit geografisch geschützten Angaben. nen Saale/Unstrut in Sachsen-Anhalt und Thüringen und Meißen an der Elbe in Sachsen habe ich mich zunächst – Der Bundesrat hat darüber hinaus weitere Vorschläge das will ich hier nicht verhehlen – nach wie vor für eine gemacht, welche die Bundesregierung in ihrer Gegenäu- Zuwachsmöglichkeit von 0,5 Prozent (gleich 500 Hek- ßerung aufgegriffen hat. Nach intensiven, zum Teil kont- tar) der Rebflächen eingesetzt. Nun ist es wieder bei den roversen Beratungen wollen wir diese nun mit umsetzen . 0,3 Prozent geblieben . Entsprechend der Festlegung für Doch wie so oft gilt auch hier das Struck’sche Gesetz: die Jahre 2016 und 2017 sollen nun auch für die Jah- Nichts verlässt das Parlament, wie es hineingekommen re 2018 und 2019 Neuanpflanzungen auf 0,3 Prozent der ist .– Daher freue ich mich auf die Zustimmung der Op- deutschen Rebflächen begrenzt werden. Die Anpassun- (B) position zu dem Änderungsantrag der Koalition, der die (D) gen korrigieren redaktionelle Unsauberkeiten und aktua- Vorschläge von Bundesrat und Bundesregierung in mo- lisieren die Quote, um den Preis für vor allem herkunfts- difizierter Form umsetzt. geschützte Weine zu stabilisieren . Gerade für uns Linke Dazu gehört die Ausweitung der 0,3-Prozent-Regel ist es spannend, wie die Bundesregierung beim Weinbau bis 2020, um mehr Rechtssicherheit für alle Beteiligten wacker verteidigt, was sie bei der Milch zum Leid der Er- und mehr Ruhe bei der Antragstellung herzustellen . zeugerinnen und Erzeuger aufgab: Eine staatliche Men- genregulierung zur Sicherung der regionalen Produktion Weiterhin wollen bestimmte Anbaugebiete Branchen- und der Preisstabilität . Auch wenn wir die Schizophrenie verbände für den Wein einrichten . Wir ändern also auch nicht nachvollziehen können, teilen wir dennoch das Vor- das Marktstrukturgesetz und ermächtigen die Bundesre- haben dieses Gesetzentwurfs . gierung, den Landesregierungen zu erlauben, solche Ver- bände auch für die Weinbranche einzurichten . Positiv daran zu bewerten ist, dass damit versucht werden soll, den Weinmarkt weiterhin dauerhaft zu sta- Als dritter Zusatzpunkt wird die Beitragserhebung bilisieren . Des Weiteren wird somit auch der nationalen für die Weinwerbung vereinfacht . Zum einen heben wir Nachhaltigkeitsstrategie entsprochen – welches ebenso die Bagatellregelung von 5 auf 10 Ar an . Das bedeu- vom Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwick- tet, dass gut 300 Hektar Klein- und Kleinstflächen aus lung des Deutschen Bundestages getragen wird . der Beitragserhebung herausfallen . Dadurch entstehen dem Weinfonds Einnahmeverluste in Höhe von etwa In Bezug auf die Festlegungen der Schutzgemein- 22 000 Euro . Gleichzeitig schränken wir die Beitrags- schaften hoffen wir als Fraktion Die Linke, dass unserem pflicht dahin gehend ein, dass nur bestockte Rebflächen Ansinnen nach Abbau von Bürokratie Rechnung getra- erhoben werden . Das wiederum bedeutet Beitragsverlus- gen wird und nicht diesen unseren Forderungen zuwider- te für den Weinfonds in Höhe von etwa 125 000 Euro . gelaufen wird . In der Summe gehen also der Weinwerbung rund 150 000 Euro im Jahr verloren . Dieses spezielle Thema Nichtsdestotrotz freue ich mich, auch in meiner Funk- werden wir aber im Rahmen des elften Änderungsgeset- tion als Mitglied des Parlamentarischen Weinforums, zes erneut aufgreifen und intensiv beraten müssen . dass wir auch in diesem Jahr wieder so lange verhandelt haben, bis ein einvernehmlicher Kompromiss zustande Besonderen Beratungsbedarf benötigte die Frage nach gekommen ist . Dafür möchte ich mich bei der Mit-Be- der inneren Organisation der sogenannten Schutzge- richterstatterin und den Mit-Berichterstattern wie auch meinschaften zur Verwaltung der Lastenhefte herkunfts- bei den Mitgliedern im Parlamentarischen Weinforum geschützter Weine . Wir sehen die unterschiedlichen Er- herzlich bedanken . 22666 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der hier im Bundestag und mit den weinbauenden Ländern (C) Weinbau ist für zahlreiche ländliche Regionen ein bedeu- haben wir einen guten Mittelweg gefunden: der Ein- tender Wirtschaftszweig . Er stärkt die regionale Wert- schränkung der Neubepflanzungen auf 0,3 Prozent im schöpfung und schafft Arbeitsplätze auf dem Land. So Qualitätsweinbau . sind rund 17 000 Menschen insgesamt im Weinbau be- schäftigt, viele davon in Winzerfamilien-Betrieben . Heute steht die Fortschreibung dieser Einschränkung zur Abstimmung. Vor dem Hintergrund der niedrigen Wir sehen in den letzten Jahrzehnten gute Entwick- Fassweinpreise an einem sensiblen Markt ist es wichtig, lungen, die dafür gesorgt haben oder dazu beitragen, dass dass wir hier eine Regelung treffen, die für unsere Win- unsere Winzerinnen und Winzer Preise erzielen, von de- zerbetriebe Klarheit und Planbarkeit bedeutet . Mit der nen sie auch leben können . Fortschreibung bis einschließlich 2020 schaffen wir das auch über den Wahlperiodenwechsel hinaus. Das findet Zum einen haben wir eine Qualitätsoffensive erlebt: unsere ausdrückliche Zustimmung . Junge Winzerinnen und Winzer konzentrieren sich auf die Produktion von Qualitätswein und nehmen dafür we- Wir müssen auch ein besonderes Augenmerk auf niger Ertrag in Kauf; sie bauen weniger Wein besser aus, den Strukturwandel der Winzerbetriebe legen . Um die und nehmen ihre Standorte und Sorten ernst . Deutscher Vielfalt der Betriebe und ihrer Produkte zu erhalten Wein wird deshalb inzwischen weltweit geschätzt – und und auch jungen Menschen eine Perspektive im Wein- erzielt entsprechend gute Preise . bau zu geben, gilt es, kleinere Betriebe nicht zusätzlich zu belasten . Das bedeutet auch: weniger bürokratische Zur Qualitätsoffensive zählt auch der boomende Anforderungen für diejenigen, die den guten Wein an- Ökoweinbau: Auch hier machen sich immer mehr Win- bauen und produzieren . Die in der vorliegenden zehnten zerinnen und Winzer auf den Weg, konsequent ökolo- Änderung des Weingesetzes vorgesehene Anhebung der gisch und qualitätsorientiert zu wirtschaften . Bagatellgrenze für die abgabepflichtigen Betriebe stärkt Und der Weinbau wird zunehmend zu einem bedeu- kleinen Betrieben und Betrieben im Nebenerwerb den tenden Tourismusfaktor: Seit Jahren erfreut sich der Rücken . Und das ist gut so . Weintourismus wachsender Beliebtheit . Besucherinnen Wichtig ist jetzt ein starkes gemeinsames Signal in und Besucher schätzen die Kulturlandschaften mit ihren diese Richtung aus dem Bundestag . So erhalten wir un- Weinbergen, Terrassen und Trockenmauern und genie- seren Grundsatz „Klasse statt Masse“ unsere Kulturland- ßen die besondere Lebensqualität, die wir mit Wein ver- schaften und wirtschaftlichen Potenziale in ländlichen binden und die die Regionen seit Hunderten von Jahren Regionen . Wir stimmen dem Gesetzentwurf zur Ände- prägen . rung des Weingesetzes deshalb zu . (B) Und auch das ist mit dem Qualitätsweinbau verbun- (D) Über die heute beschlossenen Regelungen hinaus den: Die Steillagen und alten Wingerte lassen sich eben müssen wir aber auch an anderen Stellen dafür sorgen, nicht mit Massenertrag erhalten, sondern erfordern – al- dass unsere Weinbaubetriebe unter guten Rahmenbedin- lein schon aufgrund ihrer Lage und geringen Größen – gungen wirtschaften können . eine Fokussierung auf Qualität, die dann auch die ent- sprechend damit verbundene, oft noch manuelle Arbeit Insbesondere der Steillagen- und Terrassenweinbau entlohnen kann . prägt vielerorts in Deutschland die Kulturlandschaften und trägt wesentlich zur Schönheit der Regionen bei . Die Qualität des Weins und seine Einbettung ist also Zwar bringen diese Lagen herausragende Weine hervor, der entscheidende Faktor für die regionale Wertschöp- aber der vielfache Bearbeitungsaufwand gegenüber fla- fung . Unsere Aufgabe in der Politik ist es, die Rahmenbe- chen Lagen stellt den Fortbestand von Steillagen und dingungen so zu setzen, dass der Weinbau auch weiterhin Weinterrassen betriebswirtschaftlich trotz guter Preise diese wichtigen Aufgaben in den Regionen erfüllen kann . zunehmend infrage . Für uns gilt also der einfache Grundsatz: Klasse statt Masse . So können wir dazu beitragen, die Weinpreise Oft wirtschaften auf den schwierigen Lagen auch Ne- stabil zu halten und unseren Winzerinnen und Winzern benerwerbs- und Hobbywinzer, die zwar nicht auf hohe den Rücken zu stärken . Erträge angewiesen sind . Aber es ist auch darauf zu ach- ten, dass noch ausreichend Haupterwerbsbetriebe vor Ort Mit der heute vorliegenden zehnten Änderung des sind, die die nötigen Maschinen haben, um Lohnarbeiten deutschen Weingesetzes gehen wir diesen Schritt ent- in den Weinbergen auszuführen . Daher ist es von zen- schlossen weiter . Denn auch für Landwein wird ein bun- traler Bedeutung, dass die Haupterwerbsbetriebe wirk- deseinheitlicher Hektarhöchstertrag festgesetzt, sodass sam unterstützt werden und nötige Investitionen tätigen nicht mehr beliebig viel Wein auf einer bestimmten Flä- können . In den Ländern wurden dazu gute Programme che produziert werden kann . Das ist ein wichtiger Schritt eingerichtet, sowohl, was die Förderung der Steillagen- Richtung stabiler Weinpreise . bewirtschaftung betrifft, wie auch die Schaffung von In- vestitionshilfen . Vor knapp zwei Jahren hat sich der Bundestag mit der Frage beschäftigt, wie wir mit dem Auslaufen des euro- Für die Erhaltung des Kulturerbes Weinbau braucht es paweiten Anbaustopps für Reben umgehen sollen . Hät- aber auch weitere Ideen, die in die ländlichen Regionen ten wir nicht eine bundeseinheitliche strengere Regelung eingebunden sind – und die nur finanziert werden kön- gefunden, hätte die Rebfläche jährlich um 1 Prozent aus- nen, wenn wir die Förderung für den ländlichen Raum geweitet werden dürfen. Nach längeren Verhandlungen und für Regionalmarketing und Zusammenarbeit in der Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22667

(A) Wertschöpfungskette von Anbau bis Tourismus und Gas- den Verteilernetzen. Das alles finanzieren die Stromver- (C) tronomie weiter stärken . braucher über die Netzentgelte, die durch den enormen Investitionsbedarf weiter ansteigen werden . Deshalb ist Für die ökologisch wirtschaftenden Betriebe, die es richtig, dass wir die Netzentgeltstruktur modernisie- derzeit 8 Prozent der Anbaufläche ausmachen, und all ren und auch die Verteilung der Kosten diskutieren. Das diejenigen, die sich für eine Umstellung interessieren Netzentgeltmodernisierungsgesetz ist ein erster Schritt in und die jahrelange Umstellung mit Mehraufwand ohne diese Richtung . Mehrpreis auf sich nehmen wollen, braucht es planba- re Bewirtschaftungsbedingungen . Dazu zählt zuvörderst Kern des vorliegenden Gesetzes ist die Abschaffung eine stabile EU-Rechtsgrundlage . Die Betriebe müssen der sogenannten vermiedenen Netzentgelte . Das sind sich darauf verlassen können, dass die Bundesregierung Bonuszahlungen der Netzbetreiber an Erzeugungsan- keiner Revision der Öko-Verordnung zustimmt, die den lagen, die vermeintlich Netzausbau einsparen, weil sie ökologischen Weinbau unmöglich macht . sich nahe am Verbrauch befinden. Vermiedene Netzent- gelte werden sowohl an konventionelle und Kraft-Wär- Und die Betriebe, die sich seit Jahren auf den Weg ge- me-Kopplungsanlagen (KWK) als auch an erneuerbare macht haben, und mit sehr viel weniger oder keinem Ein- Erzeugungsanlagen gezahlt . Die Betreiber der erneuer- satz von Kupfer mehr arbeiten wollen, brauchen für den baren Energien erhalten den Bonus nicht direkt, sondern Übergangszeitraum, bis andere Methoden zur Verfügung dieser fließt auf das allgemeine EEG-Konto. Die Betrei- stehen, die Rechtssicherheit, weiterhin Kaliumphospho- ber von erneuerbaren Erzeugungsanlagen haben also nat einsetzen zu können, ohne dass sie danach wieder in durch das System der vermiedenen Netzentgelte weder die Umstellung gehen müssen, und nicht eine chaotische Vor- noch Nachteile. Situation ohne Rechtssicherheit wie im letzten Jahr, das aufgrund der nassen Witterung fatal für den Ökoweinbau Die von der Bundesregierung vorgesehene schrittwei- war . Da hat sich auf Kosten der Ökowinzer gerächt, dass se Abschaffung der vermiedenen Netzentgelte für alle Minister Schmidt die Forschung in alternativen Pflanzen- Anlagen muss jedoch im Rahmen der Gesetzesberatun- schutz sträflich vernachlässigt hat. gen gründlich geprüft werden . Hier sehen wir noch Än- derungsbedarf . Um den ökologischen Weinbau mittel- und langfristig zu unterstützen, braucht es endlich ernsthafte Anstren- Die Annahme, dass volatile erneuerbare Einspeiser gungen und entsprechende finanzielle Mittel für die For- Netzausbau vermeiden, ist längst überholt . Im Gegenteil: schung an alternativen Pflanzenschutzmaßnahmen und Sie verursachen den Netzausbau . Deshalb ist die Strei- die Züchtung von weiteren pilzresistenten Sorten . chung der vermiedenen Netzentgelte für volatile erneuer- bare Energien richtig . Dadurch würden die Netzentgelte (B) Solange es keine Alternativen gibt, fordern wir die direkt um 500 Millionen Euro entlastet, ohne dabei die (D) Bundesregierung auf, sich bei der EU konsequent für Finanzierung der erneuerbaren Anlagen zu gefährden . die Prüfung einer zeitlich und mengenmäßig begrenzten Zulassung von Kaliumphosphonat im Ökoweinbau ein- Bei den steuerbaren Anlagen hingegen bedarf es einer zusetzen . differenzierten Betrachtung. Denn steuerbare Anlagen, insbesondere KWK-Anlagen, können systemdienlich wirken und damit wirklich Netze entlasten. Vermiedene Netzentgelte sind zudem Teil der Wirtschaftlichkeitsbe- Anlage 9 trachtung von KWK . Eine Streichung würde daher die Existenz vieler Anlagen bedrohen . Damit würden wir die Zu Protokoll gegebene Reden Perspektive, die wir für die KWK in mühsamen Verhand- zur Beratung des von der Bundesregierung einge- lungen bei der letzten Gesetzesnovelle errungen haben, brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisie- zunichtemachen . Wir werden daher auf Änderungen im rung der Netzentgeltstruktur (Netzentgeltmoder- Sinne von steuerbaren Anlagen drängen . nisierungsgesetz) (Tagesordnungspunkt 23) Das eigentliche Topthema dieses Gesetzesvorhabens ist die Vereinheitlichung der Übertragungsnetzentgelte, Thomas Bareiß (CDU/CSU): Die Energiewende hat auch wenn sie nicht Bestandteil des Gesetzentwurfs ist . unsere Erzeugungslandschaft massiv gewandelt: Wo es Hintergrund für die Forderung ist das Auseinanderfallen früher einige wenige Hundert Erzeugungseinheiten nahe der Netzentgelte in den Regelzonen der vier Übertra- der großen Verbrauchszentren gab, gibt es heute bereits gungsnetzbetreiber . Ich will an dieser Stelle ausdrücklich 1,5 Millionen dezentrale Anlagen weit verteilt über un- betonen, dass dies kein Ost-West-Problem ist . Bayern ser Land . Das hat Folgen: Mit zunehmendem Ausbau oder Niedersachsen sind beispielsweise genauso von hö- der erneuerbaren Energien ist ein Ausbau der Stromnetze heren Netzentgelten betroffen wie die neuen Bundeslän- dringend erforderlich . Der dezentral erzeugte Strom, vor der . allem aus dem Norden, muss in die Verbrauchszentren im Westen und Süden Deutschlands transportiert werden . Mit zunehmendem Ausbau der erneuerbaren Ener- Am Netzausbau führt kein Weg vorbei . gien steigen der Netzausbaubedarf sowie die Netzma- nagementmaßnahmen zum Erhalt der Stabilität im Über- Bis zum Jahr 2025 müssen daher fast 10 000 Kilo- tragungsnetz . Damit kommt es zu einer zunehmenden meter Übertragungsnetz um- und ausgebaut werden . Spreizung der Netzentgelte zwischen den vier Übertra- Investitionen von bis zu 50 Milliarden Euro sind erfor- gungsnetzbetreibern, auch wenn manche Bestandteile derlich . Hinzu kommt ein enormer Investitionsbedarf in der Übertragungsnetzentgelte, wie Erdkabel und Offsho- 22668 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) re-Anbindung, bereits heute bundeseinheitlich gewälzt hauptsächlich den Stromzahlern im Osten Deutschlands (C) werden . Das spüren vor allem große Stromverbraucher aufzubürden . wie zum Beispiel die Industrie . Die Energiewende ist ein gesamtdeutsches Projekt, Eine Vereinheitlichung ist lediglich eine Kostenvertei- und damit sind die Kosten gesamtdeutsch zu tragen . Wer lung und keine Kostenbegrenzung . Ohne Kompromisse die Stromerzeugung umbauen will, muss auch in der wird es immer Verlierer geben. Daher sollten wir sach- Lage sein, die Kosten dafür zu tragen . Die Energiewende lich nach einem tragfähigen Kompromiss für alle Seiten hat nun mal ihren Preis, und das ist auch lange bekannt . suchen, auch wenn dies nicht einfach wird . Man kann nicht immer ehrgeizigere Ziele zum Umbau Statt uns wieder einmal auf Verteilungsdebatten zu der Energieversorgung formulieren und sich dann weg- fokussieren, sollten wir an die Wurzeln des Problems ducken, wenn es darum geht, über die faire Finanzierung gehen . Wir brauchen einen schnelleren Ausbau unserer zu sprechen . Die Energiewende darf nicht nur ein politi- Netze . Dieser muss dringend umgesetzt werden . Zu oft sches Projekt sein, sondern sie muss von der gesamten haben Länder wie Niedersachsen den Netzausbau in der Gesellschaft getragen werden . Vergangenheit blockiert. Das muss ein Ende haben. Ich halte es für einen riesengroßen Fehler, dass man im Bereich der Energiewende seit nun fast zwei Jahr- Auch die erneuerbaren Energien müssen in Zukunft zehnten versucht, alles schönzureden, was die erneuer- netzverträglicher ausgebaut werden . Dezentrale Stro- baren Energien betrifft. Die wirklichen Kosten der Ener- merzeugungsanlagen müssen zukünftig einen deutlich giewende, die Folgen der Eingriffe in die Natur und das stärkeren Beitrag an den Kosten der Netzinfrastruktur Landschaftsbild, die Folgen auf die Versorgungssicher- tragen . Grundsätzlich muss gelten: Erneuerbare Energi- heit – bei der zunehmenden Abhängigkeit von Gas aus en können nur dann ausgebaut werden, wenn der Strom unsicheren Drittstaaten –, die fehlende Akzeptanz und auch abtransportiert werden kann . Nur so kann die Ener- die Sorgen der Bürger mit den zu geringen Abständen giewende wirklich gerechter werden . von Windrädern zur Wohnbebauung und andere Frage- stellungen werden schlichtweg negiert, beschönigt, und Jens Koeppen (CDU/CSU): Im Koalitionsvertrag jeder ernsthaften Debatte wird ausgewichen . haben sich die regierungstragenden Parteien auf eine Dass die Reaktion aus NRW auf den ursprüngli- faire Verteilung der energiewendebedingten Netzausbau- chen Referentenentwurf dieses Gesetzes einem Hilferuf kosten verständigt . Ich zitiere aus dem Koalitionsver- gleichkommt, sollte uns aber Anlass zum Innehalten sein . trag: „Wir werden das System der Netzentgelte daraufhin NRW argumentiert: Unseren Unternehmen können wir überprüfen, ob es den Anforderungen der Energiewende die zusätzlichen Kosten nicht zumuten, das vernichtet (B) gerecht wird . Die Koalition wird das System der Netzent- (D) Arbeitsplätze bei uns in NRW .– Die Auswirkungen auf gelte auf eine faire Lastenverteilung bei der Finanzierung den Osten Deutschlands und auf die künftige Beschäf- der Netzinfrastruktur überprüfen .“ tigungs- und Wettbewerbssituation sind gravierend, und Nun kann man sicherlich in Nuancen zu anderen Ein- man nimmt eine Deindustrialisierung Ostdeutschlands schätzungen kommen, was eine faire Lastenverteilung billigend in Kauf . ist . Man kann aber nicht, wie mit dem vorgelegten Ge- Es trifft zu, dass in den neuen Bundesländern ein ge- setzentwurf geschehen, ernsthaft zu der Einschätzung ringerer Teil der Beschäftigten in der Industrie arbeitet . kommen, dass alles okay ist, wenn die Menschen in Aber diese Arbeitsplätze einfach aufs Spiel zu setzen, Ostdeutschland deutlich überproportional belastet sind weil in NRW eine Wahl stattfindet, ist weder solidarisch und jede weitere Beteiligung an den Netzkosten im Be- noch zukunftsorientiert . Diese Entsolidarisierung dürfen reich der Übertragungsnetze den Stromkunden in Nord- wir nicht zulassen . rhein-Westfalen nicht zumutbar ist . Deshalb kämpfen die CDU-Bundestagsabgeordneten Es gab einen anderen, früheren Gesetzentwurf aus der ostdeutschen Landesgruppen auch konsequent dafür, dem BMWi, der die Problematik der Kostenverteilung dass die Kosten der Übertragungsnetze bundesweit um- ernsthaft aufgegriffen hat. Jetzt allerdings gibt es diesen gelegt werden . Sonst besteht die Gefahr, dass die Kosten- Entwurf, für den Minister Gabriel noch zuständig war, frage die Menschen zunehmend gegen die Energiewende der ganz klar dem SPD-Wahlkampf in NRW geschuldet aufbringt . ist und der keinen Lösungsansatz mehr beinhaltet . Die versprochene Festlegung auf bundeseinheitliche Über- Wenn wir uns die Kostenunterschiede für die Strom- tragungsnetzentgelte wurde diesem Wahlkampf skrupel- netznutzung zwischen Ostdeutschland und Netzgebieten los geopfert . in Nordrhein-Westfalen anschauen, wird die schon heu- te bestehende Dramatik deutlich . Aus der Wissenschaft Wenn die Netzentgelte neu geordnet werden, gibt es und der Praxis liegen uns klare Zahlen vor . Beispielswei- unter den Stromkunden Gewinner und Verlierer. Es fin- se zahlt eine Bäckerei in Brandenburg für ihren Strom det eine Umverteilung statt . Aber – das ist ganz wichtig Netzkosten in Höhe von 8 000 Euro, eine vergleichbare festzuhalten – diese Umverteilung hat nicht das Ziel, den Backerei in NRW hat für die gleiche Strommenge Netz- Menschen und den Unternehmern in Nordrhein-Westfa- kosten von weniger als 3 000 Euro . Diese Unterschiede len ungerechtfertigterweise zusätzliche Kosten aufzubür- sind energiewendebedingt, und diese Preisunterschiede den, sondern die Kosten endlich – nach 17 Jahren EEG – sind insbesondere für energieintensive Unternehmen rui- im gesamten Bundesgebiet fair zu verteilen und nicht nös und mittlerweile wettbewerbsverzerrend . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22669

(A) Bei Erd- und Seekabeln – die eher weniger in Ost- der Vergütungszahlung nicht an die Betreiber ausgezahlt, (C) deutschland vorgesehen sind – haben wir uns für eine sondern fließen direkt ins EEG-Konto. Deshalb hat ein bundesweite Wälzung der Kosten entschieden . Was hier Wegfallen der VNE hier überschaubare Folgen. vernünftig ist und was die Menschen in Ostdeutschland auch mittragen, soll für Freileitungen nicht gelten? Das Ganz anders ist das bei Erzeugern, die nicht auf Sonne ist in den neuen Bundesländern schwer zu erklären . oder Wind basieren. Hier sind die VNE ein wichtiger Teil der Vergütung. Und genau deshalb stellt sich für meine Der Osten Deutschlands hat nicht nur deutlich höhere Fraktion an diesem Punkt im Kabinettsbeschluss noch Netzkosten zu tragen, auch ein Großteil der Windräder eine ganze Reihe von Fragen, die wir in den parlamen- steht dort . Die Akzeptanzprobleme werden stark unter- tarischen Beratungen klären wollen . Das gilt sowohl für schätzt . Mitnichten ist es zudem so, dass durch die er- das Abschmelzen wie auch für das Einfrieren der ver- neuerbaren Energien enorme Wertschöpfungsketten miedenen Netzentgelte . Denn immerhin gestehen wir der entstanden sind und die Gewerbeeinnahmen in den Ost- KWK bei der Erreichung unserer Klimaziele eine wichti- kommunen sprudeln . Es sind Arbeitsplätze entstanden, ge Rolle zu, die wir gerade erst mit einer KWK-Novelle aber diese sind in ganz Deutschland entstanden und nicht untermauert haben . Wenn wir jetzt über eine Abschaf- unbedingt dort, wo die erneuerbaren Anlagen hauptsäch- fung der VNE reden und keine überzeugende Alternative lich errichtet wurden . anbieten, sendet das in meinen Augen völlig falsche Si- gnale . Und da für dieses Jahr ohnehin eine große Evalu- Wenn uns die Kosten der Energiewende zu hoch sind ierung der KWK geplant ist, sollten wir an diesem Punkt und wir sie den Stromkunden in Nordrhein-Westfalen besser nichts überstürzen . nicht zumuten können, dann kann diese Einschätzung durchaus schlüssig sein . Aber dann können wir diese Auf der Stromrechnung eines Normalbürgers finden hohen Kosten auch den Stromkunden in anderen Teilen sich 6 bis 7 Cent an Netzentgelten pro Kilowattstunde . Deutschlands nicht zumuten . Dann führt uns die Analyse Das kann variieren, denn das hängt auch von den Ge- dorthin, dass wir für die Energiewende ein Moratorium gebenheiten im örtlichen Verteilnetz ab. Durch eine brauchen, um die Vorhaben insgesamt neu zu bewerten. Abschaffung der vermiedenen Netzentgelte würden die Netzentgelte aber in jedem Fall sinken, weil die vermie- Ich hoffe, wir werden im Rahmen der nun anstehen- denen Netzentgelte über die Netzentgelte finanziert wer- den Diskussionen uns auf eine faire Entgeltsystematik den . einigen und endlich die hohen finanziellen Lasten für die Stromkunden in Ostdeutschland auf Gesamtdeutschland Wenn wir über eine Vereinheitlichung der Netzentgel- aufteilen . te auf Übertragungsebene sprechen, geht es nicht um die gesamten 6 bis 7 Cent, sondern um nur rund ein Viertel (B) davon, denn die Netzentgelte setzen sich aus den Kosten (D) (SPD): Für die heutige erste Le- Johann Saathoff auf den unterschiedlichen Ebenen des Stromnetzes zu- sung des Netzentgeltmodernisierungsgesetzes möchte sammen . ich ein Bild nutzen, das ich schon mehrmals hier am Pult genutzt habe, wenn es um die Energiewende ging . Die Netzentgelte auf Übertragungsebene sind vor al- Es ist das Bild des Balles, den man auf der Fingerspitze lem für industrielle Großverbraucher bedeutsam . Hier balanciert . Man muss stets nachjustieren, damit er nicht schlagen die zum Teil erheblichen Erhöhungen der Über- herunterfällt . Und so ist es auch bei der Energiewende . tragungsnetzbetreiber dieses Jahr voll durch . Die Kla- Seit der letzten Bundestagswahl gab es zwei EEG-No- gen über Standortnachteile aufgrund hoher Netzentgelte vellen nebst kleineren Korrekturen, das Strommarktge- gerade in den neuen Bundesländern kann ich schon ein setz, das Gesetz zur Digitalisierung der Energiewende, Stück weit nachvollziehen . Deshalb hat sich ja auch der eineinhalb KWK-Novellen und den Vorrang für Erdkabel Bundesrat für eine Vereinheitlichung ausgesprochen. Wir bei Gleichstromleitungen . Immer wieder haben wir nach- werden also auch diesen Punkt noch zu beraten haben . gesteuert, weil es Bedarf dazu gab . Man muss sich eben immer vor Augen führen: Die Wat nich greit of bleiht, dat geiht torügg’ – Stillstand Energiewende ist ein mindestens gesamtdeutsches Pro- ist Rückschritt, ist hier das Motto . Und wir können schon jekt mit generationenübergreifender Bedeutung . Deshalb heute absehen, dass uns viele dieser Themen in nicht all- ist es auch folgerichtig, dass die Kosten der Energiewen- zu ferner Zukunft wieder beschäftigen werden . de auf möglichst viele Schultern verteilt werden . Mit dem vorliegenden Gesetz, dem NEMOG, wie es Im Fall der Netzentgelte auf Übertragungsebene ist abgekürzt so schön heißt, steuern wir wieder etwas nach . das momentan eben noch nicht so . Der Zuschnitt der Zum einen geht es im NEMOG um die Abschaffung der vier Regelzonen in Deutschland ist nun mal so, dass vermiedenen Netzentgelte . Ich gebe zu: Zu verstehen, nur zwei der vier ÜNB Nord- und Ostsee abdecken . was die vermiedenen Netzentgelte sind, hat bei mir etwas Der Strom der Offshorewindkraft wird aber ganz sicher gedauert . Zu erklären, was die vermiedenen Netzentgel- in ganz Deutschland benötigt; es scheint also nicht ge- te sind und was der Sinn dahinter ist, überlasse ich gern recht, dass nur Einwohner aus zwei Regelzonen für die meinen Nachrednern . Offshorenetz­anschüsse zahlen. Klar ist aber: Die vermiedenen Netzentgelte dienen Im Agrarausschuss des Deutschen Bundestages ist ei- nicht mehr dem Zweck, mit dem sie geboren wurden . nes meiner Hauptthemen die Politik für die ländlichen Und sie spielen bei erneuerbaren Anlagen eine unterge- Räume . Ländliche Räume sind da, wo wenig Menschen ordnete Rolle; denn sie werden in der 20‑jährigen Zeit leben . Den existierenden Unterschied zwischen Stadt 22670 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) und Land können Sie auch an Netzentgelten ablesen . dem Ministerium, der war gar nicht so schlecht . Und dann (C) Der Anteil der ländlichen Räume in den Regelzonen streicht das Ministerium aus dem Entwurf den wichtigs- der Übertragungsnetzbetreiber ist ungleich verteilt . Die ten und auch noch vernünftigen Punkt der Angleichung Energiewende findet in den ländlichen Räumen statt. Na- der Netzentgelte für die Übertragungsnetze . Sie hätten turgemäß sind die Netzentgelte dort höher . konsequenterweise auch gleich den Titel des Gesetzes ändern sollen; denn das, was hier jetzt übrig ist, ist ein Aber es gibt auch Vorteile. Ich komme aus einem sol- Gesetz zur Abschaffung der vermiedenen Netzentgelte. chen ländlichen Raum . Die Energiewende hat der struk- Und nicht mal in dem kümmerlichen Rest nehmen Sie turschwachen Region Ostfriesland enorm geholfen . Wir von der Koalition die Realitäten wahr und zeigen so, wie haben dadurch viel Wertschöpfung generiert . Ich bin wenig Sie vom Umbau des Energiesystems für eine ech- stolz darauf, dass wir bei der weiteren Ausgestaltung der te Energiewende mit 100 Prozent erneuerbarer Energie Energiewende voranschreiten . verstehen . Die Kluft zwischen Ballungsgebieten und ländlichen Ich fange von vorn an . Regionen wollen wir zum Beispiel dadurch verringern, dass wir es ermöglichen, dass die Energiewende ein Erstens . Ich erinnere an die Plenardebatte zu unserem Stück weit in den urbanen Zentren stattfinden kann. Wie Antrag zu bundeseinheitlichen Netzentgelten . Da sprach Sie wissen, läuft innerhalb der Bundesregierung gerade der Kollege von der SPD, bezogen auf das der Abstimmungsprozess für ein Mieterstromgesetz . Wir Problem der immer größeren Spanne bei den Netzentgel- wollen, dass auch Menschen ohne das eigene Dach über ten, die zwischen 4 Cent in Düsseldorf und 10 Cent im dem Kopf mehr Anteil an der Energiewende haben sol- Havelland betragen, ich zitiere: „Das Problem ist ange- len als über die Zahlung der EEG-Umlage . Durch die- kommen, es steht auf der Agenda der Großen Koalition, se gerechtere Verteilung des Nutzens der Energiewende und wir werden es entsprechend lösen “. Das war im No- steuern wir ebenfalls nach, halten also den Ball auf der vember 2014 . Mit Hinweis auf ihren Koalitionsvertrag Fingerspitze . hat die Große Koalition mehrfach angekündigt, das Pro- blem anzugehen . Jetzt sind zweieinhalb Jahre vergangen, Und da ich gerade bei Gerechtigkeit bin: In der kom- ihre Regierungszeit läuft ab, und das Problem besteht menden Legislaturperiode werden wir auch über eine noch immer . Die Koalition hat sich erpressen lassen oder gerechtere Verteilung der Lasten der Energiewende spre- will im Hinblick auf die Wahlen Rücksicht auf bestimmte chen . Dieses Thema beschäftigt uns schon seit einigen Regionen nehmen, in denen die Angleichung der Netz- Monaten, und ich bin mir sicher, dass sich in der nächs- entgelte zu leichten Erhöhungen führen würde . Dabei ist ten Periode dort etwas bewegen wird . Das wird dann ihr die unsoziale Benachteiligung der ländlichen Räume einhergehen mit einer Reform der Netzentgelte; denn die der Bundesrepublik wurscht . Die Koalition hat versagt . (B) Finanzierungsfragen lassen sich kaum davon trennen . (D) Wenn wir zum Beispiel an die Sektorkopplung denken, Zweitens. Mit der Abschaffung der vermiedenen Netz- gibt es große Überschneidungen . entgelte meint die Koalition, einen großen Kostentreiber der Netzentgelte auszuschalten. Vermiedene Netzentgel- Ich möchte aber noch auf einen anderen zentralen te sind eine Prämie für dezentrale Stromerzeugungsanla- Punkt eingehen, der direkten Einfluss auf die Netzentgel- gen, weil sie theoretisch den Strom dort erzeugen, wo er te hat . Ein wesentlicher Treiber der ausbaubegrenzenden gebraucht wird, und damit die Netze entlasten . Dezen- Maßnahmen des EEG 2017 waren die Kosten des Netz­ trale Stromerzeugungsanlagen sind Solar- und Windan- engpassmanagements . Durch den Netzausbau werden lagen und auch Blockkraftwerke, die Heizwärme und diese Kosten irgendwann nicht mehr anfallen . Der Netz- Strom gleichzeitig erzeugen – KWK genannt . Doch statt ausbau ist wichtig, und er muss zügig voranschreiten, zielgenau Wildwuchs bei den vermiedenen Netzentgel- obwohl ich gerade beim größten ÜNB noch ein gewisses ten zu entfernen, übt sich die Koalition im Kahlschlag . Optimierungspotenzial sehe . Einerseits erkennen wir natürlich an, dass die ver- Aber wir müssen auch über Maßnahmen sprechen, miedenen Netzentgelte für Solar- und Windkraftanla- die uns in den nächsten zehn Jahren ein Entlastungspo- gen inzwischen nicht mehr zeitgemäß sind . In diesem tenzial bieten . Es geht also um innovative Maßnahmen Zusammenhang lohnt es sich auch, einmal darüber beim Netzbetrieb, durch die der geplante Netzausbau nachzudenken, die Netzentgeltabrechnung nicht mehr keinesfalls infrage gestellt werden soll, die aber alles in ausschließlich nach verbrauchten Kilowattstunden vor- allem höhere Übertragungsraten liefern, um im digitalen zunehmen, sondern auch die bereitgestellte Anschluss- Jargon eine Anleihe zu nehmen . Es gibt dort eine ganze leistung einzubeziehen. Diese Vorschläge sind Ihnen von Reihe vielversprechender Ansätze . Diese wollen wir uns der Koalition seit Jahren bekannt, aber auf darauf möchte in den nächsten Monaten genauer anschauen, auf ihr Po- ich jetzt nicht näher eingehen . tenzial prüfen und gegebenenfalls auch schnellstmöglich umsetzen . Denn mit ihrem Kahlschlag-Gesetzentwurf will die Koalition andererseits auch die vermiedenen Netzentgelte Jetzt beraten wir aber erst mal das NEMOG . Ich freue für die Kraft-Wärme-Kopplung aufheben . Das wiederum mich darauf . schadet der Energiewende . Ich will Ihnen das erläutern: Die KWK-Anlagen sind das Rückgrat der Energiewen- Ralph Lenkert (DIE LINKE): Das ist schon ein star- de . Ich muss Ihnen das so deutlich sagen, weil es ganz kes Stück, was sich die Koalition mit diesem Gesetzent- offensichtlich ist, dass ein großer Teil der Koalition das wurf leistet . Wir alle kennen den Referentenentwurf aus nicht verstanden hat oder nicht verstehen will . Denken Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22671

(A) Sie einmal ein paar Jahre weiter . Dann stellen Sie sich die giesektor gut ist, aber immer dann, wenn es konkret wird, (C) Frage, wodurch bei Ihrem geplanten 80-Prozent-Anteil ausgebremst wird . von erneuerbarem Strom bei Dunkelheit und Windstil- le die notwendige Leistung, die gesicherte Leistung im Eine Reform des Netzentgeltsystems müsste eine Stromsystem bereitgestellt werden soll . Wollen Sie dann Flexibilisierung von Erzeugung und Verbrauch und eine teure zentrale Ersatzkraftwerke vorhalten? Das ist volks- gerechte Verteilung der Kosten bewirken. Das wäre wirtschaftlich die teuerste Lösung; das lehnt die Linke Netz­entgeltmodernisierung . Was wir brauchen, ist ein ab . Netzentgeltsystem, das die richtigen Anreize für eine flexible Abnahme und Systemdienlichkeit setzt, um das Denken Sie lieber wie wir an KWK-Anlagen . Die Netz entscheidend zu entlasten . Nur so könnte Netzaus- haben schon heute eine installierte Leistung von über bau vermieden und könnten unnötige Redispatchkosten 30 Gigawatt . Diese KWK können, wenn sie über Heizpa- eingespart werden . Das heutige System aber setzt keiner- tronen auch Überschussstrom im Wärmebereich nutzen lei Anreize für eine flexible Stromabnahme. Im Gegen- und netzdienlich Strom erzeugen, Netze entlasten und teil . Netzausbau reduzieren . Deshalb verdienen sie es auch weiterhin, für real vermiedene Netzkosten entschädigt zu Ungerechtfertigte Netzentgeltprivilegien müssen end- werden und weiterhin vermiedene Netzentgelte zu erhal- lich abgeschafft werden. Private Stromkunden haben ten . über die Netzentgelte in den letzten vier Jahren Milliar- den Industriesubventionen bezahlt, ohne dass es dafür Aber die KWK wird von Ihnen allenthalben stief- eine Gegenleistung gab . Im Gegenteil: Die Belastung mütterlich behandelt . Es ist nicht verwunderlich, dass und damit die Kosten des Stromnetzes wurden durch insbesondere Stadtwerke mit mittleren KWK-Anlagen Netzentgeltermäßigungen zum Teil sogar noch höher . zu Recht beklagen, dass ihre KWKs am Rande der Un- wirtschaftlichkeit stehen . Die Förderpolitik der Großen Mit rund 6 bis 8 Cent pro Kilowattstunde machen die Koalition, aber auch der vorherigen Bundesregierung aus Netzentgelte inzwischen ein Viertel des Strompreises für Union und FDP ist durchweg darauf ausgerichtet, jegli- private Verbraucher aus. Große Teile der Industrie, aber che Infrastruktur, die einer dezentralen Energiewende auch Golfplätze und Ähnliches zahlen deutlich geringere dienlich wäre, vielleicht sogar noch von kommunalen Stromnetzentgelte als private Verbraucher. Seit der Ein- Unternehmen betrieben werden könnte, zu verhindern . führung wird diese Subvention immer damit gerechtfer- Wir lehnen den Gesetzentwurf ab, und zwar nicht nur tigt, dass die Unternehmen durch „atypisches Nutzungs- wegen der vom Ex-SPD-Wirtschaftsminister Gabriel verhalten“ das Stromnetz entlasten . Das aber ist nicht aus dem Gesetzentwurf herausgestrichenen Vereinheitli- richtig: Durch die Netzprivilegien wird das Stromnetz (B) chung der Übertragungsnetzentgelte, sondern auch we- teilweise sogar be- statt entlastet . (D) gen des Anschlags auf die KWK-Anlagen, die für die In der jetzigen Fassung nutzt das NEMOG niemanden . Energiewende unverzichtbar sind . Es ist lediglich ein weiterer Knüppel, der den KWK-Be- treibern zwischen die Beine geworfen wird . Dem wird Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der sich die grüne Bundestagsfraktion entgegenstellen und Gesetzentwurf der Bundesregierung zu Netzentgelten im Rahmen der Beratungen entsprechende grundlegende trägt seinen Namen völlig zu Unrecht. Von wegen Netz­ Änderungen einfordern . So sehen wir es als erforderlich entgeltmodernisierung! Von den angekündigten tiefgrei- an, dass der Gesetzentwurf grundlegend überarbeitet fenden Reformen bei den Netzentgelten ist nur ein Torso wird . übrig geblieben . Das ist keine Reform und nicht einmal ein Reförmchen . Wir Grüne fordern, dass die Streichung der vermie- denen Netzentgelte zwingend an eine vollständige Kom- Die Flexibilisierung der Stromabnahme bleibt auf der pensation für die KWK-Anlagen gekoppelt wird . Strecke, und auch eine längst überfällige Regelung zu einheitlichen Übertragungsnetzentgelten ist aus dem Ge- Ungerechte Netzentgeltprivilegien müssen endlich setzentwurf wieder rausgeflogen. Geblieben ist nur die abgeschafft werden. Abschaffung der vermiedenen Netzentgelte – und das, ohne eine notwendige Kompensation für die Kraft-Wär- Die Netzentgelte müssen endlich so ausgestaltet wer- me-Kopplung (KWK) zu schaffen. Das bringt uns bei den, dass sie echte Flexibilitätsanreize für eine system- Netzentgelten und einer verursachergerechten Finan- dienliche Abnahme schaffen, damit das Netz entlastet zierung des Netzes kaum weiter und konterkariert alle wird . Bemühungen, die KWK als Beitrag zum Klimaschutz endlich im notwendigen Umfang auszubauen . Wir hoffen, dass sich die Große Koalition bei den Be- ratungen über dieses Gesetz noch einen Ruck gibt und Und das ist schon irre, was Sie da mit der KWK ma- das reinschreibt . Sonst können wir am Ende festhalten, chen . Bei der letzten KWKG-Novelle war eine der Be- dass diese Koalition im Hinblick auf die seit Jahren gründungen, warum Vergütungssätze gerade für die klei- überfällige Reform der Netzentgelte nichts auf die Ket- ne, dezentrale KWK nicht angepasst werden, dass die te gebracht hat . Das aber ist ein weiterer Bremsklotz für über Einnahmen aus vermiedenen Netznutzungsentgel- eine erfolgreiche und kostengünstige Energiewende . Das ten verfügen . Genau die streichen Sie jetzt . Das passt zu hinterlassen Sie – wie so vieles – der nächsten Bundesre- Ihrem jahrelangen Kreuzzug gegen die dezentrale KWK, gierung, und wir haben wertvolle Jahre durch die großko- die zwar für Sonntagsreden beim Klimaschutz im Ener- alitionäre Selbstblockade verloren . 22672 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) Anlage 10 ballon bis zur automatischen Messboje auf dem Atlantik (C) zusammen und werden verarbeitet . Zu Protokoll gegebene Reden Diese hochwertigen Geodaten und Leistungen sollen zur Beratung des von der Bundesregierung einge- durch den Gesetzentwurf nun entgeltfrei im Geoportal brachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Än- bereitgestellt werden . Damit werden Informationen des derung des Gesetzes über den Deutschen Wetter- Öffentlichen Dienstes einer breiten gesellschaftlichen dienst (Tagesordnungspunkt 24) und wirtschaftlichen Nutzung zugeführt . Dienstleister können diese hochwertigen Daten für neue Geschäftsfel- Günter Lach (CDU/CSU): Der Blick der meisten der verwenden und entscheidende Zukunftstechnologien Menschen am Morgen eines jeden Tages gilt dem Wet- entwickeln . Für viele kleine und mittelständische Un- ter . Denn es gibt kaum einen Bereich unseres Lebens, der ternehmen werden neue Geschäftsmodelle so erst wirt- nicht durch das Wetter und das Klima beeinflusst wird. schaftlich, da keine Beschaffungskosten oder Nutzungs- Dies gilt für Nutzer aus Land- und Forstwirtschaft, Bau- lizenzen mehr zu beachten sind . Die bereits etablierten wesen, Gesundheitswesen genauso wie für den Bereich Geschäftsmodelle werden kostengünstiger und können Verkehr, Wasserwirtschaft mit Hochwasserschutz, Um- beispielsweise durch die Kombination von klimatologi- welt, Naturschutz und Wissenschaft . schen und meteorologischen Daten mit anderen Informa- tionen auf neue Geschäftsfelder – auch mit internationa- Mit diesen vielfältigen Informationen versorgt uns der ler Perspektive – weiterentwickelt werden . Deutsche Wetterdienst (DWD) zuverlässig bereits seit 1952 . Neben dieser Kernaufgabe hält der DWD viele Damit folgt der Gesetzentwurf der Bundesregierung weitere meteorologische Dienstleistungen für uns bereit . einer Forderung aus der Digitalen Agenda der Bundes- Er ist als nationaler meteorologischer Dienst der Bundes- regierung, die Rahmenbedingungen für einen effektiven republik Deutschland mit seinen Wetter- und Klimain- und dauerhaften Zugang zu öffentlich finanzierten Daten formationen im Rahmen der Daseinsvorsorge tätig . Der zu verbessern . DWD versorgt uns mit Wissenswertem rund um das Wet- Des Weiteren erfolgt mit der vorgesehenen Gesetzes- ter und ist für die meteorologische Sicherung der Luft- änderung auch eine Modernisierung des Aufgabenkata- und Seeschifffahrt zuständig. logs des Deutschen Wetterdienstes . Der Aspekt der Kli- ma- und Umweltbeobachtung wird ausdrücklich genannt In seiner Verantwortlichkeit liegt auch eine der wich- und somit auch beim DWD-Gesetz seiner gesellschaftli- tigsten Aufgaben des DWD: die Herausgabe von amt- chen Bedeutung gemäß dokumentiert . Die klimatologi- lichen Warnung vor meteorologischen Ereignissen und schen Dienste mit der langfristigen Wetterbeobachtungen Wettererscheinungen . Die extremen Wetterlagen der letz- (B) unterstützen Wissenschaft, Forschung und Politik bei ih- (D) ten Jahre machen deutlich, dass diese Arbeit des DWD ren Bemühungen, den Klimawandel aufzuhalten . von besonderer Bedeutung ist . Dies gilt insbesondere für unsere moderne Gesellschaft, in der die Verwundbarkeit Wichtigste Aufgabe des Deutschen Wetterdienstes ist weltweit vernetzter Verkehrswege und wichtiger Infra- und bleibt die Bereitstellung von Wetter- und Klimain- strukturen durch Wettererscheinungen Gefahren für die formationen für die Allgemeinheit im Sinne der Daseins- öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen können. vorsorge . Wir wollen, dass die Daten und das Wissen der Behörde uneingeschränkt zum Schutz von Gesellschaft, Nun hat die Bundesregierung eine Novelle des Umwelt und Gesundheit eingesetzt werden können . DWD-Gesetzes vorgelegt . Darin werden die Aufgaben des DWD modernisiert und die Verbreitung von meteo- Mit seinen detaillierten Wetterinformationen gibt der rologischen Informationen zur Sicherung von Verkehrs- DWD rechtzeitig Warnungen vor bedrohlichen Wetterla- wegen und wichtigen Infrastrukturen ermöglicht . Wich- gen . Damit unterstützt er maßgeblich die Arbeit unserer tige Umwelt- und Klimabeobachtungsaufgaben werden Katastrophenschutzbehörden . nun in den Aufgabenkatalog mit aufgenommen . Wie verletzlich unsere moderne Gesellschaft ist, in der Das Hauptziel des Gesetzentwurfes ist die Möglich- Verkehrswege und auch die Infrastruktur für Kommuni- keit, eine Abgabe von meteorologischen Dienstleistungen kation und Energie eng vernetzt sind, hat sich bereits in und Produkten entgeltfrei zu ermöglichen . Als nationaler der Vergangenheit gezeigt. Wetterdienst erfasst, bewertet und überwacht der DWD Denken wir zum Beispiel zurück an das Jahr 2007, in die physikalischen und chemischen Prozesse in unserer dem der Orkan Kyrill mit Windböen von fast 200 km/h Atmosphäre . Als meteorologischer Ansprechpartner in Spitzengeschwindigkeit Deutschland traf . Hier hatte der Deutschland für alle Fragen zum Wetter und Klima bietet DWD schon Tage vorher Warnungen vor dem schweren er eine reichhaltige Palette von Dienstleistungen für die Orkantief herausgegeben und die Öffentlichkeit über die Allgemeinheit an und betreibt das nationale Klimaarchiv . Medien informiert . Über die speziellen Wetterwarnsyste- Mit der Erfassung der wissenschaftlichen Daten und sei- me waren Katastrophenschützer, Polizei, Feuerwehr und ner Forschungsarbeit ist der DWD außerdem Teil eines Technisches Hilfswerk gut vorbereitet . Die schlimmsten weltumspannenden Netzes der Meteorologie und vertritt Verwüstungen durch diese zerstörerische Kraft des Or­ die Bundesrepublik Deutschland in zahlreichen nationa- kans konnten so verhindert werden . len und internationalen Gremien . Oder auch die Starkniederschlagsereignisse, die zu Mit hohem technischem Aufwand fließen verschie- Hochwasser an Elbe und Donau im August 2002 und denste Informationen vom Wettersatelliten und Wetter- Mai/Juni 2013 führten, sowie die Sturzfluten im Mai/ Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22673

(A) Juni 2016 . Die Bedeutung von Wetter- und Klimaereig- DWD-Gesetz dem ohnehin vollzogenen erweiterten (C) nissen hat sich auch bei Luftverfrachtungen wie durch Aufgabenspektrum anzupassen . Das geschieht erkenn- den Vulkanausbruch des Eyjafjallajökull auf Island im bar: An vielen Stellen im Gesetz steht jetzt der Begriff April 2010 gezeigt . „Klima“ . Dass die Aufgabenerweiterung im Gesetz kodi- fiziert wird, ist zu begrüßen. Umso wichtiger sind die frühzeitigen Warnungen des Deutschen Wetterdienstes . Dazu gehören auch beispiels- Strittig ist allein § 6 Absatz 2a . Hier haben sowohl weise die hohen Schneefälle, Nassschneefälle und Stür- die privatrechtlichen Wetterdienstleister als auch – in me, die zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen im Novem- der Folge dieser Kritik – der Bundesrat Bedenken ange- ber 2005 zu Vereisung und Bruch von Stromleitungen meldet . In der Tat sollte der § 6 Absatz 2a noch einmal mit tagelangem Stromausfall führten . kritisch hinterfragt werden . Hier geht es, um es konkret zu machen, um die semantische Wirkungsreichweite des Damit Bürgerinnen und Bürger die Warnungen des Begriffs „Leistungen“. Sind damit endnutzerfähige Pro- DWD besser verstehen und nachvollziehen können ist es dukte gemeint oder lediglich Rohdaten? Der Minister hat unerlässlich, dass sie sich jederzeit ein qualifiziertes Bild auf eine so lautende Frage hier im Plenum geantwortet, von der Wetterlage machen können . Das ist nur möglich, dass der DWD nicht plane, endnutzerfähige Produkte auf wenn Karten, Radarfilme und Vorhersagen jederzeit ein- den Markt zu bringen, die über die definierten Aufgaben sehbar sind . hinausgingen . Es wird im parlamentarischen Diskurs da- Klar ist dabei eines: Der Deutsche Wetterdienst wird rüber zu sprechen sein, wie diese richtige Position mit dabei selbst nicht zum Marktteilnehmer und steht auch mehr Klarheit als bisher im Gesetz formuliert werden nicht in Konkurrenz zu privaten Wetterdienstleistern . muss . Das werden wir uns im laufenden Gesetzgebungsverfah- ren auch genau ansehen . Ralph Lenkert (DIE LINKE): Der Deutsche Wetter- Der Gesetzentwurf ist insgesamt zu begrüßen . Denn dienst (DWD) ist als Dienstleister und Warndienst vor er modernisiert die Aufgaben des Deutschen Wetter- eventuell katastrophalen Wetterereignissen Teil der öf- dienstes . So wird die Allgemeinheit mit wichtigen Wet- fentlichen Daseinsvorsorge und deshalb eine zu Recht terwarnungen sowie umwelt- und klimaschutzrelevanten steuerfinanzierte Institution des Bundes. Der Wetterpro- Informationen versorgt . Darüber hinaus erhält die Privat- gnosemarkt hat sich in den vergangenen Jahren vielfältig wirtschaft nun entgeltfreien Zugriff auf Daten und Pro- entwickelt, insbesondere was Onlinewetterdienstleister dukten aus der Arbeit der Behörde . Mit seinen Leistun- angeht . Somit unterzieht sich selbst die Wettervorhersa- gen sorgt der DWD jeden Tag dafür, dass unsere Städte ge heute häufig den Mechanismen der Marktwirtschaft. und Gemeinden auf bestmögliche Weise über bevorste- (B) Fast alle der derzeit auf dem Markt tätigen Wetter- (D) hende mögliche Gefahrensituationen durch Wetterlagen dienstleister haben eines gemeinsam: Sie beziehen Aus- vorbereitet sind . Daher brauchen wir die Arbeit des nati- gangsdaten für ihre Prognosen und Wetterprodukte vom onalen Wetterdienstes . DWD. Vor wenigen Jahren forderten private Wetterpro­ gnostiker deshalb sehr häufig, der DWD solle seine Daten Arno Klare (SPD): Das Wetter ist wichtig . Fast jeder kostenfrei zur Verfügung stellen. Man argumentierte mit hat eine oder mehrere Wetter-Apps auf seinem Smart- Wettbewerbsnachteilen der privaten Wetterprognoseer- phone . Damit ist man jederzeit bestens informiert, ob steller . Mit dem Gesetz über den Deutschen Wetterdienst man den Schirm mitnehmen sollte oder ihn zu Hause ist bislang klargestellt, dass der DWD als Institution des lassen kann, ob die dicke oder dünne Jacke vom Haken öffentlichen Rechts seine Daten nicht kostenlos an priva- genommen wird oder die Grillparty am kommenden Wo- te Firmen zur gewinnbringenden Verwertung weiterge- chenende stattfinden kann. ben darf. Daten, die mit einer kostspieligen, steuerfinan- zierten Infrastruktur ermittelt wurden, werden zu Recht Doch es geht um mehr: Je größer der Anteil volatiler nicht kostenlos an private Wetterdienstleister abgegeben . Energie im Netz ist, desto exakter – ja, fast auf die Minu- Und trotzdem entwickelte sich ein erfolgreicher privater te genau – müssen wir wissen, wo und vor allem in wel- Wetterprognosemarkt in der heutigen Vielfalt. Dabei gibt cher Stärke der Wind weht . Man kann die Kraftwerke, es im umkämpften Markt der Wetterdienstleister nur eine die angesichts einer Flaute zugeschaltet werden müssen, Chance: mit Qualität und Genauigkeit zu bestehen . nicht wie ein häusliches Elektrozusatzöfchen anknipsen; es braucht Vorlauf von Stunden, besser von einem Tag. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf stehen wir nun vor der Situation, dass dieselben Wetterunternehmen, die Die meteorologischen Daten müssen exakt sein, re- vor Jahren laut nach kostenlosen Daten riefen, heute die gional spezifisch und valide. Das alles organisiert seit kostenlose Verfügbarkeit von Wetterdaten für die Allge- Jahrzehnten der Deutsche Wetterdienst, kurz DWD . Der meinheit verhindern wollen, und zwar wiederum mit dem DWD hat die gesetzliche Aufgabe, die Bevölkerung vor Argument der Wettbewerbsverzerrung . Das kann man Unwettern zu warnen . Das gehört zweifelsohne zur Da- nur als scheinheilig bezeichnen, und es ist ganz klar für seinsvorsorge . die Linke, dass eine Institution des öffentlichen Rechts Seit einiger Zeit gibt es beim DWD den Geschäftsbe- natürlich selbst als Wetterdienstleister mit einer kosten- reich KU, gleich Klima – und Umwelt . Dazu gehören die losen Wetterapp für die Bevölkerung auf dem Markt wichtigen Unterabteilungen Klima- und Umweltbera- erscheinen können muss . Erstens bezahlte die Bevölke- tung, Klimaüberwachung sowie die beiden Felder ­Agrar- rung ja die Erhebung der Daten bereits . Das Angebot des und Hydrometeorologie . Insofern ist es konsequent, das DWD ist nicht kostenlos und wird es auch nach diesem 22674 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) Gesetz nicht sein . Die Menschen zahlen dafür Steuern . vollzogen . Beim Thema E-Government kommt die Bun- (C) Und zweitens ist der Schutz vor Wetterereignissen ein desregierung nicht voran . Bestandteil der Daseinsvorsorge . Die kostenfreie Bereitstellung von Daten, die im öf- Die Linke begrüßt diesen Gesetzentwurf daher . Wir fentlichen Sektor anfallen, kann innovative Geschäfts- sehen das Argument der Wettbewerbsverzerrung nicht; modelle ermöglichen und die junge und dynamische Di- denn letztendlich hat jedes Unternehmen, ob es privater gitalwirtschaft antreiben . Das gilt auch für die Daten des oder öffentlich-rechtlicher Natur ist, sich weiterhin den Deutschen Wetterdienstes, die eine wertvolle Ressource Qualitätsansprüchen der Nutzerinnen und Nutzer der An- für innovative Start-ups darstellen und zum Wachstum in gebote zu stellen . der Digitalbranche beitragen können, auf das Deutsch- land nicht verzichten kann . Auch ehrenamtliche Projekte Die meteorologische Prognostik liefert auch heute und solche mit sozialer, ökologischer oder gemeinwohl­ keine eineindeutigen Ergebnisse . Das liegt in der Natur orientierter Motivation profitieren von kostenfreien Da- der Sache, denn Wetter ist ein chaotischer Prozess und ten und bereichern das Informationsangebot weiter . deterministisch niemals komplett zu erfassen . Prognosen werden sich immer unterscheiden, je nachdem, welche Doch obwohl der Gesetzentwurf eine Tür öffnet, um numerischen Verfahren und welche Gewichtung der die digitale Wirtschaft zu stärken, droht er gleichzeitig Eingangsparameter vorgenommen werden . Letztendlich andere Türen zuzuschlagen . Künftig soll es dem Deut- sind Wetterprognosen aber nicht nur eine Frage der zur schen Wetterdienst erlaubt sein, eigene Apps anzubieten, Verfügung stehenden Rechnerkapazität, sondern auch die nicht alleine vor Unwettern und anderen Gefahren eine Frage der Messnetzdichte, der Datenqualität, aber warnen, sondern alle Informationen, beispielsweise in auch der Interpretation der numerischen Modellierung . Form von Wetterberichten, kostenlos und werbefrei zur Es gibt hier genügend Spielraum, mit denen private Wet- Verfügung stellen. Was zunächst nach einer vernünftigen terdienstleister sich gegenüber dem DWD behaupten Initiative klingt, entpuppt sich jedoch als bedenklicher können . Eingriff in einen funktionierenden Markt von wetterba- sierten Dienstleistungen. Die Entwicklung und Verbes- Und da kommen wir zu einem wesentlichen Aspekt, serung privater Informationsangebote könnte erschwert weshalb es ausdrücklich zu begrüßen ist, wenn der DWD werden oder gar gänzlich ausbleiben, wenn der App- selbst am Marktgeschehen der Wetterdienstleister teil- Markt durch einen staatlichen Anbieter dominiert würde, nimmt: Die Klima- und Wetterprognostik ist unentbehr- der durch seine staatliche Finanzierung einen eindeuti- lich . Der Bundesrepublik steht im zivilen Bereich dafür gen Wettbewerbsvorteil genießt . Private Anbieter, die nur der DWD verlässlich zur Verfügung. Als Wetter- sich durch Werbung oder andere Einnahmen selbst finan- dienstleister wird er nun dem Druck ausgesetzt, jenseits (B) zieren müssen, könnten ins Hintertreffen geraten. (D) der klassischen Forschung seine eigene Vorhersageme- thodik noch intensiver als bisher immer wieder zu vali- Deshalb sollte der Deutsche Wetterdienst nicht als dieren . Das wird letztendlich zu steigender Qualität der Konkurrent zu den bestehenden Anbietern auftreten . Prognosen führen, was wiederum allen zugutekommt . Stattdessen sollte er die vorhandenen Wetterinformati- Die Voraussetzung ist allerdings, dass der DWD in Zu- onen ausschließlich als Rohdaten allen Anbietern glei- kunft ausreichend finanziert wird und in die Lage- ver chermaßen zur Verfügung stellen und somit die Qualität setzt wird, sein Messnetz weiter zu verdichten . Die Linke von Wetterinformationsangeboten insgesamt verbessern . fordert, die Regierungspolitik des Stellenabbaus und der Die Bereitstellung von Rohdaten entspräche auch viel Stellenbefristungen auch beim DWD zu beenden, die eher den Grundsätzen von Open Data . Sein eigenes An- derzeit in der öffentlich finanzierten Forschung leider gebot sollte der Deutsche Wetterdienst wiederum auf die gang und gäbe ist . Leistungen beschränken, für die der Staat eine originäre Zuständigkeit besitzt – also beispielsweise die Warnung Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- vor Unwettern und anderen Gefahren . Genau diese Be- NEN): In Zeiten zunehmender Wetterextreme ist der schränkung wird der Aufgabe des Wetterdienstes gerecht, Deutsche Wetterdienst eine wertvolle Einrichtung, um die öffentliche Sicherheit und den Katastrophenschutz zu die Bevölkerung vor Gefahren durch Stürme, Über- stärken . schwemmungen oder Hitzewellen zu warnen und damit Menschenleben zu retten . Die klimatologischen Arbei- Schon heute befindet sich der Deutsche Wetterdienst ten, die durch den Gesetzentwurf gestärkt werden sol- durch seine eigenen Angebote in einer rechtlichen Grau- len, sind wichtige Grundlagen, um die Klimakatastrophe zone . Die Bundesregierung hätte die Änderung des Ge- doch noch abzuwenden . setzes über den Deutschen Wetterdienst zum Anlass neh- men müssen, um die bestehende Praxis prüfen zu lassen . Wir begrüßen deshalb grundsätzlich, dass die Bun- Die Bundesregierung muss die von vielen Seiten vorge- desregierung die längst überfällige Öffnung der Wetter- tragenen Bedenken zur Vereinbarkeit des Gesetzentwurfs und Klimadaten des Deutschen Wetterdienstes angeht . mit dem europäischen Wettbewerbsrecht ernst nehmen . Bislang zählt Deutschland nämlich zu den Schlusslich- Deshalb hätte die Bundesregierung den Gesetzentwurf tern bei der Öffnung der öffentlichen Datenbestände. Bis bei der EU-Kommission notifizieren lassen müssen, um heute wurde das von der Bundesregierung angekündigte auf die schon heute bestehenden Bedenken gegenüber Open-Data-Gesetz nicht eingebracht . Auch der Beitritt dem Aufgabenspektrum des Deutschen Wetterdienstes zur Open Government Partnership ist immer noch nicht einzugehen . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22675

(A) Ich möchte die Beratung des Gesetzentwurfes zum Erstens. Wir schaffen die Voraussetzungen, damit der (C) Abschluss nutzen, um darüber hinaus auf die Erhebung DWD in Zukunft Millionen an Klima- und Wetterdaten der Wetter- und Klimadaten einzugehen: Heute beobach- kostenfrei zur Verfügung stellen kann. Bislang durfte ten an etlichen Wetterstationen hauptamtliche Mitarbei- der DWD einen Teil seiner Daten, hochwertige Daten, terinnen und Mitarbeiter das Wetter und sorgen damit per Gesetz nur gegen eine Gebühr zur Verfügung stel- für verlässliche Datengrundlagen . Bis 2021 plant der len . Damit verbunden sind im Bundeshaushalt Minder- Deutsche Wetterdienst die Wetterbeobachtung vollstän- einnahmen von voraussichtlich 3,5 Millionen Euro pro dig zu automatisieren . Wir haben Zweifel, ob durch die Jahr, die durch Einsparungen bzw . Umschichtungen im Automatisierung eine vergleichbare Messgenauigkeit Einzelplan 12 ausgeglichen werden . insbesondere für die langfristigen Klimareihen gesichert werden kann . Diese sind ein wichtiger Beitrag zur inter- Zweitens . Wir modernisieren den Katalog der Aufga- nationalen Klimaforschung . Der Deutsche Wetterdienst ben des DWD und ergänzen ihn um die ausdrückliche kann zum Beispiel Schneehöhen, Schnee-Wasser-Äqui- Nennung der meteorologischen Sicherung der Verkehrs- valent und Bedeckungsgrad derzeit technisch noch nicht wege und kritischen Infrastrukturen (bisher nur Luft- und vollautomatisiert erfassen . Aus unserer Sicht besteht hier Seefahrt) sowie der Klimatologie, deren Bedeutung ins- erheblicher Gesprächs- und Klärungsbedarf hinsichtlich besondere im Zusammenhang mit dem Klimaschutz zu- der Strategie des Deutschen Wetterdienstes . genommen hat . Drittens . Wir stärken die Zusammenarbeit der Behör- Dorothee Bär, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- den im Bereich Katastrophen-, Bevölkerungs- und Um- minister für Verkehr und digitale Infrastruktur: Wir neh- weltschutz und beziehen neben den Ländern erstmals men heute einen weiteren wichtigen Meilenstein zu mehr auch die Gemeinden und Gemeindeverbände mit ein . Open Data in Deutschland und machen den Weg frei für Kurz: Mit diesem Gesetz öffnen wir einen wirklich einen offenen Zugang zu Millionen an Wetter-Klimada- einzigartigen Datenschatz . ten – mit dem ersten Änderungsgesetz unseres Gesetzes zum Deutschen Wetterdienst, kurz DWD-Gesetz . Der DWD verfügt heute über eines der größten Re- chenzentren Europas – und über Milliarden an histori- Das Gesetz ist in seiner jetzigen Fassung auf dem schen wie aktuellen Klima- und Wetterdaten mit einer Stand von 1998 und bedarf daher dringend einer Anpas- unglaublichen Bandbreite . Ich nenne nur ein paar Bei- sung an aktuelle Entwicklungen wie die Globalisierung, spiele: Luft- und Bodentemperatur, Niederschlagshöhe, den Klimawandel und insbesondere die Digitalisierung . Luftfeuchtigkeit und Luftdruck, Verdunstung, Boden- Fest steht: Daten sind der zentrale Rohstoff der Di- feuchte und Frosteindringungstiefe, Windgeschwindig- (B) gitalisierung . Jede digitale Wertschöpfung braucht Da- keit und Windrichtung, solare Sonneneinstrahlung, (D) ten .– Wir werben daher seit Beginn der Wahlperiode Sonnenscheindauer und Wolkenbedeckung, weitere zahl- dafür, dass wir Big Data als Chance begreifen – und in reiche phänologische und geologische Daten . Deutschland eine neue Datenkultur entwickeln: Weg von Diese Daten des DWD finden bereits heute Anwen- der Datensparsamkeit als Übermaßstab hin zum kreati- dung in den unterschiedlichsten Bereichen: von der ven und sicheren Datenreichtum . Schifffahrt und Luftfahrt über die Land- und Forstwirt- schaft, bis hin zur Energiewirtschaft und Bauwirtschaft . Der Staat verfügt über einen enormen Datenschatz – und steht damit in einer besonderen Verantwortung. Un- Jeder Wirtschaftszweig und jeder Bürger ist von ser Grundsatz muss deshalb lauten: Public data is open Wetter und Klima betroffen. Damit ist die offene Be- data .– Alle nicht personenbezogenen Daten, die der reitstellung dieser Daten im Zeitalter der intelligenten Staat erhebt, müssen offen zur Verfügung stehen, um di- Vernetzung absolut unverzichtbar – und eine Grundvo- gitale Wertschöpfung zu ermöglichen . raussetzung für eine Vielzahl an digitalen Innovationen: Das ist übrigens auch ein Ziel unserer Digitalen Agen- – Automatisiertes und vernetztes Fahren: Fahrzeug da, wo wir uns vorgenommen haben, die Rahmenbedin- kennt Wetterprognose, integriert diese Informati- gungen für einen effektiven und dauerhaften Zugang zu onen in die Routenplanung, bekommt in Echtzeit öffentlich finanzierten Daten zu verbessern. Wir arbeiten Warnmeldungen und kann somit frühzeitig reagie- dafür in allen Bereichen: ren . – Wir haben eine Mobility Cloud, die mCLOUD, ge- – Smart Home: Haus stimmt sein Energiekonzept startet, mit der wir Millionen an Mobilitäts-, Geo- selbstständig auf Wetter und Klima ab und teilt und Wetterdaten offen zur Verfügung stellen. sein Wissen mit den Bewohnern . – Wir veranstalten Hackathons, unsere BMVI-Da- – Digitales Planen und Bauen: Integration von me- ta-Runs, bei denen Programmierer und Entwickler teorologischen Daten in digitale Modelle und die aus unseren Daten in 24 Stunden Innovationen ent- Cloud, wodurch zahlreiche Risiken vermindert, stehen lassen . Kosten reduziert, das Controlling optimiert und die Umsetzung effizient gestaltet werden kann. – Und wir haben jetzt das DWD-Gesetz auf den Weg gebracht . – Katastrophenschutz: Bevölkerung wird über digi- tale Anwendungen in Echtzeit über Gefahren und Konkret regeln wir: Gefährdungspotenziale informiert . 22676 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) Um es ganz klar zu sagen: Von diesem Gesetz profi- unterliegen sie schon jetzt einem engen Meldungs- und (C) tieren alle: Bevölkerung, Wissenschaft und Wirtschaft – Analyseprozess, an dem wir festhalten . auch die bereits etablierten privaten Wetterdienste, die Gleichzeitig erweitern wir aber die Vorschriften zur auf der Grundlage der vom DWD in Zukunft frei zur Gewebevigilanz um die Faktoren der Regelungen zur Verfügung gestellten Daten kostengünstig weitere Inno- Gewebezubereitung . Durch diese und durch die recht- vationen entwickeln können . lichen und fachlichen Anpassungen schaffen wir eine Ich bitte daher um Zustimmung zu diesem Gesetzent- deutliche Vereinfachung der Vorschriften zur Hämo- und wurf . Gewebevigilanz . Das Gesetz wird auch besonders im Bereich der Ge- nehmigungsverfahren für ATMPs (Advanced therapy Anlage 11 medicinal products/Arzneimittel für neuartige Therapi- en) Neuerungen mit sich bringen, indem wir die Defini- Zu Protokoll gegebene Reden tion des Begriffs der „nicht routinemäßigen Herstellung“ zur Beratung des von der Bundesregierung einge- anpassen . Die bisherigen Erfahrungen machen diese Än- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortschrei- derungen notwendig . Der Bereich der Arzneimittel für bung der Vorschriften für Blut- und Gewebezube- neuartige Therapien verdient eine genauere Betrachtung: reitungen und zur Änderung anderer Vorschriften Deren Forschung und Entwicklung hat in den vergan- (Tagesordnungspunkt 25) genen Jahren enorm an Fahrt aufgenommen . Im Bereich der regenerativen Medizin, aber auch zur Ausrottung von Dr. Roy Kühne (CDU/CSU): Mit dem Gesetz zur Erbkrankheiten und in der Bekämpfung von Krebs, die Fortschreibung der Vorschriften für Blut- und Gewebe- Hoffnungen, die in ATMPs gesteckt werden, sind groß. zubereitungen und zur Änderung anderer Vorschriften Um die anspruchsvolle Entwicklung solcher Arzneimit- werden fachlich und rechtlich notwendige Änderungen tel ermöglichen zu können, sind optimale Zulassungsver- der betroffenen Vorschriften vorgenommen. Wir möchten fahren und eine enge regulatorische Betreuung notwen- unter anderem die Möglichkeiten bieten, die Entwicklung dig . Gentherapeutika, somatische Zelltherapeutika und und Herstellung von Arzneimitteln für neuartige The- biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte eröffnen rapien nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen neue Wege für die Behandlung von Funktionsstörungen ausrichten zu können . Aktuelle technische Entwicklun- und Krankheiten . gen müssen mindestens genauso in die Verfahrensweisen einfließen können. Durch die neuen Regelungen ermög- Lassen Sie mich kurz darauf eingehen, worum es sich lichen wir diese notwendigen Anpassungen . bei den einzelnen Produktgruppen der biologischen Arz- (B) neimittel zur Anwendung im oder am Menschen handelt: (D) Das Gesetz fokussiert sich unter anderem auf die Hä- Gentherapeutika kommen beispielsweise in der Be- moglobie- und Gewebevigilanzverfahren, die entspre- handlung von kritischer Ischämie oder der unteren Ex- chenden Register und Forschungsbereiche . Hämophilie, tremitäten zum Einsatz. Genetisch modifizierte Bak- auch als Bluterkrankheit bekannt, ist eine erbbedingte Er- terienstämme finden in der Behandlung von Morbus krankung, bei der die Blutgerinnung gestört ist . Hierunter Parkinson Anwendung, Wachstumsfaktoren bei sekun- werden verschiedene Formen (unter anderem Hämophi- dären Lymphödemen nach der Behandlung von Brust- lie A, B und C, Willebrand-Syndrom) unterschieden . krebs . Der Einsatz von rekombinanten Nukleinsäuren ist Seit 2009 werden therapierelevante Daten dieser Pa- vielfältig . tienten im deutschen Hämophilieregister gesammelt . In Somatische Zelltherapeutika kommen zum Beispiel dieser Online-Datenbank werden die Krankheitsverläufe im Bereich der Leberzelltherapie, in der Therapie bei der Patienten sowie deren jährlicher Verbrauch von Ge- Ovarialkarzinomen oder zur Behandlung von Diabetes rinnungspräparaten registriert . Dies ermöglicht den be- zum Einsatz . Sie bestehen teilweise aus Zellen oder Ge- handelnden Ärzten einen komfortablen Zugriff auf deren weben, die substanziell bearbeitet worden sind bzw . ei- Daten und eine langfristige Dokumentation . nen neuartigen oder gar anderweitigen Nutzen für den Das Hämo- und Gewebevigilanzverfahren wurde von Empfänger aufweisen . der Europäischen Union als Überwachungssystem der Biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte die- gesamten Bluttransfusionskette eingeführt . Dabei wer- nen dem direkten Ersatz von Körperzellen, Knochen- den unerwünschte Folgen registriert, die bei der Ver- mark und anderen Körperbestandteilen . Berichtet wird abreichung von Blutprodukten auftreten können . Diese insbesondere über Hautersatzprodukte, die bei schweren Transfusionsreaktionen unterstehen der Meldepflicht oder umfangreichen Verbrennungen zum Einsatz kom- gegenüber dem Paul-Ehrlich-Institut . An der Kette sind men . Auch der Einsatz im Bereich der Knochenmarkim- verschiedenste Berufsgruppen beteiligt: Der Hersteller plantationen und Knorpelmasse ist hinlänglich bekannt . garantiert nach den Qualitätsbestimmungen eine ein- Biotechnologisch bearbeitete Zellen oder Gewebe sind wandfreie Produktauslieferung, der Lieferant berück- umfangreich einsetzbar und – relativ betrachtet – weit- sichtigt eine produktspezifische Lieferung, der Arzt be- gehend erforscht . rücksichtigt die Indikation für die Transfusion, und das ärztliche Personal achtet auf die fehlerfreie Gabe des Biologische Arzneimittel, die zur Heilung von Krank- Blutproduktes . Fehler passieren, Fehler sind menschlich, heiten beim Menschen eingesetzt werden, oder Krank- aber Fehler dürfen sich eben nicht wiederholen: Deshalb heiten bzw . den Ausbruch von Krankheiten verhüten, Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22677

(A) sind demnach biologische Arzneimittel, ebenso wie eine Zelle zu übertragen . Diese Entwicklungen bringen (C) diese, die im oder am menschlichen Körper verwendet ganz neue Heilungschancen mit sich und unterliegen der werden können und eine pharmakologische, immunolo- dauernden Forschung und Weiterentwicklung, um eben gische oder metabolische Wirkung erzielen . Der Schutz irgendwann keine „neuartige“, sondern eine bewährte der öffentlichen Gesundheit findet im Bereich der For- Therapie zu werden . schung, der Herstellung und des Vertriebs besondere Anwendung . Gleichzeitig muss gewährleistet sein, dass Genau hier liegt auch die Notwendigkeit für die An- diese Arzneimittelprodukte, ebenso wie kombinierte passung der gesetzlichen Vorschriften. Zum einen haben ATMPs, die Vorteile des freien Warenverkehrs in der Eu- sich die wissenschaftlichen und technischen Erkenntnis- ropäischen Union und weitere Wettbewerbsvorteile auch se so stark weiterentwickelt, dass eine Anpassung uner- im außereuropäischen Raum genießen können . Harmoni- lässlich ist, um die neuen Erkenntnisse in die Therapie sierte Vorschriften sind daher schon in der Vergangenheit mit aufzunehmen und dem Patienten die beste Versor- implementiert worden, daran können wir nun anknüpfen . gung zukommen zu lassen . Denn wir sind uns alle einig, dass genau das das Ziel der Forschung sein muss: dem Deutschland steht, insbesondere mit dem Paul-­ Patienten zu helfen und neue, wirksame Therapien zu Ehrlich-Institut, national wie international sehr gut da . entwickeln . Um die Wettbewerbsfähigkeit auch künftig zu erhalten, die Forschung voranzutreiben, wissenschaftliche Er- Zum anderen – und das ist sehr wertvoll und zeichnet kenntnisse noch direkter in die Entwicklung einfließen gerade das Handeln unseres Ministeriums aus – wurden zu lassen und damit die Versorgung zukünftig zu sichern, die gesammelten Erfahrungen der mit dem Vollzug direkt ist der aufgezeigte Weg notwendig . Bei diesem richtigen betrauten Länder und des Paul-Ehrlich-Instituts ernst- Schritt werden die Erfahrungen aus den Ländern und und die Anregungen der Praxis mit in das Gesetz auf- des Paul-Ehrlich-Instituts eingebunden und bestehende genommen . Es wird nicht an den tatsächlichen Bedürf- Hindernisse konkret abgebaut . Ich freue mich, dass die nissen der Beteiligten vorbei gehandelt, sondern deren Kommunikation gut funktioniert . Wir alle sollten uns ein Erkenntnisse fließen unmittelbar mit in das Gesetz ein. Beispiel an der guten Verzahnung zwischen Praxis und Gesetzgeber nehmen . Hier zeigt sich, welches Potenzial Womit wir auch schon bei den drei großen Verbesse- entsteht, wenn Akteure zusammenarbeiten . rungen wären, die wir durch das Gesetz erreichen wollen:

Ich danke dem Bundesministerium für Gesundheit für Erstens nehmen wir uns des dringenden Problems der diesen Aufschlag und freue mich über die weitere Bera- Lieferengpässe bei den Gewebezubereitungen an: Wir tung in unserer Fraktion und mit dem Parlament . sorgen dafür, dass die Versorgung der Patienten mit Ge- (B) webe- und Stammzellenzubereitungen aus dem EU-Aus- (D) Emmi Zeulner (CDU/CSU): Wir beraten heute den land bei Versorgungsengpässen erleichtert wird. Indem Entwurf des Gesetzes zur Fortschreibung der Vorschrif- wir in § 21a Absatz 9 Arzneimittelgesetz den § 73 Ab- ten für Blut- und Gewebezubereitungen und zur Ände- satz 3a mit aufnehmen, bauen wir Hemmnisse in Notsitu- rung anderer Vorschriften. ationen ab, schaffen Abhilfe, wo sie dringend gebraucht wird, und erhalten dennoch unsere hohen Standards, in- Doch was versteht man überhaupt unter „Blut- und dem wir die Rahmenbedingungen für eine Versorgung Gewebezubereitungen“ genau, und was sind die auf- aus dem EU-Ausland genau im Gesetz festschreiben und geführten „Arzneimittel für neuartige Therapien“? Um die Standards auch hier hoch ansetzen . die Änderungen und deren Notwendigkeit zu verstehen, muss man meiner Ansicht nach hier ansetzen . Erst da- Diese Öffnung ist im Sinne der Betroffenen und ein nach möchte ich darauf eingehen, warum die Änderun- wichtiger Schritt hin zu mehr Versorgungssicherheit in gen notwendig sind und wie genau die Verbesserungen diesem Bereich . aussehen . Lassen Sie mich gleich zu Beginn die Beispiele nen- Zweitens sorgen wir auch gerade in dem komplizier- nen, die den Inhalt des Gesetzes für alle greifbarer ma- ten Genehmigungsverfahren für die Arzneimittel für chen: Augenhornhäutchen, Gefäße, Herzklappen, Haut neuartige Therapien für deutliche Erleichterungen . Denn und Knorpelgewebe – das alles sind klassische Gewe- durch die Befassung mit gentechnisch veränderten Or- bezubereitungen . Also Arzneimittel, die menschliches ganismen musste nicht nur das Paul-Ehrlich-Institut als Gewebe im Sinne des Transplantationsgesetzes enthalten Bundesoberbehörde für Gewebezubereitungen, sondern oder aus solchen hergestellt werden . Organe sind somit auch das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebens- nicht erfasst . mittelsicherheit miteinbezogen werden . Das heißt, die Antragsteller mussten zwei Genehmigungen bei zwei Neben den genannten klassischen Beispielen werden Behörden beantragen und zwei Verfahren koordinieren, von dem Gesetz auch die sogenannten „Arzneimittel für die voneinander abhängig waren. Dieses Verfahren galt neuartige Therapien“ erfasst, sofern als Ausgangsstoff es zu entschlacken und effizienter zu gestalten. Die Kri- menschliches Gewerbe verwendet wurde . Das sind bei- tik, die hier vor allem aus der Praxis kam, wird in dem spielsweise Gen- und Zelltherapeutika und biotechno- vorliegenden Entwurf aufgenommen, und es wird eine logisch bearbeitete Gewebeprodukte . Etwas greifbarer Lösung geschaffen: Die Genehmigungen sollen nun al- wird dies, wenn man sich vorstellt, dass hier Therapi- leine vom Paul-Ehrlich-Institut erteilt werden können . en entwickelt werden, die es ermöglichen, mit einem Das entlastet die Antragsteller, ohne dass die Sicherheit Virus eine bestimmte Geninformation zur Heilung auf des Inverkehrbringens hierdurch beeinträchtigt wird . 22678 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) Drittens stellen wir das Hämophilieregister, welches nen und -patienten . Hämophilie ist eine Erbkrankheit, bei (C) bisher nur ein rein klinisches Register war, nun auf der das Blut nicht oder nur sehr langsam gerinnt und bei rechtlich sichere Beine und verankern es im Transfu- der bei besonders schweren Fällen spontane Blutungen sionsgesetz . In diesem Zusammenhang führen wir die auch ohne sichtbare Wunden auftreten können . Daher Meldepflicht für die behandelnden Ärzte ein, sodass können auch einfache Unfälle für diese Menschen le- mit Einwilligung der Patienten die pseudonymisierten bensbedrohlich werden, da die Wunde nicht verheilen Behandlungs- und Diagnosedaten, unter Wahrung des kann . Nach Angaben des Hämophiliezentrums in Mün- hohen Datenschutzniveaus, an das Register übermittelt chen leiden circa 10 000 Menschen in Deutschland an werden. Das sorgt für mehr Transparenz, schafft die Hämophilie . Ein Register für Hämophilie existiert seit Grundlagen für eine bessere Forschung und liefert letzt- 2008 und wird vom Paul-Ehrlich-Institut gemeinsam mit lich eine detaillierte Entscheidungsgrundlage für die op- Patientenorganisationen und der Gesellschaft für Throm- timale Behandlung und Versorgung von Patienten. bose- und Hämostaseforschung unterhalten und weiter- entwickelt . Im Deutschen Hämophilieregister sollten Zusammenfassend führen die Verbesserungen zu einer zunächst nur pseudonymisierte und medizinische Daten besseren Versorgung durch den Einsatz neuer Therapien erfasst werden . Geplant sind auch Erfassungen von Ne- und vor allem zu einer besseren Versorgungssicherheit benwirkungen, Gelenkstatus, Komplikationen, Infek- für die betroffenen Patienten. Gleichzeitig schaffen wir tionen, Genotyp, Todesursache und anderem, um noch Erleichterungen im Verfahren und setzen mit dem Re- umfassendere wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewin- gister die rechtliche Grundlage für die so notwendige nen . Im Blut- und Gewebegesetz wird nun geregelt, dass Grundlagenforschung in diesem Bereich . das Hämophilieregister als klinisches Register rechtlich Vielen Dank an das Gesundheitsministerium für die im Transfusionsgesetz verankert wird . Zudem wird eine gute Arbeit . Verpflichtung zur Meldung von hämophiliebehandeln- den ärztlichen Personen an das Register geschaffen. Hilde Mattheis (SPD): Das Gesetz zur Fortschrei- Neben diesen Kerninhalten wollen wir als Gesetzge- bung der Vorschriften für Blut- und Gewebezubereitun- ber weitere offene Punkte regeln, die sich im Laufe der gen und zur Änderung anderer Vorschriften beinhaltet Legislatur ergeben haben oder die in bisherigen Refor- zum großen Teil technische und rechtlich notwendige men in der Wahlperiode nicht behandelt werden konnten . Änderungen . Von weiteren beabsichtigten Änderungen möchte ich Sie betreffen zum einen eine Verfahrensvereinfachung hier die geplanten Qualitätskriterien erwähnen, die wir für die Zulassung von Arzneimitteln für neuartige Thera- im Rahmen des Krankenhausstrukturgesetzes eingeführt (B) pien, sogenannte ATMP . Es gibt auf dem deutschen Markt haben . Hier braucht es Präzisierungen vonseiten des (D) ATMP, die aus gentechnisch veränderten Organismen – Bundesgesetzgebers, da sich die Bundesländer und der GVO oder aus einer Kombination von GVO – bestehen Gemeinsame Bundesausschuss nicht auf Qualitätsindi- bzw . solche enthalten . Derartige Arzneimittel mussten katoren und die Frage von Stichprobenprüfungen durch bisher an zwei Stellen beantragt werden, nämlich beim den Medizinischen Dienst der Krankenkasse einigen Paul-Ehrlich-Institut und zusätzlich aufgrund der GVO konnten . Hier ist es wichtig, dass klare Anforderungen auch beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Le- vonseiten des Bundesgesetzgebers an den Gemeinsamen bensmittelsicherheit (BVL). Dies wird nun vereinfacht, Bundesausschuss (G-BA) gerichtet werden, um die Qua- sodass nur noch ein Antrag beim Paul-Ehrlich-Institut litätsindikatoren im Krankenhausbereich rechtssicher nötig ist . Wenn hier eine Genehmigung erteilt wird, ge- umzusetzen . Die Frage nach der Bewertung der Quali- schieht das im Benehmen mit dem Bundesamt für Ver- tät von Krankenhausleistungen war einer der zentralen braucherschutz und Lebensmittelsicherheit . Bausteine in der Krankenhausreform 2015 . Es ist klar, dass wir Neuland betreten . Daher ist eine Präzisierung im Wir werden zum anderen weitere Vorschriften im Arz- Nachhinein richtig, um etwaige Fehler auszuschließen . neimittelgesetz ändern und anpassen, die allesamt darauf zielen, ein stringenteres und vereinfachteres Verfahren Des Weiteren streben wir eine Vereinheitlichung der zur Zulassung von ATMP zu ermöglichen . Dazu zählen Regelungen zur Darlehensaufnahme bei Banken für den unter anderem die Anpassung der Definition der „nicht Unterhalt bzw . für Investitionen bei krankenkasseneige- routinemäßigen Herstellung“, die in § 4b Arzneimittel- nen Gesundheitseinrichtungen wie Krankenhäusern und gesetz aufgeführt wird, sowie eine genaue Aufstellung Arztpraxen an . In Deutschland unterhalten einige Kran- der Unterlagen, die für eine Genehmigung eingereicht kenkassen einige wenige Eigeneinrichtungen, das heißt werden müssen . ein Krankenhaus oder eine Praxis, welche direkt von der Für die Zulassung von Arzneimitteln für neuartige Kasse geführt werden . Da die gesetzlichen Krankenkas- Therapien werden wir zudem einen Ausnahmetatbestand sen zu Recht einer besonderen Finanzierungsordnung in der Verordnung über radioaktive und mit ionisieren- unterliegen, dürfen sie keine Darlehen aufnehmen . Kran- den Strahlen behandelte Arzneimittel einfügen, da ATMP kenkassen müssen ihre gesetzlichen Aufgaben grund- sehr häufig mit ionisierenden Strahlen behandelt werden, sätzlich mit ihren Mitgliedsbeiträgen und sonstigen Ein- aber hierfür bisher ein Verkehrsverbot bestand. Hier gibt nahmen aus dem Gesundheitsfonds erfüllen . Daran soll es keine sachlichen Gründe . Daher ändern wir das . auch nicht gerüttelt werden . Allerdings verbietet diese Regelung den Kassen als Betreibern eines Krankenhau- Den zweiten Schwerpunkt im Gesetz bilden Maßnah- ses gleichzeitig, anfallende Investitionsmaßnahmen über men zur besseren Behandlung von Hämophiliepatientin- ein Darlehen zu zahlen, was angesichts der oftmals ho- Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22679

(A) hen Summen für Investitionen nicht einfach ist . Alle an- auch haben. Der letzte Halbsatz im HIV-Hilfegesetz führt (C) deren Einrichtungen, egal ob von der öffentlichen Hand aber dazu, dass inzwischen jährlich die Weiterführung oder von privaten Betreibern geführt, haben diese Mög- der Stiftung im Bundeshaushalt durch zusätzliches Geld lichkeit . Wir wollen die Darlehensaufnahme daher in beschlossen werden muss und damit bei den Betroffenen diesem speziellen Bereich auf Antrag ermöglichen . Die jedes Jahr große Unsicherheit besteht, ob sie weiterhin Aufsichtsbehörden müssen die Darlehensaufnahme prü- Geld aus der Stiftung beziehen können . Die Briefe und fen und genehmigen und daher darauf achten, dass diese Anrufe der Betroffenen werden einige Kolleginnen und den Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit Kollegen kennen . entspricht . Ich halte es für unzumutbar, dass Patientinnen und Auch im Bereich Pflege wollen wir die beschlossenen Patienten und deren Familien in ständiger Unsicherheit Reformen, die Pflegestärkungsgesetze, mit diesem Gesetz leben müssen und von Jahr zu Jahr wieder darauf hof- genauer ausdefinieren. Wir haben im Pflegestärkungsge- fen, dass der Gesetzgeber sich abermals entschließt, die setz II eine fachlich unabhängige Expertenkommission Stiftung weiterzuführen . Diese Unsicherheit müssen wir beauftragt, bis 2020 Personalbemessungsstandards so- beenden . Schon bei den Haushaltsberatungen zum ver- wohl in stationären als auch in ambulanten Pflegeeinrich- gangenen Bundeshaushalt hatten wir als SPD-Fraktion tungen zu erarbeiten . Im Zuge der Einführung des neu- angekündigt, dass möglichst noch in dieser Wahlperiode en Pflegebedürftigkeitsbegriffs kann es sinnvoll sein, in die dauerhafte Einrichtung der Stiftung beschlossen wer- einzelnen Pflegeeinrichtungen modellhafte Erprobungen den muss . Das heißt, die Stiftung wird erst dann aufge- vorzunehmen . Diese können dabei helfen, den durch- hoben, wenn der Stiftungszweck erfüllt ist . Jede Patientin schnittlichen Versorgungsaufwand, der bei pflegerischen und jeder Patient soll bis zu seinem Lebensende Geld aus Maßnahmen entsteht, zu dokumentieren und daraus ab- der Stiftung erhalten; denn der Schaden, der diesen Men- leitend den notwendigen Personalschlüssel zu errechnen . schen entstanden ist, verjährt nicht . Wir werden daher im Für diese Fälle können die Pflegekassen Geld aus dem anstehenden Gesetzgebungsverfahren diesen Punkt mit Ausgleichsfonds der Pflegeversicherung nehmen, der unserem Koalitionspartner und der Opposition diskutie- speziell für die Durchführung wissenschaftlicher Exper- ren und hoffen, dass wir hier im Sinne der Patientinnen tisen und der Weiterentwicklung der Pflegeversicherung und Patienten zu einer geschlossenen Position kommen eingerichtet wurde. Von den Landesrahmenverträgen, die können . üblicherweise Personalbedarf, Vergütung und Ähnliches Sie sehen also, dass mit diesem Gesetz zwar sehr tech- zwischen Kassen und Leistungserbringern regeln, kann nische, aber eben dennoch relevante Änderungen ange- in diesem Fall abgewichen werden . strebt werden, die für betroffene Patientinnen und Pati- enten bzw . in dem relevanten Gesundheitssektor wichtig (B) Ich möchte hier noch ein für uns als SPD sehr wichti- (D) ges Thema ansprechen, welches wir im Gesetz anbringen sind . Ich lade daher alle Kolleginnen und Kollegen ein, wollen . Es handelt sich um die Stiftung Humanitäre Hil- auch zum Abschluss der Wahlperiode konstruktiv und fe für durch Blutprodukte HIV-infizierte Personen. Diese zielorientiert dieses Gesetz zu diskutieren . Stiftung wurde infolge des sogenannten Blutspendeskan- dals eingerichtet. Während der 80er-Jahre infizierten sich Kathrin Vogler (DIE LINKE): Mit dem hier vorlie- weltweit mehrere Tausend Menschen aufgrund konta- genden Gesetzentwurf will die Bundesregierung noch minierter Blutprodukte mit HIV. In Deutschland waren kurz vor Toresschluss gleich eine Reihe unterschiedli- es mehr als 1 500 Menschen . Dieser Skandal wurde erst cher Sachverhalte regeln . Das macht es natürlich schwie- 1993 mithilfe eines Untersuchungsausschusses des Deut- rig, in vier Minuten die ganze Bandbreite anzusprechen . schen Bundestages aufgearbeitet und in Folge mit dem HIV-Hilfegesetz die erwähnte Stiftung Humanitäre Hilfe Aber man merkt schon, dass im Ministerium gerade gegründet . Sie soll – so der Stiftungszweck – „aus huma- unter Zeitdruck gearbeitet wird: Auf die Schnelle sind nitären und sozialen Gründen und unabhängig von bisher der Bundesregierung einige Schnitzer passiert, die im erbrachten Entschädigungs- und sozialen Leistungen an Beratungsverlauf noch korrigiert werden müssten . An Personen, die durch Blutprodukte unmittelbar oder mit- mehreren Stellen finden sich unzulängliche Begriffsbe- telbar mit dem Human Immunodeficiency Virus (HIV) stimmungen, fehlende Differenzierungen, uneinheitliche oder infolge davon an Aids erkrankt sind, und an deren Sprachregelungen und zum Teil inkonsistente Regelun- unterhaltsberechtigte Angehörige finanzielle Hilfe“ leis- gen zu Genehmigungsverfahren . ten . Die Stifter sind der Bund, die Länder, das DRK und Auch wundert es mich, warum die Bundesregierung mehrere Pharmaunternehmen . Blutstammzellen in Deutschland anders als in der EU unterschiedlichen Qualitätsanforderungen unterwerfen Allerdings ist im HIV-Hilfegesetz unter § 14 gere- will, je nachdem ob sie aus dem Knochenmark oder der gelt: „Die Stiftung wird aufgehoben, wenn der Stiftungs- Nabelschnur stammen . Kann mir da mal jemand den zweck erfüllt ist oder die Mittel für die finanzielle Hilfe Sinn erklären? erschöpft sind .“ Im Jahr 1994 dachten die Stiftungsgrün- der aufgrund des damaligen medizinischen Wissens Eine wissenschaftliche Auswertung der zur Verfü- nicht daran, dass HIV-Infizierte und AIDS-Kranke sehr gung stehenden Daten für angeborene Blutungskrank- viel länger leben als das damals angesetzte Vermögen. heiten ist sinnvoll und wird von uns unterstützt . Aber es Glücklicherweise ist der medizinische Fortschritt in die- bringt für die Betroffenen keinerlei Nutzen, wenn das sem Bereich so rasant, dass diese Menschen heute eine bereits existierende Hämophilieregister künftig allein ähnlich hohe Lebenserwartung wie jeder andere Mensch beim Paul-Ehrlich-Institut liegt und die Betroffenenor- 22680 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) ganisationen nicht mehr beteiligt sind . Stattdessen sollte Interessant wird der Gesetzentwurf aber erst, wenn man (C) die Bundesregierung ein schlüssiges Konzept für die Da- sich ansieht, was die Bundesregierung alles nicht regelt . tengewinnung und vor allem für die Auswertung der im DHR gesammelten Daten vorlegen . Aber das leistet ihr Wie beim letzten Mal gehen die im Gesetz vorge- Entwurf nicht . schlagenen Änderungen auf EU-Vorgaben zurück. Und wie beim letzten Mal lässt die Bundesregierung die Ge- Insbesondere bereitet in der Praxis große Sorge, dass legenheit verstreichen, die Mängel, die es in der Gewebe- die Regelungen zu Blut- und Gewebezubereitungen über medizin in Deutschland gibt, zu beheben . Es ist nämlich das Transplantationsgesetz, das Transfusionsgesetz und mitnichten alles im grünen Bereich, wie auch der zweite das Arzneimittelgesetz verteilt sind . Dass dies insbeson- Bericht der Bundesregierung zur Versorgungssituation dere bei Keimzellen zu einer großen Unübersichtlich- mit Gewebeprodukten in Deutschland gezeigt hat . Die keit führt, beklagen Praktiker und Juristen . Sie sehen Zahl der Gewebeeinrichtungen in Deutschland steigt da große Probleme und rechtlichen Klärungsbedarf . Zu- kontinuierlich . Aber rund ein Fünftel der Einrichtungen dem gibt es gerade bei der Reproduktionsmedizin jede kommt ihren gesetzlichen Meldepflichten nicht nach, Menge offener Fragen. Bei Keimzellspenden und nicht trotz Nachfassens durch das Paul-Ehrlich-Institut und zuletzt Embryonenspenden im Ausland kommt es auch Verständigung der zuständigen Landesbehörden. Offen- für Kinder, die in Deutschland aufwachsen oder geboren sichtlich ist es um die Bereitschaft zur Transparenz und werden, zu vielen ungeklärten familienrechtlichen Fra- Kooperation bei manchen Einrichtungen ebenso schlecht gen . Einer Klärung geht die Bundesregierung wie beim bestellt wie um die wirksame Kontrolle durch die Be- Samenspenderegister auch mit diesem Gesetz wieder aus hörden . dem Weg – abermals eine vertane Chance . Zudem sind viele der gemeldeten Zahlen, insbeson- Kommen wir zu den Änderungen bei der Pflegebe- dere im Bereich der muskuloskelettalen Gewebe und ratung: Im Gesetzentwurf erklärt die Bundesregierung, Hautgewebe, nach eigenen Aussagen der Bundesregie- es sollen „technische Anpassungen und Änderungen der rung unplausibel . Es werden viel mehr dieser Gewebe Regelungen zu den Modellvorhaben zur kommunalen in Deutschland transplantiert und exportiert als entnom- Beratung im . . SGB XI“ vorgenommen werden . Das men . Der Überschuss lässt sich nicht mit Restbeständen klingt harmlos und irgendwie unspektakulär . Was Sie aus den Vorjahren erklären. Es bleibt also bei einem gro- aber genau vorhaben, betrachten wir durchaus kritisch . ßen Fragezeichen, wo diese Gewebe eigentlich herkom- Sie wollen die Möglichkeit schaffen, dass Kommu- men . Hier muss das Ministerium Transparenz herstellen . nen, die Modellprojekte zur Pflegeberatung durchführen, Der Bericht der Bundesregierung hat zudem gezeigt, besser auf lange gewachsene Strukturen und die Kompe- dass es in Deutschland – ähnlich wie bei Organspen- (B) tenz der Pflegekassen zurückgreifen können. So sollen den – einen Mangel an bestimmten Geweben gibt, sodass (D) Kommunen künftig darauf verzichten können, die Pfle- manche Patientinnen und Patienten nicht oder nur mit geberatung in eigenen Beratungsstellen durchzuführen, erheblicher Verspätung ein Transplantat erhalten. In ers- wozu sie diese Bundesregierung erst im letzten Jahr mit ter Linie betrifft dies Augenhornhäute und Herzklappen. dem Pflegestärkungsgesetz III verpflichtet hatte – und Transparenz gibt es bei der Verteilung aber weiterhin zwar unabhängig vom Vorhandensein anderer Möglich- nicht. Es gibt weder – wie bei der Organspende – öffentli- keiten . Das hört sich ja zunächst mal vernünftig an . che Vorgaben, nach welchen Kriterien diese sogenannten Aber was gar nicht geht, ist, dass Sie die Qualitätsstan- Mangelgewebe verteilt werden . Noch führen die Einrich- dards für die Pflegeberatung aufweichen wollen und dass tungen und Kliniken (bis auf eine Ausnahme) Wartelis- die Kommunen das so eingesparte Geld behalten dürfen . ten . So bleibt es weiterhin dem Ermessen der Akteure Denn erstens brauchen Pflegebedürftige und ihre Ange- überlassen, wer ein Transplantat erhält . Wir haben schon hörigen bestmögliche Beratung und nicht irgendwelche . seinerzeit im Zuge der Erarbeitung des Gewebegesetzes Und zweitens gehört dieses Geld den Pflegeversicherten, transparente Verteilungskriterien und ein Wartelisten- nicht der öffentlichen Hand. system für solche Mangelgewebe gefordert . Die Bun- desärztekammer ebenfalls . Angesichts zu erwartender Deswegen sage ich Ihnen: Lassen Sie die Finger von gerichtlicher Auseinandersetzungen muss hier dringend der Beratungsqualität, und sorgen Sie dafür, dass die nachgebessert werden, Herr Bundesgesundheitsminister . Beiträge der Pflegeversicherten wirklich in der Pflege ankommen . Sonst werden wir diesem Gesetz nicht zu- Ich frage mich, warum die Bundesregierung in regel- stimmen können . mäßigen Abständen einen Bericht zur Analyse der Gewe- bemedizin in Deutschland erstellt, wenn dort aufgezeig- te Mängel stur ignoriert werden . Diese Berichte dienen Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): doch dazu, im Bedarfsfall nachzusteuern . Die Bundes- Zum zweiten Mal in dieser Legislaturperiode legt die regierung hingegen gibt an, sie sehe ihre Aufgabe vor- Bundesregierung einen Gesetzentwurf vor, der die rangig darin, die Netzwerkbildung und Kommunikation Transparenz und Qualitätssicherung im Bereich der Ge- der Gewebeeinrichtungen untereinander zu fördern . Das webemedizin in Deutschland verbessern soll . Die vor- wird die eben dargestellten Probleme aber kaum behe- geschlagenen Gesetzesänderungen sind grundsätzlich ben . sinnvoll und zu begrüßen . Leider wurde die noch im Referentenentwurf enthaltene Genehmigungspflicht der Und noch in einem anderen Bereich bleibt die Koa- BÄK-Richtlinien zur Blutspende und Transfusion wieder litionsregierung untätig: Der diskriminierende Pauschal- gestrichen . Über die Gründe kann man nur spekulieren . ausschluss von homo- und bisexuellen Männern von der Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22681

(A) Blutspende wird weiterhin nicht aufgehoben . – Noch Einschätzungen abzugeben und Handlungsempfehlun- (C) im letzten Jahr hatte Minister Gröhe sich offen für eine gen aufzuzeigen . An dieser Stelle möchte ich mich als Lockerung des pauschalen Verbots gezeigt, wenn durch Berichterstatter der CDU/CSU-Fraktion für die gute Zu- geeignete Testverfahren eine Ansteckung der Empfänger sammenarbeit bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Infektionskrankheiten ausgeschlossen werden kann . des TAB bedanken, insbesondere den Leitern des Ber- Danach kam – nichts . Und mit der Streichung der Geneh- liner Büros, Herrn Dr . Revermann und Herrn Dr . Sauter, migungsbedürftigkeit der Blutspende-Richtlinien würde unter dessen Federführung auch der diskutierte Bericht sich das Ministerium zugleich jeglichen Einflusses da- entstand . In Anerkennung der Arbeit des TAB haben wir rauf entledigen, dass dieser diskriminierende Ausschluss jüngst erstmals seit dessen Gründung 1990 die Mittel si- irgendwann entfällt . gnifikant erhöht. Der fraktionsübergreifend befürwortete Aufwuchs im Bundeshaushalt 2017 beträgt 25 Prozent, Die Koalition wird voraussichtlich als eine Art Kehr- womit das gesamte Haus seine Anerkennung ausge- aus der Gesundheitsgesetzgebung noch eine Menge drückt hat . fachfremder Änderungsanträge zu Gesundheitsthemen anhängen, die sie unbedingt auf den letzten Metern noch Welche Empfehlungen gibt uns nun der Bericht? Auf- regeln will, wie beispielsweise zur Pflege im Kranken- grund der wachsenden Möglichkeiten von gezielten mo- haus . Sie haben also noch genug Zeit, auch im Bereich lekularbiologischen Veränderungen an Organismen ist der Gewebemedizin im Interesse der Patientinnen und mit vielfältigen Anwendungen zu rechnen . Nach einer Patienten noch mal nachzubessern, genauso, wie Ände- Konzentration auf Mikroorganismen für die industriel- rungsvorschläge einzubringen, die die Rolle der Kommu- le und medizinische Nutzung hat sich der Fokus jüngst nen in der Pflege stärken, beispielsweise durch wirkliche auf Genveränderungen bei Pflanzen und Tieren verlagert. Steuerungs- und Planungskompetenzen in der Pflege – Dies verdeutlicht, dass öffentliche Debatten über die ver- wenn schon nicht grundsätzlich, dann doch wenigstens antwortungsvolle Weiterentwicklung und auch rechtliche in den spärlich wenigen Modellvorhaben, die die Koa- Regulierung der Gentechnik auf internationaler und nati- lition eingeführt hat . Nutzen Sie diese Chance endlich, onaler Ebene notwendig werden . Potenziale und Risiken damit es nicht nur bei den eher dürren pflegepolitischen der Synbio gilt es abzuwägen und ergebnisoffene ethi- Regelungen des Entwurfs bleibt . sche Debatten zu führen . Hierfür ist der federführende Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung prädestiniert . Anlage 12 Ich plädiere für eine entsprechende Überweisung des Zu Protokoll gegebene Reden TAB-Berichtes . (B) (D) zur Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- René Röspel (SPD): Der Arbeitsbericht „Syntheti- zung gemäß § 56a der Geschäftsordnung: sche Biologie – Die nächste Stufe der Bio- und Gentech- Technikfolgenabschätzung (TA) nologie“, den das Büro für Technikfolgenabschätzung Synthetische Biologie – Die nächste Stufe der Bio- beim Deutschen Bundestag bereits Ende 2015 vorlegte und Gentechnologie und um den es uns heute geht, hat nicht an Aktualität (Tagesordnungspunkt 26) verloren. Neue Verfahren wie CRISPR-Cas9, die wohl bekannteste Methode des sogenannten Genome Editing, versprechen präzise Eingriffe zur kontrollierten Verände- Dr. Philipp Lengsfeld (CDU/CSU): Als „nächste rung im Erbgut, die effizienter als die bisher verfügba- Stufe der Gentechnologie“ wird die Synthetische Biolo- ren Methoden seien . Dadurch werden unter Umständen gie bezeichnet: Ihr Ansatz geht weiter, als dies bislang ganz neue Dimensionen für die molekularbiologische möglich war; ihre Methoden und Verfahren zielen auf ei- Grundlagenforschung eröffnet. Als „Paradebeispiel“ für nen Umbau natürlicher Organismen ab, bis hin zur Schaf- die Anwendungspotenziale der neuen Technologien wird fung kompletter künstlicher „biologischer“ Systeme . die Züchtung mehltauresistenten Weizens angeführt – ein Die „Synbio“ ist in den letzten Jahren Gegenstand Unterfangen, das in Pre-CRISPR-Zeiten als beinahe aus- einer kaum überschaubaren Zahl von Studien und Stel- sichtslos galt . Mehltau, ein verbreiteter Pilz, war und ist lungnahmen geworden. In der Öffentlichkeit und zivil- ein großes Problem für die Landwirtschaft, da er in der gesellschaftlichen Organisationen ist das Thema jedoch Regel zu hohen Ertragsausfällen führt . Gehören solche kaum präsent aufgrund der geringen praktischen, wenn- Schwierigkeiten dank der Synthetischen Biologie nun gleich hohen gesellschaftlichen Relevanz . Der Arbeitsbe- bald gänzlich der Vergangenheit an? Ohne diese Frage richt des Büros für Technikfolgenabschätzung (TAB) soll abschließend beantworten zu können, mahne ich zur Vor- dies im Auftrag des Ausschusses für Bildung, Forschung sicht und Zurückhaltung – noch stehen ganz andere und und – eben auch – Technikfolgenabschätzung ändern . Er nicht minder wichtige Fragen im Zentrum der Debatte: untersucht neben naturwissenschaftlich-technologischen (Sicherheits-)politische, rechtliche und ethische Fragen, Aspekten insbesondere Fragen der Ethik, der Sicherheit, die mit der Synthetischen Biologie verbunden sind, wer- des geistigen Eigentums, der Regulierung und der Risi- den auf allen Ebenen kontrovers diskutiert . Besonders ken . interessant an den geführten Debatten finde ich die Aus- gangsfragestellungen, die ihnen in der Regel zugrunde Damit kommt das TAB seinem Auftrag nach, uns liegt und die ich wie folgt zusammenfassen würde: Syn- Abgeordnete wissenschaftlich eingehend zu beraten, bio, was ist das eigentlich? Soll da „Leben“ zusammen- 22682 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) gebaut werden, wie einige das als Vision nennen? Han- Beteiligungsmöglichkeiten für alle relevanten Akteure (C) delt es sich dabei um etwas strukturell so Neues, dass sicherstellen . Wie das funktionieren kann, deutete das wir mit unseren bisherigen Kategorien und Fragestel- Fachgespräch des Ausschusses für Bildung, Forschung lungen nicht mehr weiterkommen, oder können wir an und Technikfolgenabschätzung zur Synthetischen Biolo- diese anknüpfen und müssen sie nur weiterentwickeln? gie vom September 2016 an . Hier tauschten sich unter Der TAB-Bericht nimmt eine Basisunterscheidung vor, anderem Biologinnen, Philosophinnen, Unternehmerin- die Synbio im engeren Sinne als „Herstellung von »am nen, Biohackerinnen und Behördenvertreterinnen kon- Reißbrett« entworfenen und de novo konstruierten Zel- struktiv über die Thematik aus . Dabei wurde schnell len oder Organismen (oder auch von zellfreien biologi- deutlich, dass es bei der Synbio um mehr als eine po- schen bzw. biochemischen Systemen)“ definiert, und im tenzielle Schlüsseltechnologie der Bioökonomie geht . So weiteren Sinne als „Sammelbegriff aller aktuell verfolg- wurden Dual-Use-Problematiken genauso problemati- ten, zunehmend informationsbasierten und meist anwen- siert, wie die Frage, ob unsere Gentechnikdefinition die dungsorientierten Ansätze der molekularbiologischen Synbio überhaupt angemessen erfassen kann . Wir müs- Veränderung bekannter Organismen.“ sen uns ferner vom Gedanken trennen, dass es die Syn- thetische Biologie und das „genome editing“ gebe . Da- Dass sich die Debatte zum Großteil auch nach wie vor hinter verbirgt sich nämlich eine Vielzahl von Methoden, auf einer solchen Metaebene befindet, zeigt zum einen, die jeweils einer eigenständigen Bewertung bedürfen . wie komplex das ist, was wir unter Synthetischer Biolo- gie verstehen, und zum anderen, dass wir einfach noch In einer großen und gut besuchten Diskussionsveran- nicht genau wissen, was die neuen Technologien alles staltung, die der deutsche Ethikrat gemeinsam mit der könnten und zu welchem Preis . DFG und Leopoldina im Februar diesen Jahres ausrichte- te, fragten sich Landwirtinnen, Juristinnen, Ethikerinnen Der vorliegende TAB-Bericht bestätigt dies in weiten und andere ebenfalls, ob wir eine neue Gentechnikdefi- Teilen . nition benötigen und, wenn ja, welche Anforderungen an Ich halte eine zurückhaltend differenzierende Haltung eine solche zu stellen seien . in Zeiten reißerischer Schlagzeilen auch aus dem Wis- Angesichts dieser interdisziplinären Ansätze und der senschaftsbetrieb für angebracht . Während die ersten fundierten Debatten, die aktuell in Deutschland geführt schon davon sprechen, den „Rotstift Gottes“ gefunden werden, bin ich zuversichtlich, dass wir auf einem guten zu haben, und behaupten, dadurch gehörten Zika-Mü- Wege sind . Ich bin da ganz beim TAB, wenn es unter- cken eher morgen als übermorgen der Vergangenheit an, streicht, dass sich gerade die Entwicklung von gesell- mahnen viele Forscherinnen und Forscher zur Vorsicht. schaftlich potenziell umstrittenen Technologien, wie der All dies erinnert stark an all die „Heilsversprechen“ der Synbio, an der Lösung konkreter Probleme orientieren (B) Gentechnikdebatte, die leider bis heute in den meisten (D) sollte . Fällen nicht eingelöst werden konnten . Ich möchte die Gelegenheit nutzen, das Büro für Tech- Am Ende dieses Prozesses muss eine kluge, nachhal- nikfolgenabschätzung wieder einmal ausdrücklich zu lo- tige und ethisch verantwortbare Regulierung stehen . Das ben und mich herzlich zu bedanken . Denn es reiht sich TAB führt uns hierzu einmal mehr auf den richtigen Pfad . mit seiner Abhandlung nicht einfach in den wachsenden Ganz unabhängig von diesen politischen Erwägungen Hype ein, sondern nähert sich dem Thema nüchtern und finde ich die Entwicklungen im Bereich der -syntheti analytisch . Nur so kann gute Technikfolgenabschätzung schen Biologie übrigens unglaublich spannend . Ich bin gelingen . sicher nicht der einzige, der die Entdeckung der CRISPR/ Bei allen bestehenden Unklarheiten ist allerdings Cas9-Methode durch die Emmanuelle Charpentier, die auch gewiss, dass sich die Forschungspolitik des The- übrigens hier in Berlin forscht, sowie Jennifer Doudna mas annehmen muss . Die im Arbeitsbericht des TAB aus dem Jahre 2013 für höchst nobelpreisverdächtig hält . dargestellten Potenziale der Synthetischen Biologie sind Auch als Biologe freue ich mich auf anregende Debatten, beeindruckend . Unter anderem für die Landwirtschaft die wir in diesem Hause dazu noch führen werden . Einen und Pflanzenzüchtung, die chemische Produktion und grundsätzlichen Unterschied zur bisherigen Gentech- Energiegewinnung, die Umweltsensorik und -sanierung nologie erkenne ich noch nicht, sodass ich politischen sowie die Medizin sind Anwendungsmöglichkeiten Handlungsbedarf derzeit nicht sehe. Aber wir befinden denkbar . Ohne jegliche Fortschrittsfeindlichkeit müssen uns mitten in der Diskussion, und wir sollten die Ent- wir uns nun fragen, zu welchem Preis diese Potenziale wicklung weiterhin aufmerksam verfolgen . ausgehoben werden können . Erneut ergeben sich Parallelen zu vergangenen bzw . immer noch andauernden Debatten über die Gentechnik Anlage 13 oder die Nanotechnologie . Zu Protokoll gegebene Reden Wir sollten nun auf dem, was wir aus diesen großen zur Beratung: Diskussionen – hoffentlich – gelernt haben, aufbauen. Das heißt in meinen Augen vor allem, dass wir anste- – der Beschlussempfehlung und des Berichts des hende – ethische – Risikodebatten – denn diese sind in Innenausschusses zu dem Antrag der Frak- meinen Augen stets die relevantesten – von vornherein tionen der CDU/CSU und SPD: Innovativer langfristig und ressortübergreifend gestalten und echte Staat – Potenziale einer digitalen Verwaltung Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22683

(A) nutzen und elektronische Verwaltungsdienst- lösen Sie den Auftrag online aus, haben Sie das Zeugnis (C) leistungen ausbauen in der Regel innerhalb der nächsten drei Werktage . Dies ist ein deutlicher Fortschritt und zeigt, welches Potenzi- – zu dem Antrag der Abgeordneten Dieter al die digitale Verwaltung und elektronische Dienstleis- Janecek, Dr. Konstantin von Notz, Kerstin tungen bieten . Bauen wir dies aus, kann vor allem der Andreae, weiterer Abgeordneter und der Frak- ländliche Raum davon profitieren und das Lebens- und tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Stillstand Wohnumfeld stabilisiert und attraktiver gestaltet werden . beim E-Government beheben – Für einen inno- CDU und CSU haben das Potenzial erkannt und bringen vativen Staat und eine moderne Verwaltung den Ausbau des innovativen, digitalen Staates voran . (Tagesordnungspunkt 27) Dr. Tim Ostermann (CDU/CSU): Ich freue mich, Michael Frieser (CDU/CSU): Die Digitalisierung ist dass wir heute den Antrag „Innovativer Staat“ der Koali- eines der zentralen Themen unserer Zeit. Vor allem wird tionsfraktionen nach den Beratungen in den Ausschüssen es derzeit im Hinblick auf den Arbeitsmarkt, Arbeitszeit- endgültig verabschieden können . Denn die Zeit drängt: modelle sowie Möglichkeiten für die Vereinbarkeit von Wie ich schon in meiner ersten Rede zu diesem Thema Familie und Beruf diskutiert . Digitalisierung ist aber in ausgeführt habe, ist das Angebot von digitalen Verwal- besonderer Weise eine große Chance für den ländlichen tungsdienstleistungen in Deutschland erschreckend ge- Raum . In den letzten Jahren gab es einen verstärkten Zu- ring. Dies trifft auch auf die Nutzerzahlen zu; denn wo zug in die Städte. Es wurde von Landflucht und Entlee- kaum Leistungen angeboten werden, können auch keine rung der Räume gesprochen . Doch die Binnenmigration Nutzer für das Angebot gewonnen werden . verändert sich . Der ländliche Raum ist durchaus mit posi- Deutschland liegt damit im europäischen Vergleich tiven Bildern verbunden, wie unter anderem auch die Er- im unteren Mittelfeld . Gerade unsere Nachbarn Schweiz folge von Magazinen, die sich dem Landleben widmen, und Österreich sind hier deutlich besser aufgestellt . Die- zeigen . Und der ländliche Raum bietet bezahlbaren und sen Rückstand müssen wir unbedingt aufholen, denn es verfügbaren Wohnraum, bietet also das, was in Städten sollte unser Anspruch sein, auch im Bereich der Digita- zunehmend fehlt und besonders für junge Familien ein lisierung von Verwaltungsdienstleistungen im europäi- Problem darstellt . schen Vergleich im Spitzenfeld zu stehen. Abgesehen von den allgemeinen Chancen der Digi- Wie viel Nachholbedarf wir in Deutschland haben und talisierung durch neue Arbeitszeitmodelle, die Verein- welchen Nerv wir mit diesem Antrag getroffen haben, hat barkeit von Beruf und Familie, ergeben sich wichtige sich mir auch nach unserer letzten Plenardebatte gezeigt . (B) Impulse für den ländlichen Raum durch die mögliche Ich habe Anrufe und Zuschriften von einigen Bürgern (D) Vermeidung von Fahrtwegen. In einem entscheiden- und einer Reihe von Unternehmen erhalten, die sich da- den Punkt liegen wir jedoch noch zurück. Das betrifft rüber gefreut haben, dass wir das Thema der Digitalisie- Deutschland im Allgemeinen, stellt aber vor allem auf rung unserer Verwaltung endlich angehen wollen. Nicht dem Land einen besonderen Nachteil dar: der schlep- zuletzt deshalb meine ich, dass Bürger und Unternehmen pende Ausbau von E-Government-Angeboten in seiner bessere, nutzerfreundliche und deutlich ausgebaute digi- Fülle . Und genau hier setzt der diskutierte Antrag der tale Verwaltungsangebote sehr begrüßen würden. Des- Regierungsfraktionen zu einem innovativen Staat an . halb ist es unverzichtbar, dass der Bund nun das Tempo Dass Deutschland hier allein dem Nachbarn Österreich bei der Verwaltungsdigitalisierung erhöht. zehn Jahre hinterherhinkt, ist bekannt, von Musterlän- dern wie Estland ganz zu schweigen . Doch es ist nichts Erste Anzeichen für eine solche Tempoverschärfung verloren, und die ersten richtigen Schritte wurden bereits sind bereits zu beobachten. Vor kurzem hat sich der Deut- getan. Mit der Einführung der eID ist eine wichtige Vo- sche Bundestag in erster Lesung mit dem Gesetz zur Neu- raussetzung erfüllt . Dies gilt es auszubauen, nicht nur für ordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen befasst . Bürger, sondern auch für Unternehmen, Verbände und Teil dieses umfangreichen Gesetzespakets, das bekannt- Behörden, sodass eine einheitliche Authentifizierung lich auch mehrere Grundgesetzänderungen umfasst, ist über alle Ebenen hinweg möglich ist . Dies ist eine der auch das Onlinezugangsgesetz, das alle Behörden von Grundvoraussetzungen für die Nutzung der Potenziale, Bund, Ländern und Kommunen dazu verpflichtet, ihre die in einem Ausbau der digitalen Verwaltung und der Verwaltungsleistungen bis Ende 2022 auch elektronisch elektronischen Dienstleistungen bestehen . zur Verfügung zu stellen. Dazu sollen alle bestehenden Portale mit digitalen Verwaltungsdienstleistungen der Genau dies sind die notwendigen Ergänzungen für verschiedenen Ebenen zu einem Portalverbund zusam- das Attraktivitätsangebot im ländlichen Raum . Große mengeführt und damit den Bürgern und Unternehmen Distanzen, beispielsweise zu Behörden, stellen für die zugänglich gemacht werden . Mithilfe eines einzurichten- Menschen vor Ort ein Hindernis dar . Das gilt nicht nur den Nutzerkontos können Bürger und Unternehmen sich für den Weg, sondern auch den damit verbundenen zeit- über Verwaltungsdienstleistungen informieren und dann lichen Zusatzaufwand, zumal die bereits heute mögli- die entsprechenden Angebote in Anspruch nehmen . chen Dienstleistungen zeigen, dass die Aufträge deutlich schneller ausgeführt werden können . Als Beispiel sei die Mich freut hierbei besonders, dass die Bundesregie- Beantragung eines polizeilichen Führungszeugnisses ge- rung ein lebenslagengestütztes Verfahren anbietet, das nannt . Gehen Sie wie gewohnt zum Amt, müssen Sie mit heißt, die Verwaltungsdienstleistungen werden an den einer Bearbeitungsdauer von etwa zwei Wochen rechnen; Bedürfnissen der Nutzer ausgerichtet und nicht an den 22684 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) Strukturen der Verwaltung. Außerdem sollen alle Dienst- ren können. Als eindeutige Identifikation beim Zugriff (C) leistungen aus einer Hand angeboten werden – die Ver- auf das Bürgerkonto dient die elektronische ID des neuen waltungsstrukturen von Bund und Ländern sind im Hin- Personalausweises . Bei allen neu ausgestellten Personal- tergrund und für die Nutzer nicht zu erkennen. Ich finde, ausweisen soll die eID deshalb – anders als bisher – vor- dass die Bundesregierung mit dem Vorschlag, einen Por- eingestellt sein und nur auf Wunsch abgeschaltet werden . talverbund einzurichten, schon einen sehr großen Schritt Opt-out statt opt-in also . in die Richtung gemacht hat, die wir mit unserem Antrag vorgeben wollen . Das Gesetz ist sicherlich ambitioniert, Ein weiteres wichtiges Anliegen unseres Antrags wird allerdings haben wir auch einen großen Rückstand aufzu- in der Fachwelt als Open Government und Open Data holen. Ich hoffe, dass die Bundesregierung, inspiriert von diskutiert. Hier geht es um die Offenheit und Transparenz unserem Antrag, nun weitere Gesetzesvorhaben dieser staatlichen Handelns sowie um den freien Zugang zu den Art folgen lassen wird. Denn der Bund muss Vorreiter Daten der Verwaltung. Der zuvor zitierte „Digital Eco- für die übrigen Ebenen sein . nomy and Society Index“ stellt fest, dass in Deutschland im Bereich Open Data „kein Wachstum zu verzeichnen“ Die deutsche Verwaltung gilt nach wie vor weltweit sei . häufig als Vorbild. Damit das so bleiben kann, müssen wir unsere Verwaltungsstrukturen unbedingt an das Im Antrag fordern wir die Offenlegung von Verwal- 21 .Jahrhundert anpassen . Mit diesem Antrag hat der tungsdaten, und zwar nicht auf Antrag, sondern proaktiv, Bundestag seinen Beitrag dazu geleistet . in einheitlichen und maschinenlesbaren Formaten und unter freien Lizenzen . Es ist zu begrüßen, dass die Regie- rung noch in dieser Legislatur ein solches Open-Data-Ge- Saskia Esken (SPD): Was macht eine moderne und setz in Form einer Änderung des E‑Government-Geset- effiziente öffentliche Verwaltung aus? Meines Erachtens zes vorlegen wird . entscheidet sich diese Frage beim alltäglichen Umgang der Verwaltung mit den Bürgerinnen und Bürgern. Wie ich bereits erwähnte, ist das Vertrauen der Nutzer in die Sicherheit von Daten und Kommunikation von zen- Eine moderne und effiziente öffentliche Verwaltung traler Bedeutung bei der Frage, ob und in welchem Um- begreift sich als Dienstleister . Als Nutzer erwarten wir fang die E‑Government-Angebote der Verwaltung von heute, dass wir unsere Behördengänge online und mobil der Bevölkerung benutzt werden . Deshalb ist es wichtig, erledigen können . Und wir wollen uns darauf verlassen dass die Verwaltung den Bürgerinnen und Bürgern siche- können, dass die zum Teil sehr sensiblen Daten, die wir re, durchgängig oder, wie man sagt: Ende-zu-Ende ver- mit der Behörde teilen, nicht in unbefugte Hände geraten . schlüsselte Kommunikationswege zur Verfügung stellt. Gemessen an diesen Erwartungen muss die deutsche (B) Nicht nur die Unternehmen der kritischen Infrastruk- (D) Verwaltung noch einiges nachholen. Das sagen uns auch tur, auch die digitale Verwaltung ist durch cyberkriminel- diverse Studien und internationale Vergleiche zum The- le Angriffe in ihrer Funktions- und Handlungsfähigkeit ma E‑Government . Egal welche Studie wir heranziehen, hoch gefährdet und muss sich deshalb besonders schüt- sie alle kommen zu einem einhelligen Urteil: Die Ange- zen . Sie muss deshalb, auch das ist Gegenstand unseres bote der digitalen Verwaltung in Deutschland sind dürf- Antrags, beim Umgang mit solchen Angriffen, beim Ein- tig – in Anzahl und Qualität, aber auch in ihrer Nutzung, satz von IT-Sicherheitstechnik und bei der Anwendung also in der Akzeptanz . von IT-Sicherheitsverfahren eine Vorreiterrolle spielen. So belegt Deutschland zum Beispiel beim gerade er- Vom digitalen Staat, von der digitalen Verwaltung schienenen „Digital Economy and Society Index 2017“ sind wir in Deutschland noch weit entfernt . Mit dem vor- der Europäischen Kommission den elften Rang . Damit liegenden Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, befinden wir uns im gesicherten Mittelfeld; nicht gerade den eingeschlagenen Weg gemeinsam mit Ländern und eine Traumplatzierung! Kommunen weiter zu beschreiten, damit Deutschland Die Autoren der Studie schreiben, die größte Heraus- in Zukunft auch bei Rankings zum E‑Government einen forderung für die deutsche Verwaltung bestehe darin, die Spitzenplatz belegen kann . Online-Interaktion zwischen Behörden und Bürgern zu verbessern . Nur 19 Prozent der Deutschen nutzten der Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD): Informati- Studie nach E‑Government-Dienste . onstechnische Systeme haben das Verhältnis von Staat, Bürger und Wirtschaft grundlegend verändert . Daten Diese kurze Ausführung zeigt, dass die Politik im Be- sind die neue Währung der digitalisierten Welt . Unse- reich E‑Government noch viel zu tun hat . Zwar haben re Rechtsordnung ist davon nicht unberührt geblieben, wir mit dem im Jahr 2013 in Kraft getretenen E‑Govern- denn wir haben auf das Dreiecksverhältnis zwischen ment-Gesetz und mit dem in dieser Legislatur beschlos- Bürger, Staat und Wirtschaft reagiert und reagieren müs- senen Programm „Digitale Verwaltung 2020“ einige sen . Zwischen Bürgern und Staat ist grundrechtlich im Schritte getan; deren Umsetzung geht jedoch quälend Sinne von Abwehrrechten des Bürgers gegen den Staat langsam und nicht konsequent genug voran . Ich bin seit der Entscheidung des BVerfG mit der Kreation eines deshalb dankbar, dass wir uns mit unserem Koalitions- Grundrechts auf Schutz der Vertraulichkeit und Integri- partner auf den vorliegenden Antrag zum E‑Government tät informationstechnischer Systeme längst ein Anknüp- geeinigt haben . fungspunkt geschaffen. Zwischen Bürgern als Verbrau- Ein wichtiger Bestandteil ist das Bürgerkonto, über chern und Wirtschaft scheint dies nicht zu gelten oder das die Nutzer sicher mit der Verwaltung kommunizie- einfach mit dem Setzen eines digitalen Häkchens unter Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22685

(A) eine – ausgedruckt zig Seiten umfassende – Erklärung Dennoch gilt für uns die Grundüberzeugung: Die Be- (C) erledigt zu sein . Man könnte fast sagen, der Bürger hätte schleunigung der Entwicklung einer digitalen und mo- es nicht erledigt, sondern sich einiger Schutzmechanis- dernen Verwaltung ist notwendig und muss zügig voran- men entledigt . getrieben werden .

In diesem System ein ganzheitliches Angebot von di- Bei diesem Vorhaben konnten auch durchaus schon gitaler Verwaltungsdienstleistung anzulegen, ist eine He- Erfolge erzielt werden . So ist mit Blick auf die Mittei- rausforderung – und im Mindestmaß jedoch ein Werk, lung der Kommission zum EU-E‑Government-Aktions- das mit kleinen Schritten voranzugehen scheint . plan 2016-2020 bei der elektronischen Vergabe und in der elektronischen Rechnungsstellung im Binnenmarkt Bund und Länder haben mit Artikel 91c GG eine not- bereits sehr viel erreicht worden . Allerdings werden wendige Grundlage für die Zusammenarbeit geschaffen, diese Erfolge andererseits wieder durch unzureichende die in den Vertrag zur Errichtung des IT-Planungsrates Ausstattung mit technisch geeigneter EDV konterkariert, mündete . Der große Wurf gelang damit jedoch nicht . Die weil mit der aktuell verwendeten Technik eine rechtssi- Vergabe der öffentlichen Hand für IT-Ausstattung und chere Vergabe derzeit noch unmöglich ist. Ich glaube, interoperable Systeme sind immer noch weit weg von der Schlüssel liegt hier in einem Vergaberecht, das die der Harmonisierung . Hier müssen wir dringend zu wirk- Interoperabilität der Systeme in Bund, Ländern und Ge- sameren Instrumenten greifen und mehr Verbindlichkeit meinden sicherstellt, die derzeit durch die – grundsätz- herstellen . Die Zaghaftigkeit im IT-Bereich korrespon- lich richtige – Verwaltungs- und Organisationsautonomie diert mit einem Weniger an Staat in der digitalen Lebens- verhindert wird . realität der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland . Notwendig ist daher auch ein Staatsvertrag, der Ein Attest für gesetzgeberische Zaghaftigkeit war da- Schnittstellen für den Abruf zentraler Datensätze bei her, dass sich das BVerfG 2008 genötigt sah, ein Grund- gleichzeitiger Wahrung eines gemeinsam mit den Lan- recht zu entwickeln: „Schutz der Vertraulichkeit und desdatenschutzbeauftragten zu erarbeitenden Daten- Integrität informationstechnischer Systeme“ . Und acht schutzkodexes verbindlich festlegt, um wenigstens die Jahre später, am 17 .August 2016, titelt die FAZ – immer 60 wichtigsten Verwaltungsdienstleistungen für Bund noch – mit einem prominent platzierten ganzseitigen Ar- und Länder in einer einheitlichen Maske anbieten zu tikel: „Wir brauchen ein Digitalgesetz!“ können . Der unter Beachtung des Datenschutzes not- wendige zentrale Zugriff auf Datensätze durch Bund und Deshalb ist es richtig und wichtig, dass wir mit diesem Länder hat sich beim Ende des letzten Jahres verabschie- Antrag die Strategie der Bundesregierung gesetzgebe- deten Luftsicherheitsgesetz gezeigt, mit dem durch digi- tale Verwaltung die Effizienz, aber auch die Sicherheit (B) risch fordern . Die Wirtschaft hat es erkannt, den Komfort (D) durch elektronische Dienste gewinnbringend einzuset- erhöht worden ist . zen . Nutzerdaten, elektronische Zahlungsmethoden und Allerdings ist die Digitalisierung kein Selbstzweck . in Algorithmen verschwindende Suchbegriffe der Nutzer Politische Vorhaben müssen sich stets am Wohle der Bür- werden zu einer Dienstleistung verschmolzen, die das gerinnen und Bürger ausrichten . Dieser Topos bedeutet Leben vereinfacht . Die Standardisierung dieser Prozesse für mich hier im Konkreten zweierlei: Einerseits soll das führte zu einer Evolution, die das Nutzerverhalten antizi- Vorantreiben der Digitalisierung in der Verwaltung nicht pierte . Diese Lebenswirklichkeit der Menschen müssen auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen werden . wir als Staat aufnehmen . Staatliche Dienstleistungen Ein Mehr an Digitalisierung darf nicht zu einem Weniger müssen komfortabel, sicher und zeitgemäß werden – an Beschäftigten und entsprechenden Einsparungen in vom Personalausweis bis zur Verwaltungsdienstleistung. der Verwaltung führen. Es mag sinnvoll erscheinen, die Dieser Gleichschritt aus Komfort, Sicherheit und Chancen der Digitalisierung zu nutzen, um Pensionie- Zeitgemäßheit ist aber vermutlich nicht weniger als der rungs- und Rentenwellen abzufedern . Es darf aber nicht berühmte Versuch der Quadratur des Kreises. Wir bewe- passieren, dass wir als Staat in unserem Einflussbereich gen uns stets auf dem schmalen Grad zwischen einem die Menschen massenhaft auf die Straße setzen . gesunden und tolerablen Verhältnis aus Praktikabilität, Und andererseits gilt: Um allen Menschen gleichen Datensicherheit und Datenschutz der Bürgerinnen und Zugang zu Verwaltungsdienstleistungen zu garantieren, Bürger. Gänzlich auflösen werden wir diesen Antagonis- muss auch auf diejenigen Rücksicht genommen werden, mus wohl nie, sodass wir hier stets und immer wieder die aus ökonomischen oder technischen Gründen E‑Go- aufs Neue mit wachem Auge und Fingerspitzengefühl vernment-Angebote nicht nutzen könnten . Denn eine di- rechtliche Rahmenbedingungen schaffen, aber auch – gitale Verwaltung soll Vorteile für die Bürgerinnen und wo nötig – begrenzen müssen . Insgesamt besteht bei Bürger schaffen und den Komfort im Alltag erhöhen, der Verbindung, Verschlüsselung und der Art und Weise aber niemanden ausgrenzen! der Übermittlung von Daten zwischen Verwaltung und Bürgern noch Handlungsbedarf . Allerdings hat hier die Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Was E‑Government Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum und die Digitalisierung der Verwaltung angeht, ist Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informations- Deutschland leider weit im Hintertreffen. Und daran hat technischer Systeme einen exzellenten Maßstab für den sich in den vergangenen Jahren auch wenig geändert . Gesetzgeber und die Verwaltung gesetzt, den es beim künftigen gesetzgeberischen Tätigwerden zu beachten Wie kommt das? Schaut man sich den Antrag der gilt . Koalition an, könnte man auf den Gedanken kommen, 22686 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017

(A) es müsse wohl daran liegen, dass bisher nicht genügend das als „ökonomisches Einsparpotential“ bezeichnen, (C) wohlklingende Zielvorstellungen aufgeschrieben wur- zielen Sie am Ende womöglich auf Personalabbau . den . Allein, gerade daran fehlt es nicht . Bei der Digitalisierung der Verwaltung auf den soge- Bei den Zielen werden wir uns wohl alle schnell einig: nannten „schlanken Staat“ zuzusteuern, vergibt aber ihre die leicht zugängliche Möglichkeit für alle, Anliegen ge- echten Chancen und gefährdet auch die bei diesem The- genüber der Verwaltung auch elektronisch zu erledigen; ma so notwendige Akzeptanz . Aus unserer Sicht müssen eine leistungsfähige Verwaltung, die nicht mehr so viel Effizienzgewinne in die Stärkung der öffentlichen- Ver Zeit mit dem Bewältigen von Medienbrüchen verbringt; waltung gehen, damit diese die ihr anvertrauten Aufga- ein hohes Niveau der IT-Sicherheit, insbesondere um ben im Sinne der Menschen gut erfüllen kann . persönliche Daten zu schützen; und mehr Transparenz Wenn wir das hinkriegen, können wir vielleicht in ei- staatlichen Handelns . nigen Jahren einmal über dieses Thema reden, ohne eine Nur wenigen Dingen, die in dem vorliegenden Antrag so schlechte Bilanz ziehen zu müssen . stehen, lässt sich direkt widersprechen . Es fehlt ihm aber an Konzepten und an konkreten Vorgaben. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ob E‑Perso, De-Mail und ELENA, ob die Die erfolgreiche Einführung von E‑Government er- Gesundheitskarte oder das Informationstechnikzen­ fordert finanziellen und personellen Einsatz, wobei wir trum Bund – die Liste an chronisch problembehafteten insbesondere die Kommunen nicht auf sich allein gestellt IT-Großprojekten des Bundes ist schon lang, aber offen- lassen können . Sie erfordert einen Ansatz, der die Per- bar immer noch verlängerbar: In unschöner Regelmä- spektive der Beschäftigten und ihre Mitbestimmungs- ßigkeit wird erst großtrabend angekündigt, um dann bei rechte ernst nimmt . Sie erfordert ganz allgemein die Be- den absehbaren Mühen der Ebene umso schmallippiger reitschaft, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Und kommentiert ein Prestigevorhaben nach dem anderen in von alldem ist hier wenig zu lesen . den Sand zu setzen . Sie halten beispielsweise immer noch am gescheiter- Denn meist ist man schlichtweg zu sehr am eigentli- ten Projekt De-Mail fest, statt auf existierende Standards chen Bedarf vorbei, bleibt ohne Koordination, Standards der Verschlüsselung zu setzen. Überhaupt ist das Vorge- und Durchgängigkeit zu unpraktisch und unbekannt, hen der Bundesregierung hier zwiespältig: Einerseits will wenn nicht gar unauffindbar. Bei fehlender Marktent- man verschlüsselte Kommunikation stärken, andererseits wicklung sind die Angebote auch noch zu teuer und tech- wendet man beträchtliche Mittel auf, um Wege zu finden, nisch anfällig sowie ohne effektiven Datenschutz wenig sie zu umgehen . Sicherheitslücken sollen also sowohl ge- vertrauenswürdig . Akten werden nur selten vollständig (B) schlossen als auch ausgenutzt werden . Die Cybersicher- und systematisch elektronisch geführt . Open Source und (D) heitsstrategie der Bundesregierung adelt das zur „Kryp- offene Standards spielen kaum eine Rolle, ja werden teils to-Strategie“; strategisch ist daran aber nichts . zurückgesetzt, während bei der Beschaffung proprietärer Sie bekennen sich – mal wieder – zu Open Data . Sie Produkte und Beratungsleistungen die Gefahr wächst, hätten in den letzten Jahren jede Gelegenheit gehabt, von kommerziellen Marktführern an der Nase herumge- hierfür den rechtlichen Rahmen zu schaffen. Während in führt zu werden . immer mehr Bundesländern das Informationsfreiheits- Entsprechend eindeutig fallen Vergleichsstatistiken recht hin zu Transparenzgesetzen weiterentwickelt wird, aus: Die Bundesrepublik Deutschland verliert im EU-Di- warten wir nun hier auf ein Open-Data-Gesetz, das ab- gitalisierungsindex den Anschluss, der Normenkontroll- sehbar immer noch keine durchsetzbare Pflicht zur Ver- rat beklagt länger schon, dass es de facto kaum Angebo- öffentlichung von Daten vorsehen wird. te gibt – die daher auch nur von wenigen angenommen werden. Die Nutzungszahlen von Online-Verwaltungs- Sie wollen den IT-Planungsrat stärken . Aber gerade diensten in Deutschland bleiben weit hinter Ländern wie kürzlich erst hat die Bundesregierung den Entwurf eines Österreich, Schweiz oder Schweden zurück, und es sieht Onlinezugangsgesetzes vorgelegt, das dem Bund neue eher noch nach einer weiteren Rückentwicklung denn ei- Kompetenzen gibt und die Rolle des Planungsrats eher ner wirklichen Aufholjagd aus . beschränken wird . In ihrem Antrag räumt die Große Koalition immerhin Ihrem gesamten Antrag fehlt es an einer klaren Linie ungewohnt offenherzig die Bilanz des eigenen Scheiterns und an eigenen Konzepten . Ihn hier zu verabschieden, ein: Es drohe „der Verlust der technologischen Souve- wird kein einziges E‑Government-Projekt einen Schritt ränität“ – nun das könnte damit zusammenhängen, wie voranbringen . unsouverän diese Bundesregierung digitalpolitisch seit Der Antrag der Grünen benennt die Probleme weit Jahren unterwegs ist . Angesichts dieser Ausgangslage deutlicher und stellt auch eine ganze Reihe richtiger ziehen Sie in manchem – wie bei der Bedeutung von Forderungen auf, denen wir zustimmen können . Auch er Open Data – sogar ansatzweise die richtigen Schlüsse, spart aber einen wichtigen Punkt aus . freilich nur auf dem Antragspapier . Denn wie so oft in den enttäuschenden Jahren Ihrer „Digitalen Agenda“ Es ist richtig, dass mit der Digitalisierung der Verwal- folgen den hehren Worten selten und nur unentschlos- tung große Effizienzgewinne zu erwarten sind; Sie zitie- sen die richtigen Taten . Wenn man nicht gar mit einer ren die 34 Prozent aus der Studie des Normenkontrollrats . Verschlimmbesserung um die Ecke kommt, doch dazu Aber wem soll dieser Gewinn zugutekommen? Wenn Sie später . Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 Deutscher Bundestag – 18 . Wahlperiode – 225 . Sitzung . Berlin, Donnerstag, den 23 . März 2017 22687

(A) Dabei hat eine Enquete-Kommission dieses Hauses in Schriftformverzicht wird es kaum richten: Vielmehr (C) der vergangenen Legislaturperiode fraktionsübergreifend brauchen wir umfassend eine Vorrangigkeit digitaler in einer tiefgehenden Grundlagenarbeit umfangreiche Verfahren und Verwaltungsleistungen, wobei konsequent und konkrete Handlungsempfehlungen vorgelegt, und auf die Barrierefreiheit zu achten ist und zugleich immer auch in den vergangenen Jahren hat sich der Deutsche auch eine gleichwertige Alternative bestehen muss, zu- Bundestag intensiv mit diesen Fragen beschäftigt . Hier mal solange diese Bundesregierung ebenso wenig eine besteht ja eigentlich Konsens, dass die Digitalisierung wirkliche Strategie für eine flächendeckende Breitband- unserer Verwaltung gerade mit Blick auf die demografi- versorgung hat wie für die digitale Partizipation margina- sche Entwicklung sowie den ländlichen Raum, aber auch lisierter Gesellschaftsgruppen . auf gestiegene Ansprüche an Beteiligung und Transpa- renz enorme Chancen bietet . Das großes Synergie- und Ohne das Benutzervertrauen, dass ein Angebot tech- Einsparpotenzial für unsere Verwaltung mitsamt entspre- nisch sicher und dabei der Datenschutz gewährleistet ist, chender Entwicklungsanreize für die Wirtschaft spielen werden IT-Projekte wieder so ruhmlos enden wie De- also auch, aber keineswegs ausschließlich eine Rolle, wie Mail, E‑Perso oder ELENA. Hier bedarf es effektiver manche Fehlfokussierung in dieser Diskussion glauben Methoden wie der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung sowie ließe . den neuesten Standards bei der Daten- und IT-Sicherheit . Dass die Bundesregierung bei der aktuellen Umsetzung Doch Sie bekommen leider das Kunststück fertig, die der europäischen NIS-Richtlinie weiterhin die eigene Enquete-Empfehlungen entgegen Ihrer überraschend Verwaltung pauschal von den Sicherheitsanforderungen schonungslosen Problemerfassung auch nur mit einem an kritische Infrastrukturen ausnehmen will, dürfte da Wort zu erwähnen – vielleicht weil es dann bei der fol- gerichtigen Problemlösung in eigener Regierungsverant- eher nicht als vertrauensbildende Maßnahme durchge- wortung allzu konkret würde . hen . So warten wir weiterhin auf eine kohärente, entschlos- Nicht zuletzt müssen Best-Practice-Beispiele Schule sen verfolgte Strategie, um die offensichtlichen Potenzia- machen können. So zersplittert die öffentliche IT-Land- le von Open- und E‑Government endlich zu heben . Nach schaft auch ist und so viele Probleme auf allen Ebenen beinahe vier Jahren schwarz-roten Kompetenzgerangels zweifelsohne bestehen: Immer wieder gibt es im Kleinen bräuchte es eine ressortübergreifende Zusammenarbeit und gerade auch in den Kommunen erfreuliche Vorrei- mitsamt einer zugstarken Koordinierung durch eine/n ter . Der IT-Planungsrat hat in seiner langjährigen Bot- Beauftragte/n der Bundesregierung . Mit Beratungsbü- tom-up-Strategie immer wieder eine bessere Koordinie- ros könnte der Bund frühzeitig Länder und Kommunen rung angemahnt . bei der Implementierung entsprechender Angebote un- (B) terstützen. Für alle wesentlichen Verwaltungsverfahren Angesichts der vielen gescheiterten Bundesprojekte (D) bedarf es der engen Abstimmung im föderalen Gefüge verwundert es da nun umso mehr, wie schnell, stark und mithilfe des IT-Planungsrats . von oben herab mit einer weiteren Grundgesetzände- rung und dem Onlinezugangsgesetz zentralisiert werden Statt immer neuer, aber aussichtsloser Leucht- soll . Anstatt endlich mal wenigstens ein IT-Projekt auf turm-Vorhaben, sollte man vielleicht erst einmal von un- Bundesebene zu wuppen, haben Sie nichts Besseres zu abhängiger Seite beleuchten lassen, warum die eigenen tun, als ans Grundgesetz zu gehen . So sinnvoll hier eine IT-Projekte der vergangenen Jahren so spektakulär schei- stärkere Koordinierung auch ist, solange Sie sich nicht terten, und dann fortlaufend die eigenen Reformbemü- endlich an die ja seit langem bekannten Problemursachen hungen in Zweijahresschritten evaluieren . und entsprechenden Lösungsansätze machen, wird es mit Doch schon jetzt sollte über einige, seit langem eta- dem E‑Government unter dieser Großen Koalition nichts blierte Grundsätze Einigkeit bestehen: Ein bisschen mehr werden . Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333