ECM Neuheiten 2016 Vorgestellt Von Gerhard & Silvia Rühl
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
ECM Neuheiten 2016 vorgestellt von Gerhard & Silvia Rühl Wie jedes Jahr hat auch heuer die Firma ECM über fünfzig neue CDs verschiedenster Stilrichtungen veröffentlicht. Daraus die „schönsten“ oder gar „besten“ herauszusuchen, ist unmöglich, weil auch Geschmackssache. Dennoch möchten wir Ihnen hiermit unsere ganz persönlichen Favoriten vorstellen: Glauco Venier : Miniatures Mit Miniatures legt der italienische Pianist Glauco Venier ein Soloalbum vor, das sich schnell als MEIN Geheimtip des Jahres 2016 entpuppt hat. Außer eigenen Kompositionen spielt Venier hauptsächlich Musik armenischer Komponisten (Gurdijeff, Komitas, Mansurian). Speziell von diesen hat er wohl die innere Ruhe, Ausgeglichenheit und Intimität gelernt. Seine CD ist jedenfalls genau von diesen Elementen geprägt, sie glänzt durch die bedächtige und unaufgeregte Spielweise, mit der er die in sich ruhenden Klaviermelodien förmlich zelebriert. Teilweise „begleitet“ er sich mit dabei selbst mit subtilen Percussionklängen. Dabei folgt Glauco Venier auch dem Credo des Produzenten Manfred Eicher, Stille „hörbar“ zu machen. So läßt sich der Musiker alle Zeit, den Tönen ihren Raum zu lassen, teilweise klingen die einzelnen Stücke bis zu 20 Sekunden aus! Damit entstand in all der vermeintlichen Einfachheit ein wahrhaft majestätisches Album von trancehafter Wirkung und von großartiger Klangfülle. Stellenweise glaubt man zu hören, wie das Holz des Konzertflügels atmet, wie die Töne schweben, der Raum lebendig wird, die Stille schwingt. Ein Hochgenuß! Wer sanfte Klaviermusik, etwa im Stil von Gurdjieff, gerne hört, kommt an diesem Album nicht vorbei. Ein Album, das bei aller Nachdenklichkeit Glücksgefühle erzeugt. Wolfert Brederode Trio : Black Ice Der 1974 geborene holländische Pianist Wolfert Brederode steht mit seiner CD „Black Ice“ in der Tradition des klassischen Trio-Jazz. Dennoch hat er eine ganz eigene musikalische Handschrift – seine Melodien sind wohltuend unaufgeregt und von selbstsicherer Schlichtheit geprägt. Ohne jegliches virtuoses Gehabe ist ihm damit ein sehr eingängiges Werk gelungen, das man als „ganz einfach schön“ bezeichnen kann. Gibt es ein besseres Kompliment? (Anspieltip: Olive Tree) Jakob Bro Trio : Streams Der dänische Gitarrist Jakob Bro hat mit seiner Band ein Album aufgenommen, das mit „Streams“ (= Flüsse, Strömungen) nicht besser beschrieben werden könnte. Denn die wohlklingende Musik fließt so schön und unaufgeregt dahin, daß man unwillkürlich in beschauliche Stimmung gerät. Dabei gelingt es Jakob Bro mühelos, die häufig zu findenden „Trick-Gitarristen“ hinter sich zu lassen. Denn gerade im Nicht-Anwenden von Virtuosität (die er zweifellos hat), zeigt er sich hier als Meister. Fazit: ein rundherum gelungenes und schönes Album, das beileibe nicht nur für Jazz-Fans interessant ist, sondern jedem Freund angenehmer Musik gefallen sollte!? Nik Bärtsch’s Mobile : Continuum Neben seiner Band „Ronin“ hat der Schweizer Pianist Nik Bärtsch auch noch eine rein akustische Formation, genannt Mobile. Diese hat er für sein neuestes Werk um ein Streichquintett erweitert. Die so raffiniert mathematisch genau und dennoch so großartig lebendige Musik Bärtschs bekommt dadurch eine weitere Dimension – das ist zeitgenössische Kammermusik vom Allerfeinsten! Ein weiteres Beispiel, wie hypnotisch Nik Bärtschs Musik wirkt, wie sie geradezu süchtig machen kann… Tigran Hamasyan… : Atmosphères Der junge armenische Pianist Tigran Hamasyan ist ein musikalischer Grenzgänger. Auf seiner CD „Luys i Luso“ (2015) hatte er sakrale armenische Gesänge eingebaut, auf seinem neuesten Album sind nun elektronisch erzeugte Klänge zu hören! Mit Atmosphères hat Hamasyan damit eine fabelhafte neue CD veröffentlicht, die durch ihre unglaubliche innere Ruhe besticht. Unterstützt vom Trompeter Arve Henriksen, dem Gitarristen Eivind Aarset und dem „Elektroniker“ Jan Bang schafft Hamasyan eine musikalische Stimmung, die unwillkürlich Bilder im Kopf der Zuhörer erzeugt. Lassen Sie sich verzaubern von dieser so intimen Musik, die nur ganz gelegentlich durch eruptive Ausbrüche unterbrochen wird und die durch den Einsatz von Elektronik noch an Spannung und Intensität gewinnt. Ein sehr eindrucksvolles Album, das auch den enormen musikalischen Horizont und Mut des Produzenten Manfred Eicher beweist. Anat Fort Trio + : Birdwatching Das Spiel der israelischen Pianistin Anat Fort ist hörbar von klassischer Ausbildung geprägt, sie schreckt aber auch nicht vor gelegentlichen Ausflügen in abstrakte Improvisationen zurück. Nach ihrem großartigen Album „And If“ (2010) legt Anat Fort mit Birdwatching ein neues Werk vor, für das sie den schelmischen italienischen Klarinettisten Gianluigi Trovesi gewinnen konnte. Dessen Spiel fügt Forts so angenehm zurückhaltender Musik eine weitere melodische, bisweilen heitere, Note hinzu. (Anspieltip: Meditation For A New Year) Zsófia Boros : Local Objects Die junge ungarische Gitarristin Zsófia Boros ist nicht nur ein sehr zartes Wesen, auch ihre Musik klingt ausgesprochen verhalten und zurückgenommen. Auch auf ihrem zweiten Album für ECM legt Boros ein Zeugnis ihrer Kunst vor: Werken verschiedenster Epochen und Stilrichtungen einen ganz eigenen Stempel aufzudrücken. So interpretiert sie auch folkloristische und jazzige Themen ganz in der Tradition klassischer Gitarre - aber stets mit feiner und zärtlicher Intimität. Eleni Karaindrou : David In ihrem neuesten Werk David hat Eleni Karaindrou Gedichte eines unbekannten griechischen Autors auf musikalische Weise verarbeitet. Die Verse stammen aus dem 18. Jahrhundert, wurden jedoch erstmals 1979 veröffentlicht. Sie fordern eine musikalische Bearbeitung förmlich heraus, Eleni Karaindrou hat diese Herausforderung meisterhaft gelöst. Ihre Kompositionen für Sänger, Chor, Instrumentalisten und Orchester schlagen die Brücke zwischen „alter Musik“ und Gegenwartskunst. Kim Kashkashians inspiriertes Viola-Spiel läßt Erinnerungen wach werden an Karaindrous hochgelobter Musik für den Film „Ulysses’ Gaze“. David, eine Komposition mit wechselnden musikalischen Klangfarben, wurde im November 2010 live aufgenommen im Megaron in Athen und produziert von Manfred Eicher. Carolin Widmann : Mendelssohn/Schumann Violinkonzerte Die Münchner Violinistin Carolin Widmann spielt hier zwei Violinkonzerte: das häufig aufgeführte von Felix Mendelssohn Bartholdy und das, wie dem exzellenten Booklet zu entnehmen ist, häufig verkannte von Robert Schumann. Zusammen mit dem Kammerorchester Europa, aber ohne Dirigenten (!) entstand diese auch klanglich voll überzeugende Aufnahme im Festspielhaus Baden-Baden. Ein Leckerbissen für Freunde klassischer Musik, der beweist, daß sich ECM vor den sogenannten „großen“ Klassiklabels keineswegs verstecken muß. Keith Jarrett : A Multitude Of Angels Weshalb sind diese Solokonzerte von Keith Jarrett 20 Jahre nach der Aufnahme jetzt als CD erschienen? Jarrett selbst gibt die Antwort: “es sind die letzten Konzerte, die ich ohne Unterbrechung gespielt habe”, und er fügt hinzu, sie seien “ein Höhepunkt in seiner Karriere gewesen”. Sie waren wohl auch ein Wendepunkt, denn die Karriere schien danach durchaus gefährdet. Jarrett erkrankte kurz darauf an einem mysteriösen Erschöpfungssyndrom, konnte jahrelang überhaupt nicht mehr spielen. In der Folge beschränkte er sich bei Soloauftritten darauf, kurze, kompakte Stücke zu entwerfen und sich dazwischen eine kleine Pause zu gönnen. Damit hatte sich Jarrett gewissermaßen vom Romanschreiber, der seine Gedanken in epischer Breite formuliert, zum Verfasser von Kurzgeschichten gewandelt, was durchaus nicht negativ sein muß. Andererseits waren ja gerade Jarretts lange Improvisationen sein Markenzeichen, der Grund seines Erfolgs, denn sie offenbaren den Einfallsreichtum und die Wandelbarkeit dieses Ausnahmekünstlers. In dieser Hinsicht sind die vier Konzerte, aufgenommen im Oktober 1996 in Italien, tatsächlich ein Höhepunkt. Jarrett geht hier teilweise bis zum Äußersten, was Konzentration, Energie und hingebungsvolles Spiel angeht. Er fordert von sich selbst eine Höchstleistung, und er fordert auch vom Publikum, sich auf sein Spiel vollkommen einzulassen. Dies ist zugegebenermaßen nicht immer leicht in Passagen, wo Jarrett scheinbar zusammenhanglos und ekstatisch spielt, dabei eine Fingerfertigkeit zeigt, die kaum glauben läßt, daß er damals schon am Rande der Erschöpfung war. Wer weiß, vielleicht hat er ja gerade deshalb so energisch, fast besessen, gespielt, weil er das Schicksal schon ahnte? Noch dazu in einer Art Egotrip, denn Jarrett war hier gleichzeitig sein eigener Tontechniker und Produzent. In all ihrer Unterschiedlichkeit zeichnen die vier Italien-Konzerte ein Psychogramm eines Genies. Über die musikalische Leistung hinaus kann man sich kaum vorstellen, was im Gehirn dieses Künstlers vor sich geht, wenn er Tonkaskaden auftürmt, unglaublich gefühlvolle lyrische Passagen spielt, diese alsbald aber wieder zerstört und immer neue Ideen aufgreift. Nach diesem Muster sind all die Konzerte von großer innerer Spannung gekennzeichnet. Jarrett spielt immer wieder wunderschöne Sequenzen, aber er wäre nicht er selbst, wenn er diese nicht immer wieder förmlich pulverisieren würde mit seiner Energie, die er in Phasen höchster Konzentration mit Singen, Ächzen und Stöhnen garniert. So lädt er uns Hörer ein auf einen musikalischen Trip und auch auf eine Auseinandersetzung mit seiner Genialität – letztendlich lehrt er uns auch, daß es gerade in unserer schnelllebigen Zeit ungeheuer wichtig ist, sich zu konzentrieren, sich auf ein Werk einzulassen, anstatt die Musik nur noch in digitalisierten