100 Jahre Frauenwahlrecht: Parlamentarierinnen, Der Deutsche Verein Und Die Weimarer Sozialgesetzgebung­

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100 Jahre Frauenwahlrecht: Parlamentarierinnen, Der Deutsche Verein Und Die Weimarer Sozialgesetzgebung­ Februar 2019 NDV SOZIALGESCHICHTE Sabine Schmitt 100 Jahre Frauenwahlrecht: Parlamentarierinnen, der Deutsche Verein und die Weimarer Sozial gesetzgebung Als Frauen im Januar 1919 Doch auch schon im Kai- erstmals in Deutschland serreich waren Frauen auf das aktive und passive vielfältige Weise politisch Wahlrecht wahrnehmen aktiv. Wie andere vom konnten, zogen erfahrene Wahlrecht ausgeschlosse- Fürsorgeexpertinnen in ne Gruppen nutzten sie den Reichstag und die Län- alternative Partizipations- derparlamente ein. Davon und Politikformen. Ein profitierte auch der Deut- entscheidendes Politikfeld sche Verein, denn er ver- war die Wohlfahrtspflege, fügte nun über einen „di- begründet mit dem Kon- rekten Draht“1 ins Parla- zept einer „geistigen Müt- ment und in die Ministeri- terlichkeit“, die Frauen en und konnte so auf die besonders zu sozialer Tä- soziale Ausgestaltung der tigkeit befähige.3 Bürgerli- Weimarer Republik einwir- che Frauenwohltätigkeits- ken. Gemäß einer ge- vereine genossen hohes schlechtsspezifischen Ar- Ansehen im Kaiserreich; beitsteilung in allen Frakti- sie hatten einen entschei- onen waren nämlich die denden Anteil am Ausbau Frauen für soziale Themen der städtischen Wohl- zuständig. Plakat der MSPD zu den Wahlen zur Nationalversamm- fahrtspflege und der Ent- lung 1919 © SPD/AdsD wicklung einer städtischen In diesem Beitrag wird zu- Sozialpolitik.4 Auch die in nächst die Bedeutung des Frauenwahlrechts für den Aus- der sozialdemokratischen Frauenbewegung engagierten bau des Wohlfahrtsstaates anhand neuerer Forschungsar- Frauen beschäftigten sich vor allem auf lokaler Ebene mit beiten dargestellt. Die Beteiligung von Frauen im Deut- Daseinsfürsorge und Armenpflege. Erst ab 1900 wandten schen Verein wird skizziert und fünf Akteurinnen werden sie sich der Wohlfahrtspflege auf Reichsebene zu.5 vorgestellt, die zu den ersten Parlamentarierinnen gehör- ten und im Deutschen Verein aktiv waren. Am Beispiel des 1) Willing, M.: Von der Armenpflege zum Sozialgesetzbuch. 125 Jahre Deutscher Verein Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (RJWG) von 1922 wird für öffentliche und private Fürsorge, in: NDV 12/2005, S. 458–474, hier: 462. 2) Vgl. Wolff, K.: Noch einmal und von vorn erzählt. Die Geschichte des Kampfes um die Wirksamkeit dieser Verbindung gezeigt. das Frauenwahlrecht in Deutschland, in: Richter, H./Wolff, K. (Hrsg.): Frauenwahl- recht. Demokratisierung der Demokratie in Deutschland und Europa, Hamburg 2018, S. 35–56, hier: 38. 1. Frauenwahlrecht und Wohlfahrtspflege 3) Vgl. Sachße, C. Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewe- gung 1871–1929, 2. Aufl., Opladen 1994. 1.1 Der politische Einfluss von Frauen im Kaiserreich 4) Wolff, K.: „Stadtmütter“. Bürgerliche Frauen und ihr Einfluss auf die Kommunalpoli- Die Einführung des aktiven und passiven Wahlrechts für tik im 19. Jahrhundert (1860–1900), Königstein/Ts. 2003, S. 199. 5) Lauterer, H.-M.: Parlamentarierinnen in Deutschland 1918/19–1949, Königstein/Ts. Frauen im Zuge der Novemberrevolution 1918 erfüllte eine 2002, S. 38. lang erhobene Forderung, die seit Mitte der 1890er-Jahre von allen Teilen der deutschen Frauenbewegung geteilt wurde.2 Unter den politischen Parteien forderte nur die Dr. Sabine Schmitt ist Historikerin und Redakteurin im SPD schon 1891 das Frauenwahlrecht. Verlag des Deutschen Vereins für öffentliche und priva- te Fürsorge e.V., Berlin. 61 NDV Februar 2019 Zahlreiche Frauen waren ehrenamtlich in der kommunalen Am 12. November 1918 erließ der Rat der Volksbeauftrag- Wohlfahrtspflege und der Schulaufsicht tätig. 1913 gab es ten das aktive und passive Wahlrecht für alle deutschen reichsweit fast 17.000 Frauen in der öffentlichen Wohl- Männer und Frauen, die das 20. Lebensjahr vollendet fahrtspflege und zuweilen besaßen sie auch das Stimm- hatten. Bei der Wahl zur verfassungsgebenden National- recht zu den sozialpolitischen Gremien.6 Umstritten war versammlung am 19. Januar 1919 wurden von 310 Kandi- allerdings die professionelle Betätigung von Frauen im so- datinnen 37 gewählt (vier Frauen rückten noch im Jahr zialen Bereich; ihre Beschäftigung in der öffentlichen Ar- 1919 nach). 9,7 % Frauen im Parlament mag gering er- menpflege blieb ein kontroverses scheinen – es war aber damals Thema. Dennoch entstanden seit ein internationaler Spitzenwert 1908 zahlreiche Ausbildungsstät- und wurde in der Bundesrepublik ten für Soziale Frauenarbeit – Deutschland erst 1983 wieder meistens auf Initiative von Ange- erreicht. hörigen der verschiedenen Flügel der Frauenbewegung, die dem Die Nationalversammlung konsti- Beispiel der Gründerin der Berli- tuierte sich am 6. Februar 1919 in ner Sozialen Frauenschule, Alice Weimar. Die neuen Parlamentari- Salomon (1872–1948) folgten.7 erinnen sahen sich mit einer ho- hen Arbeitsbelastung konfron- Mit der Tätigkeit von Frauen in tiert – vor allem hinsichtlich der der Wohlfahrtspflege verband die neuen, in Deutschland erstmals Frauenbewegung explizite Vor- demokratischen Verfassung, die stellungen einer Sozialreform. es zu erarbeiten galt. Sie beklag- Anders als die bisherige Wohltä- ten ihren mangelnden Einfluss, tigkeit sollte die – erstmals so weil sie in den Fraktionen un- genannte – „soziale Arbeit“ nicht wichtige Positionen einnahmen nur in Not geratenen Menschen und zu informellen Zirkeln keinen helfen, sondern eine gerechtere Zugang hatten.13 Besonders Gesellschaftsordnung schaffen. prob lematisch fanden sie die Ar- Diese Ideen fanden Ausdruck in beit im Plenum des Reichstags. zahlreichen Initiativen und kon- Daher engagierten sich die Parla- kret umgesetzten Projekten.8 mentarierinnen in den Reichs- Plakat der Zentrumspartei zur Nationalver- tagsausschüssen – vor allem im Einen entscheidenden Fortschritt sammlung 1919 „Ausschuß für soziale Angele- (Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung) für die politische Partizipation genheiten“. Während nur ein ge- von Frauen, dem eine größere ringer Anteil der männlichen Par- Bedeutung als dem Wahlrecht beigemessen werden lamentarier an sozialen Themen interessiert war, könnte,9 bedeutete die Verabschiedung des Vereinsrechts von 1908. Es erlaubte Frauen erstmals die Mitgliedschaft „setzten sich alle Parlamentarierinnen unabhängig von in politischen Vereinen, d.h. auch Parteien. Zahlreiche en- ihrer Parteizugehörigkeit mit sozialen Themen ausei- gagierte Frauenrechtlerinnen traten sofort in Parteien ein; nander und sie arbeiteten als Abgeordnete vorrangig die bisherigen Frauenvereine gerieten als Organisations- an sozialpolitischen Themen weiter. (...) Sie fanden hier form in den Hintergrund. Im Unterschied zu den Sozialde- einen Bereich, in dem sie sich politisch und beruflich mokratinnen, die eng mit der SPD zusammenarbeiteten, qualifizieren konnten.“14 war die katholische Frauenbewegung bis 1918 relativ un- abhängig von der katholischen Zentrumspartei. Führende Die meisten der neu gewählten Frauen bezogen sich auf Mitglieder der bürgerlichen Frauenbewegung traten 1908 die Sozialpolitik als „ureigenstes Politikfeld der Frauen“, so liberalen Parteien bei.10 1918 setzten viele linksliberale Frauen auf die neu gegründete Deutsche Demokratische 6) Bader-Zaar, B.: Politische Rechte für Frauen vor der parlamentarischen Demokrati- 11 sierung. Das kommunale und regionale Wahlrecht in Deutschland und Österreich Partei (DDP) und trugen zu deren Wahlerfolg bei. Die im langen 19. Jahrhundert, in: Richter/Wolff (Fußn. 2), S. 77–98, hier: 83 f. Erfahrung relativer Einflusslosigkeit in den Parteien führte 7) Vgl. Reinicke, P.: Die Ausbildungsstätten der sozialen Arbeit in Deutschland allerdings dazu, dass die Forderung nach einem Stimm- 1899–1945, Berlin 2012. 8) Vgl. Schröder, I.: Arbeiten für eine bessere Welt. Frauenbewegung und Sozialre- 12 recht für Frauen dringlicher wurde. form 1890–1914, Frankfurt a.M. 2001, S. 328. 9) So Heinsohn, K.: Parteien und Politik in Deutschland. Ein Vorschlag zur histori- 1.2 Die Parlamentarierinnen schen Periodisierung aus geschlechterhistorischer Sicht, in: Metzler, G./Schumann, D. (Hrsg.): Geschlechter(un)ordnung und Politik in der Weimarer Republik, Bonn Als mit dem Ende des Ersten Weltkriegs auch das Ende des 2016, S. 279–298, hier: 286. deutschen Kaiserreichs absehbar war, richteten die großen 10) Lauterer (Fußn. 5), S. 46 f. 11) Ebenda, S. 47. Sogar Alice Salomon kandidierte für die DDP, allerdings erfolglos. Frauenorganisationen fast aller politischen Richtungen am 12) Wolff (Fußn. 4), S. 206. 25. Oktober 1918 einen Brief an den Reichskanzler, in dem 13) Schröder (Fußn. 8), 77 f.; Hindenburg, B. v.: Frauen in der Weimarer Nationalver- sie das überfällige Frauenstimmrecht forderten. sammlung: Ein neuer Typ Politikerin?, in: Linnemann, D. (Hrsg.): Damenwahl! 100 Jahre Frauenwahlrecht, Frankfurt a.M. 2018, S. 162–165. 14) Lauterer (Fußn. 5), S. 39; vgl. Hindenburg (Fußn. 13), 165. 62 Februar 2019 NDV die Sozialdemokratin Marie Juchacz.15 Die weiblichen Ab- gesetz von 1923 und das Gesetz zur Bekämpfung der geordneten der katholischen Zentrumspartei leiteten aus Geschlechtskrankheiten von 1927 zählen zu den Erfolgen der Mutterschaft ein Recht auf die Gestaltung des öffent- der Parlamentarierinnen.22 lichen Lebens ab und stimmten in sozialpolitischen Fragen zum Teil mit den Sozialdemokratinnen überein.16 Auch die Darüber sollte nicht vergessen werden, dass weibliche Frauen der DDP, der dritten Weimarer Koalitionspartei, Mitglieder aller Fraktionen auch maßgeblich an der Formu- fanden, ihr Schwerpunkt solle auf sozialpolitischem Gebiet lierung der Grundrechte und der sozialpolitischen Grund- liegen.17 sätze
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