Staging Cambodia Video, Memory & Rock ’n’ Roll

www.hebbel-am-ufer.de 16.–19.1.2014 Staging Cambodia – Video, Memory & Rock ’n’ Roll

Im kollektiven Gedächtnis ist Kambodscha untrennbar The Cambodian Space Project rekonstruieren die wäh- mit den Folterungen und Morden an 1,7 Millionen Men- rend der 60er Jahre in Kambodscha entstandene Popmu- schen verbunden, die zwischen 1975 und 1979 unter der sik und überführen den Glamour jener Ära und die Tradi- Herrschaft der Roten Khmer verübt wurden. Bis heute tion der ‘Diva’ erfolgreich in die Gegenwart. Die ursprüng- zählt das Land im Südosten Asiens zu den ärmsten Län- lichen Protagonisten dieser kulturellen Blüte wurden, ge- dern der Welt. Eine international zunehmend beachtete nauso wie andere Künstler und Intellektuelle, durch das Kunstszene, das pulsierende Nachleben und eine schil- Pol-Pot-Regime verfolgt und eliminiert. lernde musikalische Subkultur stehen für das Bemühen, über die Erinnerung an die Schrecken der Vergangenheit Unter dem Titel “Clips on Cambodia” zeigt Marc Eberle im hinaus einen Blick auf Zukunft zu gewinnen. Gespräch mit Margarita Tsomou ergänzend ausgewählte Ausschnitte aus seinem umfangreichen Filmarchiv, die den Einige Anzeichen dieses Aufbruchs hat Michael Laub in Zusammenhang zwischen der kulturellen und der politi- der jüngsten Folge seiner “Portrait Series” eingefangen. schen Geschichte des Landes dokumentieren. Zwei Tage Seit 2002 setzt der Regisseur und Choreograf dieses For- später moderiert die Kulturwissenschaftlerin und Journa- mat an unterschiedlichen Orten um. Im Rahmen eines listin eine Gesprächsrunde mit Michael Laub über die Ent- langen Themenwochenendes zeigt er – erstmals in Euro - stehung und Konzeption von “Staging Cambodia”, bei der pa – seine in Battambang entstandene und im Medium auch wichtige Protagonisten seines Projekts zu Wort des Videofilms realisierte Arbeit. Die Aufnahmen mit jun- kommen: Xavier Gobin, Produzent der Phare Ponleu Selpak gen Zirkusartisten, Tänzern und Bildenden Künstlern, Association, Srey Channthy und Julien Poulson, die beiden aber auch Security Guards, Bauern, Gemüseverkäuferin- Gründer des Cambodian Space Project – und Khvay Sam- nen und Bettlern fügen sich zu einem manchmal trauri- nang, ein international renommierter Video- und Perfor- gen und verstörenden, aber auch poetischen und höchst mancekünstler, der zu Beginn des Themenwochenendes vitalen Panorama. Alle Darsteller kommen aus dem Um- eine Ausstellung mit ausgewählten Arbeiten eröffnet. Es feld der Phare Ponleu Selpak, einer NGO, die mit den Mit- werden Fotos aus seinen Serien “Human Nature” und teln der Kunst den kulturellen Wiederaufbau von Kam- “Newspaper Man” gezeigt. bodscha vorantreibt und in deren Räumen die “Portrait Series” entstanden ist. Die vorliegende Publikation versteht sich als Einführung in einen ebenso verstörenden wie faszinierenden The- Direkt im Anschluss an die Uraufführung dieser Arbeit folgt menkreis, der viel mit den schmerzvollen Prozessen der ein von Michael Laub in Szene gesetztes Konzert der in- Dekolonisierung, der fragwürdigen politischen Rolle des ternational gefeierten Band The Cambodian Space Pro- Westens in Südostasien und unserem Blick auf die Kul- ject, inklusive Musikern und Tänzern aus Phnom Penh und turen des Fernen Ostens zu tun hat. Wir hoffen, dass die Battambang. Bei der Performance kommen Visuals des in hier abgedruckten Interviews, Artikel und Begleitmate- Kambodscha lebenden Dokumentarfilmers Marc Eberle rialien zu den Künstlern und Programmpunkten neugierig zum Einsatz. Sie orientieren sich am Stil psychededeli- machen auf einen Besuch der viertägigen Veranstaltung scher Lightshows, zeigen aber auch Aufnahmen aus dem im HAU Hebbel am Ufer. Alltag der Musiker. Unter dem Titel “Galaxy Khmer” ent- steht ein flamboyanter Rock ’n’ Roll Circus, der sein Zelt Annemie Vanackere dicht am Trauma aufschlägt. und das Team des HAU Hebbel am Ufer

3 4 Fotogra fien in diesem Heft: Khvay Samnang, Serie “Human Nature” (2011). Mit herz - lichem Dank an den Künstler, Erin Gleeson und die Galerie SA SA BASSAC in Phnom Penh. www.sasabassac.com Christoph Gurk: Unter einem ‘Porträt’ verstehen wir üb- ben, weil es sich als unmöglich erwies, Leute oder heiterem Himmel zu weinen an, ohne dass ich ihnen licherweise Bilder – Gemälde oder Fotos – von Leu- Einrichtungen für dieses Projekt zu interessieren. vorher auch nur eine Frage gestellt hatte, und sie ta- ten. Seit mehr als einer Dekade interpretieren Sie Dieser Freund in Bangkok nun, der aus naheliegen- ten das in einer Sprache, von der ich kein Wort ver- dieses Genre als eine Form, in der Sie Menschen un- den Gründen sein Heimatland, Kambodscha, im Alter stehen konnte. Ich sah, dass sie hochgradig emotio- ter den Bedingungen eines Theaters zeigen, und von neun Jahren verlassen musste, erzählte mir von nalisiert waren. Aber die Gründe blieben meiner Vor- haben daraus eine Serie entwickelt, die Sie an un- einem ehemaligen Tänzer der Maurice Béjart Com- stellung überlassen, bis mir später übersetzt wurde, “I did not terschiedlichen Orten auf der Welt realisieren. pany. Er hatte in Europa alles stehen und liegenge- was sie gesagt hatten. Ein Mann redete und weinte lassen, um in einer mir damals vollkommen unbe- sogar weiter, als es einen Stromausfall gab, das Licht Michael Laub: Nicht, dass ich mich mit Federico Fellini kannten Stadt namens Battambang bei einer NGO ausging und meine Kamera zum Stillstand kam. Wir vergleichen möchte. Aber durch seinen Film “Roma” zu arbeiten. Der Freund in Bangkok schlug mir vor, konnten ihn im Dunkeln nicht mehr sehen und hörten bin ich auf die Idee gekommen, ich sollte diesen Tänzer, der sich nur noch seine Stimme. Es wurde immer interessan- dass es interessant sein könnte, “Die Personen pro- später als überaus charmante ter. So kam ich mit der Zeit auf den Gedanken, meine die Serie in verschiedenen Städ- jizieren ein Bild Person herausstellen sollte, viel- nächste “Portrait Series” genau an diesem Ort zu er- ten fortzuführen, nachdem ich leicht einfach mal besuchen. Also arbeiten. look for the davon, wer sie sein die erste Folge als Auftragsarbeit reisten wir nach Battambang, lie- in Hamburg inszeniert hatte. Da- möchten.” fen in dem Gebäudekomplex he- CG: Warum haben Sie sich entschieden, diese Folge mals arbeitete ich in der italieni- rum, der die Phare Ponleu Selpak nicht für die Theaterbühne zu produzieren, son- schen Hauptstadt an einem Por- Association beherbergt, und dern alles auf Video festzuhalten? stellten fest, dass es da eine Zirkusschule gab, eine trät von Marina Abramović und ihrem Werk. Ich hielt es von Anfang an für eine Falle, auf diese Weise eine Musikschule, eine Kunstschule. ML: Jede andere Lösung erwies sich sehr schnell als ganze Metropole repräsentieren zu wollen. Genauso völlig impraktikabel. Die meisten Protagonisten wa- trauma. It vermessen wäre der Anspruch, überhaupt auch nur CG: Soweit ich weiß, verfolgt diese NGO das Ziel, die ren einfach nicht mobil genug. Es wäre schon ein eine Person porträtieren zu können. Was mich an kulturellen Traditionen, die in Kambodscha durch Problem gewesen, sie nach Phnom Penh zu bringen. diesem Format am meisten interessiert, ist ganz im das Pol-Pot-Regime nahezu vollständig ausge- Von einer Reise nach Europa ganz zu schweigen. Gegenteil, wie etwas gezeigt und gerahmt werden löscht worden waren, mit den Mitteln der Kunst kann, das meiner eigenen Aufmerksamkeit entgan- wiederzubeleben. CG: Einige der Menschen, die in den nun entstande- gen ist. Wie kommt das ins Bild? Je länger ich an die- nen Videos zu sehen sind, scheinen auf schwerste ser Serie sitze, desto klarer wird für mich, dass die ML: Die Organisation wurde in den 90er Jahren von Weise traumatisiert zu sein. Wäre es nicht schon Personen, mit denen ich arbeite, auf der Bühne oder acht Menschen, die sich in einem Flüchtlingscamp aus diesem Grund unmöglich gewesen, sie jeden came to me.” im Film vielleicht gar nicht so sehr ein Bild – ein kennengelernt hatten, Schritt für Schritt aufgebaut. Abend auf eine Theaterbühne zu stellen? Wenn Image – von dem projizieren, wer sie sind, sondern Wenn Sie heute diesen Ort betreten, hören Sie aus das, wie Sie anfangs bereits sagten, schon bei je- davon, wer sie sein möchten. Es gehört zu den inte- der einen Ecke wundervolle Musik. In einem anderen dem Nichtprofessionellen ein Problem ist, wie un- ressantesten Herausforderungen an meiner “Portrait Gebäude sieht man Zirkusartisten, die sich mit Deh- vorhersehbar müssen die Resultate dann in diesem Michael Laub über die Schwierigkeiten, lebendige Series”, dass ich bei dem Vorgang, Menschen auf die nungsübungen für ihre Proben vorbereiten. Das alles Fall sein, ganz abgesehen von den ethischen Pro- Bühne zu bringen, sehr schnell an die Grenzen des ist eine herrliche Kakophonie der Klänge und Aktivi- blemen, die das mit sich gebracht hätte? Menschen auf die Bühne und auf eine Leinwand zu Theaters stoße. Eine Person, die noch am Vorabend täten. Eigentlich hasse ich die Welt der Schaustelle- eine vollkommen glaubhafte Darstellung hingelegt rei. Wenn ich als Kind zum Zirkus mitgenommen ML: Gleich in einer der ersten Szenen des Videos mei- bringen, seine “Portrait Series Battambang” und das hat, kann schon bei der nächsten Vorstellung große wurde, hat mich das jedes Mal so deprimiert, dass ich ner “Portrait Series Battambang” ist eine Frau zu se- Schwierigkeiten haben, bei genau dem gleichen Vor- weinen musste. Aber das hier, in Battambang, war hen, die in Tränen ausbricht, weil ihr Mann trinkt und gang eine Integrität zu entwickeln – ganz einfach, ein anderer Fall. Nachdem ich die Phare Ponleu Sel- sie von ihm geschlagen wird. Ähnlich gelagerte Ge- Themenwochenende “Staging Cambodia – Video, weil sich in der Zwischenzeit ihre Laune geändert pak mehrfach aufgesucht hatte, dachte ich mir, wa- schichten musste ich in meiner “Portrait Series Is- hat. Das alles sind Möglichkeiten und Unwägbarkei- rum mache ich hier nicht einfach einen Workshop? tanbul” verarbeiten. Häusliche Gewalt scheint leider Memory & Rock ’n’ Roll” im HAU Hebbel am Ufer ten, um die wir herumarbeiten müssen, wenn wir Es war klar, dass schon die technologische Infra- ein weltweit verbreitetes Phänomen zu sein. Das ist über die Spielsituation nachdenken. Wir brauchen, struktur, die ich vorfand, bei wei- keinesfalls nur auf die Gesell- ➞ For an English version please see www.hebbel-am-ufer.de nur um ein Beispiel zu geben, einen Text, der selbst term nicht ausreichte, um hier “Häusliche Gewalt schaft in Kambodscha begrenzt. dann noch seine Gültigkeit behält, wenn er auf un- eine Arbeit, wie man sie sonst von scheint leider ein In einer der nächsten Einstellun- terschiedliche Weise gesprochen wird. mir kennt, realisieren zu können. gen meines Videos betritt eine Sie wissen, ich bin Perfektionist. weltweit verbreitetes Dame die Bühne, die mehr oder CG: Zuletzt haben Sie eine “Portrait Series” am Trotzdem mache ich solche Pro- Phänomen zu sein.” weniger der gleichen Situation Burgtheater in Wien gemacht. Warum nun in Bat- jekte hin und wieder ganz gerne, ausgesetzt war. Ihr Mann hat sie tambang? denn sie geben mir die Möglich- vielleicht nicht geschlagen. Aber keit zum Experimentieren, ohne den Druck zu haben, dafür nahm er auf der Arbeit eine Woche frei, ließ ML: Es ist von zentraler Bedeutung für dieses Projekt, den eine internationale Produktion mit sich bringt. sich zulaufen und ließ dann seine Frau ohne Geld dass alles an dieser Arbeit und den Umständen, un- Es gefällt mir, Situationen herzustellen, bei denen und mit fünf Kindern zurück. Nach den ersten Auf- ter denen sie zustande kam, das Produkt einer Viel- man vorher nicht weiß, welche Richtung die Arbeit nahmen brachte ich einige Darsteller zurück an das zahl von Zufällen ist. Als ich in Bangkok war, traf ich annehmen wird. Bei den Vorbereitungen kam ich Set, zum Teil, weil ich nicht wirklich verstanden einen Freund, der wusste, dass ich mich Ende der mehr und mehr mit der Community aus dem Umfeld hatte oder noch einmal nachhören wollte, was sie 90er Jahre eine Zeitlang in Phnom Penh aufgehalten der NGO in Kontakt. Da gab es jemanden, der für die uns mitteilen möchten. Ich fand es unglaublich, dass hatte. Die Atmosphäre dort war damals noch eine Leute hier kochte, dann war da ein Security Guard, sie die Fähigkeit hatten, zu ihrem Trauma zurückzu- ganz andere als heute. Es gab eine sehr spezielle Menschen aus den umliegenden Dörfern. Für den kehren, und jedes Mal, wenn sie vor die Kamera tra- und merkwürdige Community von Fremden, die re- Workshop selber brachte ich dann das blaue Papier ten, wieder zu weinen anfingen. Manche von ihnen gelmäßig dorthin reisten oder da sogar lebten. Das mit, das ich in allen Folgen meiner “Portrait Series” drei Tage lang in Folge. Das war der Punkt, an dem alles war für mich sehr faszinierend. Ich unternahm als Hintergrund verwende. Auf einmal geschahen ich mich selber fragen musste, was ich hier eigent- seinerzeit mehrere Versuche, in Phnom Penh eine Ar- merkwürdige Dinge. Sobald einige dieser Leute lich mache. Ich schaue diesen Frauen beim Weinen beit zu realisieren, musste aber den Plan bald aufge- meine improvisierte Bühne betraten, fingen sie aus zu, genauso einigen der Männer, die das Gleiche tun,

7 8 ich entwickle Empathie für sie – aber was stelle ich CG: Könnte man sagen, dass das Setting selber ein CG: Ich nehme an, dass die psychische Wirklichkeit damit bloß an? Aus diesem Grund habe ich mich für durchgängiges Thema ihrer “Portrait Series” ist? der Menschen in Kambodscha nicht so ohne wei- eine Einstellung entschieden, in der ich fünf Frauen Sie stellen den Performern nicht nur das blaue Pa- teres wahrnehmbar ist, wenn man durch die Stra- zeige, sie orchestriere, die gleichzeitig und zum Teil pier als Hintergrund zur Verfügung. Das Format als ßen seiner Städte geht. aus unterschiedlichen Gründen losheulen. Die Dar- solches ist wie eine Leinwand, vor der Personen in steller fanden nicht abseitig oder merkwürdig, was Erscheinung treten können. Sie werden in ihrer Un- ML: Als ich in den 90er Jahren erstmals nach Phnom ich tat, denn sie besaßen auch Humor und die Mög- terschiedlichkeit sichtbar, indem das immer glei- Penh fuhr, war das Trauma überall spürbar, wo auch lichkeit, zu sich selbst und zu dem, was sie machen, che Verfahren auf sie angewendet wird. Ihre Arbei- immer ich mich bewegte. Es kann natürlich sein, eine Distanz einzunehmen und ihre Szene in immer ten machen diesen Prozess selbstreflexiv, viel- dass das einfach nur meine Projektion war, aber so gleicher Weise auf die Bühne zu bringen. leicht auf ähnliche Weise, wie es in der Serie habe ich es empfunden. Heute ist die Vergangenheit “Screen Test” von Andy Warhol geschieht. viel weniger präsent. Sie sehen lächelnde Kinder, die CG: In den Videoaufnahmen sprechen die Men- das alles nicht durchleben mussten. schen natürlich nicht nur über häusliche Gewalt, ML: Das ist absolut korrekt. Ich verwende aus Grün- sondern auch über die schrecklichen Verbre- den, die hier zu weit führen würden, durchaus un- CG: Würden Sie tatsächlich sagen, dass die jungen chen, die ihnen in der zweiten terschiedliche Farben als Hinter- Menschen, die in Ihrem Video vorkommen, genau - Häfte der 70er Jahre unter der “Die Menschen grund, aber das Blau spielt eine so sind wie überall sonst auf der Welt? Diktatur der Roten Khmer wie- brachen auf einmal wichtige Rolle. Es ist nicht so, derfahren sind und die sie – dass ich ständig die gleiche For- ML: Leute, die Modedesigner oder Filmstars werden zum Teil – nur aus purem Zufall in Tränen aus.” mel wiederhole. Indem ich immer wollen, begegnen mir in der Tat ständig, an den ver- überlebt haben. Einige dieser dieselbe Form nehme, die mehr schiedensten Orten. Es kommen auch Menschen in Szene haben mich an “Shoa” oder weniger identische Szeno- dem Video vor, die einfach zufrieden mit dem sind, erinnert, den großartigen Film von Claude Lanz- grafie, und sie auf ein bestimmtes Material über- was sie hier tun und was ihnen die Phare Ponleu Sel- mann über den Holocaust. Finden Sie diesen Ver- trage, wird das Setting selber aussagekräftig. Die so pak an Möglichkeiten anbietet – im übrigen, ohne da- gleich nachvollziehbar? entstehenden Ergebnisse sind jeweils radikal – und für Geld zu verlangen. ich meine wirklich radikal – unterschiedlich. Meine ML: Ja. Ich muss aber noch mehr an Rithy Panhs Film Arbeit besteht darin, genau diese Differenzen her- CG: Ihnen ist sicher bekannt, dass Traumata, wie “S-21: The Khmer Rouge Killing Machine” denken – vortreten zu lassen, und mich mit den Implikationen sie beispielsweise durch Kriege und Genozide oder an “The Act Of Killing”, eine Dokumentation, in und möglichen Konsequenzen von dem zu beschäf- entstehen, über Generationen hinweg weiterver- der drei Mitglieder eines Todesschwadrons in Indo- tigen, was so entsteht. An diesem Punkt wird mir erbt werden, ohne dass es den Betroffenen sel- nesien ihre schrecklichen Taten nachspielen. Was der kollaborative Charakter der “Portrait Series” ber bewusst ist. Claude Lanzmann angeht, der Unterschied zwischen wichtig. Im Grunde handelt es sich hier um eine In- seiner und meiner Arbeit in Battambang besteht da- teraktion zwischen den Darstellern, dem Setting ML: Ja, obwohl meine Protagonisten ganz gewöhn- rin, dass er sich seinen Gegenstand ausgesucht hat. und mir. Die Menschen auf der Bühne oder auf der liche junge Erwachsene mit Wünschen und Sehn- “Shoa” ist das Ergebnis einer Recherche unter Tätern Leinwand haben die letzte Entscheidung, welches süchten sind, wie sie überall in einer globalisierten und Überlebenden des Holocaust... Material verwendet werden darf und was nicht. For- Welt anzutreffen sind, gibt es sicher auch hier die mulieren sie einen Einspruch, Dimension des Posttraumati- CG: ...die Lanzmann gefilmt hat, weil er wusste, dass fliegt die jeweilige Szene aus der “Es gibt hier die schen. Was sie wirklich, auf ganz diese Menschen möglicherweise nicht mehr lange Arbeit. Ohne jede Diskussion. Dimension des Post - greifbare Weise, von anderen leben werden und damit ein Stück der Erinnerung Beim Dreh in Battambang gab es unterscheidet, sind die Gründe, an das, was damals geschehen ist, unwiederbring- eine Frau, die ausgesprochen traumatischen.” die sie für Ihre Berufswünsche lich verlorengeht. Er hat den Film in der Ansicht ge- schlecht über ihre direkte soziale nennen. Ihnen geht es darum, macht, dass ihm, und niemand anderem, die histo- Umgebung redet. Bevor ich die genügend Geld zu verdienen, da- rische Aufgabe zugefallen ist, diese Gespräche zu Arbeit mit nach Europa nehme, habe ich sie den mit sie ihre gesamte Familie ernähren können. Das dokumentieren. Menschen vor Ort öffentlich vorgeführt, um zu habe ich in der Form vorher noch nicht gehört. schauen, welche Reaktionen sie auslöst. Aus die- ML: Claude Lanzmann hat nach dem Trauma gesucht. sem Grund habe ich die Darstellerin gefragt, ob sie CG: Das sagt übrigens auch die Sexarbeiterin in Ih- Im Fall meiner Arbeit ist es zu mir gekommen, ohne diese negativen Kommentare wirklich in dem Video rem Video... dass ich es vorher selber entschieden hatte. Mein haben will, denn die Menschen, über die sie spricht, erster Eindruck von dem sozialen Umfeld der NGO könnten im gleichen Raum sein, in dem es gezeigt ML: ...und es gilt ebenso für die jungen Artisten. Sie war, dass da Leute sind, die aus den unterschied- wird, und das könnte für sie unangenehme Folgen werden in der NGO zu Profis ausgebildet, die sich lichsten Generationen kommen und die den ver- mit sich bringen. Ich war überrascht, dass sie alles dann der von ihr betriebenen Zirkustruppe anschlie- schiedensten Tätigkeiten nachgehen. Wie gesagt, so haben wollte, wie wir es nun sehen können. ßen können. Das ist mittlerweile eine in ganz Südost- ein buntes und geschäftiges Treiben. Ich hatte nicht asien respektierte Company. Die Schaustellerei zählt damit gerechnet, dass sie mir Menschen schicken, CG: Liegt es an diesem Setting, dass die Men- zu zentralen Tätigkeiten innerhalb der Phare Ponleu die auf einmal in Tränen ausbrechen. Manche davon schen auf einmal etwas aussprechen oder aus- Selpak Association. Sie hält die Community zusam- reagieren damit einfach auf die Situation, die sie in agieren, was sie in ihrer gewohnten Umgebung men. Wenn Sie von Phnom Penh mit dem Bus oder der Gegenwart erleben. Und in meinem Video sieht nie tun würden? mit dem Auto nach Siem Reap fahren wollen, eines man ja auch junge, trendige Leute, die erzählen, wa- der wichtigsten Reiseziele in Kambodscha, mit einer rum sie einen Job als Model in der Modebranche ha- ML: Ich erinnere mich, dass ich einmal an einer Uni- wunderschönen Landschaft, dann ist Battambang, ben oder ein Filmstar werden wollen. Die könnte es versität in Berlin war und dort mit Studenten als drittgrößte Stadt des Landes, fast die einzig mög- genauso in Rotterdam geben. Was mich bei meinen sprach. Sobald ich das Setting der “Portrait Series” liche Zwischenstation. Aus diesem Grund kommen “Portrait Series” am meisten interessiert, ist die aufgebaut hatte, veränderte sich schlagartig, was Nacht für Nacht viele Touristen auf das Gelände der Frage, was geschieht, wenn man sich Menschen aus sie sagten und wie sie sich bewegten. Ich sagte zu NGO. Um diese Uhrzeit gibt es eigentlich nichts, was völlig unterschiedlichen Generationen und Milieus den Studenten: Da seht ihr, wie wichtig dieses Pa- man sonst dort unternehmen kann. Man geht in den auf die gleiche Weise nähert. pier hinter euren Rücken ist. Zirkus. Bei den Arbeiten zu meiner “Portrait Series”

9 10 hat mich die Phare Ponleu Selpak so gut unterstützt, ML: Grundsätzlich denke ich, dass wir in post-exoti- wirklich wird – aber das ist auch der Fall, wenn etwas der Phare Ponleu Selpak gibt es einen besonders Fiction. Dann gibt es Marc Eberle, das ist ein Filme- über alles verehre. Offen gestanden, gefallen mir wie es nur ging. Aber die Verantwortlichen sagten mir schen Zeiten leben. Für relativ wenig Geld können zu schön ist. Diese Verwirrung wird in dem fertigen faszinierenden Musiker. Er heißt Vanthan und kann macher aus Deutschland, mit dem ich beim gleichen seine Fotos so viel besser als meine eigenen Por- auch: “Was Sie machen, können wir hier eigentlich die Menschen innerhalb von Stunden an nahezu je- Werk auf für mich geradezu schmerzhafte Weise sich alle möglichen Stile in ungeheurer Geschwin- Konzert des Cambodian Space Project bekannt ge- traits – und wenn ich ihn schon um sein Werk so nicht zeigen. Es wird die Menschen, die Zerstreuung den Ort gelangen. Es gibt eigentlich keine Notwen- wahrnehmbar, weitaus mehr als in meinen Theater- digkeit aneignen. Carlos Santana ist sein größtes worden bin. Wie sich herausstellte, drehte er nicht sehr beneide, dann sollten die Bilder im Rahmen und Unterhaltung suchen, wie Hölle deprimieren.” digkeit mehr für Postkartenaufnahmen von Traum- arbeiten. Die sind wesentlich slicker, eine völlig an- musikalisches Vorbild. Aber er ist genauso in der nur gerade eine Dokumentation über die Band, son- unseres kleinen Festivals auch zu sehen sein. zielen, wenn man selber dorthin fahren kann. Bei der dere Welt. Mir gefällt das, und es ist auch leichter für Lage, traditionelle Khmer-Instrumente zu spielen. dern hatte auch einen Teil des Videomaterials bei- CG: Was ist mit den Bildenden Künstlern, die bei der Arbeit an der “Portrait Series” hatte ich aber an ei- mich zu ertragen. Das Pol-Pot-Regime hat versucht, auch diese kultu- gesteuert, das die Gruppe bei ihren Konzerten an die Phare Ponleu Selpak ausgebildet werden? nem gewissen Punkt das Gefühl, dass das alles sehr rellen Errungenschaften zum Verschwinden zu brin- Wand werfen lässt. Das sind Projektionen in der Tra- klaustrophobisch ist. Wenn es zu stickig wird, muss CG: Ich bin mir sicher, Sie haben sich mit der Gefahr gen. Wissen Sie, mein Interesse an Kambodscha und dition neo-psychedelischer Lightshows. Ich fand he- Christoph Gurk arbeitet als Kurator im Auf- ML: Das ist im Grunde das gleiche ökonomische Modell. man einen Raum zwischendurch auch verlassen, um auseinandergesetzt, Sie könnten die Menschen, seiner Geschichte hatte seinen Ausgangspunkt in raus, dass Marc einen Zugang zu Archivmaterial hat, ➞ trag des HAU Hebbel am Ufer und als freier Jour- Die NGO versetzt sie in die Lage, mit der Kunst ihren ihn dann wieder betreten zu können. Mit den Außen- die Sie zeigen, für Ihre Intentionen ausbeuten. meiner Auseinandersetzung mit dem Film und da vor das ich noch nie zuvor gesehen hatte, auch über nalist. Lebensunterhalt zu bestreiten. Es gibt eine Reihe von aufnahmen wollte ich mir und meinen Zuschauern allem mit “Apocalypse Now”. Bands aus den 60er Jahren. Das alles war extrem ML: Künstlern, die ihre Arbeit nicht nur in Battambang eine Erleichterung gönnen. Aber nur, damit es mit Klar, und wir haben alles dafür getan, das auszu- merkwürdiger und spannender Stoff. So entstand ➞ Michael Laub, in Belgien geboren, ist Regisseur oder in Phnom Penh zeigen, sondern auch internatio- den “Portraits” weitergehen kann. Daher machen die schließen, indem wir den Leuten, wie bereits er- CG: Das von Francis Ford Coppola gedrehte Werk die Idee zu einem Rock-’n’-Roll-Zirkus mit dem Cam- und Choreograf für zeitgenössischen Tanz. Seine nal, in Übersee. Die Sexarbeiterin, die Sie vorhin er- Außenaufnahmen insgesamt nur drei Minuten der wähnt, ein Vetorecht bei der Auswahl der Szenen behandelt die Konvergenz der Gegenkultur der bodian Space Project, mit Musikern und Tänzern aus Arbeiten waren unter anderem auf der Biennale wähnten, hat mit ihrer Tätigkeit natürlich ein Problem. Gesamtlänge aus. eingeräumt und uns mit ihnen 60er Jahre mit den Verwüstungen, die von den Phnom Penh und dem Umfeld der NGO und mit Vi- von Venedig 1984, der Weltausstellung in Sevilla Sie schämt sich. Klar, auch die Künstler haben, wie “Ich versuche, die auch außerhalb der Dreharbeiten nordamerikanischen Streitkräften im Vietkong deomaterial von Marc und mir. 1992 und beim Festival d’Avignon 2005 zu sehen. überall auf der Welt, mitunter Konflikte mit ihren El- CG: Sozusagen ein kleiner Spa- intensiv beschäftigt haben. Es angerichtet wurden, erzählt als die Geschichte Vielfach wurde er als Minimalist und “einer der Menschen, die hier Gründungsväter des Anti-Illusionstheaters” be- tern, weil die sich von ihren Kindern wünschen, dass ziergang durch die Nachbarschaft, sind Freundschaften entstanden. eines Rock-’n’-Roll-Krieges. CG: Verstehen Sie dieses Konzertformat als eine zeichnet. Michael Laubs künstlerische Laufbahn sie einem ‘richtigen’ Beruf nachgehen. Aber das ist na- leben, sichtbar Ich hoffe, in dem Video wird deut- Erweiterung oder Fortsetzung der Methode, die bevor man an den Schreib tisch begann Mitte der 70er Jahre in Stockholm, wo er werden zu lassen.” ML: türlich etwas ganz anderes als im Fall der Sexarbei- zurückkehrt. lich, dass wir keine Menschen vor Ich habe den Soundtrack immer geliebt und Sie mit ihrer “Portrait Series” verfolgen? mit Edmundo Za die Maniac Productions gründete terin. Was sie tut, ist auch in Kambodscha verrufen. uns haben, die zu dumm sind, um konnte nicht anders, als mir den Film wieder und und leitete. Sie galten als Innovatoren, vor allem ML: Genau. Eine Einstellung der In- verstehen zu können, was sie wieder anzuschauen. Während meiner ersten Reisen ML: Als ich die Aufnahmen in Battambang fertigge- durch ihre Kombination von Performancekunst und CG: In ihrem Video arbeiten sie mit höchst hetero- nenstadt von Battambang, dann der Weg von da tun. Manche von ihnen haben zu Fuß einen langen in das südostasiatische Land, in den späten 90er stellt hatte, musste ich feststellen, dass das Ergeb- Videoinstallationen. Mit der Gründung der Remote genen Materialien, die Sie aus Ihren Dreharbeiten aus zur NGO, schließlich die Tür, die zum Studio führt, Weg zurückgelegt, um zu uns zu kommen und ihre Jahren, gab mir jemand ein Album mit dem Titel nis eine weitaus deprimierendere Wirkung entfaltet, Control Productions 1981 rückte Laubs Arbeit nä- gewonnen haben. In welchem Ausmaß sind sie das in dem wir gedreht haben. Geschichten erzählen zu können. “Cambodia Rock”. So eine Musik hatte ich noch nie als ich es ursprünglich geplant hatte. Meine Freunde her an das Theater heran. Bis heute hat er als Leiter Ergebnis einer Inszenierung? gehört. Rockmusik im Stil der 60er Jahre, der eine von der NGO wollten dennoch, dass ich die “Portrait dieser Company mehr als 20 Stücke inszeniert. Mit “Portraits 360 Seconds” (2002) drang der Regis- CG: Wo würden Sie eigentlich die politische Dimen- CG: Ich hatte zu keinem Moment den Eindruck, dass Verbindung mit lokalen Traditionen und Stilen ein- Series” auf ihrem Gelände aufführe, unter Ausschluss seur und Choreograf zur Idee einer kollektiven Per- ML: Ihre Protagonisten in dem Video ihre Opferrolle ein- Nun, im Falle der älteren und offenkundig trau- sion an dem verorten, was Sie tun? Welches Ver- gegangen ist. Ich gab die Platte meinem Sohn, der der Touristen, die in die Stadt kommen. Sie machten formance vor und in der Folge zu einem Konzept matisierten Menschen sind wir hin und wieder sogar hältnis haben Sie zu dokumentaristischen Ansät- fach nur wiederholen und so ihre zum Teil leidvol- sie als DJ bei einem studentischen Radiosender zum mir aber den Vorschlag, im Anschluss ein Konzert zu des Seriellen. 2004 schuf er ein Porträt von Marina beim ersten Take geblieben, weil wir ihnen die Er- zen, die im Theater genauso wie in der Bildenden len Geschichten weiterschreiben. Im Gegenteil, mir Einsatz brachte. Das stieß offenbar auf großes Inte- veranstalten, um den Menschen im Publikum nach Abramović und ihrer Arbeit (“The Biography Re- fahrung, das alles noch einmal zu durchleben, mög- Kunst momentan eine so wichtige Rolle spielen? scheint, sie gewinnen im Vorgang der Performance resse. Sehr viel später kam ich ein zweites Mal mit dem Gesehenen ein wenig Unterhaltung zu gönnen. mix”). Ab 2007 wurde das Konzept auf unter- lichst ersparen wollten. Aus diesem Grund wirken eine ungeheure Würde. dieser Musik in Berührung, als ich auf Dengue Fever Bei der ersten Show traten ausschließlich Musiker schiedliche Orte ausgeweitet. So entstanden “Por- einige der Einstellungen so unfertig. Sie unterschei- ML: Sie müssen wissen, dass ich mich absolut nicht stieß, eine bahnbrechende Band, die California aus dem Umfeld der Phare Ponleu Selpak auf. Es trait Series Berlin” (2007), “Portrait Series Istanbul” den sich grundlegend von dem, was ich üblicher- als Soziologe sehe, wenn ich durch eine Stadt gehe ML: Es erleichtert mich, wenn Sie das sagen, und ge- Sound und Khmer Rock zusammenbringt und an der stellte sich heraus, dass ich damit den Leuten von (2010), “Portrait Series Rotterdam” (2010), “Burg- porträts Wien” (2011) und zuletzt “Portrait Series weise zu erreichen versuche. Wir haben uns ent- und versuche, die Menschen, die in ihr leben, sicht- nau das hat auch eine lokale Zeitung nach dem Westküste der Vereinigten Staaten lebt. Sie besteht der NGO nicht einfach nur einen Gefallen getan Battambang”. Neben seinen Inszenierungen hatte schieden, sie trotzdem in die Arbeit aufzunehmen. bar werden zu lassen. Genauso wenig verfolge ich Screening in Battambang geschrieben. überwiegend aus Amerikanern, hatte. Das Paket machte insge- Michael Laub Gastprofessuren an der Universität Die Alternative wäre gewesen, nichts von dem Lei- einen historischen Ansatz. Ich verstehe mich nicht die Kambodscha bereist hatten. “Die Bilder von samt Sinn. Als wir über ein weite- Gießen, der Freien Universität Berlin und der Norwe- CG: den dieser Menschen zu zeigen. Es gibt wiederum einmal als Pädagoge, sondern spreche immer aus Nach der Aufführung der “Portrait Series Bat- Zurück in Los Angeles, lernten sie Khvay Samnang res Screening nachdachten, kam gischen Theaterakademie inne. Er war Jubiläums- andere Aufnahmen, wie zum Beispiel die Choreo- der Position des Künstlers. Gleichzeitig ist natürlich tambang” im HAU gibt es am gleichen Abend noch in einer Karaoke Bar, in einem ich schließlich auf die Idee, diese schlugen wie ein stipendiat des DAAD 2006/07. Seit 2011 lehrt er an grafie der fünf weinenden Frauen, die durch und klar, dass ich es mir zu einfach mache, wenn ich das einen zweiten Veranstaltungsteil: ein Konzert der Stadtteil namens Little Phnom Musiker gemeinsam mit dem der HfG Karlsruhe. durch inszeniert sind. Diese Darstellerinnen haben so beschreibe. Sagen wir, ich habe ein Problem mit Band The Cambodian Space Project, womit Sie ei- Penh, die zukünftige Sängerin ih- Blitz bei mir ein.” Cambodian Space Project auf die hart gearbeitet und intensiv geprobt, um das auf militanter Kunst, die Bewertungen abgibt und poli- nen Themenkreis anschneiden, der im Video nur rer Gruppe kennen. Sie kommt als Bühne zu bringen. Ich mag diese ➞ Die Phare Ponleu Selpak Association (PPSA) – die Bühne bringen zu können. Vereinfacht gesagt, tische Geltungsansprüche formuliert. Eine Werkreihe am Rande vorkommt. Die Geschichte des Rock ’n’ einziges Mitglied tatsächlich aus Kombination von Screening und Arts for Human Education ist eine kambodscha- nische Nichtregierungsorganisation, gegründet ist diese “Portrait Series” eine Mischung aus bei- wie “Electric Chair” von Andy Warhol ist in meinen Roll in Kambodscha, die Aneignung dieser anglo- dem Land. The Cambodian Space Project lernte ich Konzert, denn sie zeigt zwei Aspekte, zwei Gesich- 1994 von acht jungen Kambodschanern, die nach dem. Ich mag rohes, aber genauso sehr auch hoch- amerikanischen Ausdrucksform durch die Khmer, wiederum kennen, als ich während meines Aufent- ter, der gleichen Angelegenheit, um die es hier geht, Augen ein unendlich produktiveres Statement ge- einer Kindheit im Flüchtlingscamp an der thailän- artifizielles Material. Da ich mich gen die Todesstrafe als ein Pam- die kulturelle Blütezeit, die das Land in den 60er halts in Battambang hin und wieder in die Haupt- und deshalb gehen wir damit nun auch nach Europa. disch-kambodschanischen Grenze in ihr Land zu- darauf beschränken musste, mit “Beim Videodreh phlet – gerade weil der Künstler Jahren erlebte, die nahezu vollständige Ausrot- stadt fuhr. Alle sprachen über die Band. Ich schaute rückgekehrt waren. Die Organisation unterstützt CG: Videotechnologie zu arbeiten, ist agiere ich weit - keine Position zu dem einnimmt, tung ihrer Protagonisten zu Zeiten des Pol-Pot-Re- mir ihre Seite im Internet an und hatte das Glück, Es scheint Ihnen wichtig zu sein, dass im Rah- Kinder, junge Erwachsene und deren Familien so- das Ergebnis ohnehin für mich was er zeigt. Mich interessiert der gimes, die Wiederentdeckung und die Fortführung dass die Gruppe an einem der Abende ein Konzert in men der mehrtägigen Veranstaltung im HAU Heb- zial, emotional, kulturell und durch Bildungsmaß- ein Kompromiss. Ich habe 40 gehend als Laie.” Punkt, die Grenzlinie, die Border- dieser Traditionslinie durch eine nachgewachsene einem kleinen Lokal gab. Die mussten über eine bel am Ufer, die wir unter das Motto “Staging Cam- nahmen. Durch ihre Initiativen will sie beim Wieder- Jahre lang gelernt, Musik und line, an der Realität in Fiktion Generation von Musikern. fürchterliche Anlage spielen. Ein wirklich schauder- bodia – Video, Memory & Rock ’n’ Roll” gestellt ha- aufbau des Landes helfen und die Anerkennung Tanz auf einer Bühne zusammen- übergeht, ohne dass die gesell- hafter Sound. Aber es war faszinierend zu beobach- ben, auch Arbeiten des Bildenden Künstlers Khvay von Kultur und Kunst der Khmer fördern. 2012 hat - te die öffentliche Schule des Zentrums 762 Schüler, zuführen, und ich fühle mich sicher, wenn ich in die- schaftliche Wirklichkeit, die das Material hervor- ML: Diese Zusammenarbeit kam durch die Tatsache ten, wie die Musik dem Zweck dient, die Leute zum Samnang gezeigt werden. Warum? die Kunstschule 270 und eine der Schulen für Dar- sem Medium arbeite. Bei einem Videodreh ist das bringt, mit dem ich mich beschäftige, zum Ver- zustande, dass drei Mitglieder der Gruppe für die Tanzen zu bringen. Je näher ich mit der Band be- stellende Künste 245. Insgesamt erreicht PPSA mo- ML: anders. Da agiere ich weitgehend als Laie, und dem- schwinden gebracht wird. Jemand hat einmal über NGO arbeiten. Der Organisation geht es nicht nur um kannt wurde, desto mehr entfaltete sich vor meinen Diese Bekanntschaft ist ebenfalls ein Ergebnis mentan 801 Familien rund um ihren Sitz im Dorf An entsprechend sieht auch die fertiggestellte Arbeit meine Arbeit gesagt, was ich zeige, sei so real, dass die Wiederherstellung von dem, was in den “Roaring Augen ein hochinteressanter Mikrokosmos. Julien meiner Reisen nach Phnom Penh. Als ich durch die Char. Die Programme sind vom Innenministerium aus. Ein einziges Durcheinander. es aufhört, genau das zu sein. Das ist vielleicht der Sixties” geschehen ist, sondern auch um die Neube- Poulson ist offenbar genauso von “Apocalypse Now” Stadt ging, sah ich ein Poster, auf dem das “Inter- und dem kambodschanischen Entwicklungsrat an- eigentliche Grund, warum mich einerseits rohe Auf- lebung des Royal Ballet Of Cambodia. Die Roten angezogen wie ich auch. Die Sängerin, Srey Chann- national Photography Festival” angekündigt wur - erkannt; PPSA ist ordentliches Mitglied der kambo- CG: Neben den “Portraits” von Menschen, die über- nahmen, wie wir sie im Video sehen, so sehr interes- Khmer verfolgten den irrsinnigen Plan, die Kultur des thy, verehrt die Kultur der Diva, die es in den 60er de. Darauf war eine seiner Aufnahmen abgebildet. dschanischen Kommission für Zusammenarbeit. Es wiegend im gleichen Raum entstanden zu sein sieren, und andererseits das Artifizielle. Offenbar gibt Landes insgesamt zu zerstören. Zu den ersten, die Jahren gegeben hat. Alle zusammen beschäftigen Die schlug wie ein Blitz bei mir ein. Wenn er mas- bestehen unter anderem Partnerschaften mit der Philippine Educational Theatre Association, dem scheinen, hat auch eine Reihe von in Battambang es da einen Konflikt. Ich habe ein starkes Verlangen umgebracht wurden, zählten die Künstler und die sich viel mit Design. Sie entwerfen ihre eigenen Pos- kierte Menschen in ihrer Wohnumgebung zeigt, Theatre du Soleil, der Music for One Foundation (Ko- entstandenen Außenaufnahmen ihren Weg ins Vi- buddhistischen Mönche. Im Grunde traf es alle, die ter und T-Shirts, es gibt auch einen Kontext inner- dann wirkt das auf mich wie die Khmer-Version ei- nach Authentizität, und genauso den Wunsch, der rea) und in Deutschland mit der ufaFabrik und der deo gefunden. Wie ist es zu dieser künstlerischen Realität zu entkommen. Ich brauche beides. Ich auf die eine oder andere Weise etwas mit der Be- halb der Bildenden Kunst, mit dem sie verbunden nes Szenarios, wie wir es aus dem “Texas Chain- interCult GmbH. Entscheidung gekommen? stelle einen Fluchtimpuls an mir fest, wenn etwas zu wahrung von Erinnerung zu tun hatten. Im Umfeld sind, und natürlich interessieren sie sich für Science saw Massacre” kennen, ein weiterer Film, den ich

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‘Truth Claim’. Immer wieder setzt er den Dokumen- Kopf einer Horde Afrikaner, die ihn als Gottheit ver- I. tarfilm gezielt als Stil ein. In meinem Text ging es ehren. Für Marlow repräsentiert er das Gute und das auch um das Attentat als medial inszeniertes Er- Böse im Menschen, das Beste und das Schlimmste, Früh in den 90er Jahren muss es gewesen sein, eignis, als gesellschaftspolitische Wasserscheide zu dem der weiße Mann fähig ist. Ambiguität, die als ich mich zum ersten Mal mit Kambodscha be- in der amerikanischen Gesellschaft. Alle wussten, dunkle Seite der Seele. Marlow erlebt Kurtz’ Tod, schäftigte. Die Mutter meines Bruders Tom sagte, wo sie waren, als sie von der Erschießung hörten. und als er zurück in Europa mit dessen Verwandten dass sie gern mal nach Angkor wolle, aber dass Nichts war mehr so wie vorher. Ein Datum, ein konfrontiert wird, schweigt er über die Dunkelheit, das nicht ginge, weil da Krieg sei. Ich kramte mei- Trauma. die er in Kurtz erfahren hat, um die Illusionen der nen “Diercke”-Weltatlas heraus und sah nach, wo Verwandten und seine eigenen nicht zu verlieren. das liegt. Im nordwestlichen Kambodscha waren The End drei Kringel im Dreieck angeordnet. Daneben In “Apocalypse Now” wird Marlow durch die Figur II. stand in kursiver Schrift der Name Angkor, in der des Willard ersetzt. Seine Vision des amerikani- Legende ausgewiesen als “Archeological Site”. Ich habe viele Vietnam-Filme gesehen. Eine zen- schen Kriegs in Vietnam ist dermaßen von der sur- Muss ja ganz schön groß und bedeutend sein, trale Aussage von Oliver Stones Epos war, dass realen Perversion des Konflikts verklärt, dass er dachte ich. Dass es die größte Tempelanlage der Kennedy angeblich die Situation in Vietnam de- nicht mehr in der Lage ist, die Exzesse von Kurtz zu Welt ist, wusste ich noch nicht. eskalieren wollte und damit auf Gegenwehr bei bewerten, geschweige denn zu verurteilen. den konservativen Mächten stieß, ein Motiv für das Davor noch, in den 80er Jahren, gab es die Dead Attentat. “Apocalypse Now” von Francis Ford Cop- Dennoch bringt er ihn schließlich um, nicht um ei- Kennedys, eine großartige amerikanische Punk- pola kann te ich schon vorher. Der Alptraum des Vi- nen Befehl zu vollstrecken, sondern um sein Un- band um den Sänger und klugen Kopf . etnamkriegs, zu wahnwitzig, surreal, pervertiert, terbewusstsein zu befreien, im Angesicht der to- Ihr Song “Holiday In Cambodia” handelt von der um wahr zu sein. Und doch! Oft talen Anarchie, des Fremden, Of The verlogenen und arroganten Ignoranz der Ameri- kann Fiktion viel tiefer ins wahre the Other. So wird er selbst zum “Der Wahnsinn des kaner und der westlichen Welt, von Konsumfreu- Leben eintauchen als ein Doku- imaginierten Krie- hinterhältigen Mörder, zu Kurtz. digkeit auf Kosten anderer. Der Track war Teil mei- mentarfilm. Coppola endet mit einem Zitat ner Plattensammlung. Einige der Textstellen habe ges übertrug sich aus Conrads Vorlage, den groß- ich erst vor kurzem verstanden. “Apocalypse Now” problemati- auf die Crew.” artigen Schlussworten “The siert wie kaum ein anderer Film horror! The horror!” Danach kam der echte Dead Kennedy – aber im aus der Traumfabrik die Unter- Film: “JFK” von Oliver Stone. Ich schrieb über die scheidung zwischen ‘Gut’ und ‘Böse’, mit der Holly- Die Anlage, in der sich Kurtz mit seinen wilden Krie- “Crisis Of Representation” und brachte ein Zitat wood die Welt für die Menschen auf einfache Weise gern verschanzt hat, ist verschiedenen Angkor- eines Fotografen, der Augenzeuge des Attentats beschreibbar und bewertbar macht, und löst sie in Tempeln nachempfunden – die Gesichter des Bayon Road war. Er erklärte, dass er auf seiner Aufnahme ein eindeutiger Ambivalenz auf: Willard (Martin Sheen), Tempels, die Nagas und Muscheln an den Treppen- wichtiges Indiz entdeckt hatte. Eine Reflektion im ein amerikanischer Captain, wird auf die Jagd nach aufgängen, Reliefs im angkorianischen Stil. Im über- Außenspiegel eines parkenden Autos. Er vergrö- Colonel Kurtz (Marlon Brando) geschickt, einen tragenen Sinne ist sie Angkor: Die Tempelanlage im ßerte den Teil des Negativs immer weiter, bis alles AWOL, der als Absent Without Leave im kambo- exotischen Zwielicht, wild, geheimnisvoll und be- Oder: Wie wirklich ist die so grobkörnig wurde, dass man nichts mehr er- dschanischen Dschungel verschwunden ist. Kurtz rauschend. Der Stoff, aus dem die Filme sind. kennen konnte. Das Limit des Materials war über- rebelliert mit scheinbar willkürlicher, brutaler Gewalt schritten, die Grenze des Darstellbaren. Oliver gegen die in seinen Worten schmierige, niederträch- Wer sich mit der Entstehung von “Apocalypse Now” Stone konnte den zentralen Beweis seiner Argu- tige Doppelmoral der USA, die mit kriegstreiberischer beschäftigt, merkt schnell, wie schmal der Grat zwi- Wirklichkeit? mentationskette nur zeigen, indem er den be- Gewalt unter dem Deckmäntelchen demokratisie- schen Wirklichkeit und Fiktion und wie stark die In- rühmten Film des Augenzeugen Abraham Zapru- render, freiheitlicher Beweggründe den Vietnamesen terdependenz beider Pole der Wahrnehmung ist. der vor und zurück laufen ließ und ihn dann die Freiheit vor dem Kommunismus – je nach Per- Der Film spielt in Kambodscha, wurde aber auf den schließlich anhielt, um so die Kopfbewegung von spektive – schenken oder aufzwingen und das Land Philippinen gedreht. Denn zu der Zeit, in der Cop- John F. Kennedy während des Kopfschusses he- auf diese Weise komplett zerstören. Die Geschichte pola an dem Werk arbeitete, 1975-79, herrschte in Unsere Wahrnehmung von Südostasien ist durch rauszustellen. Wieder über das Limit des Medi- basiert auf historischen Fakten. Es gab eine Handvoll Kambodscha das Schreckensregime von Pol Pot. ums. Laut physikalischer und anatomischer Ge- hochrangiger amerikanischer Militärs, die im Der Dreh im philippinischen Dschungel dauerte über kulturindustriell hergestellte Bilder geprägt. Wie aber setze muss der Präsident von vorne erschossen Dschun gel von Vietnam, Kambodscha und Laos ver- ein Jahr, und der Wahnsinn des imaginierten Krie- worden sein – aber das Fenster, von dem aus Lee schüttgegangen waren und auf eigene Faust weiter- ges übertrug sich immer mehr auf die Crewmitglie- lassen sich die Projektionen des Fremden und Exotischen Harvey Oswald, der Attentäter, angeblich ge- machten. Nach ihren eigenen Regeln. der. Coppola selbst war mehrmals der völligen Ver- schossen haben sollte, lag hinter ihm. zweiflung und dem Wahnsinn nahe. Martin Sheen Die literarische Grundlage zu “Apocalypse Now” ist erlitt einen Nervenzusammenbruch mit anschlie- durchdringen? Der Dokumentarfilmer Marc Eberle Ich schrieb über Verschwörungstheorien. Fakten natürlich “Heart of Darkness”, die berühmte Novelle ßender Herzattacke. Es schien fast, als hätten sich sind nicht das Ausschlaggebende, sondern ihre von Joseph Conrad aus dem Jahr 1898. Der Autor die Charaktere aus dem Drehbuch verselbständigt berichtet von seinen Reisen ins “Herz der Finsternis”. Verbindung untereinander, die verarbeitet hier seine eigenen Er- und Gewalt über ihre Schöpfer erhalten. Die Heli- kleinen Verbindungslinien zwi- fahrungen in Belgisch Kongo. Die kopterstaffel der philippinischen Armee kam für die ➞ For an English version please see www.hebbel-am-ufer.de “Oft kann Fiktion schendrin. “Malen nach Zah- tiefer ins wahre Geschichte funktioniert auf zwei Filmaufnahmen angeflogen, um direkt danach wie- len”, ihre Montage und ihre Rei- Leben eintauchen Ebenen, als eine beklemmende der in den echten Krieg zurückzukehren und scharf henfolge. Die Darstellung der Analyse des europäischen Kolo- zu schießen. Fakten ist immer auch ihre In- als ein Dokumen- nialismus und als eine Reise in terpretation. Ich schrieb darü- tarfilm.” das Unterbewusstsein des Pro- Ich stieß auf “Sideshow – Nixon, Kissinger And The ber, wie Oliver Stone seine Ver- tagonisten. Marlow segelt den Destruction Of Cambodia”, ein Sachbuch von Wil- sion von Verschwörungstheorie Kongo hoch und erkennt, dass liam Shawcross. Ich las darin, wie es diesen Politi- filmisch kommuniziert. Durch Super-8-Aufnahmen die ‘Wilden’ im Dschungel so sind wie er, ignorant, kern jahrelang gelang, einen illegalen Schatten- von John F. Kennedy als romantisierten “King Of neugierig und ängstlich vor dem Fremden, Unbe- krieg auf Kambodscha auszuweiten und ihn vor Camelot” verleiht er seinem fiktionalen Film einen kannten, vor sich selbst. Er trifft Kurtz, den weißen den eigenen Militärs und der Weltöffentlichkeit ge-

15 16 heim zu halten. Auf einer Konferenz in Genf 1954 los neben ihren Mofas. Lo, unser Fahrer, sagt: “Oh, schichten und Drehorten. Abends saßen wir reiz- hatte König Sihanouk sein Land angesichts der Ka- bad accident, don’t look, don’t look!” Eine Men- überflutet da und glotzten auf den Dschungel oder tastrophe in Vietnam für neutral erklärt. 1971, drei schenmenge steht um die beiden Opfer herum und den Fluss – schweigend. Braindamaged. The end of Jahre nach Beginn der geheimen Bombardierungen schaut betroffen drein. Krankenwagen? Fehlan- the road? Wohl kaum! End of the day vielleicht. wurde in den Pentagon Papers der illegale Schat- zeige. An einigen Straßenecken stehen Männer mit tenkrieg enthüllt und Nixons Wahnsinn durch die AK47s. Manche in Zivil. Wir fahren durch dieses wunderschöne Land, doch anschließende Watergate-Affäre beendet. Der klu - der Anschein trügt. Direkt unter der Oberfläche lau- ge Kopf Kissinger ließ den amerikanischen Präsi- Beim Abendessen sitzen wir neben einem ekelhaf- ern das Böse, der Tod, die Minen, die Massengräber. denten über die Klinge springen und war rehabili- ten, schleimigen Fettsack mit versabbertem T-Shirt Oft genug zeigt sich der Horror auch an der Ober- tiert. Er ist heute ein angesehener Politiker. Im eng- und Baseballkappe und seinem Freund, einem lan- fläche. Ich sehe in viele traumatisierte Gesichter – lischen Fernsehen wirbt eine Fluggesellschaft mit gen Lulatsch ohne Charakter. Der Fettsack wirft die meisten lächeln. Viele erzählen mir ungefragt ihm. Er erhielt den Friedensnobelpreis. Für seine Ver- sein Handy auf den Tisch und schreit in aggressi- ihre Geschichte, sie gleichen sich alle. Ich sehe dienste in Südostasien! vem Deutsch: “Los, ruf mal die überall nur den Krieg, die Ein- Schlampe an!” Der andere tut, “Wir sitzen reiz- schusslöcher in den Häusern, die wie ihm befohlen. Zwei Kinder überflutet da und Krüppel, die vernarbten Seelen kommen an den Tisch und bet- der Leute. Als wir das Drehbuch III. glotzen auf den teln. Der Fettsack schlägt dem schreiben, beginnen wir mit ei- Ich war aus Indien zurückgekommen und saß im einen auf den Kopf und sagt ihm, Dschungel.” nem Zitat von William Shaw- Schnitt, als Tom nach Kambodscha ging, um ein er solle sich verpissen. Wenig cross: “To travel through Cambo- paar Ideen zu recherchieren. Ich wollte schon später kommt die ‘Schlampe’, dia was to travel through a land lange dahin. Jetzt war es endlich möglich. Der Krieg ein bildhübsches Mädchen, vielleicht 15, maximal that had been cast into the outer reaches of hell war vorbei, und ich hatte als Filmemacher Fuß ge- 16. Sie wirkt schüchtern, lächelt aber die ganze and only barely retrieved” (“Sideshow”, 1993). fasst. Kambodscha mit all seinen Facetten und Zeit. Der Fettsack kann so gut wie kein Englisch, sie Schicksalen. Da ist unter jedem Stein eine Ge- auch nicht. Ungeniert grabscht er ihr zwischen die Auch wenn die meisten Menschen im Westen nicht schichte, die man erzählen kann. Die extremen Ge- Beine und an die Brust. “Dauert nicht lange”, sagt viel über Kambodscha wissen, ist es doch ein un- gensätze dort – aber auch zu uns – besitzen eine er zu dem ohne Charakter und schiebt mit der Klei- heimlich mediensaturiertes Land. Angkor, und vor eigentümliche Energie und Spannung. Überall, wo nen ab. Seine Hand an ihrem Nacken, im Würgegriff allem Angkor Wat, noch viel mehr. In Frankreich man hinschaut, passiert etwas unheimlich Interes- drückt er sie ins Auto. sowieso. Die Kolonialausstellungen in Marseille santes. Ich bin ein Voyeur. Interessiert, nicht geil! und Paris Anfang der 30er Jahre, die ganzen Wer- Kambodscha war für mich gleichzeitig Traum und Cambodia is a country where anything goes. Ein bekampagnen, für Kühlschränke, Kleider für die Alptraum, hart, roh und wunderschön. ausgebranntes Land, zerrüttet von 30 Jahren Krieg Kolonien, Munition, für Lincoln Cars. In Deutsch- und Völkermord. Ohne Straßen, Krankenhäuser, Ge- land wirbt Tabac mit Angkor Wat für das Parfüm Die Mails, die mir mein Bruder aus dem Wilden Os- setze. Ein Land, wo alle immer noch ums Überleben Culture. Es gibt unzählige Spielfilme und Doku- ten schickte, stimulierten meine Phantasie und be- kämpfen, oft auch noch mit Waffen. Diese ‘moral mentationen. Ich hatte vieles gelesen und gese- stätigten meine Klischeevorstellungen über Kam- wilderness’ wird von vielen ausgenutzt, von den hen, so dass es mir inmitten dieser kambodscha- bodscha – keine Gesetze, totale Abwesenheit von Touris, den Expats, den Sexpats und den Unterge- nischen Surrealität, im wilden, fernöstlichen Hin- Moral, kriegsgebeuteltes, traumatisiertes Land. Ich tauchten, die in Europa lebenslänglich bekommen terland, irgendwann nicht mehr möglich war, kam mit Ulrike Becker vom SWR ins Gespräch. haben und natürlich von den Khmer selbst. meine eigens ausgedachten und angelesenen Er- Machte einige Vorschläge, unter anderem für einen lebnisse von den wahren zu trennen. Film über das Neujahrsfest der Khmer vor Angkor Aber Kambodscha ist auch ganz anders. Ich treffe Wat – das Wahrzeichen des Landes schlechthin, re- viele herzzerreißend liebe Menschen, Unzählige hel- Der hier dokumentierte Text von Marc Eberle ist im päsentativ für das Land, die Kultur, die Politik, die fen uns, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Viele Jahr 2002 entstanden. Bei seinem Gespräch mit Religion, die Vergangenheit und die Zukunft, das der Khmer sind glücklich, weil der Krieg endlich vor- Margarita Tsomou am 17. Januar im HAU1 wird er Neujahrsfest als Neuanfang, Auf- bei ist und es ihnen besser geht auch von seinen aktuellen Erfahrungen in Kambod - bruch. Allerdings wollte ich mich “Kambodscha war als vorher. In Siem Reap, der Stadt scha berichten. eher auf das Land und die Leute hart, roh und wun- neben Angkor, ist es anders, eine konzentrieren und nicht so sehr Glasglocke, sicher, sauber, Dis- derschön.” ➞ Marc Eberle , geboren 1972 in Heidelberg, stu- auf Angkor als Bauwerk. Tom neyland. Wir kaufen uns einen 3- dierte von 1993 bis 1998 an der Universität Ham- hatte einen Protagonisten in Tage-Pass für die Tempelanlage. burg Amerikanistik, Geschichte und Medienkultur Battambang gefunden, der die Der Preis beträgt 40 US-Dollar – mit Schwerpunkt Dokumentarfilm. Außerdem ideale Besetzung für das Projekt war: Sombat, ein ein Lehrer, ein Polizist und alle anderen Beamten ver- schloss er einen Master of Arts am Royal Holloway junger Touristenführer. Er repräsentierte das neue, dienen monatlich im Durchschnitt 20 US-Dollar. College der Universität London in Filmwissenschaft aufstrebende Kambodscha. ab. Seit 2001 ist Eberle Dokumentarfilmregisseur in Süd- und Südostasien. Er dreht Filme für internatio- Da waren wir nun, mittendrin. Kambodscha hatte nale Sender wie VPRO, BBC, HBO und verschiedene Januar 2002, Recherchereise. Als wir zur Landung mich in seinen Bann gezogen. Don’t get too close Discovery Channels aus Oman, Pakistan, Indien, Ne- über Phnom Penh ansetzen, geht gerade die Sonne to the fire! Wir schauen uns einen Tempel im pal, Laos, Vietnam und Birma. Sein Dokumentarfilm unter. Wir tauchen ab in die Dunstglocke über der Dschungel an, der gerade entmint wird. Nach einer “Amerikas geheimer Krieg in Laos. Die größte Militä- Hauptstadt. Smog? Wohl kaum, es sind keine Autos Weile bemerke ich, dass die Totenköpfe auf den roperation der CIA” wurde u. a. für den Deutschen zu sehen. Alles Staub. Die Straßen sind nicht ge- Warnschildern in die andere Richtung zeigen – wir Filmpreis, den History Makers’ Award (New York, teert. Verzweifelt suche ich die Lichter der Groß- sind auf der falschen Seite des Zauns gelandet! USA) und den Golden Panda des 12. Sichuan TV Fes- stadt. Vergebens, es gibt keine Lichter. Als wir durch Jetzt bloß keinen Fehltritt machen! Die Wirklichkeit tival (China) nominiert. Eberle baute als Redakteur, die zerfallenen französischen Kolonialbauten fah- inmitten all der Unwirklichkeit war wie ein Schock. Produzent und Ausbilder den ersten Privatsender, Cambodian Television Network, mit auf. Zur Zeit ar- ren, komme ich mir vor wie in einem Spaghetti- Der Film in meinem Kopf hatte die Überhand gewon- beitet er außerdem als Dozent für Dokumentarfilm We stern. Auf dem Weg vom Flughafen fahren wir nen. Wir hetzten über durchlöcherte Straßen, Mi- am Goethe-Institut in Phnom Penh. an einem Unfall vorbei, zwei Männer liegen regungs- nenfelder, Killing Fields auf der Suche nach Ge-

17 18 California Uber Alles

Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Jens Balzer erzählt die Geschichte der Punk-Rock-Hymne “Holiday In Cambodia” und zeigt, welche Widersprüche und Konflikte bereits in den 70er Jahren entstanden, wenn Popkultur ver- suchte, Einspruch gegen den Kapitalismus einzulegen.

Wer hätte dieses Gefühl nicht auch schon ein- Ihr Meisterstück aber war ohne Frage “Holiday in “Holiday in Cambodia” ist ein Meisterstück der mal gehabt, beim Flanieren durch Berlin-Mitte, Cambodia” aus dem Jahr 1979. Mit der ihm bis politischen Dialektik; ein ideologisches Vexier- durch Kreuzberg oder durch Neukölln? Wünscht heute eigenen Misanthropie beschimpft Jello spiel, wie es im althergebrachten Punkrock man sich da nicht sofort das Gleiche, was Jello Biafra darin die haltungslose weiße amerikani- sonst selten jemals gelungen ist; und bis heute Biafra sich wünscht, wenn man all diese jute- sche Jugend, die für ihren Wohlstand niemals ar- ist es ein besonders bizarrer, aber auch interes- beuteltragenden Hipster, all diese verwöhnten beiten musste. Und die nun arrogant und einfüh- santer Moment, wenn Jello Biafra bei seinen Taugenichtse aus aller Welt, all diese gleichge- lungslos auf all jene herabblickt, denen es trotz Konzerten die Menge zum “Pol Pot! Pol Pot!”- schalteten Individualistendarsteller mit ihren harter Arbeit schlechter als ihr ergeht – nicht zu- Skandieren bringt. Fusselbärten und Herren- und Damendutten be- letzt auf die ‘niggers’, deren ‘ethnicky jazz’ man trachtet? Denkt man da nicht auch, dass man so gerne auf der ‘five grand stereo’-Anlage hört, Er tut dies heutzutage als Solokünstler, beglei- die ganze verwöhnte Jugend der westlichen die aber ansonsten doch bitteschön bleiben sol- tet von befreundeten Bands wie den Melvins Welt nicht endlich einmal in ein ordentliches len, wo sie hingehören: im Ghetto. Gegen diese oder in seinem aktuellen Ensemble Guanta- Umerziehungslager verschicken sollte? “So you Wohlstandsverlosung – so der Refrain des namo School Of Medicine. Die been to school for a year or two / and you know Stücks – hilft nur echte, harte Arbeit als Sklave selber haben sich schon 1986 aufgelöst; seither you’ve seen it all”, besingt Jello Biafra von den in einem Land, in dem “alle eins sind” und “alle befinden sich Biafra und seine ehemaligen Mit- Dead Kennedys diese Spezies in dem Stück “Ho- schwarz tragen”: “it’s tough kid, but it’s life”. musiker in einem herzlichen Feindschaftsver- liday in Cambodia”, “in daddy’s car thinkin’ hältnis. Mitte der 90er Jahre gingen sie erstmals you’ll go far / back east your type don’t crawl”, So wird hier in gleichermaßen kurzweiliger wie gegeneinander vor Gericht: weil Biafra verhin- um dann im Refrain mit noch giftigerer und agitatorischer Weise der proletarische Hass auf dert hatte, dass die “Holiday in Cambodia”-Mu- noch zeternderer Stimme zu einem Hornissen- die Bessergestellten gepflegt sowie aber auch – sik in einem Reklamespot des Hosenherstellers schwarm aus Gitarrencrescendi zu der Schluss- und das ist das Interessante daran – als ultima- Levi’s eingesetzt wurde; dadurch entgingen der folgerung zu gelangen: “What you need my son tive Strafe für den weißen Hipster das Horrorbild restlichen Band 200.000 Dollar. Mit dem antika- / is a holiday in Cambodia / where people dress einer echt-proletarischen Diktatur gezeichnet. pitalistischen Geist der Dead Kennedys und ins- in black / a holiday in Cambodia / where you’ll Das heißt aber: Noch barbarischer und blöder als besondere dieses Songs sei das nicht zu verein- kiss ass or crack”. der Kapitalismus erscheint in diesem antikapi- baren, sagte Biafra. Indem er sie um die Einnah- talistischen Song nur der vollendete Antikapita- men aus dem Werbedeal und also um die Früch - Die Dead Kennedys, 1978 in San Francisco ge- lismus des Pol-Pot-Regimes; noch verächtlicher te ihrer Arbeit bringe, entgegneten seine ehe- gründet, waren nicht nur die Punkrock-Band mit als die weiße Wohlstandsjugend wirkt nur das maligen Kollegen, verhalte sich Biafra auch dem zweifellos besten Punkrock-Bandnamen al- zur totalen Herrschaft gelangte Proletariat. Mit nicht anders als jene Ausbeuter, von denen der ler Zeiten. Ende der 70er Jahre waren sie auch geschmeidiger Grobheit entzieht sich der Song Song ja auch handelt: die mit ‘schwarzer’ Musik weithin die erste, die das bis dahin vom Punkrock der gängigen Gegenüberstellung von Links und reich geworden sind, aber den wahren Urhebern gewohnte glamourös-verantwortungslose He- Rechts und provoziert beide Seiten zugleich – die Tantiemen verwehren. rumspielen mit politischen Zeichen durch eine gerade wenn man bedenkt, dass wesentliche geradlinige linksradikale Agitation ersetzte. In Teile der westlichen Linken noch Ende der 70er So erzählt der “Holiday in Cambodia”-Song bis klassischen Hochgeschwindigkeitsheulern wie Jahre das Regime der Roten Khmer immer noch in sein juristisches Nachspiel hinein von der “” oder “Let’s Lynch The Landlord” als interessantes sozialistisches Experiment be- Schwierigkeit, im Kapitalismus ein antikapita- wurde zur Revolution gegen Kapitalismus, Mili- trachteten und als Teil der antiimperialistischen listisches Leben zu führen. Auch in diesem As- tarismus und christliche Religion aufgerufen; ein- Internationale. Manche mühten sich bis in die pekt zeigt sich eine Dialektik, doch führt diese drücklich warnten die Dead Kennedys auch – in 80er Jahre darum, die kambodschanischen Op- uns – anders als der linksradikale Punkrock dem Song “California Uber Alles” – vor dem ihrer ferzahlen kleinzurechnen; so auch der Linguist einst glaubte – unausweichlich in eine Spirale Ansicht nach unmittelbar bevorstehenden Zen- Noam Chomsky, der später dann auf dem von der Negation. Faschismus in Kalifornien. Stücke wie “Chemical Jello Biafra betriebenen Warfare” und “” gehörten Label politische Spoken-Word-Platten heraus- bald schon zum musikalischen Kanon sämtlicher brachte. (In Deutschland sandte der damalige Hausbesetzer und selbstorganisierter Polit-Café- Vorsitzende des Kommunistischen Bunds West- Betreiber; mit eher lebensweltlichen Liedern wie deutschland und spätere Büroleiter von ➞ Jens Balzer ist Popkritiker und stellvertre- “Too Drunk Too Fuck” begeisterten die Dead Ken- Joschka Fischer, Joscha Schmierer, noch 1980 tender Feuilletonchef bei der Berliner Zeitung. nedys auch den apolitischen Flügel der Szene. eine Solidaritätsadresse an Pol Pot.)

19 20 zur Schule gegangen. Seit sie vier oder fünf ist, hat brach jener Militärkonflikt aus, den die “New York Dokumentarfilm “The Act Of Killing” geben geal- sie eigentlich immer nur gearbeitet: erst auf dem Times” später als “unseren ersten Rock-’n’-Roll-Krieg” terte Berufsmörder den Einfluss von Mafia-Filmen Reisfeld, mit neun auf der Kautschukplantage. Ihrer bezeichnen sollte. Der Sound schwappte auf das aus Hollywood als Inspiration für ihre Verbrechen schwangeren Mutter musste sie im gleichen Alter neutrale Kambodscha über, denn Sender wie “Voice gegen die Menschlichkeit an. Die Verbindungen helfen, vor Schüssen zu fliehen. Als Teenager über- of America” oder “United States Armed Forces Ra- zwischen globalisierter anglo-amerikanischer Po- siedelte sie in die Hauptstadt Phnom Penh und dio” waren in Südvietnam nonstop auf Sendung. pulärkultur und den Gewaltregimen in Südost- Rendezvous schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch. Mit dem Ver- asien, alles im Nachklang eines Prozesses der Ent- sprechen auf eine Stelle im Schönheitssalon sollte Der Obertonreichtum südostasiatischer Xylophon- kolonialisierung, sind vielfältig. Ikonische Fotogra- sie ins Rotlichtmilieu gelockt werden. Srey Channthy und Gong-Orchester erwies sich als hochgradig fien aus dem Vietnam-Krieg haben sich nicht nur wurde einen Tag lang schreiend an ein Bett gefes- kompatibel mit dem Tremolo von Surf-Gitarren. Die ins Gedächtnis eingebrannt – sie fungierten auch selt. Sie wäre wohl verkauft worden, hätte ihr nicht mäandernden Melodien in Halbtonschritten und als Katalysatoren für die US-Hippie-Bewegung und eine andere Frau zur Flucht verholfen. In den Karao- kleineren Intervallen machten die Entstehung von Gegenkul- kebars von Phnom Penh etablierte sie sich als cha- eine Schnittstelle zum Blues “Die Menschen in tur im weitesten Sinne. im Kosmos rismatische Solosängerin. Schnell fand sie heraus, auf. Domestizierte Tänze anglo- Phnom Penh lebten dass die goldenen Khmer-Pop-Hits vom Publikum mit amerikanischer Provenienz, dar- Wie das Foto der neunjährigen dem üppigsten Trinkgeld honoriert werden. geboten in Anzug und Paillet- ihre Variante der Kim Phúc, dem viet namesischen tenkleid, gingen eine charmante Swingin’ Sixties.” Mädchen, das vor einer Napalm- In einem dieser Etablissements traf sie auf Julien Poul- Fusion mit den bedeutungsvol- Wolke flieht, war der Rock ’n’ son. Das war im Jahr 2009. Der Gitarrist hatte zuvor len Handgesten der klassischen Roll Anfang der 70er Jahre zum als Medienproduzent für die Wahrheits- und Versöh- Khmer-Traditionen ein. Über den landesweiten Ra- universalen Kulturgut geworden. Die Menschen in nungskommissionen in Ost-Timor gearbeitet und eine diosender sangen sich die Stimmen der Stars in Kabul, Phnom Penh oder Luanda lebten ihre Vari- der Cross- Förderung für ein Musikprojekt bekommen. Nachdem die Herzen der Landbevölkerung. ante der Swingin’ Sixties. Indem sie sich auf diese in dem Krisengebiet wieder Unruhen ausgebrochen Zeit beziehen, werfen The Cambodian Space Pro- waren, setzt er das Geld zur Wiederbelebung der Pop- Kurz darauf nahm die Katastrophe ihren Lauf. Pol ject größere Fragen auf: Wie wirkt populäre Musik kultur in Kambodscha ein. Als er Srey Channthy ein- Pot erklärte 1975 zum Jahr Null und rief einen in traumatisierten Gesellschaften, die langsam mit lud, eine Band zu gründen, konnten die beiden so be- kommunistisch-maoistischen Bauernstaat aus. den Nachwirkungen von Kolonialherrschaft und reits auf eine Grundfinanzierung zurückgreifen. Die roten Roten Khmer evakuierten ganz Phnom Kriegen zurechtkommen? Wie sind die Konflikte in Schauplatz ihres ersten Gigs war das kleine mexika- Penh innerhalb weniger Tage. Familien wurden Südostasien und die anglo-amerikanische Popu- kultur nische Restaurant Alley Cat Café in Phnom Penh. auseinandergerissen und ihre Mitglieder in ent- lärkultur miteinander verwoben? Wie können wir fernt liegende Landesteile verschleppt. Zwangsar- globale Ausprägungen von Modernität mit all ihren In den folgenden zwei Jahren tourten The Cambo- beit, Abschaffung des Geldes und Zerstörung der Chancen und Risiken als spezifische Phänomene dian Space Project durch die Provinz, spielten in Krankenhäuser sollten einer klassenlosen Gesell- verstehen? Während der 60er Jahre erlebte Kambodscha eine kurze Dörfern und Tempeln, für Waisenhäuser und ein so- schaft zuarbeiten. Die Vollstreckung der Todes- zial benachteiligtes Publikum. Bei einem Konzert im strafe war an der Tagesordnung. Wie unzählige an- The Cambodian Space Project laden die Zuhören- Blütezeit, in der auch eine eigenwillige Lesart westlicher Heimatdorf der Sängerin wurde die Band mit einem dere Menschen wurden auch Srey Channthys den ein, sich in einer historischen Kontinuität zu Festmahl empfangen. In der Noise-Hymne “Whiskey Großeltern von den Roten Khmer ermordet. Um verorten, die über das Trauma der Killing Fields und Cambodia” besingt Srey Channthy die üppige Spei- ethnisch motivierter Verfolgung zu entrinnen, des Genozids in Kambodscha hinausreicht. Sie Rockmusik entstand. Die Band The Cambodian Space sefolge. Im Jahr 2011 produzierte Julien Poulson färbte sich ihre Mutter das Gesicht. Sie schnitt sich setzen auf die geschichtsbildende Kraft der Erin- das Debüt-Album. Es folgten Auftritte in Australien, die Haare ab, trug eine maoistische Uniform und nerung und die heilende Wirkung von Musik. Project erinnert sich an eine Popkultur, die durch die Frankreich, Großbritannien und den USA. Vor weni- hörte auf zu singen. In Interviews erzählt Srey gen Monaten ist ein zweites Werk mit dem Titel “Not Channthy, dass Houy Meas, Sängerin und zugleich Roten Khmer ausgelöscht wurde, und überführt sie in die Easy Rock ’n’ Roll” erschienen. beliebteste weibliche Radio-DJ in Kambodscha, ➞ Stefanie Alisch ist Musikwissenschaftlerin erst durch mehrere Soldaten vergewaltigt und und DJ in Berlin. In “Chnam Oun Dop Pram Mouy (I’m Sixteen)” dann umgebracht wurde. Gegenwart. Von Stefanie Alisch ➞ The Cambodian Space Project wurde 2009 gluckst Srey Channthy die Intervalle im Schluckauf, von dem australischen Gitarristen und Keyboar- ➞ For an English version please see www.hebbel-am-ufer.de so wie man es aus manchen Klassikern des Rock ’n’ Viele Fragen bleiben bis heute offen: Wieso der Julien Poulson gegründet, mit der kambod - Roll kennt. Das Stück wurde ursprünglich von der konnte Pol Pot als unterdurchschnittlicher Stu- schanischen Ausnahmesängerin Srey Channthy Sie haben ein Faible fürs Eingängige. Aber die kul- alter des Khmer-Pop, die “Roaring Sixties” in Kam- zert für Asylbewerber. Sie musizierten vor dem La- Khmer-Pop-Diva Ros Sereysot- dent mit einem Stipendium in als Frontfrau. Die Band covert Songs aus den turellen Techniken, die sie in ihrer Musik verwenden, bodscha. In der Praxis verneigen sich die Musiker gerzaun. Vorher hatten sie sich über diese Demar- hea interpretiert. Ein großer Teil “Sie trug eine mao - Paris gefördert werden? Wieso 60er Jahren, dem goldenen Zeitalter der kambo- dschanischen Popmusik, und trägt damit glei- sind komplex. In ihrem Song “Kolos Srey Chaom aber auch vor dem indonesischen Rock der 80er kationslinie hinweg mit den Internierten unterhal- des Bandrepertoires besteht aus istische Uniform gelang es ihm, ein Staatsführer (Love God)” greifen The Cambodian Space Project Jahre und tauchen so in ein benachbartes Raum- ten. Das alles ist dokumentiert in einem kurzen Vi- Reminiszenzen an SängerInnen zu werden, der Massaker an der chermaßen zu deren Bewahrung und zur Schöp- und hörte auf zu fung eines wunderbar eigenständigen kambod - den Hit “Venus” von Bananarama auf und interpre- Zeit-Kontinuum ab. Auf ihrer Website bezeichnen deo-Statement, das die Gruppe auf Facebook ein- wie Meas Samons, Sinn Sisam- eigenen Bevölkerung durchfüh- schanischen Psychedelic Rock bei. Auch wenn outh, Chea Savoeun oder Mao singen.” ren lässt und im Anschluss sei- tieren ihn anhand einer kambodschanischen Lesart sie ihre musikalische Odyssee als “Cosmic Cross- gestellt hat. Es wird gesprochen von Srey Channthy, die Musiker schon überall auf der Welt aufgetre- von Surf-Rock, veredelt mit einem “Aahahaa ha- Culture Rendezvous Featuring Space Trippers From der Sängerin des Cambodian Space Project. Seit Sareth. Ihre Songs entstanden in nen Sitz in der UN halten kann? ten sind, sind sie besonders stolz auf ihre Shows haaaha-ahaa”. Das klingt nicht nur entfernt nach Various Planets”. September 2013 ist sie selbst Australierin. einer Zeit, als Kambodscha ein Wieso können amnestierte in abgelegenen kambodschanischen Dörfern. “Lady in Black” von Uriah Heep. Eine fast identische Unabhängiges Königreich wurde und die Gesell- Rote Khmer in Kambodscha heute wieder hohe 2011 erschien ihr Debütalbum “A Space Odys- Adaption, etwas älter und schrabbeliger, begleitet Die Melodien von The Cambodian Space Project las- Wie kommt so eine Combo in die Welt? Srey Chann- schaft in einen buddhistischen Sozialismus über- Posten bekleiden? sey”. Zu den Coverstücken darauf gehören Perlen einen Trailer für den indonesischen Sex-Crime-Fan- sen sich beim Shimmy, einem aus dem Foxtrott ent- thy wuchs in einer der ärmsten Provinzen Kambo- führt werden sollte. Diese Stars sangen zunächst der kambodschanischen Popmusik, die ursprüng- tasy-Thriller “The Snake Queen” aus dem Jahr 1982. standenen Gesellschaftstanz, leicht mitsummen. In dschas auf. Den Traum, Vokalistin zu werden, erbte traditionelle Balladen und Duette. Ähnlich wie in der Brutale Massentötungen im Namen des Kommu- lich von Stars wie Pan Ron, Sinn Sisamouth und The Cambodian Space Project covern also ein Co- Interviews schneiden die Mitglieder weitaus erns- sie von der Mutter, die auf Partys, beim Wäschewa- Türkei ging die Produktion lokaler Popmusik mit der nismus oder im Namen seiner Ausrottung waren Ros Sereysothea eingespielt wurden. In Erinne- rung an den Genozid der Roten Khmer und ermor- ver und bereichern das Arrangement um ein weite- tere Themen an. Sie sprechen über massenhafte Tö- schen und beim Kochen sang. Die kleine Srey Chann- Herstellung von Fantasy-Filmen einher. während der 60er und 70er Jahre keine Seltenheit dete Musiker kommen Instrumente wie der Tro res Instrument – vermutlich eine zweisaitige Fiedel. tungen, Verstümmelungen und Vergewaltigungen thy stimmte ein. Gemeinsam mit ihrem Vater fuhr sie in Südostasien. Indonesische Todesschwadrone, zum Einsatz und schaffen zusammen mit dem In- Sie übernimmt den Solopart, bei dem üblicherweise durch die Roten Khmer. Auf einer Tournee durch während der 80er Jahre im Panzer durchs Grenzge- Doch wie kam der Rock ’n’ Roll in das südostasiati- die “Hackmesser”, ermordeten allein auf Bali in ventar der westlichen Rockmusik einen Sound, eine Surfgitarre zum Einsatz kommen würde. Offi- Australien, der Heimat von Bandgründer Julien Poul- biet zu Vietnam. Im Hintergrund lief das Radio. In ih- sche Land? Seit 1955 war die US-Armee im benach- zwei Wochen 80.000 Menschen, die sie für Kom- zu dem sich die Füße ganz von selbst bewegen. ziell bezieht sich die Gruppe auf das goldene Zeit- son, gaben The Cambodian Space Project ein Kon- rem ganzen Leben ist die Sängerin nur eine Woche barten Vietman stationiert. Eine Dekade später munisten halten wollten. In Joshua Oppenheimers

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The subjects of “Human Nature” are found in the ically informed. They may be wary of the steady most intimate setting possible: their homes. In stream of journalists or even tourists walking the ➞ Erin Gleeson ist Kuratorin, Autorin und Exper- tin für zeitgenössische Kunst aus Kambodscha. each image, the sitters pose comfortably, main- hallways and peering into their homes, or, like oth - Sie ist Künstlerische Leiterin und Mitgründerin der taining a staunch sense of individuality even ers on newly valuable property, watchful of devel- Galerie Sa Sa Bassac in Phnom Penh. while wearing masks (of their choice) created by opers and prospectors. In Khvay’s words, “even Human Nature the artist. Contained within each colorful and though we are innocent, we may also need a mask.” ➞ Nora Taylor ist Professorin für südasiatische vague ly unsettling portrait is a rich biography, “Human Nature” strives to document Cambodia und südostasiatische Kunst am School of the Art parts of which only the artist is privy to, and which beyond its historical shadow. Without sacrificing Institute in Chicago. he can recall in detail from his conversations with his documentary impulse or the rare intimacy he Die in “Human Nature” dargestellten Personen werden in der intimsten bedingt als auch durch politische Aspekte. Argwohn begleitet den ständigen the subjects. However we the audiences are not has cultivated with his subjects, Khvay’s photo- ➞ Khvay Samnang, Video- und Performance- denkbaren Umgebung gezeigt, ihrer Wohnung. Entspannt posierend, be- Strom an Journalisten und auch Touristen, die durch die Flure wandern und offered these details. graphic practice exemplifies a nascent cultural künstler, geboren 1982 in Svay Rieng, lebt und wahren die Porträtierten entschieden ihre Persönlichkeit, obwohl sie in die Zimmer schauen. Wie andere Bewohner von plötzlich wertvollen Im- arbeitet in Phnom Penh. In seinen subtilen und hu- Khvay originally planned to show the residents’ turn in Cambodia — wherein the press, postcards (selbst ausgewählte und vom Künstler entworfene) Masken tragen. Zu je- mobilien, fürchten sie sich vor Investoren. Wie Samnang sagt: „Selbst wenn morvollen Arbeiten nutzt er unterschiedliche Me- faces. This changed when the first sitter’s husband and evidentiary portraits may no longer dominate dem der facettenreichen und seltsam beunruhigenden Porträts gehört wir unschuldig sind, brauchen wir womöglich eine Maske.” dien, um verschiedene Aspekte der kambodscha- indicated his fear of photography’s indexical nature the country’s visual discourse. eine umfassende Lebensgeschichte, die nur Khvay Samnang selber be- In “Human Nature” geht es darum, ein Kambodscha jenseits der histori- nischen Gesellschaft zu untersuchen und Fragen – its ability to identify, or even convict. The resi- nach deren Auswirkungen und Relevanz heute zu kannt ist und an deren Erzählung er sich noch bis ins Detail erinnert – De- schen Schatten zu zeigen. Ohne seinen dokumentarischen Impuls oder dent’s reticence is both culturally derived and polit - Erin Gleeson, Phnom Penh, 2012 stellen. 2006 schloss er sein Studium der Freien tails, die er uns vorenthält. die seltene Vertrautheit mit den Porträtierten zu opfern, steht Samnang Kunst (Malerei) an der Royal University of Fine Ursprünglich wollte Samnang die Gesichter der Bewohner zeigen, änderte mit seinem Ansatz für einen kulturellen Wandel in Kambodscha, der Arts, Phnom Penh, ab und erweiterte schon kurz aber seine Absicht, als der Ehemann der ersten Porträtierten Angst vor dem Presse, Postkarten und polizeilichen Porträts die visuelle Deutungsmacht Interview: Nora Taylor & Khvay Samnang darauf sein Spektrum auf Skulptur, Fotografie, Vi- Indexikalischen der Fotografie offenbarte – dass der Gezeigte erkannt oder im Land entreißt. deo und Installationen. Daneben arbeitet er als Lehrer an einer High School in Kambodscha. Zu sogar verurteilt werden kann. Die Vorsicht der Bewohner ist sowohl kulturell Erin Gleeson, Phnom Penh, 2012 Nora Taylor: Your work is often described as inter- either as a way of being an active or concerned den Gruppenausstellungen, an denen er beteiligt secting performance and photography rather citizen and artist. For example, in “Untitled” I was war, gehören “Human Nature. Unlike Reminder”, than photographic documents of performance. following an eviction story. The story determined NIU Art Museum, 2011; “Inside”, Sa Sa Art Gallery, Interview: Nora Taylor & Khvay Samnang How do you conceive the overlaps between per- the location of Phnom Penh’s lakes. These large 2009; “Art of Survival”, Metahouse, 2008; “Surfa- formance and photography in your work? and important lakes are being filled with sand un- cing and Anon”, Sala Art Space, 2007. Nora Taylor: Ihre Arbeit wird oft als Verbindung von schied in der zeitlichen Verzögerung. Mich wür- symbolischen Eimer Sand über mir ausgeschüttet – der government and private sector concessions, “Ob aus der Vogelperspektive eines Welt- oder Performance und Fotografie beschrieben, nicht als den auch die Orte dieser Bilder interessieren, ins- so wie der Sand die Häuser zum Schaden der Men- Khvay Samnang: I trained as a painter. It was in 2006 which is forcing thousands of people out of their Staatsbürgers oder aus der Nahsicht eines Ange- fotografische Dokumentation von Performances. besondere aus der Reihe “Untitled”, die größten- schen und der Umwelt ausfüllte. Bei “Air” bin ich ei- that I began using photography as a source for homes. It has been at times very violent. It is de- stellten oder Nachbarn, Khvay ist immer ins Ge- schehen involviert. Und doch ist er wie ein An- Wie sehen Sie die Überschneidungen zwischen teils im Wasser aufgenommen wurde. Könnten ner anderen Geschichte gefolgt – ich lief durch ver- my painting, and I quickly considered it a form of velopment at the cost of people’s lives. I followed thropologe oder Spion einen Schritt entfernt, os- diesen beiden Ausdrucksformen in Ihrer Arbeit? Sie etwas zur Landschaft sagen? schiedene Bezirke in der Präfektur Fukushima in Ja- its own. I was only recently introduced to perfor- the news coverage about the people who resisted zillierend zwischen Beobachtung und Bewertung; pan, wo die schöne und mannigfaltige Landschaft mance art. It was in 2010, during my residency at eviction and were protesting, and others who er geht das Alltagsleben nach nicht aufgelösten KS: Khvay Samnang: Ich habe ursprünglich Malerei studiert. “Untitled” (2010) und “Luft”/”Air” (2011) sind die zwar unversehrt aussah, tatsächlich aber stark ver- Tokyo Wonder Site, at a workshop with Japanese were dismantling their houses. Strikingly, sand Geschichten durch, die in seinen Augen nach ei- Die Fotografie nutzte ich zum ersten Mal im Jahr beiden einzigen Fotoreihen, bei denen ich in der Na- strahlt war. Bei der Beschäftigung mit diesen Ge- performance artist Seiji Shimoda. I began to think was pouring into houses, literally filling them. If ner Intervention verlangen, und sei es nur einer 2006 als Ausgangspunkt für meine Malerei und be- tur gearbeitet habe. Meine anderen Arbeiten ent- schichten wähle ich Orte mit einer ausgeprägten about my body as a medium. But my desire to the people didn’t leave, they would die. I used my symbolischen.” (Erin Gleeson, Sa Sa Bassac, Sep- trachtete sie bald darauf als eine eigenständige standen in Innenräumen, sie zeigen Menschen bei Charakteristik aus. Mich interessiert der Konflikt make images remained present. I don’t think very body in the performance, dumping one symbolic tember 2012) Form. Mit Performancekunst beschäftige ich mich gesellschaftlichen Anlässen wie etwa Hochzeiten in zwischen Entwicklung und Natur. Derzeit verbringe much about whether this is performance art or bucket of sand over myself – like the sand filling erst seit kurzer Zeit, nämlich seit 2010, als ich wäh- “Hochzeit”/”Wedding” (2009) oder in eher privaten ich viel Zeit an den Flussufern in Kambodscha, um not; I do as I need to do. I think of the body and ac- into the houses at the expense of the people and rend eines Stipendiums am Kunstzentrum Tokyo Situationen wie Wohnräumen in “Menschliche Na- die Erosion zu dokumentieren. tion as a form, as a composition. The photograph the environment. For “Air”, I also followed a story Wonder Site an einem Workshop des japanischen tur”/”Human Nature” (2011). Doch eigentlich ver- of an action is a work itself, not simply documen- – walking through various districts of Fukushima Künstlers Seiji Shimoda teilnahm. Damals begann stehe ich alles als Landschaft – was ich durch den NT: Die Szenerie in “Human Nature” ist eine an- tation; the way it will be remembered as an image prefecture in Japan, the beautiful and diverse ich meinen Körper als Medium zu begreifen. Mein Sucher sehe, sind Szenarien, Kompositionen. Was dere. Sie enthält Porträts von Menschen, die nicht is equally as important as the action itself. It tells landscapes that look intact but are violently af- Wunsch, Bilder zu produzieren, blieb jedoch beste- den Ort anbetrifft, folge ich realen Geschichten und nur von sich aus Masken tragen. Könnten Sie den a story that can be shared. In the “Untitled” (2011) fected by radiation. As I follow and investigate hen. Ich frage mich eher selten, ob das, was ich ma- reagiere auf sie, wenn ich dies für notwendig halte, Kontext dieser Bilder näher erläutern? series where I photographed myself in Phnom these stories, I choose places that have a strong che, Performancekunst ist oder nicht; ich mache als aktiver oder betroffener Bürger und Künstler. So Penh’s lakes, there was no live audience present; identity. I’m interested in the conflict between de- einfach, was ich für notwendig halte. Der Körper habe ich mich zum Beispiel in “Untitled” mit der Ge- KS: In dem Wohnblock, wo die Bilder entstanden my audience is the future, those who would see velopment and nature. Currently, I am spending und die Aktion stellen für mich Formen oder Kom- schichte einer Zwangsräumung beschäftigt. Daraus sind, unterrichte ich Kunst. Häufig stehen die Tü- the photographs of that action. time on the riverbanks in Cambodia documenting positionen dar. Die Fotografie einer Performance ist ergaben sich als Orte der Arbeit die Seen von Phnom ren offen, so dass ich in die Innenräume schauen the erosion. eine eigenständige Arbeit und nicht bloß ihre Do- Penh. Diese großen und wichtigen Gewässer werden kann. Sie wirken sehr dramatisch auf mich, fast NT: Photography and performance share that fea- kumentation; denn die Art und Weise, wie eine Ak- derzeit mit Genehmigung der Regierung von Privat- wie Gemälde in schweren, vielschichtigen Farben. ture of displaying actions for audiences to wit- NT: The scenery in “Human Nature” is different. It tion im Bild erinnert wird, ist von ebenso großer Be- firmen mit Sand aufgefüllt, wodurch tausende Men- Die Fotografien dokumentieren den Raum ge- ness. The only difference, as you noted, is the also consists of portraits of people other than deutung wie die Handlung selbst. Das Bild erzählt schen aus ihren Häusern und Wohnungen vertrie- nauso, wie er war; ich habe nichts an ihm verän- time delay. I am also interested in the locations yourself and they appear to be wearing masks. eine Geschichte, die anderen mitgeteilt werden ben werden. Bisweilen ist dies sehr gewaltsam ab- dert. Als ich die Menschen besuchte, saßen sie of these images, especially the “Untitled” series Can you talk about the context of those images? kann. Bei der Reihe “Ohne Titel”/”Untitled” (2011), gelaufen. Die Entwicklung schädigt damit die Men- manchmal auf einem Stuhl oder auf dem Bett, und which is mostly shot in water. Can you talk für die ich mich in den Seen Phnom Penhs fotogra- schen selbst. Ich verfolgte die Berichterstattung ich bat sie, dort sitzen zu bleiben, um sie so zu fo- about the landscape? KS: I teach art in this apartment complex. The fierte, waren keine Zuschauer anwesend – mein Pu- über die Bevölkerung, die gegen die Räumungen Wi- tografieren. In anderen Fällen forderte ich sie auf, doors are often open and I can see the interiors. I blikum ist die Zukunft, all jene, welche die Fotogra- derstand leistete und protestierte, sowie über an- sich an einen bestimmten, mir geeignet erschei- KS: “Untitled” (2010) and “Air” (2011) are the only find them very dramatic, like paintings with deep, fien von dieser Aktion sehen werden. dere, die ihre Häuser niederrissen. Es war eindrucks- nenden Punkt des Bildausschnitts zu begeben. photographic series in which I worked outside in complex colors. The photograph documents the voll, wie der Sand sich in die Häuser ergoss, sie Was die Masken betrifft, so hatte ich eine große the natural landscape. My other series are shot in- room as it was; I did not move things. When I vis - NT: Sowohl Fotografie wie Performance zeigen Ak- buchstäblich ausfüllte. Wenn die Menschen nicht Auswahl dabei; die Leute suchten sich die Maske doors, with people, in social situations like wed- it ed people, sometimes they were sitting on a tionen, damit ein Publikum sie wahrnehmen kann. weggehen, dann würden sie sterben. Für die Perfor- aus, von der sie dachten, dass sie am meisten mit dings (“Wedding”, 2009), or more private situa - chair or bed, and therefore I asked them to stay Wie Sie gesagt haben, besteht der einzige Unter- mance habe ich meinen Körper eingesetzt und einen ihnen zu tun habe. tions like domestic interiors (“Human Nature”, where they were and took a photograph. In other 2011). But I consider everything a landscape cases, I requested people to be in particular spot actually – what is see through my lens is scenery, in my frame where I saw fit. In terms of the mask, ➞ Das Interview ist ein Nachdruck aus dem Katalog zur Ausstellung “Phnom Penh – Das Verschwinden verhindern. Zeitgenössische Kunst und compositions. In terms of location, I follow exist - I had many to choose from; they chose the one Stadtentwicklung in Kambodscha”. Mit freundlicher Genehmigung der ifa-Galerie Berlin. ing stories and respond to them when I feel I must, they felt closest to.

25 26 16.–19.1. / HAU2 Khvay Samnang Staging Cambodia Newspaper Man / Human Nature Khvay Samnang ist ein international renommierter Künstler, der sich überwie- Khvay Samnang is an internationally renowned video and performance artist gend durch die Medien Video, Fotografie und Performance artikuliert. Zu Beginn who will open an exhibition of selected works at the beginning of the thematic Video, Memory and Rock ’n’ Roll des Themenwochenendes wird er eine Ausstellung mit ausgewählten Arbeiten weekend. His installations “Human Nature” and “Newspaper Man” can be seen eröffnen. Seine Installationen “Newspaper Man” und “Human Nature” sind vom on the 2nd floor of HAU2 and as large-format projections in the windows of Performance, Film, Dialog, Musik / 16.–19.1.2014 / HAU1, HAU2 16. bis zum 19. Januar im 2. Stock des HAU2 und als großformatige Projektionen the HAU2 offices from January 16 to 19. Using subtle humour and containing in den Fenstern der HAU2-Büroräume zu sehen. Mit subtilem Humor unternimmt messages that can’t be deciphered at first glance, Khvay Samnang is one of Khvay Samnang als Vertreter einer Generation jüngerer kambodschanischer a generation of young Cambodian artists who are attempting to reinterpret Künstler den Versuch einer Neuinterpretation der Geschichte seines Landes. their own history, contentious current events, and traditional cultural prac - Seine Werke greifen umstrittene aktuelle Ereignisse und traditionelle kulturelle tices. Khvay Samnang works from the unabashed perspective of a participant, Uraufführung: 16.1., 20:00 / HAU1 Praktiken auf. Khvay Samnang arbeitet aus der Perspektive eines Beteiligten, searching through everyday life for unresolved problems that he thinks require erforscht das Alltagsleben und macht Probleme sichtbar, die aus seiner Sicht an intervention, even if it is only a symbolic one. Weitere Vorstellung: 18.1., 20:00 / HAU1 eine Intervention verlangen – und sei es ‘nur’ eine symbolische. Michael Laub Portrait Series Battambang 17.1., 20:00 / HAU2 Kamera / Schnitt: Ebru Karaca Khmer mit englischen Untertiteln Clips On Cambodia: & Perspektiven eines Dokumentarfilmers Perspectives of a Documentary Filmmaker The Cambodian Space Project Margarita Tsomou im Gespräch mit Marc Eberle / Deutsch

Galaxy Khmer Der seit 2001 in Südostasien lebende deutsche Dokumentarfilmer Marc German documentary filmmaker Marc Eberle, who has been living in South Mit Tänzerinnen und Musikern von Phare Ponleu Selpak / Konzept: Michael Laub / Visuals: Marc Eberle Eberle initiierte neben seiner Tätigkeit als Regisseur, Redakteur, Produzent Asia and Southeast Asia since 2001, is active as a director, editor, producer und Ausbilder den Aufbau des ersten Privatsenders im Land. Das Ergebnis and educator. In addition, he initiated the formation of Cambodian Televi- Sind wir alle wirklich so individuell, wie wir glauben? In seiner Reihe “Portrait Are we really all as individual as we think? In his “Portrait Series”, which he ist das Cambodian Television Network. Gegenwärtig arbeitet Eberle an ei- sion Network, the first private broadcasting channel in Cambodia. Currently Series”, die er an verschiedenen Orten auf der Welt realisiert, beschäftigt sich has realized in various places all over the world, Michael Laub is concerned ner Dokumentation über The Cambodian Space Project. Sie rekonstruiert Eberle is working on a documentary about The Cambodian Space Project, Michael Laub mit der Frage, was geschieht, wenn er Menschen innerhalb eines with the question of what happens if he stages people in a setting that always das Phänomen der Khmer-Rockmusik der 1960er Jahre, ihre Wiederent- a band that both reconstructs the phenomenon of Khmer rock music form immer gleichen Settings inszeniert – unabhängig von den geografischen und remains the same – independent of the geographical and cultural differences deckung und erfolgreiche Überführung in die Gegenwart. Am 17. Januar the 1960s and sees to its successful transition into the present. On January kulturellen Unterschieden, in denen sie sich jeweils bewegen. Seit längerer in which they circulate. lotst die Kulturwissenschaftlerin Margarita Tsomou den Regisseur durch 17, cultural theorist Margarita Tsomou will accompany Marc Eberle on a Zeit reist der in Brüssel ansässige Regisseur und Choreograf regelmäßig nach For some time now, the Brussels-based director and choreographer has been sein umfangreiche Archiv: “Clips On Cambodia” zeigt ausgewählte Aus- journey through his extensive film archive: “Clips on Cambodia” shows se- Kambodscha. Im Rahmen seiner Recherchen im Umfeld der Phare Ponleu Sel- regularly travelling to Cambodia. His research in the milieu surrounding the schnitte aus eigenen und fremden Filmen, die sich mit der Geschichte lected footage from his own and other films dealing with Cambodia’s (mu- pak – einer NGO, die nach dem Ende des Pol-Pot-Regimes den kulturellen Wie- Phare Ponleu Selpak – an NGO that promotes cultural reconstruction in the Kambodschas beschäftigen – von den 60er Jahren über die Verfolgungen sic) history, from the ‘60s – through the persecutions and eliminations of deraufbau in dem südostasiatischen Land unterstützt – ist nun die “Portrait Southeast Asian country after the end of the Pol Pot regime – formed the und Eliminierungen des Pol-Pot-Regimes bis heute. the Pol Pot regime – to the present. Series Battambang” entstanden. frame work for the “Portrait Series Battambang”. Im Vergleich zur letzten Folge dieser Reihe, die er am Burgtheater in Wien pro- In comparison to the last instalment in this series, which was produced at the duzierte, könnte das Ergebnis kaum unterschiedlicher sein. Anstatt sie auf einer Burgtheater in Vienna, the results here could not be more different. This time, Bühne in Szene zu setzen, hat Michael Laub seine Darsteller diesmal auf Video instead of placing the performers on stage, Michael Laub has captured them 19.1., 17:00 / HAU2 festgehalten. Die Aufnahmen fügen sich zu einem traurigen und poetischen, aber on video. The recordings add up to a sad and poetic, but also highly vital mi- auch höchst vitalen Mikrokosmos einer Gesellschaft, die sich von Fesseln und crocosm of a society that is liberating itself from the shackles and conse - Aufbruch und Wandel nach der Diktatur der Roten Khmer Folgen des Kolonialismus befreit und über die Erinnerung an die Schrecken der quences of colonialism, and seeking to get a clear view to the future beyond Awakening and Transformation after the Dictatorship of the Khmer Rouge Vergangenheit hinaus einen Blick auf die Zukunft gewinnen will. the memory of the horrors of the past. Das Schicksal Kambodschas versinnbildlicht sich in der wechselhaften Ge- Cambodia’s fate is epitomized by the chequered history that rock ’n’ roll has Mit Michael Laub, Coralie Morillon, Xavier Gobin, Khvay Samnang, Julien Poulson und Srey Channthy / schichte, die der Rock ’n’ Roll hier durchlaufen hat. Während der 60er Jahre ent- undergone in the country. During the ‘60s, there emerged a unique and highly Moderation: Margarita Tsomou / Englisch und Khmer mit englischer Übersetzung stand in dem Land eine einzigartige und höchst originelle Lesart genuin westli- original way of interpreting genuinely western musical styles such as garage, cher Stile wie Garage, Surf, Space oder Psychedelic Rock. Ihre Protagonisten surf, space or psychedelic rock. The key figures were persecuted and elimi - Margarita Tsomou moderiert eine Gesprächsrunde mit Michael Laub über Margarita Tsomou moderates a discussion with Michael Laub about the wurden unter der Schreckensherrschaft der Roten Khmer verfolgt und eliminiert. nated during the Khmer Rouge’s reign of terror. A new generation of bands die Entstehung und Konzeption von “Staging Cambodia”. In diesem Rah- emergence and conception of “Staging Cambodia”. It will also provide a Eine neue Generation von Bands hat diese fast vergessene Tradition aufgear- has brought back this almost forgotten tradition, and is now pursuing it to men kommen auch zentrale Protagonisten zu Wort, darunter Coralie Mo- chance for central figures from the scene to speak, including Coralie Morillon beitet und führt sie nun künstlerisch wie kommerziell höchst erfolgreich weiter. great success, both artistically and commercially. rillon und Xavier Gobin von Phare Performing Social Enterprise, Srey and Xavier Gobin from Phare Performing Social Enterprise, Srey Channthy Im zweiten Teil des Abends, direkt im Anschluss an die Aufführungen der “Portrait In the second part of the evening, directly following the screening of the “Por- Channthy und Julien Poulson von The Cambodian Space Project, Doku- and Julien Poulson from The Cambodian Space Project, documentary film- Series Battambang”, zeigt Michael Laub ein Konzert der in Phnom Penh ansäs- trait Series Battambang”, Michael Laub presents a concert by the Phnom mentarfilmer Marc Eberle, und der Bildende Künstler Khvay Samnang. maker Marc Eberle, and Khvay Samnang, a video and performance artist. sigen Band The Cambodian Space Project. Das Ensemble wird verstärkt um Mu- Penh-based band The Cambodian Space Project. The ensemble will be joined siker und Tänzer aus Phnom Penh und Battambang. Darüber hinaus kommen ei- by other musicians and dancers from Phnom Penh and Battambang. In addi- gens für dieses Projekt entwickelte Visuals des Dokumentarfilmers Marc Eberle tion, there will be visuals by the documentary filmmaker Marc Eberle, made Koproduktion: Konzept: Adressen: Kasse: HAU Hebbel am Ufer, Phare Ponleu Selpak Association, BIT Teaterga- Michael Laub / Remote Control Productions, Annemie Vanackere HAU1 – Stresemannstr. 29, 10963 Berlin T. +49 (0)30 – 259 004 -27 zum Einsatz. especially for this project. rasjen, Bergen und House on Fore mit Unterstützung des Kulturpro- HAU2 – Hallesches Ufer 32, 10963 Berlin Tageskasse HAU2: Mo–Sa 15–19 Uhr Es entsteht ein seltsam unwirklicher “Rock ’n’ Roll Circus”, dessen Formsprache What this all amounts to is a bizarre, surreal “rock ’n’ roll circus”, the formal gramms der Europäischen Union. Gefördert aus Mitteln des norwegi- Redaktion: Christoph Gurk, Annika Frahm HAU3 – Tempelhofer Ufer 10, 10963 Berlin Abendkasse eine Stunde vor schen Außenministeriums und des norwegischen Verbands der Dar- Gestaltung: Jürgen Fehrmann, Druck: Henke Pressedruck Vorstellungsbeginn von den psychedelischen Multimedia-Performances der 60er Jahre inspiriert ist. language of which is inspired by the psychedelic multimedia performances of stellenden Künste. Hrsg: HAU Hebbel am Ufer 2013 Online-Buchung: www.hebbel-am-ufer.de Unter dem Titel “Galaxy Khmer” bringt Michael Laub so seine persönliche Vision the ‘60s. Under the title “Galaxy Khmer”, Michael Laub brings to the stage his Künstlerische Leitung & Geschäftsführung: Annemie Vanackere einer Konvergenz von “Video, Memory & Rock ’n’ Roll” auf die Bühne. personal vision of a convergence of “Video, Memory and Rock ’n’ Roll”.

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