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12302KAI Neuwirth Booklet 05.09.2002 12:48 Uhr Seite 1 12302KAI Neuwirth Booklet 05.09.2002 12:48 Uhr Seite 1 1 12302KAI Neuwirth Booklet 05.09.2002 12:48 Uhr Seite 2 OLGA NEUWIRTH (* 1968) 1 Clinamen / Nodus (1999) 14:09 for orchestra London Symphony Orchestra Pierre Boulez 2 Construction in Space (2000) 46:39 for 4 soloists, 4 ensemble groups and live electronics “à Pierre Boulez à son 75ème anniversaire” Eva Furrer, bass flute Ernesto Molinari, bass- and double bass clarinet Rico Gubler, saxophones Hannes Haider, tuba Peter Böhm, live electronics Klangforum Wien Emilio Pomàrico TT 60:59 Coverfoto: Ꭿ Philippe Gontier 2 12302KAI Neuwirth Booklet 05.09.2002 12:48 Uhr Seite 3 Wolfgang Fuhrmann Der Regen Der Regen ging weiter. Es war ein schwerer und als schließlich der letzte Überlebende Regen, ein unaufhörlicher Regen, ein nebliger einen intakten Sun Dome erreicht, wird die und dampfender Regen; es war ein Sprüh- Atmosphäre der Geborgenheit und Rettung mit regen, ein Guss, ein Springquell, Peitschen- so utopischer Übersteigerung beschworen, schläge für die Augen, Sog an den Knöcheln; dass den Leser der Verdacht beschleicht, es es war ein Regen, um alle Regen und die handle sich nur noch um die Vision eines Erinnerung daran zu ertränken. Er kam pfund- Sterbenden. und tonnenweise, er zerhackte den Dschungel Bedrohliches, Panisches, irre Bewegung – und zerschnitt die Bäume wie Scheren und ebenso aber auch grotesker Humor und infer- rasierte das Gras und unterhöhlte den Boden nalische Freude am kunstvollen Krach – prä- und zerrupfte die Büsche. Er ließ die Hände gen den Eindruck von Olga Neuwirths von Männern zu den Händen von runzligen Kompositionen. Neuwirth ließ sich von Affen schrumpfen; ein massiver gläserner Re- Bradburys Erzählung faszinieren, von der Idee gen regnete hernieder, und er hörte nicht auf. der Bewegung-im-Stillstand, von der Wieder- In ihren ersten Sätzen schon praktiziert Ray kehr des Immer-Gleichen im langen Regen wie Bradburys Short Story „The Long Rain“ selbst auch im Irrweg der Raumfahrer. So entstand, den Schrecken, den sie beschreibt: Das atem- für das Festival steirischer herbst und die und pausenlose Niederprasseln der immer Donaueschinger Musiktage, Neuwirths Kompo- neuen Metaphern und Beschreibungen, mit sition The Long Rain, die zusammen mit dem denen immer ein und dasselbe Phänomen ein- gleichnamigen, aber unabhängig von der Musik gekreist wird, der Stillstand des Bezeichneten entstandenen, Film von Michael Kreihsl am bei heftigster Bewegung der Signifikanten. 19. Oktober 2000 in Graz uraufgeführt wurde. Bradburys Text – der sich, wie so oft bei diesem Die geringfügig zeitlich überarbeitete konzer- Autor, als spannende Geschichte ebenso lesen tante Fassung – ohne Film – trägt den Namen lässt wie als Parabel – schildert die verzweifel- Construction in Space, ein Verweis auf eine te Suche von vier Raumfahrern, die auf dem andere Inspiration Neuwirths: die Werke des Planeten Venus eine Bruchlandung gebaut Bildhauers Naum Gabo, die bei aller räum- haben, nach den „Sun Domes“, die sich die lichen Massivität durch gekurvte Flächen den Menschen auf der Venus gegen den irre Eindruck von erstarrter Bewegung vermitteln. machenden, unendlichen Regen errichtet Die Donaueschinger Zweitaufführung löste haben. Aber ihre Suche führt in die Irre; Panik heftige Proteste des Publikums aus. In der Tat und Wahnsinn dezimieren die kleine Gruppe, mochte sich mancher bedroht fühlen: 3 12302KAI Neuwirth Booklet 05.09.2002 12:48 Uhr Seite 4 Construction in Space schließt das Publikum in der-Stelle-treten. Auf die erste dieser Passagen vier Orchestergruppen und vier Solisten (Bass- folgt, gleichsam naturalistisch, das Prasseln und Kontrabass-Klarinette, Bassflöte, von gefiltertem Regen, gemischt mit Maraca- Saxophon, Tuba) „wie in einen Boxring“ klängen. (Neuwirth) ein, in elektronischen Interludien, Zwischen diese verstörten Bewegungsmuster „Sun Domes“ genannt, wird der Klang sehr treten die großen elektronischen Klanginseln langsam wie in einer Kuppel über den Köpfen der Sun Domes; in der kreisenden, gleichsam der Hörer im Raum bewegt. Der Gesamtein- körperlosen Ruhe ihrer diffusen Schwebe- druck ist so von beabsichtigter Klaustrophobie. klänge der nicht weniger beunruhigende Auch musikalisch ist das Stück ganz aus einer Gegenpol. Der Gesamteindruck ist so stati- bedrängenden Einheit heraus konstruiert. Die scher, räumlicher und großflächiger als bei fast chaotische Fülle und hyperaktive Vielfalt anderen Werken Neuwirths, die ungewöhnliche von Neuwirths Musik entwickelt sich hier wie Ausdehnung des Stücks auf eine Dreiviertel- stets aus bewusst strenger Materialauswahl. stunde musste, so erläutert die Komponistin, Die sieben verschiedenen Intervalle der zu einer anderen Disposition der musikalischen Tonfolge a B e D (re) f c g es werden permu- Zeit führen. tiert, Akkorde daraus gebildet und über jedem Das Ende greift die utopische Stimmung von Ton noch Obertonspektren abgeleitet. In der Bradburys Finale auf: ästhetischen Erfahrung geht Neuwirths Stück, so unverkennbar sein Stil der Autorin zugehörig Solisten und einzelne Orchestermusiker spie- ist, neue Wege. Das Stück beginnt in hekti- len die Obertonreihen, deren einzelne Töne im scher, rhythmisch kleinteiliger Bewegung, die Orchester als Akkorde gleichsam wie ein Echo im Lauf des Stückes immer wieder aufgenom- hängenbleiben. Diese aufwärts strebenden men wird. Teile dieser Exposition werden wie Linien werden immer dichter ineinander kleine Ritornelle oft wörtlich zu einem späteren geschoben (eine Verkeilung von Abschnitten, Zeitpunkt übernommen, ganz oder in reduzier- die ein wesentliches formales Prinzip dieses ter Instrumentation, wie im Cut-and-paste- Werks darstellt), bis sie in einer einzigen glanz- Verfahren, dazu bis zu drei- und vierfachen vollen Geste verlöschen. Der Raum des Stücks unmittelbaren Wiederholungen unterworfen, hat sich geöffnet. die momentweise den Eindruck von minimalis- Construction in Space trägt die Widmung: tischen Loops hervorrufen. Manchmal gehen “à Pierre Boulez à son 75ème anniversaire”, dem Treiben die Tonhöhen verloren und die als ein Dankeschön für den Auftrag, den der Musik stürzt in Geräuschlöcher. Mitunter aber Komponist zuvor, für die Festkonzerte zu frisst sich die Bewegung auf den Einzeltönen e- seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag, an f-fis fest, ein panisches und desorientiertes Auf- Neuwirth vergeben hatte. 4 12302KAI Neuwirth Booklet 05.09.2002 12:48 Uhr Seite 5 Clinamen / Nodus, jenes Auftragswerk, ent- auftretenden katastrophalen Moment, der stand mit einer schweren Hypothek: Nicht nur immer wiederkehren kann. Im Stück entspricht musste es sich bei dem Festkonzert des diesem Clinamen ein rhythmisches Konstrukt, London Symphony Orchestra unter Boulez’ ein gleichsam „maschineller“ Teil, der das Leitung am 26. Jänner 2000 im Barbican Stück in regelmäßigen Abständen durchbricht. Centre zwischen zwei übermächtigen Das andere Strukturelement, „Nodus“ (lat. Zeugnissen der österreichischen Moderne, Knoten), ist der Ton D, aufgefächert durch vier- Alban Bergs Orchesterstücken op. 6 und teltönige Abweichungen (auch die zweiten Gustav Mahlers Sechster Symphonie, behaup- Violinen wurden um einen Viertelton verstimmt) ten – die Vorgabe lautete auch, keine Bläser zu und mit seinen Nachbartönen Cis und Es/Dis verwenden, um die von Berg und Mahler heftig Ausschnitt einer Obertonreihe auf Gis, die dem beanspruchten Musiker nicht vollends zu Stück zugrunde liegt. D ist zugleich das erschöpfen. So reduzierte sich die Besetzung Zentrum, auf dem das Stück, wie eine auf die durch Bartók geheiligte Dreizahl von „Invention in D“, immer wieder hängenbleibt. In Streicher, Schlagzeug und Celesta. Damit gab seiner Hartnäckigkeit erinnert dies an das sich Neuwirth aber nicht zufrieden. Sie baute „Festfressen“ der orchestralen Bewegung in „Scharnierinstrumente“ zwischen Streichern „Construction in Space“ in einem ebenso klei- und Schlagzeug ein: zwei gegeneinander ver- nen Tonraum und ist doch phänomenal etwas stimmte bayerische Zithern und eine ganz Anderes – eher ein Stillstand der musika- Hawaigitarre. Deren metallischer, teils geschla- lischen Energie, eine Stasis, aber nicht im gener, andererseits mit dem Slide glissandie- Sinne der Beruhigung, sondern eben wie der render, und drittens durch den e-bow statisch Knoten die Stelle, an der ein Problem ungelöst fixierter Klang holen sozusagen den bleibt und das System blockiert. Beruhigend ist Bläserklang virtuell in das Orchester zurück. Olga Neuwirths Musik nie. Dazu kommt der dem Vokalen angenäherte Gleich nach dem chaotischen Beginn, der alle Klang von Sirenen (wie bei Varèse), das Elemente des Stücks gleichzeitig präsentiert, bezeichnenderweise so genannte „Lion’s Roar“ „verfängt“ sich die Musik in diesem D. Im wei- (als Annäherung des Schlagzeugs an kratzhaf- teren Verlauf tritt viermal das Clinamen, die te Streicherklänge) und eine reiche Farbpalette komplexe rhythmisierte Abfolge auf, mal im anderer Schlagzeug-Instrumente. „Clinamen“, Schlagzeug, mal als bloß tonloses Geräusch, lateinisch für die Neigung einer Sache, zuletzt im vollen Orchester, und die bloße bezeichnet einerseits diesen Versuch einer Konfrontation zwischen Clinamen und Nodus klangfarblichen Vermittlung, andererseits, in weicht einer Verknüpfung beider Elemente. der Aneignung des Freud’schen Terminus Das Werk ist reich an dramaturgisch prägnan- durch Deleuze/Guattari, den unvorhersehbar ten Momenten: Eine markante Passage in der 5 12302KAI Neuwirth Booklet 05.09.2002 12:49 Uhr Seite 6 Mitte erweist mit dem Schlag der kleinen Trom- mel Mahlers Sechster Referenz, wobei deren
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