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Nr. Liskor – Erinnern 008 Jahrgang, Dezember 2017, Tewet 5778 .2 לזכור Liskor –Erinnern Magazin derHamburger GesellschaftfürjüdischeGenealogiee.V. (1893 Ein Hamburger erobert Hollywood Ein Hamburger Hollywood erobert

– –Seite 20

1982)

לזכור Impressum / Editorial

Impressum Herausgeber Liebe Leserinnen und Leser, Hamburger Gesellschaft für jüdische Genealogie e.V. nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs standen die Redaktion Juden in Deutschland ihren christlichen Landsleuten an Leitung: Jürgen Sielemann Opfersinn und Einsatzbereitschaft bekanntlich in keiner Korrektorat und Beirat: Dr. Jutta Braden, Weise nach. Davon zeugen auch die Zahlen der Gefallenen Dr. Beate-Christine Fiedler und Verwundeten, die Aktivitäten humanitärer Hilfsorgani- Layout: Christian Wöhrl sationen und die immense Spendenbereitschaft jüdischer Druck: Frick, Krumbach Bürger. Welche Mitschuld der Kaiser am Kriegsausbruch Redaktionsadresse trug, welche Opfer das entsetzliche Ringen kosten würde Hamburger Gesellschaft für jüdische Genealogie e.V., c/o Jüdi- und wie lange es noch dauern würde, konnte damals nie- sche Gemeinde in , mand wissen. Deshalb erscheint die Stimmung, in der die Grindelhof 30, 20146 Hamburg Soldaten zur Front verabschiedet wurden, nicht ganz und E-Mail: hgjg2011@googlemail. com gar unbegreifich. Soweit ersichtlich, wurde die Lage von Hamburger Preis Einwohnern mit der Staatsangehörigkeit einer Feindmacht 10,00 €. Verkaufspreis durch Mitgliedsbeitrag abgegolten. in den Jahren 1914 bis 1918 bisher noch nicht untersucht. Nicht wenige der Betrofenen hatten schon jahrzehntelang Vereinskonto in Hamburg gelebt, und nicht wenige von ihnen hatten Hamburger Gesellschaft für jüdische Genealogie e.V. vergeblich Einbürgerungsanträge gestellt, weil sie als „Ostju- Hamburger Sparkasse den“ Beamten wie dem antisemitischen Polizeipräsidenten IBAN: Gustav Roscher unerwünscht waren. Von zwei jüdischen DE24 2005 0550 1010 2116 29 BIC: HASPDEHHXXX Einwohnern, denen dies geschah, handelt der erste Beitrag.

Eingabe von Artikeln Der gebürtige Hamburger John Brahm zählte zu den Unsere Leser sind eingeladen, Artikel zur Veröfentlichung zu schöpferischen Größen der Filmkunst in Deutschland und senden. Die Beiträge ver pfichten Hollywood. Ihm und seinen Hamburger Vorfahren ist der ausschließlich die Verfasser. Beitrag von Volker Reißmann gewidmet. Abdrucke aus dieser Zeitschrift sind nur mit dem Einverständnis der Redaktion gestattet. In der vorletzten Folge ihres Beitrags über die Nachkommen

Copyright des Isaak Levy aus Rendsburg berichtet Sylvia Steckmest © Hamburger Gesellschaft für von vier weiteren Familien ihrer Verwandtschaft. jüdische Genealogie e.V. Liskor – Erinnern. Wie gewohnt werden im Beitrag „Neues aus unserer Biblio- Titelbild thek“ drei Bücher vorgestellt, die in der Flut der Neuerschei- John Hans Brahm, nungen besonderes Interesse verdienen. undatierte Aufnahme, Quelle: privat / Familie Brahm

ISSN 2509-4491 Mit herzlichem Gruß Jürgen Sielemann

2 Liskor – Erinnern Jürgen Sielemann Vom Umgang hamburgischer Behörden mit jüdischen Einwohnern fremder Staatsangehörigkeit im Kaiserreich und in der Weimarer Republik

Schon vor über 90 Jahren wurde die ent- Beispielen primär der Frage nach, wie es scheidende Bedeutung der Staatsangehörig- britischen und russischen Staatsangehöri- keit für das Schicksal unzähliger Menschen gen in Hamburg in der Zeit des Ersten in B. Travens Erfolgsroman „Das Toten- Weltkriegs erging, die sich schon in Frie- schif“ einer großen Leserschaft im In- und denszeiten um ihre Einbürgerung bemüht Ausland vor Augen geführt und angepran- hatten. Ihre Herkunftsländer standen mit gert. Das Buch hat kaum an Aktualität ver- Deutschland im Krieg. Ihrer Anwesenheit loren. Auch in unserer Zeit der großen in der Stadt wurde pauschal mit großem Flüchtlingsströme entscheidet die Nationa- Misstrauen begegnet. lität über das Geschick zahlloser Männer, Im Interesse der Authentizität lässt Frauen und Kinder. der Verfasser die handelnden Personen im Wie stand es mit den Einbürgerungs- Folgenden durch die Wiedergabe ihrer anträgen in Hamburg wohnender osteuro- Schreiben häufg selbst zu Wort kommen, päischer Juden in der Kaiserzeit? Die im anstatt diesen Beitrag auf eine lediglich be- hiesigen Staatsarchiv bewahrten Akten of- schreibende Darstellung zu beschränken. fenbaren, dass die damalige Behördenpraxis Der Wortlaut historischer Quellen macht kein Ruhmesblatt für unsere als liberal und die Vergangenheit oft plastischer erfahrbar 1 weltofen gepriesene Stadt gewesen ist. Die als manche Abhandlung der deskriptiven nachfolgende Untersuchung geht in zwei Historiographie.

Fall 1 „Möge eine jede Kugel, die aus dem Messingbett verarbeitet wird, ein Volltrefer sein.“ Aus dem Leben eines glühenden Patrioten David Bock wurde am 4. April 1863 in ei- avancierte er alsbald zum Direktor einer nem Dorf namens Skulsk in Russisch-Po- Gummiwarenfabrik und heiratete 1889 len geboren. Seine Eltern, der Kaufmann Bertha Stern, eine Kaufmannstochter aus 2 Hersch (Hermann) Bock und Lipke (Char- Liverpool. Im Oktober 1901 übersiedelte lotte) Bock geb. Roginski, wanderten 1876 die Familie mit den Kindern Hilda, Ber- 3 mit ihren Kindern nach London aus. Um nard und Gladys nach Hamburg. Hier trat 1880 siedelte die Familie nach Manchester Bock als Teilhaber und Direktor in die über, wo der Vater als Bilderhändler tätig Gummimäntelfabrik Frankenburg & Co. 4 war. David Bock besuchte dort die Volks- GmbH ein. Das Geschäft blühte und schule, kehrte nach London zurück und er- schon nach kurzer Zeit war Bock „ein ge- lernte den Kaufmannsberuf. In Manchester machter Mann“. 1902 wurde dem Ehepaar

2. Jahrgang, Nr. 008 3 Vom Umgang hamburgischer Behörden mit jüdischen Einwohnern fremder Staatsangehörigkeit

Bock mit der Tochter Lily Überschrift „Vergeltung!“ 5 ein viertes Kind geboren. bekannt: Da die Hamburger Poli- Die Frage der Behandlung zeibehörde den Nachweis der Deutschen in England einer Staatsangehörigkeit ist in jüngster Zeit mehr- verlangte, reiste der staa- fach Gegenstand von Erör- tenlose David Bock im terungen in der Presse ge- selben Jahr nach England wesen. Von besonderem In- und ließ sich dort mit teresse waren dabei die Frau und Kindern als bri- veröfentlichten Mittei- tischer Staatsbürger natu- lungen eines kürzlich aus ralisieren. England zurückgekehrten Mit ihrer englischen Mannes, die sich auf das Staatsangehörigkeit dürfte David Bock Gefangenenlager in New- sich die Familie Bock im Foto: Staatsarchiv Hamburg, bury bezogen und feststell- „England-afnen“ Ham- 332-7, B VI 3982 ten, dass die Behandlung burg nicht unwohl gefühlt unserer dort untergebrach- 6 haben. Mit dem Ausbruch des Ersten ten Landsleute, nicht nur der kriegsgefange- Weltkriegs war die Eintracht beendet - jetzt nen, sondern auch der übrigen Deutschen in galten die Bocks als feindliche Ausländer. England, geradezu menschenunwürdig sei. Bis zum Oktober 1914 blieben sie unbehel- Infolgedessen ist ein berechtigter Sturm der ligt. Was die englischen Staatsangehörigen Entrüstung in den breitesten Schichten der dann jedoch zu erwarten hatten, machte Bevölkerung darüber entstanden, dass die Be- Maximilian von Roehl, Kavalleriegeneral handlung der sich hier aufhaltenden Englän- und Kommandierender General des IX. Ar- der im Vergleich zu unseren Landsleuten in mee-Korps in Altona, im „Hamburger England eine viel zu milde sei. Diese Tatsache Fremdenblatt“ vom 30.10.1914 unter der hat den zuständigen Behörden Veranlassung

General Maximilian von Roehl (1853-1922), 5. vorn rechts, in die Kamera schauend Foto: Vaterstädtische Blätter, Nr. 36 von 1915

4 Liskor – Erinnern gegeben, dem amerikanischen Botschafter in an, dass der Veredelungsverkehr nach Eng- London mitzuteilen, dass die hier befndlichen land aufgehoben wird, der ein Schaden der englischen Männer vom 17. bis zum 55. Le- deutschen Gummi-Industrie war, und mit bensjahre gleichfalls gefangengesetzt würden, Hilfe des Herrn Kommerzienrats Hof, Gene- wenn nicht bis zum 5. November eine amtli- raldirektor der V.G.F. Harburg-Wien in che Nachricht über die Freilassung der wehr- Harburg, ist es auch gelungen, das Verede- fähigen Deutschen in England einginge. lungssystem abzuschafen. Ich beschäftige in meiner Fabrik aus- David Bock begrif, was ihm bevorstand. schließlich Deutsche, und die Engländer, die Am nächsten Tag wandte er sich in einem bei mir in Stellung waren, habe ich sofort nach fünfseitigen Schreiben an General von Ausbruch des Krieges entlassen. Roehl: Gleich nach Beginn des Krieges reichte Ew. Exzellenz! ich ein Gesuch ein, um Hamburger Staatsan- In den Zeitungen las ich die Veröfentlichung gehöriger zu werden. Die Ursache, dass ich „Vergeltung“ und gestatte mir, Ihnen folgendes dieses nicht schon früher tat, ist lediglich die, zu schildern: dass die Engländer in Deutschland wirklich Ich bin seit dem Jahre 1901 in Ham- zu vornehm und mit aufallender Höfichkeit burg ansässig, wo ich unter der Firma „Fran- behandelt wurden. Wenn ein Engländer, sei es kenburg & Co. G.m.b.H.“ hier eine Gummi- ein naturalisierter oder gebürtiger Engländer, mäntel-Fabrik gründete, in der ich heute nach Deutschland kam, wurde er einfach ver- 7 etwa 400 Leute beschäftige. In einem frühe- göttert, so dass er stolz darauf war, Engländer ren Gesuche betr. Armeelieferung habe ich be- zu sein, und tatsächlich hierauf ist es zurück- reits erwähnt, was die deutsche Industrie mir zuführen, dass ich mich nicht früher naturali- zu verdanken hat: Wie ich vom Beginn mei- sieren ließ, trotzdem ich das deutsche Volk ner Etablierung an englische Stofe in schätze und die Kultur Deutschlands auf das Deutschland nachahmen ließ und nicht nur Höchste anerkenne! für beinahe eine Million Mark Ware jährlich Die Akte ist jetzt abgeschlossen und ich aus Sachsen, Türingen und dem Elsass bezog, hatte auch mit dem Herrn Regierungsrat eine die ich in meiner Fabrik verarbeitet habe, diesbezügliche Unterredung. Soweit mir be- sondern dass ich auch tausende Stücke Ware kannt, steht meiner Naturalisierung auch jedes Jahr nach England versandte. Durch nichts mehr im Wege, außer, dass die Sache mich mussten die Vereinigte Gummiwa- durch die jetzigen politischen Verhältnisse eine ren-Fabriken Harburg-Wien in Harburg Verzögerung erleiden wird. Ich bringe jedoch a.[n der] E.[lbe] in ihrer Gummierungsan- meine innigste Hofnung zum Ausdruck, dass stalt so bedeutende Vergrößerungen vorneh- ich deutscher Untertan werde, und ich kann men, dass sie heute imstande sind, jeden An- mit aufrichtigem Herzen sagen: „Deutsches sprüchen zu genügen; ferner, dass sie aus- Leid ist mein Leid und deutsche Freude ist schließlich auf meine Veranlassung Druckma- meine Freude!“ Ich war stets deutsch gesinnt, schinen aufstellten, für die ich ihnen die nöti- und dieses kann ich hundertfach beweisen. Ich gen Winke erteilte, damit die englische Kon- bin nur naturalisierter Engländer, und das kurrenz ausgeschaltet werden sollte. Ich regte englische Volk war mir nie sympathisch!

2. Jahrgang, Nr. 008 5 Vom Umgang hamburgischer Behörden mit jüdischen Einwohnern fremder Staatsangehörigkeit

Ich möchte nicht zu Papier bringen, was ins Ausland gehen, einliegende aufklärende ich alles seit dem Ausbruch des Krieges für ge- Schriften bei. Alles dieses beweist meine deut- meinnützige Zwecke gestiftet habe, denn die- sche Gesinnung und ich bitte daher wieder- ses würde zu viel [werden]; es ist aber dem holt, Vorstehendes gütig zu berücksichtigen Roten Kreuz, der Kriegshilfe, dem Brocken- und bei Inkrafttreten der Vergeltungs-Maßre- haus, den Sammelstellen der Flotte und ver- geln mich davon zu befreien! schiedenen anderen Instituten bekannt. Ich Einen ewigen Dank wird dem Deut- zeichnete auch für die Kriegsanleihe M[ark] schen Reiche dann schuldig sein 10.000,- und habe die Interimsscheine bereits alleruntertänigster erhalten. D. Bock Mein heutiges Gesuch dient, Sie zu bit- Direktor in Firma Frankenburg & Co. ten, im Falle des Inkrafttretens der „Vergel- Gesellschaft mit beschr. Haftung tung“ mit meiner Person eine Ausnahme zu machen und mich nicht in Mitleidenschaft zu Beigefügt waren dem Schreiben zwei Mus- ziehen, denn ich leide an einer Krankheit, die ter der von Bock erwähnten „aufklärenden für mich bei einer event.[uellen] Gefangen- Schriften“ - Sonderdrucke von deutscher schaft gefährlich werden könnte, dieses kann Kriegspropaganda aus Hamburger Zeitun- Herr Prof. Rumpel event.[uell] bescheinigen, gen auf Dünndruckpapier, die er der Aus- 8 sondern [sic] ich würde mich sofort genötigt landspost beizufügen pfegte. sehen, sämtliche Leute, wie gesagt etwa 400 Eine Woche später ging in der Poli- an der Zahl, zu entlassen, die der Kriegshilfe zeiwache in der Hoheluftchaussee ein Brief zur Last fallen würden, und wodurch sich die folgenden Inhalts ein: bereits wirtschaftlich schlechte Lage noch ver- Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass der schlechtern würde. [...] Ich zahle bekanntlich jüdische Geschäftsführer David Bock und sei- die besten Löhne und Salaire in der Branche, ne Frau, gebürtig aus England, Isestraße 5, Arbeiter und Arbeiterinnen verdienen nach- Mitinhaber der Firma Frankenburg Ltd., weislich M 30,- bis M 90,- wöchentlich bei Kaiser-Wilhelm-Straße 89-91, Vorbereitun- mir. In fast allen Fabriken und Geschäften gen zur Flucht machen, um sich der polizeili- werden nur die Hälfte resp.[ektive] zwei chen Ermittelung zu entziehen. Drittel der früheren Gehälter gezahlt, woge- Einige deutsche Nachbarn gen ich, außer dem Monat August, volle Salai- re zahlte. Mein Prinzip war und ist: „Leben Der Fall erschien der Polizei nicht allzu und leben lassen!“ Wenn ich verdiene, sollen wichtig; erst einen Monat später machte auch alle meine Angestellten gut verdienen. sich Wachtmeister Keil auf den Weg. Von Ich habe eine große Anzahl Weißbücher zwei Bewohnerinnen des Hauses Isestraße nach neutralen Ländern gesandt, und wö- 5 erfuhr er, dass Bock große Kisten aus sei- chentlich sendet das „Hamburger Fremden- ner Wohnung auf den Boden hatte schafen blatt“ für mich die „Illustrierte Wochenausga- lassen. Bock, der krank im Bett lag, erklärte, be“ in ausländischer und deutscher Sprache an was es damit auf sich hatte: alle meine ausländischen Vertreter und Be- Am 5.11. hatte ich von eine Schlafzim- kannten. Außerdem füge ich allen Briefen, die mer-Einrichtung in Kisten verpackt geschickt

6 Liskor – Erinnern bekommen. Da ich diese Einrichtung meiner Internierten hätten in Hamburg Not zu lei- Krankheit wegen jetzt in meiner Wohnung den; sie erhielten ungenügende Nahrung nicht aufstellen lassen kann, so habe ich diese und dürften sich nur einmal am Tag wa- am 6.11.14 vorläufg auf meinen Boden stel- schen. „Sie sind über 600 an Bord, alles mit- len lassen. Ich bin lungenkrank und kann das einander gemischt auf dem Wohnschif, Bett nicht verlassen. Chinesen, Neger, Russen und Engländer, und sie erhalten dieselbe Behandlung, ob es „In der Wohnung war von einer Vorberei- ein Kapitän oder ein Mensch in sonst einer 13 tung zur Flucht nichts wahrzunehmen“, Stellung ist.“ 9 vermerkte der Polizist. Im November 1914 wurden die Dennoch wurde Bock eröfnet, dass Wohnschife geräumt und die Internierten er auf Befehl des Generals von Roehl ver- in ein Lager in Ruhleben bei Berlin ge- haftet sei und bis auf weiteres interniert bracht. General von Roehl entschied, dass werde. Der hinzu gezogene Polizeiarzt Dr. im Fall David Bock „eine Ausnahme nicht Dencke urteilte, Bocks Krankheit sei „an- gewährt werden kann“. Auf einer obskuren scheinend nicht ungefährlich“, er sei aber Postkarte, die der Überwachungsstelle des 10 transportfähig. Als Angehöriger eines VI. Armeekorps in Breslau zugeleitet wur- feindlichen Staates wurde er auf dem de, war zu lesen, dass der englische Unter- Wohnschif „Siegfried“ im Hansahafen in- tan David Bock noch nicht verhaftet sei; er terniert, auf dem fast 500 englische Staats- habe sich noch rechtzeitig ins Bett gelegt, bürger festgehalten 11 wurden. Im Journal der Politischen Polizei wurde lapidar ver- merkt: David Bock, geb. 4.4.63 Skulsk, an Bord Sieg- fried, früher Isestraße 5, krank geworden, will das Wohnen auf dem Wohnschif nicht abkön- nen. Ist in Ohnmacht 12 gefallen.

Nachrichten darüber, wie es auf dem Wohn- schif zuging, gelangten auf geheimen Wegen nach England und Skizze der Wohnschiffe im Hansahafen zur Unterbringung von fanden dort Eingang Staatsangehörigen aus Ländern, mit denen Deutschland im Krieg stand in die Presse. Die Staatsarchiv Hamburg, 331-3 Politische Polizei, 28 558

2. Jahrgang, Nr. 008 7 Vom Umgang hamburgischer Behörden mit jüdischen Einwohnern fremder Staatsangehörigkeit

sei aber reisefertig und habe alles gepackt. wohltätige Einfuss, den wasserdichte Um- Er betone seine Vaterlandsliebe, verstehe hänge unter diesen Umständen auf die Leute aber unter „Vaterland“ seine Tasche und sei- auszuüben im Stande ist, kann gar nicht hoch 14 ne englischen Interessen. genug geschätzt werden. Leider gestatten die Am 4. November 1914 empfng Ge- Mittel der Kompagnie es nicht, die Gegen- neral von Roehl ein Schreiben von 355 Ar- stände anzuschafen; da nun von der Heeres- beiterinnen und Arbeitern der Firma Fran- verwaltung in dieser Hinsicht auch keine Vor- kenburg & Co. Ihre Bitte lautete, „unsere sorge getrofen ist, sind wir auf die private Firma von dem von Ew. Exzellenz erlasse- Opferbereitschaft angewiesen. nen Befehl ,Vergeltung‘ im Hamburger Falls Sie durch Überweisung genannter Fremdenblatte No. 268 A vom 30. Oktober Sachen aus den Beständen Ihrer Fabrikate ein ausnahmsweise befreien zu wollen“. Ohne gutes Werk zu tun in der Lage sein sollten, Direktor Bock müsste die Firma geschlos- dürfen Sie unseres aufrichtigen Dankes gewiss sen werden, wodurch 355 Personen brotlos sein. Erwähnen möchten wir noch, dass es sich würden. Eine Aufstellung der in der Firma um fast nur große Leute handelt und daher tätigen 355 Mitarbeiter war dem Schreiben besonders große Nummern erwünscht sind. beigefügt. Sie umfasste die Namen aller Kleberinnen, Maschinen- und Handnähe- Bock spendete zahlreiche Gummimäntel rinnen, Zuschneider, Bügler, Lageristen, und versorgte damit auch Marinesoldaten Kontoristen, Hausdiener und Boten, das in Cuxhaven. Anerkennende Schreiben von kaufmännische Personal, Scheuerfrauen und Matrosen, die „in nächster Zeit vor den 15 Heimarbeiterinnen. Das Schreiben blieb Feind zu kommen“ gedachten, waren der unbeantwortet. Dank. In diesen Tagen erreichte Bock die Aufgrund eines Attests von Prof. Bitte eines Hauptmanns namens Wellen- Teodor Rumpel, dem Direktor des Barm- stein in Königsberg, der mangelhaften Aus- beker Krankenhauses, blieb David Bock der rüstung seiner Kompanie kostenlos abzu- Transport nach Ruhleben erspart. Der Arzt helfen: entschied, dass eine Kur in Davos zur Hei- Die Landwehr-Eisenbahn-Baukompagnie lung von Bocks Lungentuberkulose not- No. 1, Standort Königsberg, ist zur Wieder- wendig sei. Ein Versicherungsmakler na- herstellung zerstörter Brücken und Bahnanla- mens Oskar Joseph verlangte etwas ganz gen in Ostpreußen kommandiert. Bei diesen anderes. Am 10.12.1914 schrieb er an das 16 gefahrvollen Arbeiten während vielfach sehr Generalkommando des IX Armeekorps: schlechtem, sowohl nassem wie kaltem Wetter, Hierdurch bitte ich, doch dahin zu sorgen, dass das auf den Gesundheitszustand der Mann- die Engländer Herr und Frau Bock, Ham- schaften äußerst ungünstig einwirkt, macht burg, Isestraße 5, nach Ruhleben kommen. sich das Fehlen wasserdichter Bekleidungsstü- Dieselben waren stets nur für England einge- cke unliebsam bemerkbar. Die dringenden Ar- nommen. Frau Bock hat sich erst letzte Tage beiten müssen im Heeresinteresse ununterbro- frech auf der Straße benommen. chen gefördert, alle Kräfte müssen angespannt, Hochachtungsvoll kein Wetter darf gescheut werden. Der Oscar Joseph

8 Liskor – Erinnern Daraufhin forderte der kommandierende General von Roehl die Hamburger Polizei- behörde auf, David Bock nach Ruhleben zu überführen, was nach seiner Ansicht schon längst hätte geschehen sollen. Diesmal wur- de er auf das Wohnschif „Siegfried“ ge- bracht und von dort am 26.1.1915 in das Hüttengefängnis überführt. Bocks Firma stand zu diesem Zeitpunkt bereits unter Zwangsverwaltung. Am Tag von David Bocks Verhaftung schrieb der Zwangsver- walter an die Hamburger Polizeibehörde: Herr D. Bock ist z. Zt. der alleinige leitende Direktor der Firma Frankenburg & Co. G.m.b.H. Hamburg, welche zur Zeit etwa 350 Leute in ihrer Fabrik beschäftigt. Die sämtlichen männlichen kaufmännischen An- David Bocks Ehefrau Bertha gestellten stehen bereits im Felde, und würde geb. Stern (1868-1931) deshalb, falls besagter Herr D. Bock in Ruhle- Staatsarchiv Hamburg, 332-7, B VI 3982 ben sofort interniert würde, der endesunter- zeichnete Zwangsverwalter gezwungen sein, Nicht nur Bocks Krankheit, auch die die Fabrik mangels einer entsprechenden Lei- Ausgangs- und Reisebeschränkungen, de- tung schließen zu müssen, wodurch besagte ca. nen er als englischer Staatsangehöriger un- 350 Arbeiter und Arbeiterinnen brotlos und terworfen war, erschwerten ihm die Leitung alsdann dem Staat mit ihren Familien zur der Fabrik. Seine Frau und Kinder waren Last fallen würden. ebenfalls von den Repressionen betrofen. Sie mussten sich täglich bei der Polizei mel- Es bestünde jedoch die Aussicht, einen pro- den und durften die Wohnung abends nach 18 visorischen Hilfsleiter für die Fabrik zu er- 20.00 Uhr nicht verlassen. halten, der allerdings von Bock angelernt werden müsse. Dafür sei es nötig, den ver- Am 4. Juni 1915 hatte Bock die folgende hafteten Bock für drei bis vier Wochen zu Erklärung zu unterschreiben: beurlauben. Ein Polizeiarzt untersuchte ihn Auf Anordnung des stellv.[ertretenden] Gene- im Hüttengefängnis und empfahl, Bocks ralkommandos IX des Armekorps in Altona ist Gesundheitszustand vor der Verbringung mir eröfnet, dass, da meine Landsleute in der nach Ruhleben sicherheitshalber in einem Öfentlichkeit nicht die gehörige Zurückhal- Krankenhaus beobachten zu lassen. tung zu wahren wissen, mir der Gebrauch der Das geschah. Professor Rumpel vom englischen Sprache außerhalb meiner Woh- Allgemeinen Krankenhaus Barmbek ent- nung verboten ist und dass Zuwiderhandlun- schied, dass von einer Internierung in Ruh- gen gegen diese Vorschrift meine Internierung 17 leben abzusehen sei. zur Folge haben.

2. Jahrgang, Nr. 008 9 Vom Umgang hamburgischer Behörden mit jüdischen Einwohnern fremder Staatsangehörigkeit

Das Damoklesschwert der Internierung werdet einst mithelfen müssen, die Geschi- schwebte auch jetzt noch über David Bock. cke eures Vaterlandes zu lenken. Aber das Am 10. Juni 1915 schrieb er an Polizei-Ins- könnt ihr nur dann, wenn euer Name rein pektor Heydorn: und unbefeckt bleibt. Deshalb, Jungen, leset Ich kann nicht umhin, Ihnen mitzuteilen, dass keine Schundliteratur, ehret eure Eltern und ich an Herrn Polizei-Präsidenten Dr. Roscher euren Kaiser, leset die Bibel, denkt an Gott, vor einigen Tagen einen Brief schrieb, in wel- dem nichts verborgen bleibt.“ chem ich ihm M[ark] 2.000,- zu seiner freien Mit einem Schreiben vom 16. August Verfügung für wohltätige Zwecke stellte; au- 1916 an die Polizeibehörde legte David ßerdem bin ich dem Verein „Freies Meer“ als Bock nach: Mitglied mit M[ark] 50,- beigetreten. Ferner Dem Aufruf zur freiwilligen Ablieferung von stiftete ich 50 Gummimäntel, über welche Messing, Kupfer etc. Folge leistend, erlaube ich Herr Präsident Roscher auch verfügen wird. mir, der löbl.[ichen] Polizei-Behörde heute [...] Dieses, sowie die mehreren tausend Mark, mein vor 15 Jahren aus England mitgebrach- die ich bereits gespendet habe, stifte ich aus tes doppelschläfriges Messingbett mit Himmel herzenstiefster Dankbarkeit für alles Wohl, zur Mithilfe zur Verteidigung des Vaterlandes das ich in meiner neuen Heimat genieße. Ich gratis abzuliefern. nenne es jetzt schon meine neue Heimat, weil Ich bringe hierdurch einen weiteren mir zuverlässig in Aussicht gestellt ist, dass ich Beweis meiner innigsten Vaterlandsliebe für sofort nach dem Kriege deutscher Staatsange- Deutschland, und wie das ganze deutsche höriger werde, und der hamburgische Staat Reich so erfehe auch ich, dass uns ein für das darf überzeugt sein, dass er an mir einen ganze Reich ehrenvoller Sieg beschieden sein wirklich pfichttreuen Bürger haben wird, der möge. ein großer Förderer der deutschen Sache und Möge eine jede Kugel, die aus dem für Wohltätigkeitszwecke stets zu haben ist. Messingbett verarbeitet wird, ein Volltrefer Ergebenst sein, so dass unsere Feinde so wie das Bett D. Bock zerschmettert und wie die Kugeln zerstreut werden. Beigefügt war ein gedruckter Aufruf von Ich gestatte mir bei dieser Gelegenheit David Bock mit dem Titel „Ein väterliches der löbl.[ichen] Polizei-Behörde noch zu be- Freundeswort an sittlich gefährdete merken, dass nicht nur in der Gummi-Män- Schulknaben“. Bock hatte davon hunderte tel-Branche, sondern auch in der Damen- und Exemplare drucken und verteilen lassen. Herren-Konfektions-Branche eine sehr große „Gedenket, Kinder“, hieß es darin, „dass ihr Anzahl gebrauchter Klischees vorhanden ist;

10 Liskor – Erinnern diese sind aus Zink, Kupfer und Messing her- Wohltätigkeitskonzert, Teater etc. gern bei- gestellt, welche ein ziemliches Gewicht von wohnen, was uns bisher nicht möglich war. diesen Metallen hergeben werden. Von diesen Die hochlöbl.[iche] Polizeibehörde darf versi- Klischees überreiche ich der löbl.[ichen] Poli- chert sein, dass sie es mit mir und meiner Fa- zei-Behörde gratis für vorerwähnten Zweck milie mit wirklich deutschgesinnten, patrioti- 104 Stück, und es wäre angebracht, dass sämt- schen, stets auf das Wohl des Vaterlandes be- liche Konfektionshäuser solche Klischees dem dachten Einwohnern zu tun hat. Ich bin un- Vaterlande zur Verfügung stellen. aufhörlich bemüht, was nur in meiner Macht Ergebenst liegt, für das Wohl des Vaterlandes zu arbeiten, D. Bock was auch ich und meine Familie fernerhin tun werden. Wir tun sehr viel Gutes, ohne es an „Das Metall des Bettes ist angenommen“, die Öfentlichkeit zu bringen. 19 vermerkte ein Polizeiwachtmeister. Wenn ich auch noch mir erlaube, die Am 27. August 1915 wandte sich hochl.[öbliche] Polizeibehörde bei dieser Gele- Bock erneut an die Polizeibehörde: genheit höf.[ich] zu bitten, es zu gestatten, Wenn ich die hochlöbl.[iche] Polizeibehörde dass auch meine Frau und meine beiden Töch- noch einmal mit einem Gesuch belästige, so ge- ter sich nur einmal wöchentlich melden, so ge- schieht dieses nicht nur im Interesse der allge- schieht dieses dadurch, dass meine Frau und meinen Gesundheit meiner Familie, sondern meine Tochter Hilda tagsüber in der Wirt- auch im Interesse der ganzen wirtschaftlichen schaft, bei der großen Wohnung, die wir haben, Verhältnisse der Stadt Hamburg. so viel zu tun haben, dass sie sich nur schwer Mir und meiner Familie ist es nämlich die Zeit nehmen können, um sich zu melden, verboten, nach 8 Uhr abends aus dem Hause und meine Tochter Gladys, welche bei mir im zu sein, was wir bisher strenge innegehalten Geschäft tätig [ist], ebenfalls nur schwer ab- haben. Ich fnde jedoch, dass nicht nur meine kommen kann. Nerven, sondern auch die meiner Frau und Ich spreche hochlöbl.[icher] Polizeibe- Kinder darunter sehr leiden, weil man in die- hörde meinen innigen Dank aus für alles ser schönen Luft nicht abends einmal ein paar Gute, das sie mir bisher zukommen ließ. Stunden spazieren gehen kann, um das Untertänigst Abendessen zu verdauen; auch können wir D. Bock nicht einmal ins Teater gehen, um auf andere Gedanken zu kommen. So mancher Zwanzig- Das Gesuch hatte Erfolg. David Bock und markschein würde ins Wandern kommen, seiner Familie wurde gestattet, sich bis wenn wir abends ausgehen könnten, welches 24.00 Uhr außerhalb seiner Wohnung auf- [auch] der allgemeinen wirtschaftlichen Lage halten zu können und sich nur einmal in 20 zu Gute kommen würde. der Woche bei der Polizei zu melden. Im Ich bitte daher die hochlöbl.[iche] Poli- Juni 1916 wurde die Familie gänzlich von zeibehörde gütigst genehmigen zu wollen, dass der Meldepficht befreit. Darüber hinaus er- wir abends unbeschränkt aus dem Hause ge- laubte die Polizeibehörde dem Ehepaar hen können. Ich und meine Familie sind große Bock im folgenden Jahr einen Kuraufent- Musikfreunde und wir würden so manchem halt.

2. Jahrgang, Nr. 008 11 Vom Umgang hamburgischer Behörden mit jüdischen Einwohnern fremder Staatsangehörigkeit

Die Töchter Lily (links) und Hilda Staatsarchiv Hamburg, 332-7, B VI 3982

David Bocks pro-deutsche Aktivitäten in Standesämter, dass Bock, „ein strenggläubi- der Zeit des Ersten Weltkriegs waren in ger Jude“, „ein Mensch von vornehmer Ge- England nicht unbemerkt geblieben. Im sinnung“ sei, der während des Krieges wie- November 1919 wurde seine 1902 bewilligte derholt deutschfreundliche Artikel in öf- 22 Naturalisation als britischer Staatsangehöri- fentlichen Blättern habe erscheinen lassen. ger zurückgenommen. Er habe sich in Wort Nach 20jährigen Bemühungen wurde Da- und Tat illoyal gegenüber dem englischen vid Bock am 10. Januar 1923 mit Frau und König verhalten und einen ungesetzlichen Kindern eingebürgert. 21 Handel zugunsten Deutschlands getrieben. Im Oktober 1933 wurde diese Ein- Die Familie Bock war jetzt staatenlos. bürgerung aufgrund des nationalsozialisti- Am 7. August 1922 stellte David schen Gesetzes über den Widerruf von Ein- Bock in Hamburg einen Einbürgerungsan- bürgerungen von der Polizeibehörde über- trag. In der von ihm geleiteten Firma waren prüft. Der „Polizeiherr“ Wilhelm Boltz zu dieser Zeit 300 Angestellte tätig. Sein empfahl, es bei der Einbürgerung des „Ost- Vermögen beziferte Bock auf einige Milli- juden“ Bock zu belassen, da dieser sich um onen. Der Hamburger Polizeipräsident das deutsche Wirtschaftsleben verdient ge- sprach sich gegen Bocks Einbürgerung aus, macht habe. Der nationalsozialistische In- da es sich um einen „fremdstämmigen Aus- nensenator Alfred Richter erklärte sich da- 23 länder“ handelte, dessen im Krieg bewiese- mit einverstanden. Welchen grauenhaften ne Deutschfreundlichkeit nur unter dem Weg das Regime noch gehen würde, lag da- „Zwang der Verhältnisse zutage“ getreten mals im Dunkeln. sei. Dagegen befand die für die Einbürge- David Bocks Ehefrau Bertha geb. rung zuständige Aufsichtsbehörde für die Stern starb am 8. Juli 1931, er selbst erlitt

12 Liskor – Erinnern den Tod am 10. März 1937 als schwerkran- Jüdischen Friedhof im Hamburger Stadtteil ker Mann. Das Grab des Ehepaars auf dem Ohlsdorf ist unversehrt. David und Bertha Bocks Tochter Lily emigrierte mit ihrem Ehemann Julius Co- hen (geb. 9.8.1894 in Hamburg) und ihrem Sohn Gerhard Cohen (geb. 28. Juni 1923) 24 Ende November 1938 in die USA. Lilys Schwester Hilda (geb. 12. Juli 1896 in Man- chester) war mit einem Textilkaufmann na- mens John Lippmann verheiratet, der 1927 in Brasilien starb. Sie selbst wurde am 6. Dezember 1941 von der Gestapo aus Ham- 25 burg nach Riga deportiert und ermordet. Bernard Bock, David und Bertha Bocks einziger Sohn (geb. 3. Dezember 1897), 26 emigrierte 1934 nach England. Seine Das Grab von David und Bertha Bock Schwester Gladys verehelichte Hobbs (geb. 27 Foto: Jürgen Sielemann 18.9.1890) lebte 1933 in Wiesbaden.

Fall 2 „Ich wäre überaus glücklich, wenn meinem Gesuch stattgegeben würde, damit auch ich mich dem Vaterland nützlich machen könnte.“ Der Fall eines Hamburgers mit russischer Staatsangehörigkeit Aron Nochemia Reginbogin, geboren am 24. Juni 1879 in Minsk als Sohn von Ba- ruch und Hoda Reginbogin, trug im bür- gerlichen Leben den Vornamen Ernst. Im Alter von neun Jahren siedelte er mit seinen Eltern nach Dresden über, wo sein Vater eine Stellung als Werkführer einer Zigaret- tenfabrik erhalten hatte. Im Frühjahr 1907 zog er mit seinen Eltern und Geschwistern nach Hamburg um und stellte hier 1910 ei- nen Einbürgerungsantrag, in dem er seinen Lebensweg wie folgt schilderte: Ich besuchte bis Ostern 1894 die Dresdner Volksschule, von 1894 bis 1895 die

Aron Nochemia Reginbogin (1879-1968) Foto: Staatsarchiv Hamburg, 332-7, B VI 1925 Nr. 5

2. Jahrgang, Nr. 008 13 Vom Umgang hamburgischer Behörden mit jüdischen Einwohnern fremder Staatsangehörigkeit

Handelsakademie. Ostern 1895 trat ich im Leidwesen, so werden es einstens meine Kin- Kontor der Kunstanstalt für Lithographie der noch mehr empfnden, umso mehr noch, als und Steindruck Moritz Zobel, Dresden, als ja auch die Mutter eine Deutsche ist. Lehrling ein, bestand bis Januar 1898 meine Ich richte daher an die hochwohllöbliche Lehre und blieb noch in derselben Firma, wel- Behörde das ganz ergebene Ersuchen, mich in che inzwischen in eine Aktiengesellschaft den Hamburger Untertanenverband aufzu- „Dresdner Kunstanstalt“ umgewandelt wur- nehmen. [...] Meinen gesetzlichen Verpfich- de, bis Februar 1901 als Kontorist und Rei- tungen bin ich bisher in jeder Weise nachge- sender tätig. kommen. Ich bin auch sonst in keiner Weise ir- [Im] November 1900 reiste ich zur gendjemand[em] zur Last gefallen. Aushebung nach meiner Geburtsstadt Minsk, Meine Vermögensverhältnisse betref- wurde jedoch vom Militärdienst befreit. An- fend bemerke ich höfichst: Wie schon erwähnt, fang März 1901 übernahm ich bei der Firma bin ich hier im Hause Hirsch & Cie., Reesen- Hirsch & Co., Dresden, die Stellung eines Be- damm, tätig und beziehe ein Salair von Mark triebsleiters und gab diesen Posten 1907 auf, 225,- per Monat. Meine Stellung ist eine dau- um nach Hamburg zu gehen. Seitdem bin ich ernde, was die Firma Hirsch & Cie. zu bestä- bei der hiesigen Firma Hirsch & Cie, Reesen- tigen gern bereit ist. Auch meine Frau ist damm, tätig. Im Februar 1907 heiratete ich meine Frau Juliane Isabella Hedwig Ruth Schüler, [sie] ist Preußin, geboren 15. Juli 1880 in Viersen, Rheinland. Wir haben drei Kinder, 28 zwei Töchter und einen Sohn. Mit meiner früheren Heimat stehe ich absolut in keiner Verbindung mehr, ich kann nicht einmal Russisch sprechen, denn auch alle meine Angehörigen, Vater, Mutter und Ge- schwister sind, wie schon bemerkt, seit Oktober 1888 in Dresden ansässig. Deutschland ist mir vielmehr erst zur richtigen Heimat ge- worden. Aber leider gelte ich den Gesetzen nach noch immer als russischer Untertan. Ge- schieht dieses mir schon zu meinem größten

Das Modehaus Hirsch & Cie. Ende der 1920er Jahre. Heute beherbergt das Gebäude eine Filiale der Hamburger Sparkasse. Fotos: Bauwelt. Nr. 15. Hamburg 1930

14 Liskor – Erinnern geschäftlich tätig, und zwar seit Oktober 1907 Modehäusern Hamburgs. Ein Bericht aus bei der Firma Siegfried Freundlich, hier, dem Jahr 1902 beschreibt die Pracht der Poststraße, und verdient daselbst Mark 150,- Verkaufsräume: per Monat. Besonderes Vermögen besitze ich Das großartige Modemagazin von Hirsch & nicht. Dagegen bin ich in der Lage, Bürgen Cie., Reesendamm Nr. 2, hat durch seinen für mich zu stellen, welche für mich vollauf kürzlich vollendeten Umbau die Möglichkeit Garantie zu geben bereit sind. geschafen, seine eleganten Neuheiten und sein Ich hofe daher, allen Anforderungen, außerordentlich vielseitiges und umfangrei- welche zu einer Naturalisation bedingt sind, ches Lager völlig zur Geltung zu bringen. entsprechen zu können, und bitte ergebenst Sehr geschmackvoll ist die rechts von der um gütige Berücksichtigung meines Gesuches. Treppe liegende Putzabteilung ausgestattet. Hochachtungsvoll und ergebenst Zu dieser Abteilung gehört ein Anprobier- 29 Aron Nochemia Reginbogin zimmer, ganz in Mahagoni bei blauer Wand- bekleidung mit gelben Ornamenten und sehr Die Firma Hirsch & Cie. am Reesendamm, originellen Beleuchtungskörpern in Form von in der Reginbogin eine Vertrauensstellung Maiglöckchen. Diesem Raum gegenüber be- inne hatte, gehörte zu den exquisitesten fndet sich eine große Spiegelwand, mit Türen

2. Jahrgang, Nr. 008 15 Vom Umgang hamburgischer Behörden mit jüdischen Einwohnern fremder Staatsangehörigkeit

im neuen Stil durchbrochen. Diese Türen füh- Ersparnisse besitzt, sondern auch seine not- ren zu den „Probierkojen“. Die erste, gleich dürftigen Hausstandssachen auf Abzahlung links, wenn man den Fahrstuhl verlässt, ist in genommen hat. Die Kreishauptmannschaft in Kirschbaumholz gehalten, mit resedafarbener Dresden hat dagegen gegen die Gewährung 33 Wandbekleidung. Die Beleuchtungskörper bil- des Gesuches Bedenken nicht erhoben. den ein sehr graziöses Irisbukett. [...] Das fol- gende Zimmer ist wie eine Art Bühne ausge- Roschers antijüdische Einstellung gab den stattet und heißt deshalb auch „Bühnenzim- Ausschlag; Reginbogin wurde nicht einge- mer“. Die eine Wand ist von einem großen bürgert. Nach dem Beginn des Ersten Welt- Spiegel eingenommen, vor dem [ein] Ram- kriegs blieb er einige Zeit unbehelligt. penlicht angebracht ist, so dass der genaue Ef- Dann, am 20. November 1914, hatte er im fekt der Bühnenbeleuchtung erzielt wird. In Büro der Fremdenpolizei zu erscheinen. dem hervorragend eleganten und geschmack- Dort wurde ihm eröfnet, „dass er sich auf vollen Raum ist reichliche Vergoldung ange- Anordnung der zuständigen Militärbehörde bracht. Die Möbel sind apfelsinenfarben und innerhalb eines Zeitraumes von 10 Tagen durchaus künstlerisch in der Form. Sehr apar- aus Hamburg zu entfernen habe“. Aron Re- te gelbseidene Stores in zwei Tönen, mit ginbogin wehrte sich und übergab der Poli- Hohlsäumchen verziert, hängen über die as- zeibehörde am selben Tag ein Gesuch, in 30 pisfarbenen Fensterbänke herab. Hamburg bleiben zu dürfen: Ich, der unterzeichnete Kaufmann Aron No- 1930 bezeichnete ein Architekturkritiker chemia Reginbogin, bin russischer Untertan. das Modehaus nach einer Modernisierung Ich unterliege daher der Verfügung, welche der Fassade als ein „schönes, der verwöhn- anordnet, dass die Angehörigen aller Staaten, 31 ten Frau dienendes Gebäude“. mit denen das Deutsche Reich sich im Kriegs- Polizeidirektor Gustav Roscher, der zustande befndet, sich in Hamburg und einem für Reginbogins Naturalisationsgesuch zu- Umkreis von 20 km nicht aufhalten dürfen. ständig war, hatte schon 1904 bekundet, [...] Ich bin am 24. Juni 1879 in Minsk in Po- dass er „die Aufnahme galizisch-jüdischer len-Litauen geboren. Mein Vater war dort Gewerbetreibender in den [hamburgischen] Kaufmann. Die unerhörten und nicht wie- Staatsverband für bedenklich und untun- derzugebenden Drangsalierungen, denen die 32 lich“ hielt. Im jetzt vorliegenden Fall be- Juden ständig in ganz Russland ausgesetzt fand er, sind, veranlassten meinen Vater, auszuwan- dass über den Antragsteller zwar Nachteiliges dern und sich eine neue Heimat zu suchen. [...] nicht bekannt geworden ist, dass ich aber im Ich bin im Jahre 1888 mit meiner Mutter und Hinblick auf seine russische Abstammung und meinen Geschwistern meinem Vater nach seine mosaische Religion die Gewährung sei- Dresden gefolgt. nes Naturalisationsgesuches um so weniger befürworten kann, als er erst seit dem Jahre Im Folgenden wiederholte Aron Reginbo- 1907 in Hamburg wohnhaft ist, und als er gin die in seinem 1910 gestellten Einbürge- ferner, obschon seine Ehefrau zum Unterhalt rungsantrag vorgebrachten Argumente und der Familie beiträgt, nicht nur keine schloss:

16 Liskor – Erinnern Aus allen diesen Gründen bitte ich Sie daher, handelt sich um Reisen von durchweg kurzer mir, meiner Frau und meinen 4 Kindern im Dauer, ein[en] bis höchstens drei Tage. Für die Alter von 2 bis 8 Jahren den ferneren Aufent- in jeder Beziehung einwandfreie beste deut- 34 halt in Hamburg zu gestatten. sche Gesinnung des R. sowie für seine fernere tadellose Führung übernehmen wir jede und Sieben Bürgen unterzeichneten das Gesuch. volle Bürgschaft. Aron Reginbogin durfte in Hamburg blei- ben; ihm und seiner Ehefrau wurde aller- General Maximilian von Roehl, der schon dings auferlegt, sich zweimal in der Woche erwähnte Verfasser des Beitrags „Vergel- bei der Polizei zu melden und ihre Woh- tung!“ und Urheber des Ausweisungsbe- nung zwischen 20.00 und 7.00 Uhr nicht zu schlusses, gestattete Reginbogin eine „ein- verlassen. Später erwirkte das Ehepaar eine Locke- rung des nächtlichen Aus- gangsverbots. Es bezog sich allerdings nur auf die Er- laubnis, sich nachts in der Arbeitsstelle aufhalten zu dürfen. Im März 1915 wandte sich Reginbogins Arbeitgeber an die Polizei- behörde, um ihm Ge- schäftsreisen zu ermögli- chen: Wir beschäftigen seit über 14 Jahren einen Herrn A. N. Reginbogin, wohnhaft hier, Roonstr. 36, als Geschäfts- vertreter in einer ersten Ver- Telegramm von Aron Reginbogins Bruder Julius trauensstellung, und muss er Staatsarchiv Hamburg, 332-7, B VI 3982 für uns häufg kleinere Rei- 35 sen nach Berlin, Dresden etc. unternehmen. malige kurze Reise nach Berlin“. Die Leider ist uns nun seit Ausbruch des Krieges Hamburger Polizeibehörde erlaubte ihm zu- die Kraft dieses Herrn zum großen Teil brach sätzlich eine Reise nach Dresden und eine gelegt, da er in Russland geboren ist, wenn er Reisedauer von insgesamt sieben Tagen. auch als Jude und Litauer nur Mussrusse ist; Im September 1915 beantragte Re- gleichwohl darf er jedoch laut der getrofenen ginbogin, seine Eltern in Dresden besuchen Bestimmungen Hamburg ohne Genehmigung zu dürfen und bemerkte „noch ganz erge- nicht verlassen. [...] Wir bitten nun höfichst benst, dass meine Mutter schwer krank ist“. um die Erlaubnis, Herrn Reginbogin in Ge- Der Polizeipräsident lehnte das Gesuch ab schäftssachen reisen lassen zu dürfen; es und wies darauf hin, dass Reginbogin erst

2. Jahrgang, Nr. 008 17 Vom Umgang hamburgischer Behörden mit jüdischen Einwohnern fremder Staatsangehörigkeit

im Juli dort gewesen sei. Erkundigungen Wie es Aron Reginbogin weiter erging, des Dresdener Generalkommandos erga- schilderte er dem Hamburger Amt für Wie- ben, dass Reginbogins Mutter an einem dergutmachung am 20. September 1956: schweren Magen- und Leberleiden erkrankt Ich wanderte mit meiner Frau im Jahre 1939 war. Reginbogin wurde ein dreitägiger Auf- zunächst nach Venezuela aus. Meine jüngste enthalt in Dresden bewilligt. Im März des Tochter war bereits im November 1938 dort- folgenden Jahres durfte er dann zur Beerdi- hin ausgewandert. Wir hatten jedoch von gung seiner Mutter fahren. Bei den Reise- vornherein die Absicht, nach den USA auszu- beschränkungen blieb es bis zum Ende des wandern, konnte jedoch das amerikanische Krieges. Visum nicht rechtzeitig erhalten. Deshalb Erst im Juni 1925, nach 18jährigem gingen wir zunächst nach Venezuela, wo wir Aufenthalt in Hamburg, hatte Reginbogins am 27. Juni 1939 ankamen. Infolge des Einbürgerungsantrag Erfolg. Die National- Kriegsausbruchs konnten wir dann das ame- sozialisten beließen es dabei, nachdem der rikanische Visum nicht mehr erhalten und „Polizeiherr“ Wilhelm Boltz dem Poli- mussten bis Kriegsende in Venezuela bleiben. zeipräsidenten Richter am 27. Oktober Schließlich gelang es uns, das amerikanische 1933 Folgendes über Reginbogin berichtet Visum zu erhalten, und wir wanderten dann hatte: im Oktober 1947 in Amerika ein. Von 1907 bis 31. Dezember 1932 war er als Mit mir ist damals meine jüngste Toch- Personalchef und Repräsentant bei der Firma ter Alice ausgewandert. Meine Frau starb be- Hirsch & Cie. am Reesendamm tätig. Die reits am 5. August 1940 in Venezuela, wäh- Stellung musste er aufgeben, weil das Geschäft rend meine Tochter Alice bereits im Mai 1947 37 sich verkleinerte und starke Einschränkungen nach den USA einwandern konnte. auferlegen musste. Der Sohn ist seit 1929 in Cuba aufhältlich. Die beiden Töchter haben in Aron Reginbogin starb am 13. September Hamburg Stellung und ernähren ihre Eltern. 1968 in New York im Alter von 89 Jahren. Reginbogin genoss überall einen sehr guten Sein 1929 nach Kuba ausgewanderter Sohn Ruf. Nachteiliges ist über die Familie in kei- Alfred ließ sich 1962 von der Freien und ner Weise bekannt geworden. Auch die Länder Hansestadt Hamburg wieder einbürgern, er 38 haben seinerzeit Widerspruch gegen die Ein- kehrte jedoch nie mehr zurück. bürgerung nicht erhoben. Ich empfehle, es bei 36 der Einbürgerung zu belassen.

1 Jürgen Sielemann, Quellen zur jüdischen Familien- 2 Bertha Stern, geb. 16.3.1868. Staatsarchiv Hamburg geschichtsforschung im Staatsarchiv Hamburg. Ein (im Folgenden StAHH), 332-7 Staatsangehörigkeits- Wegweiser für die Spurensuche. Veröfentlichungen aufsicht, B VI 3982, Einbürgerung von David Bock. des Staatsarchivs Hamburg, Bd. 23. Hamburg 2015, 3 Hilda, geb. 12.7.1896 in Manchester, Bernard, geb. S. 131-164. Der Band ist auch im Internet lesbar: 3.12.1897 in Manchester, Gladys, geb. 18.9.1898 in http://hup.sub.uni-hamburg.de/volltexte/2015/155/ Liverpool (StAHH, 332-7, wie Anm. 2, Bl. 68). pdf/HamburgUP_STAHH23_Sielemann.pdf (aufge- 4 Es handelte sich um die Zweigniederlassung einer rufen am 16.11.2017). englischen Firma.

18 Liskor – Erinnern 5 Lily Bock, geb. 8.4.1902. Ein weiterer Sohn, Henry 25 StAHH, 522-1 Jüdische Gemeinden, 992 b, Kultus- Max Bock, geb. 10.9.1903, starb bereits am 7.4.1904 steuerkarte Hilda Lippmann. - Jürgen Sielemann, Be- (StAHH, 332-7, wie Anm. 2). arbeiter, unter Mitarbeit von Paul Flamme, Hambur- 6 „Wenn es in London regnet, öfnen die Hamburger ger jüdische Opfer des Nationalsozialismus. Hamburg ihre Schirme“, lautet eine damalige Redensart. 1995, S. 253. 7 Der Eintrag der Firma im Handelsregister des Amts- 26 StAHH, 522-1 Jüdische Gemeinden, 992 b, Kultus- gerichts Hamburg zeigt, dass es sich um die Ham- steuerkarte Bernard Bock. burger Zweigniederlassung der Aktiengesellschaft I. 27 StAHH, 332-7, wie Anm. 2, Vermerk vom 11.11.1933. Frankenburg & Sons Limited in Manchester handelte, 28 Ester Ellen, geb. 26.4.1906 in Chemnitz, Alfred No- und dass David Bock der Firma zusammen mit dem in chemia, geb. 3.6.1907 in Dortmund, Chaye Alice, geb. Manchester ansässigen Kaufmann Isidor Frankenburg 10.4.1909 in Hamburg, Rahel Gertrud, geb. 10.8.1912 als Geschäftsführer leitete (StAHH, 231-7 Amtsge- in Hamburg, gest. 1917 in Hamburg. Rahel Gertrud richt Hamburg - Handels- und Genossenschaftsregis- Reginbogins Grab befndet sich auf dem Jüdischen ter, HRC 255). Friedhof im Hamburger Stadtteil Ohlsdorf (Grablage 8 StAHH, 332-7, wie Anm. 2, Bl. 95. ZW 10-5). 9 StAHH, 332-7, wie Anm. 2, Bl. 65 b. 29 StAHH, 332-7 Staatsangehörigkeitsaufsicht, B VI 10 Vermerk vom 7.11.1914 (StAHH 332-7, wie Anm. 2, 1925 Nr. 5. Bl. 66 b). 30 Hamburgischer Correspondent vom 30.3.1902, Arti- 11 Vermerk vom 24.8.1914 (StAHH, 331-3 Politische kel „Hamburgs elegantestes Modehaus“. Polizei, 28 558). 31 Rudolf Schmidt, Architekten Schöß und Oppel, 12 StAHH, 331-3 Politische Polizei, Journal 25. Hamburg, Umbau des Hauses Hirsch & Cie. in Ham- 13 StAHH, 331-3 Politische Polizei, 28 558. burg. In: Bauwelt. Nr. 15. Hamburg 1930, ohne Sei- 14 StAHH, 331-3 Politische Polizei, 28 558, Vermerk tenzählung. vom 13.11.1914. 32 Jürgen Sielemann, wie Anm. 1, S. 161. 15 StAHH, 332-7, wie Anm. 2, Bl. 54-60. 33 StAHH, 332-7 Staatsangehörigkeitsaufsicht, wie 16 StAHH, 332-7, wie Anm. 2, Bl. 25. Anm. 29. 17 StAHH, 332-7, wie Anm. 2, Gutachten vom 7.5.1915. 34 StAHH, 332-7 Staatsangehörigkeitsaufsicht, wie 18 StAHH, 332-7, wie Anm. 2, Bl. 35 und 37. Anm. 29, Schreiben vom 20.11.1914. 19 StAHH, 332-7, wie Anm. 2, Bl. 100 und 101. 35 StAHH, 332-7 Staatsangehörigkeitsaufsicht, wie 20 StAHH, 332-7, wie Anm. 2, Bl. 102. Anm. 29, Schreiben vom 15.4.1915. 21 StAHH, 332-7, wie Anm. 2, Schreiben des Secretary 36 StAHH, 332-7, wie Anm. 29. of State vom 11.11.1919. 37 StAHH, 351-11 Amt für Wiedergutmachung, 4487, 22 StAHH, 332-7, wie Anm. 2, Vermerk vom 18.12.1922. Bl. 6. 23 StAHH, 332-7, wie Anm. 2, Schreiben vom 38 StAHH, 332-7 Staatsangehörigkeitsaufsicht, B VI 14.11.1933. 1962 Nr. 26. 24 StAHH, 522-1 Jüdische Gemeinden, 992 b, Kultus- steuerkarte Julius Cohen.

2. Jahrgang, Nr. 008 19 Jüdische Filmschaffende aus Hamburg

Volker Reissmann Jüdische Filmschaffende aus Hamburg Teil 2: John Brahm

Der Ursprung der Familie Brahm Dieser Vermerk vom 8.3.1831 dokumen- in Hamburg tiert den Entschluss des bereits über fünf- zigjährigen Kaufmanns, in Hamburg ansäs- „Abrahamson, B., Commiss[i]on[air], sig zu werden. Im Vorjahr hatte er hier Böhmkenstr. 85“. Mit diesem schlichten schwere antijüdische Ausschreitungen mit- Eintrag im Hamburger Adressbuch des erleben müssen; erst nach einem massiven Jahres 1830 beginnt die Geschichte der Fa- Einsatz des Militärs war damals Ruhe ein- milie Abrahamson in unserer Stadt, aus der gekehrt. Die Voraussetzung für die Aufnah- eine Ikone der Filmgeschichte stammt: der me von Zuwanderern in die Deutsch-Israe- Schauspieler und Regisseur Hans Brahm, litische Gemeinde, nämlich den Nachweis geboren am 17. August 1893 in Hamburg. einer Abstammung von Mitgliedern dieser 4 Im Exil in den USA nahm er den Vorna- Gemeinde, erfüllte Behr Abrahamson men John an. Ihm und einigen seiner Ham- ebenso wie Albert Ballins Vater Samuel Joel burger Vorfahren ist der nachfolgende Bei- Ballin aufgrund gemeinsamer Vorfahren trag gewidmet. (siehe rechte Seite). Hans Brahms ältester Hamburger Während Behr Abrahamsons Auf- Vorfahre hieß Behr Abrahamson, geboren nahme in die Deutsch-Israelitische Ge- um 1779 in der süddänischen Stadt Vejle als meinde ofenbar aufgrund solider Einkom- Sohn von Moses Abrahamson und Sara mensverhältnisse ohne weitere Prüfung ge- geb. Warburg. Aus der dänischen Nach- nehmigt wurde, lag der Fall seines Schwa- barstadt Horsens stammte Behr Abraham- gers Samuel Joel Ballin etwas anders. Das sons Ehefrau Ester Ballin, eine am 6.3.1790 Vorstandsprotokoll der Deutsch-Israeliti- geborene Tochter von Joel Samuel Ballin schen Gemeinde gibt darüber Auskunft: und Rosa Ballin geb. Levy. Esters Bruder Auf verlesenes Gesuch abseiten Samuel Joel 1 Samuel Joel Ballin war der Vater von Al- Ballin, Tuch-Dekateur aus Horsens, betref- bert Ballin, unter dessen Führung die HA- fend Aufnahme in die hiesige Gemeinde auf PAG zur größten Schiffahrtsgesellschaft den Grund, dass seine Mutter Röschen eine 2 der Welt aufstieg. Man darf annehmen, Tochter des hiesigen Gemeindemitglieds Juda dass sich die Familien Ballin und Abraham- Levy, rect.[ius] [der Name folgt in hebräischer 6 son in Hamburg aufgrund ihrer engen Ver- Kursivschrift] Juda bar Gerson Levi, war. wandtschaft nicht fremd waren und Kon- takte pfegten. Eine Entscheidung über das Gesuch moch- „Daß der Herr Behr Abrahamson te der Gemeindevorstand damals noch Mitglied der hiesigen Deutsch-Israeliti- nicht trefen, sondern beschloss, zunächst schen Gemeinde ist, [wird] von den Vorste- „über die Lage des Bittstellers Erkundigun- 3 hern dieser Gemeinde hierdurch attestirt.“ gen einzuziehen und den Herren Kassierern

20 Liskor – Erinnern 1 Joel Samuel Ballin, Geb. 1750 in Bovenden Gest. 1.11.1817 in Horsens Verh. in Horsens mit Rosa (Röschen) Levy Geb. 1765 in Dänemark, Vater: Julius Beer Levy Gest. 24.4.1824 in Horsens Tochter: 1.1 Esther Ballin Geb. 6.3.1790 in Horsens Gest. 7.10.1849 in Hamburg Verh. mit Behr Abrahamson Sohn: 1.1.1 Joel Julius Abrahamson Geb. ca. 1819 in Vejle Gest. 6.1.1888 in Hamburg Verh. 18.8.1852 in Berlin mit Emilie Simon Geb. 6.4.1831 in Brandenburg Gest. 31.1.1905 in Hamburg Sohn: 1.1.1.1 Ludwig (Louis) Abrahamson (1893 Namensänderung in Brahm) Geb. 28.11.1862 in Hamburg Gest. 27.6.1926 in Bad Tölz Verh. mit Martha Biesenthal verwitwete Lindenberg Geb. 18.3.1868 in Hamburg Gest. 29.7.1966 in Santa Monica, Kalifornien Sohn: 1.1.1.1.1 Hans Julius Brahm Geb. 17.8.1893 in Hamburg Gest. 12.10.1982 in Malibu, Kalifornien

1.2 Samuel Joel (ab 1849 Salomon Joseph) Ballin Geb. 10.3.1804 in Horsens Gest. 17.9.1874 in Hamburg Verh. 9.11.1841 in Hamburg mit Amalie Meyer Geb. 1.7.1825 in Hamburg Gest. 2.4.1909 in Hamburg Sohn: 1.2.1 Albert Ballin Geb. 15.8.1857 in Hamburg Gest. 9.11.1918 in Hamburg5

2. Jahrgang, Nr. 008 21 Jüdische Filmschaffende aus Hamburg

darüber zu berichten“. Wie es damals um Hamburg), verheiratet mit Hannchen Samuel Joel Ballin stand, hat er 1843 selbst Frank (geb. ca. 1813 in Sommershausen berichtet: in Bayern, gest. 3.10.1886 in Hamburg), Im Jahre 1832 kam ich nach Hamburg ohne betrieb in Hamburg ein Nachweisungs- alles Vermögen, aber mit gründlichen Kennt- kontor. nissen meines Fachs - des Dekatierens, Krum- • Samuel Beer Abrahamson (geb. ca. 1816 pens und Appretierens von Tuchen, wollenen in Vejle, gest. 10.5.1855 in Hamburg), Waren und Kleidern - welche ich mir auf gro- verheiratet mit Eva Berlin (geb. 10.5.1823 7 ßen Reisen erworben, ausgerüstet. in Hamburg), ist in den Hamburger Ad- ressbüchern als „Proben- und Kartonage- Nachdem Ballins Papiere von den Kassie- arbeiter“ verzeichnet. rern der Deutsch-Israelitischen Gemeinde • Joseph Beer Abrahamson (geb. ca. 1817 jedoch „in bester Ordnung und nur zum in Vejle, gest. 4.9.1865 in Hamburg), ver- Vorteil desselben“ befunden worden waren, heiratet mit Deichen Meyer, geb. ca. 1816 genehmigte der Gemeindevorstand sein in Hamburg, gest. 10.1.1883 in Ham- Gesuch um Aufnahme in die Gemeinde. burg), handelte mit Steinkohlen, Holz Durch kühne Investitionen gelangte er als- und Torf. Im Sommer verkaufte er diesen bald zu einem ansehnlichen Vermögen. In Feuerungsbedarf aus einer Schute am Billwerder an der Bille im hamburgischen Mönkedamm-Kai. Gebiet der Marschlande eröfnete er eine • Joel Julius Abrahamson (geb. ca. 1819 in große Färberei und Presserei von englischen Vejle, gest. 6.1.1888 in Hamburg), verhei- Wollwaren, in der zahlreiche Fabrikarbeiter ratet mit Emilie Simon (geb. 6.4.1831 in Beschäftigung fanden. Der Hamburger Brandenburg, gest. 31.1.1905 in Ham- Brand von 1842, durch den viele seiner burg), gründete 1890 als Fondsmakler 9 Kunden ihre Existenz verloren, bedeutete eine eigene Firma. Die Gräber des Ehe- das Ende des Unternehmens; Ballins Firma paars Abrahamson befnden sich auf dem geriet in Konkurs. Er verbüßte deshalb eine Jüdischen Friedhof im Hamburger Stadt- 10 kurze Gefängnishaft, scheiterte später mit teil Ohlsdorf. einem Lotteriegeschäft und gründete 1852 Joels Sohn, der Schauspieler Ludwig eine erfolgreiche Auswandereragentur - die (Louis) Abrahamson, geb. 28.11.1862 in Startrampe für die Erfolgslaufbahn seines Hamburg, änderte seinen Familiennamen 8 Sohnes Albert. Sein Schwager Behr Abra- 1893 in Brahm. Von ihm, dem Vater von hamson zog dagegen ein weniger riskantes Hans Brahm, wird im Folgenden Näheres Geschäftsmodell vor. Die Hamburger Ad- berichtet. ressbücher führen ihn von 1834 bis zu sei- nem Tod 1853 als „Makler in Häuten, Fel- Hans Brahms Vater Ludwig (Louis) len und Produkten“ auf. Er hatte vier Kin- Brahm - ein Hamburger Teaterliebling der: Ludwig (Louis) Brahm gehörte zu den Iko- 11 nen der Schauspielkunst in Hamburg. Sei- • Moritz (Moses) Abrahamson (geb. ca. ne Ehefrau Martha Biesenthal (geb. 1810 in Vejle, gest. 21.10.1880 in 18.3.1868 in Hamburg, gest. 29.7.1966 in

22 Liskor – Erinnern Santa Monica, Kalifornien) wie wenige. Seine Shakespea- stammte mütterlicherseits re-Gestalten sind Delikates- aus der alten Hamburger jü- sen, die dem in Erinnerung 12 dischen Familie Derenburg. bleiben, der sie mit Aufmerk- Als Ludwig Brahm am samkeit betrachtet hat. Denn 27.6.1926 mit 64 Jahren hier an am Humor des großen starb, widmeten die Ham- Engländers entzündet sich burger Tageszeitungen dem Brahms Darstellertalent in außerordentlich beliebten hellster Flamme. Hier zeigt Künstler lange Nachrufe. sich am deutlichsten, dass Über seine Laufbahn berich- Brahm nicht auf bloße Komik, tete das „Hamburger Frem- sondern auf humoristische denblatt“ vom 28.6.1926 wie Menschendarstellung ausgeht. folgt: Der Mann, der im Leben sein Früh ging er zur Bühne. Über Gefühl unter dem Mantel des Gera, Chemnitz, Berlin, Köln, Ludwig Brahm Witzes zu verbergen liebt, Salzburg, Karlsbad, Breslau, Hamburger Nachrichten zeigt auf der Bühne, dass dies als die Hauptstationen seiner vom 28.06. 1926 Gefühl stark und echt ist. Sturm- und Drangzeit, kam er im Jahre 1890 in seine Vaterstadt zurück Dass Ludwig Brahm der Humor auch au- und trat in den Verband des Talia-Teaters, ßerhalb der Bühne nicht verließ, berichtete wo ihm die Ursprünglichkeit seiner Komik das „Hamburger Fremdenblatt“ am Tag bald viele Freunde gewann. Bei der Grün- nach seinem Tod: dung des Deutschen Schauspielhauses im Jahre Als Brahm vor Jahren einmal krank nach 1900 trat er an diese Bühne über und erschien Hause gebracht wurde, winkte er den schnell dort zum ersten Male als Hafenarbeiter in herbei gerufenen Hausarzt zu sich heran und Otto Ernsts „Jugend von heute“. Die Sympa- füsterte ihm lächelnd zu: „Haben Sie die Wit- thie des Publikums blieb ihm treu, vertiefte we Brahm schon schonend vorbereitet?“ sich im Laufe der Jahre, so dass Ludwig Brahm bald zu den beliebtesten und volks- Hans Brahms Geschwister tümlichsten Schauspielern Hamburgs gehörte. Hans Brahm hatte zwei Geschwister. Sein Sein Hinscheiden wird ein allgemeines Be- jüngerer Bruder Ernst, geb. 7.3.1897 in dauern auslösen. Hamburg, erlernte den Kaufmannsberuf. Am 1.8.1916 wurde der Neunzehnjährige Anlässlich seines 40jährigen Bühnenjubilä- zum Kriegsdienst eingezogen und kehrte ums war im „Hamburgischen Correspon- nicht zurück. 1923 erklärte ihn das Amtsge- 13 denten“ vom 2.10.1921 dies zu lesen: richt auf den 6.10.1918 für tot. Hans Ein Humorist von allerbester Sorte. Der nicht Brahms Schwester, die Schauspielerin Ger- nur im leichten Lustspiel und im für eine Sai- trud Brahm (geb. 13.10.1894 in Hamburg), son gezimmerten Schwank am Platz ist, son- meldete sich 1918 aus Hamburg nach 14 dern im klassischen Drama seinen Mann steht München ab und kam nicht wieder. Ende

2. Jahrgang, Nr. 008 23 Jüdische Filmschaffende aus Hamburg

Januar 1935 berichtete der deutsche Gene- „zeichnete eine besondere deutsche Eigen- ralkonsul von Jerusalem nach Hamburg, das schaft des Idealismus, nicht des vagen Idea- Gertrud Brahm die palästinensische Staats- lismus, sondern des festbegründeten, von 15 angehörigkeit erworben habe. Pfichterfüllung und Umsicht getragenen, aus.“ Er glaube nicht, so zitierte der „Ham- Hans Brahms Onkel burgische Correspondent“ Hauptmann wei- Eine noch gewichtigere Persönlichkeit in ter, dass in der Geschichte des deutschen der deutschen Teatergeschichte als Ludwig Teaters eine solche Verbindung von prak- Brahm war dessen Bruder Otto Brahm tischer und ideeller Kraft jemals dagewesen 16 (geb. 12.5.1853 in Hamburg, gest. sei. 28.11.1912 in Berlin). Als Teaterkritiker, In der Berliner Schumannstraße steht 17 Teaterleiter und Regisseur zählte er zu den Otto Brahms Denkmal. Wegbereitern des Naturalismus in der deut- schen Schauspielkunst. Im Nachruf des Hans Julius (später: John) Brahm „Hamburgisc hen Hans Julius Brahm wurde am 17. August Correspondenten“ 1893 in Hamburg geboren. Der junge vom 29.11.1912 Brahm besuchte zunächst die Volksschule. wurde er wie folgt Durch sein Elternhaus erfuhr er gewürdigt: schon von frühester Kindheit an eine För- Mit Otto Brahm ist derung seines künstlerischen Talents, war ein Mann hinüberge- doch schon sein Vater ein erfolgreicher Te- gangen, dessen Name aterschauspieler und sein Onkel Otto ein in der deutschen Ge- einfussreicher Teaterkritiker in Berlin. schichte einen Ehren- In einem sehr späten Lebensabschnitt platz dauernd ein- (Anfang der 1970er Jahre in den USA) nehmen wird. Er hat blickte Brahm in einem längeren Inter- 18 Epoche gemacht als view noch einmal auf sein wechselvolles der Begründer des Leben zurück und beantwortete einem modernen Stils, der Filmhistoriker gegenüber auch die Frage Otto Brahm im Zeichen der Ein- nach seiner Religiosität in der Jugendzeit: Hamburger Fremdenblatt fachheit und Natür- Meine Eltern sahen es zunächst als vorteilhaft Nr. 282 vom 1.12. 1912 lichkeit steht. Er hat an, mich im christlichen Glauben zu erziehen. dem Drama des Na- So war die [jüdische] Religion zunächst kein 19 turalismus das Teater erobert, und solange Bestandteil meines Lebens. und Henrik Ibsen in Deutschland lebendig bleiben, wird man auch Er verwies darauf, dass er mit der Religion Otto Brahm und sein Lessingtheater [in Ber- erstmals schon im Alter von neun Jahren in lin] nicht vergessen. Berührung kam, durch den Einfuss eines lutherischen Pastors und seiner Familie: Gerhart Hauptmann hielt die Totenrede. Eigentlich war ich bis dahin ein sehr ungezo- „Diesen tief wertvollen Mann,“ sagte er, genes Kind gewesen – ich stahl Geld und ging

24 Liskor – Erinnern Ludwig Brahm mit Gertrude und Hans in der „Ruderboot- Szenerie“ eines Fotostudios, vermutlich um 1898/99 Foto: Familie Brahm privat/ Sumishta Brahm

öfter einmal ohne Genehmigung in den Tier- ersten Auftritt in Bremerhaven debütiert er garten. […] Ich blieb auch ohne Erlaubnis ab 1911 in einer Auführung von Wedekinds „So und zu dem Schulunterricht fern. […] Meine ist das Leben“ am Talia-Teater in Ham- 20 Eltern wussten daher nicht so recht, was sie burg. mit mir machen sollten. Erste Gehversuche als Schauspieler Der Kontakt mit der christlichen Religion In Hamburg suchte in jener Zeit die gerade führte bei Brahm vorübergehend zu einer neugegründete „Arbeiterbildungs-Kommis- vollkommenen Kehrtwendung: sion“ unter der Leitung von Leopold Jess- Auf einmal wurde ich sehr religiös, ich sang im ner junge Schauspieltalente für ihre Volks- lutheranischen Kirchenchor und läutete sogar schauspiele. Brahm bewarb sich dort erfolg- die Kirchenglocken vor dem Gottesdienst. reich und erhielt dann zunächst einmal per- sönlichen Schauspielunterricht durch Jess- Doch die „religiöse Phase“ in Brahms Kind- ner selbst. Wenig später bekam Brahm die heit sollte nicht von langer Dauer sein; als Möglichkeit, ein Engagement am Deut- er 12 Jahre alt war, setzte er alsbald seinen schen Landestheater in Prag anzunehmen, Schulunterricht unabhängig von religiösen wo er von 1912 bis zum Ausbruch des Ers- Einfüssen in Lübeck fort. ten Weltkriegs 1914 vor allem kleinere und Sein persönlicher Werdegang war auch bereits einige größere Rollen in be- durch die Förderung seiner künstlerischen kannten Stücken jener Zeit übernahm. Neigungen vorgezeichnet, seinen Eltern Bei Kriegsausbruch kehrte er nach schwebte ein praktischer Beruf wie der ei- Hamburg zum Talia-Teater zurück, hier nes Baumeisters vor. Der biographische spielte er u.a. die Rolle des Popper in Eintrag im Filmlexikon „Cinegraph“ verrät, Hauptmanns „College Crampton“ und den was weiter geschah: Part des Molvig in Ibsens „Die Wildente“, Nach einem kurzen Besuch der Kunstschule bis auch ihn schließlich die Einberufung mit der Absicht, Architekt zu werden, geht zum Militärdienst erreichte. Im Juni 1915 auch Hans Brahm zum Teater. Nach einem durchlief Brahm zunächst eine kurze

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Grundausbildung bei der kaiserlichen deut- und bewarb sich am Lessing-Teater, wo er schen Armee. Danach diente er in verschie- unter anderem eine Revue mit der damals denen Verwendungen sowohl an der Ost- bekannten Schauspielerin Fritzi Massary wie auch an der Westfront und nahm an inszenierte. schweren Kämpfen teil. Für besondere Tap- ferkeit erhielt er wenig später das Eiserne Erste Filmerfahrungen mit Kreuz. Doch auch als Soldat war er bestrebt, In jener Zeit kam Brahm auch erstmals mit sein darstellerisches Talent nicht völlig ver- dem für ihn neuen Medium Film in Berüh- kümmern zu lassen und ergrif, als sich ihm rung. Die Terra-Film in Berlin kooperierte zufällig nach einer Verwundung die Gele- für den Spielflm „Großstadtnacht“ mit der genheit dazu bat, die Chance, einer Front- französischen Pathé-Nathan-Filmprodukti- theatergruppe beizutreten. on und Produzent Eugen Tuscherer enga- gierte Hans Brahm als Dialog-Regisseur. Wechsel vom Schauspiel- zum Regiefach Bei den Dreharbeiten in Frankreich, die im Nach Kriegsende 1918 wurde er aus der Ar- Januar 1932 begannen, lernte er Dolly Haas mee entlassen und ging nach Berlin, wo er kennen. Die damals schon recht populäre zunächst ein Engagement an der Volksbüh- Schauspielerin und Sängerin, die mit bür- ne erhielt. Schon bald lernte er den Teater- gerlichem Namen Dorothy Clara Louise macher Karlheinz Martin kennen, der im Haas hieß, stammte ebenfalls aus Hamburg, September des folgenden Jahres in der wo sie am 29. April 1910 geboren wurde. Hauptstadt das sogenannte Kollektivtheater Trotz eines Altersunterschieds von immer- „Die Tribühne“ mitbegründete. Brahm be- hin rund 17 Jahren fanden Hans Brahm warb sich erfolgreich und erhielt hier erst- und Dolly Haas schnell zueinander, und mals die Möglichkeit, nicht nur schauspie- schon beim nächsten Film der Schauspiele- lerisch zu wirken, sondern auch eine erste rin mit dem Titel „Die kleine Schwindle- Regiearbeit zu übernehmen: Es war das rin“ stieg er - vermutlich auf Betreiben der Stück „Die Irren“ von Ulrich Steindorf, mit Hauptdarstellerin - zum Regieassistenten dem er dort debütierte. auf. Sehr erfolgreich war auch ihr gemeinsa- Auch am Neuen Volkstheater in Ber- mer Film „Um einen Groschen Liebe/ lin inszenierte er wenig später Teaterstücke Scampolo, ein Kind der Straße“, der 1932 und lernte dort die junge Schauspielerin Jo- ausgerechnet unter Regie von Hans Stein- hanna Hofer (Stern) kennen, die er Ende hof (der kurze Zeit später nur noch Juni 1919 heiratete. Wie es bei Persönlich- stramm-nationalsozialistische Filme wie keiten im Bereich der darstellerischen „Hitlerjunge Quex“ drehte), entstand. Künste jener Zeit nicht gerade selten ist, Brahm entwickelte den Scampolo-Stof zu währte auch diese Ehe nur recht kurz und einer Bühnenversion weiter, mit der Dolly wurde schnell wieder geschieden. Brahm Haas und er auf Tournee gingen. konnte danach sogar als jüngster Regisseur Doch die Karriere der beiden endete am legendären Burgtheater in Österreichs schlagartig mit der Machtergreifung der Hauptstadt reüssieren. Anfang der 1930 Nationalsozialisten im Februar 1933. Das Jahre kehrte er nach Deutschland zurück liberale Teater der Weimarer Zeit gab es

26 Liskor – Erinnern plötzlich nicht mehr. Brahms Reaktion und Blossoms“ ersetzt werden musste, nachdem Gemütszustand werden durch folgendes er ofenkundig mit dem neuen Tonflm Zitat vermutlich am besten wiedergegeben: nicht zurechtkam: Als er selbst mit ansehen musste, wie junge Sein Remake des Grifth-Klassikers über die Braunhemden seinen Namen auf einem Pla- Tragödie eines Mädchens (Dolly Haas), das in kat, auf dem er als Regisseur genannt wird, einem Armenviertel Londons von einem jun- übermalen, wird ihm klar, dass er früher oder gen Chinesen vor dem restlos verrohten Vater 21 später auf jeden Fall auswandern muss. in Schutz genommen wird, beeindruckt durch mancherlei Qualitäten – die Authentizität des Emigration nach England sinistren Milieus, die genau tarierte Mischung So emigrierte Brahm 1935 zunächst nach von Gewalt und Sentimentalität – und läuft 22 England, wo er sich ab sofort „John“ mit mit Erfolg auch in den USA. Vornamen nannte. Er durfte sich dort auf dem Set im Twickenham-Studio nur als Noch ein letztes Mal besuchte Brahm im „Praktikant“ aufhalten. Doch der Studioei- September 1936 Wien und schlug dann das gentümer verschafte ihm – Angebot einer gemeinsamen Produktions- nach vorübergehender Ausreise nach Hol- gesellschaft mit Julius Hagen aus. land und erneuter Einreise nach England – eine ofzielle Arbeitserlaubnis. Zunächst Ruf nach Hollywood wirkte er als Produktionsleiter bei der Di- Stattdessen folgte er einem Ruf nach Hol- ckens-Verflmung „Scrooge“ und dem lywood – kein geringerer als David O. Selz- Eisenbahn-Drama „Te Last Journey“ mit. nicks Bruder Myron, der als einfussreicher Dann bekamen er und auch Dolly Haas Vertragsagent in der Filmmetropole ihre große Chance, als ausgerechnet der ame- rikanische Erfolgs- regisseur David Wark Grifth beim briti- schen Remake seines amerikanischen Meis- terwerks „Broken

Plakatmotiv zu John Brahms Anti-Nazi-Film „“ aus dem Jahre 1942 Foto: 20th Century Fox

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arbeitete, lockte ihn mit einem Dreijahres- vertrag der Columbia-Filmgesellschaft von Harry Cohn nach Hollywood. Dort über- nahm er vertragsgemäß zunächst Regiear- beiten für kleinere Justiz- und Kriminalfl- me. Immerhin war mit dem Film „“ ein Werk darunter, das die Stars Hen- ry Fonda und Maureen O´Sullivan in einer dramatischen Geschichte zeigte: Eine Frau rettet ihren unschuldig wegen Mordes zum Tode verurteilten Freund, indem sie den wahren Täter ermittelt. Die Ehe von Dolly Haas und John Brahm stand allerdings nach der Emigrati- on bald vor dem Aus. Brahm stürzte sich förmlich in die Arbeit und bekam1940 von der 20th Century Fox einen Sechs-Jah- res-Vertrag. Bei der Auswahl der Stofe Filmplakat zu John Brahms Version des konnte er nicht wählerisch sein; so stand Thriller-Stoffes „Der Mieter“ auch ein Eisläufer-Film mit Schlitt- nach Marie Adelaide Belloc Lowndes schuh-Star Sonja Henie („Wintertime“) auf Fotos: 20th Century Fox seinem Regieplan. Aufgrund seiner Arbeit in England galt er in den USA sofort als zahlreiche britische Regisseure zu einer Spezialist für britische Stofe und drehte Verflmung der literarischen Vorlage an. demzufolge den Anti-Nazi-Film „Escape to Den Anfang machte kein geringerer Glory“, bei dem Engländer auf der Schif- als 1927 mit einem spassage nach New York vom Kriegsaus- Stummflm, dann folgte 1932 ebenfalls in bruch überrascht werden – und auch „To- Großbritannien eine Tonversion von Mau- night We Can Raid Calais“ erzählt von ei- rice Elvey. 1944 durfte sich auch John nem britischen Spion im besetzten Frank- Brahm in den USA noch einmal an diesem reich. Stof versuchen und hatte mit Ivor Novello einen Hauptdarsteller, der voll und ganz in Remake eines Tonflm-Remakes: seiner Rolle als unscheinbarer Serienmörder „Te Lodger“ aufging. In Deutschland kam der Film als Bereits 1913 hatte die britische Autorin „Der Mädchenmörder“ bzw. unter dem Ti- Marie Adelaide Belloc Lowndes den Ro- tel „Scotland Yard greift ein“ erst nach dem man „Der Untermieter“ über den Serien- Ende des Zweiten Weltkriegs ins Kino. mörder Jack the Ripper geschrieben. Dieser Heute wird der Film wie folgt bewertet: klassische Stof über die wohl geheimnis- Hollywood hatte zu der Zeit eine ausgespro- vollste und nie ganz aufgeklärte Mordserie chene Faszination für „foggy ole London“, mit in der britischen Hauptstadt regte möglichst viktorianischem Dekor und

28 Liskor – Erinnern Kostümen. […] „Scotland Yard greift ein“ ist deutschen Einfuss sicherlich auch nicht kein Horrorflm, sondern ein Triller mit Un- überbewerten, aber als Hollywood sich in tertönen des heraufdämmernden Film Noir, den späten 1940er Jahren verstärkt dem die vor allem im Rollenportrait des ominösen dunklen Kino der Nacht zuwandte und sich Mr. Slade durch den grandiosen Darsteller diese flmische Ausdrucksform zu voller bedingt sind. Letzterer ist eine Blüte entfaltete, fel doch auf, dass eine gepeinigte Seele, und Parallelen zur Darstel- Vielzahl von Osteuropäern und Deutschen lung des Kindermörders Hans Beckert durch in diesem Genre führend war. Ob Fritz Peter Lorre in Fritz Langs „M – Eine Stadt Lang, Robert Siodmak, Billy Wilder, Max sucht einen Mörder“ (1931) sind sicher nicht Ophüls, John Alton, , Otto dem Zufall geschuldet. Ohnehin ist Brahms Preminger, Fred Zinnemann, Edgar G. Ul- Schauerromantik in Londoner Gassen das Re- mer, Curtis Bernhardt oder Rudolph Maté make eines originär britischen Films […]. – sie alle kamen aus der Alten Welt. Natür- „Scotland Yard greift ein“ ist bedeutend besser lich nutzte auch John Brahm den Einfuss als Elveys Tonfassung, aber ein Meisterwerk, des deutschen Expressionismus und des wie oftmals behauptet wird, ist er leider nicht. künstlichen Studiolichts und verband sie Polizisten rennen mit Taschenlampen herum, genau wie seine Kollegen mit echten, rau wie es sie 1888 noch gar nicht gab, ebenso we- und ungeschminkt präsentierten Schauplät- nig wie das Verfahren, Fingerabdrücke zu zen zumeist amerikanischer Großstädte – 23 konservieren. und fertig war ein neues „Sub-Genre“, der 24 sogenannte „Film Noir“. Kurze Liaison mit Martha Vickers John Brahm ging 1944, im Alter von 51 Wichtiger Beitrag zur Jahren, laut mehrerer Quellen im Internet, „Schwarzen Serie“ die sich aber leider nicht verifzieren lassen, Ein zentrales Werk von Brahm war in die- eine Liaison mit Martha Vickers ein - einer ser Hinsicht zweifellos „Scotland Yards selt- damals gerade einmal 18-jährigen Schau- samster Fall“ (Originaltitel: „Hangover spielerin, die noch ganz am Anfang ihrer Square“). Filmexperten stufen ihn trotz sei- Karriere stand. Warum daraus nichts „Erns- nes englischen Schauplatzes (London) als teres“ wurde oder es sogar zu einer Heirat wichtigen Beitrag zur amerikanischen der beiden kam, lässt sich nicht klären. Schwarzen Serie ein. Der nur 77 Minuten Auch Martha Vickers war im Laufe ihres lange Spielflm aus dem Jahr 1945 entstand Lebens genau wie Brahm dreimal ofziell nach dem gleichnamigen Roman von Pat- verheiratet. rick Hamilton, der auch in deutscher Über- Deutsche Auswanderer und Exilan- setzung erschien. Die von den Filmhistori- ten wie Brahm passten sich zumeist schnell kern Paul Duncan und Jürgen Müller 2014 der amerikanischen Arbeitsweise an, präg- herausgegebene Enzyklopädie „Film Noir – ten aber doch mit ihren Arbeiten den 100 All-Time Favorites“ schätzt dieses künstlerischen Stil des Filmgeschäfts. Eine Werk von Brahm wie folgt ein: „Germanisierung“ Amerikas hat zwar nie Obwohl seine Filme, die zwischen 1936 und stattgefunden, und man sollte den 1967 – und damit über einen sehr langen

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Zeitraum hinweg entstanden, von den Film- unschuldigen, gefährlichen Verwirrung des historikern bis vor kurzem weitgehend igno- Helden, lässt die Kinosüchtigen ein wenig sin- riert wurden, hinterließ John Brahm gleich- nierend zurück, welche grandiosen Rollen er wohl ein Gesamtwerk, das sich nicht nur als wohl noch hätte spielen können. stilistisch einheitlich erweist, sondern auch be- eindruckend konsequent auf die Darstellung Besonders das dramatische Ende des Films, des Frauentypus der Femme fatale ausgerichtet wenn der Komponist sein langerwartetes ist, starke Frauen, die oft etwas verführerisch Meisterwerk ein letztes Mal vor dem Pub- Dämonisches ausstrahlen. Wie viele Noir-Re- likum auführt, den Konzertsaal gleichzei- gisseure beschäftigte Brahm das Tema weibli- tig aber in Brand steckt und nach der cher und männlicher Geschlechterrollen, insbe- Flucht der Zuschauer sich dann wieder an sondere auch die Frage nach der Durchsetzung den Flügel setzt, um sein Werk zu vollen- weiblicher Macht und jener Strategien, mittels den, und dabei von den Flammen ver- derer das Patriarchat diese Macht zu begren- schlungen wird, wurde von Brahm meister- zen oder gar zu zerstören sucht. haft in Szene gesetzt. Es lässt sich somit feststellen, dass Der Schauspieler Laird Cregar, mit dem „Scotland Yards seltsamster Fall“ alle Krite- Brahm schon bei „Te Lodger“ zusammen- rien eines klassischen Film Noirs erfüllt und gearbeitet hatte, spielte hier mit der ihm ty- ein Musterbeispiel für dieses Sub-Genre pischen Empathie und Tiefe seine letzte darstellt. Rolle als emotional gestörter Komponist Brahm drehte 1942 noch den Hor- klassischer Musik, der in London zu Beginn ror-Film „Das unsterbliche Monster“ für des 20. Jahrhunderts einer zwielichtigen Va- die Twentieth Century Fox und arbeitete rieté-Tänzerin (gespielt von Linda Darnell dann nach dem Auslaufen seines Vertrages in ihrer ersten Rolle) verfällt. Der Score zu auch für andere große Filmstudios wie die diesem Film wurde übrigens von niemand RKO und die Universal. Für Letztere insze- anderem als Alfred Hitchcocks Hauskom- nierte er 1947 den exotischen Abenteuer- ponisten geschrieben. flm „Singapur“ mit Ava Gardner und Fred 25 Die brillante Kameraführung von Joseph MacMurray. LaShelle bindet den Zuschauer förmlich direkt ein, wenn der Hauptprotagonist wie Eine neue Ehe in Trance durch die nur spärlich ausge- Brahm war bereits über 60 Jahre alt, als er leuchteten Gassen der britischen Haupt- Anfang der 1950er Jahre in dritter Ehe 26 stadt wandert, und lässt die düstere Atmo- Anna Bruni heiratete, eine damals 28-jäh- sphäre Londons jener Jahre meisterhaft rige Italienerin (sie war seine erste Ehefrau wiederaufeben. Das renommierte „Time nicht jüdischen Glaubens). Die kunstbefis- Magazine“ schrieb unmittelbar nach der sene Bruni war in Norditalien während des Filmpremiere (der Hauptdarsteller war ge- Zweiten Weltkriegs aufgewachsen und erst rade verstorben) dazu: als Jugendliche in die USA gekommen; mit Der reife Laird Cregar, brillant und anrüh- ihr hatte Brahm dann zwei Töchter, Ma- rend in seiner Verkörperung der angstvollen, ra-Lee und Sumishta.

30 Liskor – Erinnern Szene. Auch eine Folge von „Schlitz Playhouse of Stars“ ging in jenem Jahr schon auf Brahms Regie-Konto - spä- ter sollte er noch öfter für diese NBC-Serie arbeiten. Nach einem weiteren exotischen Abenteuerflm („Der blaue Stein des Maharadscha“, 1953) für das Kino wandte sich Brahm wieder der Matt- scheibe zu: Mit „Waterfront“ wurde 1954 eine zwei Jahre laufende Serie um die Crew eines Hafenschleppers namens Cheryl Ann betitelt, bei der er aber lediglich vier von insgesamt 78 Episoden inszenierte. Preston Foster spielte den Kapitän John Herrick, der im Hafen von Los Angeles zusammen mit seiner Tochter Ann und seinem Sohn Carl, einem Polizeidetektiv, jede Menge Abenteuer beim Kampf gegen Plakatmotiv zu John Brahms Film „Scotland Yards selt- Kriminelle aller Art erlebte. samster Fall“ (OT: „Hangover Square“) aus dem Jahre 1945 Foto: 20th Century Fox Ein Experiment mit dem 3D-Kino Im Frühjahr 1954 wandte sich wie et- Die Ehe hielt allerdings nicht lange liche seiner Kollegen auch Brahm versuchs- und wurde Ende der 1950er Jahre bereits weise dem plastischen Kino zu. Die damali- wieder geschieden. (Anna Bruni heiratete ge technische Variante ließ nur Schwarz- im August 1960 in zweiter Ehe den 1925 in weiß-Bilder zu und der Zuschauer musste Berlin geborenen Kunstkritiker Henry im Kino während der Vorstellung eine Brille James Seldis.) tragen, damit sich der gewünschte dreidi- mensionale Efekt einstellte. „Magier des Erste Arbeiten für das US-Fernsehen Schreckens“ entstand für Harry Cohns Co- Nachdem sich beim Kinoflm für Brahm lumbia-Filmgesellschaft und wurde vom immer weniger Arbeitsmöglichkeiten bo- versierten Autor Crane Wilbur geschrieben. ten, übernahm er erstmals ab 1952 auch Re- Er bot eine interessante Mischung aus Hor- giearbeiten beim Fernsehen: „Family Teat- ror- und Film-Noir-Elementen. re“ hieß die kleine TV-Reihe, für die er die Der auf Gruselflme abonnierte Episode „A Star Shall Rise“ drehte. Für die Schauspieler Vincent Price brillierte als vom Autokonzern Ford gesponserte Reihe ebenso mysteriöser wie skrupelloser Zaube- „Te Ford Television Teatre“ setzte er ein rer: Der „Große Gallico“ trat Ende des Jahr später die Folge „Malaya Incident“ in 19. Jahrhunderts mit der angeblichen

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magischen Fähigkeit auf, die Köpfe von Ost-West-Spionagedrama. Der Geschäfts- Menschen in seiner Show vorübergehend träger einer US-Botschaft in einem kom- von deren Körpern zu trennen. Doch am munistischen Land in Osteuropa muss sich Ende missbrauchte er seine Zauberkräfte mit einem Baby beschäftigen, das quasi vom schließlich für persönliche Machenschaften Himmel gefallen ist, genauer gesagt: im dunkelster Art. Für Brahm war der plasti- Garten der konsularischen Vertretung ab- sche Film in der Tat ein einmaliges Experi- gelegt wurde. Die sechs ausschließlich ment – und bald schon verschwand diese männlichen Diplomaten stellt das Klein- noch wenig ausgereifte Technik wieder aus kind vor ein Riesenproblem, denn die Re- den Kinos. gierung des osteuropäischen Landes fordert seine Auslieferung und sendet ihnen mit Rückkehr nach Deutschland für zwei dem Diplomaten Kovacs einen ziemlich Spielflme hartnäckigen und penetranten Vertreter auf Ebenfalls 1954 drehte John Brahm noch einmal einen größeren Spielflm mit deut- scher Beteiligung: „Vom Himmel gefallen“ (Originaltitel: „Special Delivery“) war eine amerikanisch-deutsche Co-Produktion, ein zur Zeit des Kalten Krieges spielendes

„Die Goldene Pest“ drehte John Brahm 1954 in Deutschland mit großer Starbesetzung Foto: Stiftung Deutsche Kinemathek

Deutsches Plakatmotiv zu John Brahms Spiel- film „Vom Himmel gefallen“, den er ebenfalls 1954 in Deutschland drehte Foto: Trans-Rhein-Film

32 Liskor – Erinnern den Hals. Doch für die Amerikaner ist klar: unversehens auf einmal zu geldgierigen Un- Das Baby darf auf keinen Fall den Kommu- ternehmern mutiert. Und ausgerechnet nisten ausgeliefert werden! Franziskas Bruder (gespielt von Karlheinz Mit dem Amerikaner Joseph Cotten Böhm) erweist sich als skrupelloser Schie- („Citizen Kane“, „Der dritte Mann“) und ber, handelt sogar mit Rauschgift und will den deutschen Schauspielern Eva Bartok, eines nachts heimlich das Tanklager der René Deltgen, Gert Fröbe und Bruni Löbel US-Streitkräfte anzapfen. war der Film hochkarätig besetzt. Die Kri- Natürlich geht das nicht gut und am tik zeigte sich auch ganz angetan, gelobt Ende kommt es zum Showdown, dem der wurden der politische Witz und die gut ge- Bruder seiner Geliebten zum Opfer fällt – launten Interpreten, ansonsten sei das Gan- ein Happy End der beiden Liebenden gibt ze aber doch etwas bieder ausgefallen (mit es aber trotzdem. Bis in die kleinsten Ne- thematisch vergleichbaren Werken zum benrollen ist „Die Goldene Pest“ mit Erich Kalten Krieg wie „Eins Zwei Drei“, welches Ponto, Heinz Hilpert, Ilse Fürstenberg, Al- sich durch den satirischen Biss und die Ele- exander Golling und dem Kabarettisten ganz des intellektuellen Komödianten Billy Wolfgang Neuss exzellent besetzt. Aber so- Wilder auszeichnete, konnte sich Brahms wohl beim Publikum als auch bei den Film- Film natürlich nicht messen. rezensenten in Deutschland stieß der Film Dem deutschen Produzenten Ger- nicht gerade auf Begeisterungstürme: Zu- hard T. Buchholz gelang im Herbst 1954 viel Kritik am gerade stattfndenden Wirt- dann das Kunststück, Brahm für ein Werk schaftswunder wollten die Zuschauer nicht seiner Kölner Occident Filmproduktion sehen und kaum jemand war bereit, sich ein noch einmal als Regisseur eines rein deut- hässliches Spiegelbild vors eigene Gesicht schen Films zu verpfichten. Von Anfang halten lassen. So war es für Brahm der letz- September bis Ende November 1954 flmte te Ausfug in sein Geburtsland und im De- er in Dotzheim, Bärstadt bei Schlangenbad, zember 1954 stand er bereits in den USA Mainz-Kastel, Hefterich bei Idstein und in wieder hinter der (Fernseh-)Kamera. Kaiserslautern den Spielflm „Die Goldene Pest“. Produzent Buchholz hatte zu Recht Regie-Routinier beim US-Fernsehen kalkuliert, dass das Tema eines nach Ame- Das schnelle und konzentrierte Arbeiten für rika emigrierten Deutschen aufgrund von das Fernsehen hatte Brahm ofensichtlich so Brahms eigener Biografe genau der richtige gut gefallen, dass er sich ab Ende 1954 in Stof für ihn sein würde: Der in die USA den folgenden 12 Jahren einmal quer durch ausgewanderte Hauptprotagonist, Richard das ganze amerikanische TV-Serienimperi- Hartwig (gespielt von Ivan Desny), kehrt um arbeitete: Kaum ein Genre blieb unan- nach dem Koreakrieg in das Dörfchen Dos- getastet, von Western-Serials („Westlich St. 27 sental zurück, wo seine Jugendliebe Franzis- Louis“, „Rauchende Colts“, „Bonanza“, ka Hellmer (gespielt von Gertrud Kückel- „Die Leute von der Shiloh Ranch“, „Shane“, mann) bereits auf ihn wartet. Doch Richard „Buckskin“, „Cimarron City“), über Triller ist entsetzt, wie sehr sich sein Heimatort und Krimireihen („Alfred Hitchcock prä- verändert hat, die braven Einwohner sind sentiert“, „On Trial“, „Dezernat M“, „Johnny

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Staccato“, „Gnadenlose Stadt“, „Polizeirevier Gastrolle – er spielte den englischen Pre- 87“), Abenteuerserien („Seaview – in gehei- mier Winston Churchill. Das Ganze war mer Mission“), Science-Fiction- und Fanta- aber eher ein Gag, angelehnt an die Kur- sy-Stofen („Outer Limits“ „Im letzten Au- zauftritte von Alfred Hitchcock in seinen genblick“) bis hin zu frühen Ärzteserien eigenen Filmen - und es sollte auch sein („Medic“, „Assistenzarzt Dr. Kildare“). Zu- einziger Auftritt während seiner amerikani- meist übernahm Brahm aber nur wenige schen Schafensperiode vor einer Kamera Episoden einer bereits laufenden Stafel und bleiben. gehörte somit nicht zu den eigentlichen Er- fndern bzw. Schöpfern dieser Serienstofe. Erfolg mit „Solo für O.N.K.E.L“ Genau wie der Hamburger Emigrant 1966 drehte Brahm insgesamt acht Folgen Felix Jackson (siehe Liskor - Erinnern, Nr. der parodistischen Krimiserie „Solo für 7, Hamburg 2017, S. 31-42) arbeitete O.N.K.E.L“ (Originaltitel: „Te Man from Brahm auch für die von der US-Bierfrma U.N.C.L.E“), und auch für sieben fast zeit- Joseph Schlitz Brewing Company fnanziell gleich entstandene Folgen des Spin-Ofs gesponserte CBS-Serie „Schlitz Playhouse „Dancer für O.N.K.E.L“ (Originaltitel: of Stars“ – allerdings nicht wie Jackson als „Te Girl from U.N.C.L.E.“) zeichnete er Produzent, sondern als Regisseur für insge- verantwortlich: Zwei Super-Geheimagen- samt 22 Episoden in den Jahren 1956 bis ten der „Organisation Network Command 1959. (Eine Episode hatte Brahm schon for Enforcement and Law“, Napoleon Solo 28 1952 vorab inszeniert.) Dort wurden popu- (gespielt von Robert Vaughn) und Illya 29 läre Broadway-Stofe für das Pantofelkino Kuryakin (David McCallum), kämpften neu aufbereitet, anmoderiert und präsentiert gegen eine international operierende Schur- zumeist von den bekannten Schauspielern ken-Vereinigung namens Drossel. Interes- Irene Dunne oder James Mason. sant als Randnotiz, dass sich in der Hoch- Zwischen 1959 und 1964 setzte John phase des sogenannten Kalten Krieges hier Brahm zudem ein Dutzend von insgesamt erstmals ein amerikanischer und ein sow- 156 Episoden der von Ron Swerling erfun- jetrussischer Agent gemeinsam gegen eine denen CBS-Serie über unerklärliche Phä- fnstere Verbrecherorganisation behaupten nomene, „Twilight Zone – Unheimliche mussten. Schattenlichter“, in Szene (einer Serie übri- Die bereits seit September 1964 beim gens, die 1983 noch einmal von John Lan- Sender NBC laufende Serie war von Nor- dis, Joe Dante, George Miller und Steven man von Felton und Sam Rolfe entwickelt Spielberg für eine Kinofassung neu adap- worden, gleichsam als Amerikas Antwort tiert wurde): Es ging dabei um ganz alltägli- auf die britischen James-Bond-Agentenfl- che Menschen, die sich unversehens auf me. In der Tat fanden wenig später dann ei- einmal in für sie existenzbedrohenden und nige auf Spielflm-Länge zusammenge- lebensgefährlichen Situationen wiederfn- schnittene Folgen dieser Serie sogar den 30 den, die sie dann ohne fremde Hilfe durch- Weg ins richtige Kino. Ebenfalls im Jahre stehen müssen. In einer Folge dieser Serie 1966 wurde „Solo für O.N.K.E.L“ sogar als übernahm Brahm selbst eine kleine „beste amerikanische Fernsehserie“ mit

34 Liskor – Erinnern 31 dem Golden Globe ausgezeichnet. Brahm der ehemalige „Film Noir“-Star Dana dürfte der Kinoeinsatz von O.N.K.E.L. be- Andrews die Hauptrolle übernahm, dürfte sonders gefreut haben, denn für ihn bedeu- Brahm bewogen haben, noch ein allerletztes teten die von ihm inszenierten Beiträge zu Mal auf dem Regiestuhl Platz zu nehmen. diesen beiden Actionserien auch schon fast den Abschied vom Showbusiness: Mit be- Im Ruhestand reits über 70 Jahren fel es Brahm zuneh- Im Alter von 73 Jahren nahm Brahm ofzi- mend schwerer, mit dem hohen Arbeitstem- ell Abschied von der Filmindustrie. Er wid- po in der amerikanischen Filmindustrie auf mete sich von nun an intensiv seiner Fami- Dauer Schritt zu halten. lie und der Pfege seines kleinen Häuschens in Malibu (Kalifornien). Während seines Letzter Spielflm zur Hippie-Kultur Ruhestands gewährte John Brahm ab und Ende 1966 konnte ihn der befreundete Pro- zu Journalisten und Filmhistorikern Inter- duzent allerdings dazu über- views, darunter auch dem renommierten reden, noch ein letztes Mal bei einem rich- Filmhistoriker Joel Greenberg, der Anfang tigen Spielflm Regie zu führen: „Hot Rods der 1970er Jahre gerade an einer Studie für to Hell“ handelte von Motorrad-Jünglin- das bekannte American Film Institute ar- gen, Hells-Angels-Rockern und heißen beitete. Ihm vertraute Brahm in längeren Bräuten in coolen Ami-Schlitten und spie- Gesprächen erstmals sehr private Gedanken gelte schon deutlich den Zeitgeist der Hip- zu seiner Religiosität an und blickte auf pie-Kultur wieder. wichtige Stationen seines wechselvollen Le- 32 Das Werk entstand für das Filmstu- bens zurück. dio Metro-Goldwyn-Mayer und hatte ei- Brahms Tochter aus seiner dritten nen recht kurzen Kinoeinsatz im Januar Ehe, Sumishta, die bis heute in Kalifornien 1967, bevor es dann bereits 1968 vom als anerkannte Graphikerin, Designerin US-Fernsehsender ABC in seiner promi- und Fotografn arbeitet und ofenkundig nenten Sonntagnacht-Schiene gezeigt wur- eine enge Beziehung zu ihrem Vater John de. Heute genießt auch dieser Film durch- Brahm, aber auch zu ihrer Mutter Anna aus Kultstatus. Besonders die Tatsache, dass Bruni pfegte, stellte Ende Oktober 2014

John Brahm drehte 1966 insgesamt 15 Folgen für die beiden parodistischen Agen- tenserien „Solo für O.N.K.E.L.“ und “Dancer für O.N.K.E.L.“ Foto: CBS

2. Jahrgang, Nr. 008 35 Jüdische Filmschaffende aus Hamburg

eine eigene Homepage ins Internet, die sich Deutschland“, die unter anderem Dolly der Familie und ihren Vorfahren widmet Haas gewidmet war und bei der auch einige (www.sumishta.com). Hier werden auch ihrer mit Hans ( John) Brahm entstandenen erstmals viele private Fotos der Familie Werke gezeigt wurden. Ebenso gelangten sowie ein noch recht grob gehaltener beim Cinefest des Hamburger Filmfor- Stammbaum der Öfentlichkeit präsentiert schungszentrums Cinegraph immer wieder (wobei letzterer doch aufgrund der recht einmal in den Reihen, die sich mit Exilan- komplizierten Verwandtschaftsverhältnisse ten und ihren Filmen befassten, vereinzelt der Familie Brahm-Bruni-Seldis-Benson Werke von Brahm mit ins Programm. Eine zumindest für die Zeit nach der Immigrati- eigene Retrospektive beispielsweise bei ei- on Brahms in die USA etwas Klarheit nem Filmfestival oder im Programm eines bringt). Fernsehsenders jedoch – eine Ehre, die häu- fg renommierten Filmkünstlern zu Teil wird - gab es für ihn leider nie. Eigentlich Fehlende Anerkennung 34 des Gesamtwerkes schade, hätte doch der im Oktober 1982 Leider gibt es bis heute keine eigenständige im Alter von 89 Jahren in Malibu (Kalifor- Biografe, die sich mit Brahms überaus inte- nien) verstorbene John Brahm sicherlich ressantem Leben befasst, so dass der besagte eine derartige Aufmerksamkeit aufgrund Internetauftritt und der vergleichsweise seiner unbestreitbaren Verdienste um das kurz gehaltene Eintrag im bereits erwähn- deutsche wie das amerikanische Filmerbe ten „Cinegraph – Lexikon des deutschspra- zweifellos verdient: Immerhin gehen rund chigen Films“ die bisher einzigen biogra- 30 Spielflme, zwei Kurz- bzw. Episodenfl- phischen Abhandlungen zu seiner Person me und insgesamt 196 Folgen von 42 ver- 33 sind. 1983 präsentierte die Berlinale die schiedenen Fernsehserien auf sein Re- Retrospektive „Exil. Sechs Schauspieler aus gie-Konto.

1 1849 änderte Samuel Joel Ballin seinen Namen in Sa- Epochen aus der Geschichte der Deutsch-Israeliti- lomon Joseph Ballin. Vgl. Jürgen Sielemann, „In unse- schen Gemeinde in Hamburg. Hamburg 1867, S. 203. rer Zeit des Lichts und der Aufklärung“. Zur Frühge- 5 Hamburger Gesellschaft für jüdische Genealogie e.V., schichte der Familie Ballin in Hamburg. In: Maajan wie Anm. 2. - Die Quelle. 15. Jg., Heft 59. Zürich 2001, S. 1820. 6 StHH, 522-1 Jüdische Gemeinden, 273 a Bd. 5, S. 2 Jürgen Sielemann, wie Anm. 1, S. 1819-1820. - Ham- 339. burger Gesellschaft für jüdische Genealogie e.V., 7 StHH, 222-3 Handelsgericht, B 1, Fallitsache Samuel Stammtafelsammlung, Ballin. Joel Ballin. 3 Staatsarchiv Hamburg (im Folgenden StHH), 522-1 8 Jürgen Sielemann, „In unserer Zeit des Lichts und der Jüdische Gemeinden, 371 b, Attestenprotokoll, S. 53. Aufklärung“. Zur Frühgeschichte der Familie Ballin 4 Dazu Jürgen Sielemann im Beitrag „Einwohnermelde- Hamburg. In: Maajan - Die Quelle, Heft 60, Zürich register als Quelle der Familienforschung (in: Maajan 2001, S. 1862-1865; ebd. Heft 61, Zürich 2001, S. - Die Quelle, Heft 54, Zürich 2000, S. 1718): „Voraus- 1912-1917; ebd. Heft 62, Zürich 2002, S. 1961-1965. setzung für die Aufnahme in die Deutsch-Israelitische 9 StHH, 231-7 Amtsgericht Hamburg - Handels- und Gemeinde in Hamburg war bis dahin [1864] prinzi- Genossenschaftsregister, A 1 Bd. 29, HRA 7337. piell der Nachweis der Abstammung von Mitgliedern 10 Grablage ZY 11 - 37 und ZY 11- 38. dieser Gemeinde.“ - Vgl. M. M. Haarbleicher, Zwei 11 Zur Biografe von Ludwig Brahm siehe Ludwig Ei-

36 Liskor – Erinnern senberg, Großes biographisches Lexikon der Deut- 22 Zitat nach dem Eintrag im „Cinegraph“, wie Anm. 19. schen Bühne im XIX. Jahrhundert. Leipzig 1903, S. 23 Dieses Zitat ist einer wirklich sehr lobenswerten In- 118; Wilhelm Kosch, Deutsches Teater-Lexikon, Bd. ternetseite zum Film Noir entnommen - Link: http:// 1. Klagenfurt und Wien 1953, S. 189-190 – im Staats- der-flm-noir.de/v1/node/1057 - Eine Randnotiz: archiv hat sich ein winziger Personalakten-Splitter von Später bekam dieser Film noch einen weiteren deut- nur wenigen Blättern Umfang erhalten: Bestand 363- schen Titel: Als „Der Schlitzer von London“ ist er 4 Kulturverwaltung-Personalakten, Akte 179 (sie be- heute auch auf DVD erhältlich. zieht sich auf seine Zeit am Deutschen Schauspielhaus 24 Der Filmhistoriker Vincent Brook von der Medi- 1903 bis 1926). – Zudem existieren im Staatsarchiv en-Fakultät der University of California beschäftig- Presseartikel zu seiner Person im Bestand 731-8 Zei- te sich in einer Studie „Driven to Darkness - Jewish tungsausschnittsammlung, Akte A 752, Brahm, Lud- Émigré Directors and the Rise of Film Noir“ (New wig. Brunswick, New Jersey and London: Rutgers Univer- 12 Ihr Urgroßvater Abraham Derenburg wurde ca. 1776 sity Press, 2009) mit der Frage, wie groß der Einfuss in Hamburg geboren und starb hier am 6.7.1849. der aus Europa eingewanderten Regisseure jüdischen Vgl. Zusammenstellung von Hans Brahms Vorfahren Glaubens auf dieses Film-Genre war und analysier- mütterlicher Linie (Hamburger Gesellschaft für jü- te dafür Schlüsselwerke der „Schwarzen Serie“. Im dische Genealogie e.V., Genealogische Sammlungen, Rahmen seiner Forschungen interviewte er auch 2008 Brahm). John Brahms Tochter Sumishta und befasste sich im 13 StHH, 332-8 Meldewesen, A 30, Meldekartei der letzten Kapitel „Pathological Noir, Populist Noir and zwischen 1891 und 1925 verzogenen bzw. in Hamburg an Act Of Violence“ ausschließlich mit John Brahm, verstorbenen Einwohner, Meldekarte Ernst Brahm, Anatole Litvak und Fred Zinnemann (S. 185 – 212). Mikroflm 741-4 Fotoarchiv, K 5766. 25 Der Filmhistoriker und Exilforscher Helmut G. As- 14 StHH, 332-8 Meldewesen, wie Anm. 13. per schreibt in seinem Buch „Filmexilanten in Uni- 15 StHH, 332-7, Staatsangehörigkeitsaufsicht, B VII a, versal-Studio“ (Berlin: Bertz+Fischer, 2005 – ISBN Gertrud Brahm. 3-86505-163-4) auf Seite 93: „Es scheint, als habe 16 „Hamburgischer Correspondent“ vom 2.12.1912. Universal Brahm engagiert, weil beide Werke [Anm.: 17 Weitere Informationen sind im Internet unter folgen- „Singapur“ und „Rio“ – letzterer Film entstand bereits dem Link zu fnden: https://de.wikipedia.org/wiki/ 1939!] in exotischen Milieus spielen und ursprünglich Otto_Brahm europäische Schauspieler die Hauptrollen spielen soll- 18 Joel Greenberg: „Oral History with John Brahm“, ten. Das RKO-Studio, das sich damals gerade im Um- 1971 (Beverly Hills, California, American Film Insti- bruch befand, „didn´t have a script for me“, erinnerte tute, Center for Advanced Studies 1975), zitiert nach sich Brahm [zitiert nach Horak 1975, S. 93], und lieh Vincent Brook: „Driven to Darkness – Jewish Émigré ihn deshalb an Universal aus. Das war eine durchaus Directors and the Rise of Film Noir (New Brunswick, übliche Praxis Hollywoods, um die Arbeitskraft fest New Jersey and London, 2009). angestellter Filmkünstler und -techniker möglichst 19 Der „CineGraph, Lexikon zum deutschsprachigen ökonomisch auszunutzen, zumal sie meist zu ein hö- Film“, Lieferungen 1-57 (1984-2017), ist ein Lose- herem Preis ausgeliehen wurden, als ihr Gehalt be- blattwerk in mittlerweile neun Ordnern im DIN-A-5- trug.“ Format von mehr als 7500 Seiten Umfang, erschienen 26 Joel Greenberg: „Oral History with John Brahm“, bei der edition text+kritik (München). Die 6-seitige 1971 (Beverly Hills, California, American Film Insti- Abhandlung über John Brahm kam mit der Ergän- tute, Center for Advanced Studies 1975), zitiert nach zungslieferung Nr. 24 heraus. Vincent Brook: „Driven to Darkness – Jewish Émigré 20 Zitat nach dem Eintrag im „Cinegraph“, (wie Anmer- Directors and the Rise of Film Noir (2009), a.a.O. kung 19) – Im Nachtragsband des „Deutschen Tea- 27 Die Hauptrolle des Marshals Matt Dillon in der po- terlexikons“ (A bis F, Teil 1) aus dem Wissenschafts- pulären Westernserie „Rauchende Colts“, die mit 20 verlag DeGruyter (Berlin, 2012) gibt es auf Seite 140 Jahren Laufzeit von 1955 bis 1975 eine langlebigsten einen Eintrag für Hans Julius Brahm; hier wird zudem TV-Serien in den USA überhaupt war, spielte der auf das Standardwerk „»Es wird im Leben dir mehr Schauspieler James Arness (26.05.1923-03.06.2011). genommen als gegeben«: Lexikon der aus Deutschland Er war ein guter Freund der Westernlegende John und Österreich emigrierten Filmschafenden 1933 bis Wayne, mit dem er in mehreren Filmen zusammen 1945; eine Gesamtübersicht“ (Hamburg: Acabus-Ver- spielte und der auch die Einführung in die erste Folge lag, 2011) verwiesen. dieser Westernserie persönlich übernahm. Mit bürger- 21 Siehe im Internet auch unter folgen- lichem Namen hieß der Schauspieler eigentlich James dem Link: https://www.allmovie.com/artist/ King Aurness - und wenig bekannt ist, dass er eigent- john-brahm-p82771#X3YE7PZQA1WtlymB.99 lich aus einer jüdischen Familie stammte, sich aber -

2. Jahrgang, Nr. 008 37 Jüdische Filmschaffende aus Hamburg

im Gegensatz zu seinem Bruder Peter Graves, der üb- kapazität von Stofen in der idealen Gasphase und war rigens ebenfalls ein beliebter US-Serienstar war - vom insgesamt vier Mal für den Nobelpreis nominiert (den jüdischen Glauben losgesagt und sich dem Protestan- er aber nie verliehen bekam); er starb 2011 im Alter tismus zugewandt hatte. John Brahm übernahm die von 93 Jahren. - Anna Bruni hatte bereits 1974 ein Regie der 10. Episode in der 9. Stafel, die den Titel erstes Kochbuch zur Küche ihrer italienischen Heimat „Kitty Cornered“ („Kitty in Bedrängnis“) trug und am verfasst („La Dolce Cucina“), 1996 stellte sie ein wei- 18.04.1964 erstmals im US-Fernsehen ausgestrahlt teres Buch über italienische Süßspeisen („Solo Dolci: wurde – sie wurde noch in Schwarzweiß gedreht und Te Italian Dessert Cookbook“, ISBN 978-1-56474- gehört zu den nie in Deutschland gesendeten Folgen, 185-1) zusammen, welches von ihrer Tochter Sumis- ist aber inzwischen in den USA auf DVD erhältlich hta Brahm illustriert wurde; nebenbei verfasste sie und ebenfalls auf Youtube (https://www.youtube.com/ einen Gedichtband mit poetischen Versen und 2011 watch?v=7wJ6MzO8yEY) abrufbar. Interessant ist das erschien von ihr der historische Roman „Te Lion and ofene Ende dieser Folge, das eigentlich untypisch für the Swastika“, der das Leben eines jungen Mädchens die Serie war und möglicherweise sogar auf eine Idee nach Mussolinis Sturz und der Besetzung Norditali- von John Brahm zurückging. ens durch die Wehrmacht 1943 schildert - in dieses 28 Der amerikanische Schauspieler Robert Vaughn Werk dürften sicherlich auch starke autobiographische (22.11.1932-11.11.2016) erhielt bereits 1959 seine Bezüge von Anna Bruni, die diese Ereignisse in ihrer erste Oscar-Nominierung als bester Nebendarsteller Jugendzeit in Italien ja selbst miterleben musste, mit- für seine Rolle in „Der Mann aus Philadelphia“. 1960 eingefossen sein. spielte er einen der „glorreichen Sieben“ in dem gleich- 31 Das ZDF zeigte ab dem 2.05.1967 zunächst 26 von namigen Western-Klassiker von John Sturges. Seinen insgesamt 105 Folgen dieser Serie in einer synchro- endgültigen internationalen Durchbruch als Schau- nisierten Fassung, später liefen weitere Folgen auch spieler hatte Vaughn in dann aber erst der Rolle des bei anderen öfentlich-rechtlichen wie auch priva- Geheimagenten Napoleon Solo, den er zwischen 1964 ten Sendern in Deutschland. War die Serie „Solo für und 1968 in der Fernsehserie „Solo für O.N.C.E.L.“ O.N.K.E.L“ zum Zeitpunkt ihrer Erstausstrahlung spielte, von der Brahm insgesamt 8 Folgen inszenierte. noch kein Riesenhit, genießt sie heute inzwischen 29 Der schottische Schauspieler, Musiker und Kompo- Kultstatus und ist seit einiger Zeit auch komplett auf nist David Keith McCallum, Jr. (geb. 19.09.1933 in DVD und Bluray erhältlich. Glasgow), spielt gegenwärtig den leicht verschrobe- 32 Joel Greenberg: „Oral History with John Brahm“, nen älteren Pathologen in der beliebten Fernsehserie 1971 (Beverly Hills, California, American Film In- „Navy CIS“ – hier gab es übrigens schon ab und zu stitute, Center for Advanced Studies 1975), a.a.O. einmal Anspielungen auf seinen früheren Serienerfolg – Der Inhalt eines weiteren (und wohl auch letzten) in „Solo für O.N.K.E.L.“. Brahm-Interviews, das der Puppenspieler Eric Von 30 Anna Bruni war nach ihrer Ehe mit John Brahm noch Bulow (Bülow) in seinem Haus in Malibu im Juli 1979 zweimal verheiratet, zunächst von August 1960 bis mit ihm führte, ist im Internet nachzulesen unter fol- Juni 1977 mit dem 1925 in Berlin geborenen Kunst- gendem Link: http://www.sumishta.com/pages/john- kritiker Henry James Seldis (23.02.1925-22.02.1978), brahminterview.html aus dieser zweiten Ehe ging der Sohn Mark Seldis, 33 Auf dem Videokanal YouTube fndet man eine Kom- heute erfolgreicher Filmproduzent („Dead Man Wal- pilation der Plakate zu den Filmen von John Brahm king“), hervor (siehe auch http://prabook.com/web/ unter dem Link www.youtube.com/watch?v=R88wF- person-view.html?profleId=1089748). 1985 heiratete CawcyY Anna Bruni den im Jahre 1918 geborenen US-Che- 34 Das genaue Todesdatum von John Brahm variiert je mie-Professor Dr. Sidney William Benson, der wäh- nach Internet-Quelle: Das deutschsprachige Filmpor- rend des Zweiten Weltkriegs als junger Wissenschaftler tal führt als Datum den 11.10.1982 an (http://www. Gruppenleiter beim sogenannten Manhattan-Projekt filmportal.de/person/john-brahm_cd0ff325192f4d- zum Bau der amerikanischen Atombombe war und f09464afb7748f5c1c), die deutsche Wikipedia-Versi- später Mitglied der renommierten National Academy on nennt den 12.10.1982 (https://de.wikipedia.org/ of Sciences wurde (siehe auch http://www.nasonline. wiki/John_Brahm), während englischsprachige Wiki- org/publications/biographical-memoirs/memoir-pd- pedia-Seite als Sterbedatum den 13.10.1982 (https:// fs/benson-sidney.pdf) – Benson entwickelte 1958 die en.wikipedia.org/wiki/John_Brahm) angibt. nach ihm benannte „Benson-Methode“ zur Wärme-

38 Liskor – Erinnern Sylvia Steckmest Die Familien Mathiason, Lewisohn, Hambro und Dellevie – sämtlich Nachkommen des Isaak Levy aus Rendsburg Teil 4: Die Familie Hambro

Von Nachman Joachim Rendsburg haben Dänemark war. 1820 wurde er zum „Hof- wir die Nachkommen mit dem neuen raad Hambro“ ernannt. Es wundert nicht, Nachnamen Mathiasson und Lewisohn dass er mit Salomon Heine gute Geschäfte kennengelernt. Jetzt folgt der Sohn Calmer machte. Über eine Anleihe für Norwegen, Joachim (1747-1806) mit dem neuen Nach- die Salomon Heine durch die Hilfe Ham- 1 namen Hambro. bros einrichten konnte, wurde es für Juden Hamburger, die in der ersten Hälfte möglich, Lizenzen für die Einreise nach des 19. Jahrhunderts nach England oder Norwegen zu bekommen, denn ab 1814 war Dänemark zogen, wurden oft Hambro (an- es Juden nicht erlaubt, norwegischen Boden statt Hamburg) genannt. Auch ein Schif zu betreten. Norwegen gehörte nach der und eine Londoner Synagoge trugen diesen napoleonischen Ära nicht länger zum libe- Namen. Es war also nicht, wie vermutet wur- ralen Dänemark. Josephs Bruder Edvard de, ein Schreibfehler eines Kopenhagener Isaach Hambro (1782-1865) lebte seit 1810 3 Beamten, sondern eine übliche Abkürzung. in Bergen (Norwegen). Calmer Hambro heiratete in Kopen- 1831 zogen die Hambros von Kopen- hagen seine Cousine Toba Levi (geb. um hagen nach London. Ihr Sohn Charles Joa- 1756), vermutlich aus dem Zweig Lewisohn. chim Hambro, geb. 1807, getauft 1821, hei- Zwei ihrer Kinder sind bekannt: Hanne ratete dort Caroline Gostenhofer und später Zippora (1779-1852), die drei Mal heiratete Eliza Turner. Die Hambro Bank gründete und Joseph Hambro (1780-1848), der Mari- er 1839 unter dem Namen C. J. Hambro & anne von Halle (1786-1838) zur Frau nahm. Son. Zwei Jahre zuvor schon hatte er Liver- Sie war eine Tochter von Wulf Levin von pool besucht und mit Lebensmitteln und Halle und Priwe Goldschmidt-Oldenburg Holz gehandelt. und somit mit Salomon Heine über dessen Die meisten Bankiers in London, die 2 Großvater Popert verwandt. Mariannes zu den neureichen Ausländern zählten, wur- Schwester Zerline von Halle war die Ehe- den von der alten englischen Gesellschaft frau von Joel Lion Goldschmidt, dem Onkel distanziert behandelt. Auch die inzwischen von Betty Heine geb. Goldschmidt. Der etablierten schwerreichen Rothschilds ver- Großvater von Marianne von Halle war von hielten sich dem neuen Bankhaus gegenüber Hamburg aus nach Kopenhagen gezogen, arrogant, wie Hambro äußerte. Als Charles’ wo sich die beiden kennenlernten. Marianne Vater 1848 starb, hinterließ er dem Banki- von Halles Ehemann Joseph wurde merchant erssohn 295.515 englische Pfund, eine ge- banker und avancierte bald zum reichsten waltige Summe, die Hambro nun völlig un- Kaufmann Kopenhagens. Gelernt hatte er abhängig machte. Bereits 1844 war er zum bei seinem Vater, dessen Agent er in Hofbankier des schwedischen Königs

2. Jahrgang, Nr. 008 39 Die Familien Mathiason, Lewisohn, Hambro und Dellevie

ernannt worden. Die Bank fnanzierte Neubau in der Straße Bishopsgate eingezo- hauptsächlich den Handel mit Skandinavi- gen. In dieser Straße befanden sich traditio- en. Nach 1848, dem Revolutionsjahr und nell mehrere Banken, darunter auch das kriegerischen Auseinandersetzungen mit 1832 Bankrott gegangene Bankhaus B.A. Dänemark, legte er mit großem Erfolg eine Goldsmith & Co aus Hamburg. Nach dem Anleihe für Dänemark auf und wurde damit Zweiten Weltkrieg handelte die Hambro reich und auch in England anerkannt. Zeit- Bank auch mit Diamanten und konnte da- weilig zählte die Hambro Bank zu den mit zu einer der führenden Banken in Eu- größten Investmentbanken Europas. Briti- ropa aufsteigen. Ende der 1990er Jahre hat- scher Bürger wurde Charles Hambro 1843 te sie 1.400 Mitarbeiter, wovon allein 900 in 7 und erhielt 1851 den Titel Baron. 1852 er- London beschäftigt waren. warb er Milton Abbey in Dorset, ein riesiges Der erwähnte Bruder des Vaters in 4 altes Anwesen. Bergen, Edvard Isaach Hambro, wurde 1847 bekam Hambro Besuch aus Ko- Kaufmann und Fabrikbesitzer. Er heiratete penhagen. Es war der Dichter Hans Christi- Johanne Marie Roggen. Sie bekamen vier an Andersen, mit dem er eine Reise in die Kinder. Einer ihrer Nachkommen Carl Joa- schottischen Highlands unternahm. Wie chim Hambro (1885-1964) war politisch berichtet wurde, hätte man meinen können, sehr engagiert und arbeitete als Sekretär der der schweigsame Andersen sei der Bankier norwegischen Konservativen Partei. Von 5 und der lustige Hambro der Schriftsteller. 1919-1957 war er Mitglied des Parlaments, Einer seiner Enkel, Ronald Olaf dem „Storting“. Als ihr Präsident bekleidete Hambro geb. 1885, besuchte das Eton Col- er eine wichtige Funktion während des lege. Nach dem Krieg wurde er 1921 Direk- Zweiten Weltkrieges bei der Besetzung des tor der Hambro Bank und fusionierte dann Landes durch die deutsche Wehrmacht; er mit der Enskilda Bank in Stockholm. Er organisierte die Flucht der königlichen Fa- blieb bis 1961 tätig. Hambro wohnte mit milie und der Storting-Mitglieder. Er mach- seiner Frau in Kidbrooke Park, East Sussex; te es außerdem möglich, dass die norwegi- ein weiteres Anwesen besaß er in Schott- sche Regierung auch in London amtieren land. Außerdem gehörte ihm ein vornehmes konnte. Nach dem Krieg wurde er ins No- 6 Restaurant in London. belpreis-Komitee berufen. Vor dem Osloer 8 Die Bank blieb über Generationen in Parlament steht seine Statue. Sein Sohn Familienbesitz und existierte bis 1998, als Edvard Hambro wurde Politiker und leitete sie an die französische Bank Société Géné- im September 1970 die Tagung der UN-Ge- rale verkauft wurde. 1926 war sie in einen neralversammlung der Vereinten Nationen.

1 Einige Nachkommen wählten den Namen Joa- 3 Siehe dazu: http//:en.wikipedia.org/wiki/C._J._Ham- chimso(h)n. bro, aufgerufen am 7.8.2017 2 Stammtafeln der Familien Hambro, von Halle und 4 Vergl. Joseph Wechsberg, Te Merchant Bankers. Do- Popert in der Hamburger Gesellschaft für jüdische ver 2014, S. 47-51. Genealogie e.V.

40 Liskor – Erinnern 5 Vergl. Lina von Eisendecker, Hans Christian Ander- 7 Siehe dazu: https://de.wikipedia.org/wiki/Hambros_ sen. Göttingen 2003, S. 423. Bank, aufgerufen am 11.4.2016 6 Siehe dazu: http://america.pink/olaf-ham- 8 Siehe dazu: https://en.wikipedia.org/wiki/C._J._ bro_3309205.html, aufgerufen am 11.4.2016 Hambro, aufgerufen am 7.8.2017

Jürgen Sielemann Neues aus unserer Bibliothek

Schweizerische Vereinigung für jüdische Beitrag „Bessarabien, für immer in meinen Genealogie (Hrsg.), MAAJAN – Die Gedanken“ über ihre reichhaltigen For- Quelle. Jahrbuch 2017. ISBN 978-3- schungsergebnisse. René Loebs Buchbe- 9524661-1-7/ISSN 1011-44009. Zürich sprechungen machen den Band zu einem 2017, 298 S. wichtigen Hilfsmittel der jüdischen Famili- Seit 2016 erscheint anstelle der aus perso- enforschung. nellen Gründen eingestellten Vierteljahres- zeitschrift „Maajan - Die Sigrid Schambach, Stadt und Zivilgesell- Quelle“ ein Jahrbuch un- schaft. 250 Jahre Patriotische Gesellschaft serer langjährigen Schwei- von 1765 für Hamburg. Geschichte - Ge- zer Partner, das denselben genwart - Perspektiven. Wallstein Verlag. Titel trägt. Darin berichtet ISBN: 978-3-8353-1622-5. Göttingen René Loeb von einem zu- 2015, 256 S., Preis: 24,90 Euro. fällig gefundenen bemer- Erst jetzt gelangte ein vor zwei Jahren ver- kenswerten elsässischen öfentlichtes Buch in unsere Bibliothek, das Heiratseintrag. Anna L. Wissenswertes aus der Geschichte der Ju- Staudachers auf umfang- den in Hamburg berichtet. Es handelt sich reichen Recherchen basie- um den Jubiläumsband der Patriotischen render Beitrag trägt den Titel „Jüdische Gesellschaft von 1765, eine im Zeitalter der Konvertiten in Niederösterreich. Übertritte Aufklärung gegründete gemeinnützige Or- zum Christentum, Rücktritte zum Juden- ganisation, deren Gründer sich mit der Fra- tum in Niederösterreich“. Das Personenver- ge beschäftigten, auf welche Weise man zeichnis umfasst auf über 170 Seiten die „den Menschen am nützlichsten sein“ kön- Daten von Betrofenen vom 18. bis zum 20. ne, und „alle wahren Patri- Jahrhundert. Ria Eulaus Aufsatz trägt den oten Hamburgs“ zur Mit- Titel „Die schwierige Aufgabe, meine Vor- arbeit aufriefen. Auf die fahren ausfndig zu machen“. Der lebendi- Initiativen der Patrioti- gen Schilderung von Möglichkeiten und schen Gesellschaft gingen Schwierigkeiten der Familienforschung wichtige Neuerungen zu- sind Stammtafeln der Familien Bachner, rück: Unter anderem wur- Godewsky, Goldberger und Weiss beigege- de das Armenwesen neu ben. Yvette Merzbacher berichtet in ihrem organisiert, Europas erste

2. Jahrgang, Nr. 008 41 Neues aus unserer Bibliothek

Sparkasse gegründet und der Anbau von Ehemann war vor vielen Jahren verstorben, Kartofeln in Hamburg eingeführt. Jüdische ihre Kinder lebten im rettenden Ausland. Mitglieder gehörten der Patriotischen Ge- Anna Hess hat die Verfolgung nicht über- sellschaft seit dem ausgehenden 18. Jahr- lebt. Am 9. Juni 1943 wurde sie aus Ham- hundert an. Arno Herzigs Beitrag „Die Pat- burg nach Teresienstadt deportiert und er- riotische Gesellschaft und die Hamburger litt dort wenige Monate später, am 28. Sep- Juden“ (S. 59-68) spannt den Bogen von der tember, den Tod. Gründung bis zur Gegenwart. Hervorzhe- Die von Stef Jersch-Wenzel über- ben ist auch Sylvia Steckmests Aufsatz „Sa- nommene Tese, dass bis 1850 bei den Ju- lomon Heine - Bankier und Philantrop“ (S. den „der sogenannte ,Not-, Schacher-, 94-100). Gunnar B. Zimmermanns Porträt Hausier- und Trödelhandel’ immer noch 30 „Hans W. Hertz - Kulturschutz als Lebens- bis 50 Prozent ausmachte“, kann für Ham- aufgabe“ wäre eine etwas kritischere Be- burg nicht bestätigt werden (S. 27f.); so ein- trachtung dieser Persönlichkeit zu wün- seitig und ärmlich war es mit den jüdischen schen gewesen. Familien in der Handelsmetropole Ham- burg nicht bestellt. Auch lässt das Fehlen Astrid Gehrig, „Schreiben, wie mir’s ums eines Namens im Hamburger Adressbuch Herz ist.“ Lebenswirklichkeit und Verfol- nicht darauf schließen, dass jemand seine gungsschicksal von Anna Hess im Spiegel Waren von keiner festen Adresse aus anbot ihrer Briefe. Verlag: Westfälisches Dampf- (S. 27). Vielmehr müssen die hiesigen Ad- boot. ISBN: 978-3-89691-111-7. Münster ressbücher in manchen Fällen als recht un- 2017, 328 S., Preis: 35,00 Euro. zuverlässige Indikatoren für die Datierung Auf der Grundlage vielfäl- der Anwesenheit von Einwohnern gelten. tiger Quellen- und Litera- Wie die Einwohnermelderegister zeigen, turstudien beschreibt Ast- vergingen nicht selten Jahre, bis die Adress- rid Gehrig das Leben von buchverfasser Kenntnis vom Zuzug oder Anna Hess geb. Daniel, ei- Tod von Einwohnern erhielten. Dies sind ner 1855 in Celle gebore- Kleinigkeiten, die dem großen Wert des nen Bankierstochter. Aus Buches keinen Abbruch tun. Dieser Wert ihrer 1883 geschlossenen liegt im sensiblen und sachkundigen Um- Ehe mit dem Hamburger gang der Autorin mit den Jahren 1937 bis Kaufmann Joseph Hess, 1943, jener Zeit, aus der Anna Hess’ Briefe dessen Familie bereits vor stammen. Der Faktenreichtum, die Empa- 1800 in Hamburg ansässig war, gingen vier thie und die unkomplizierte Sprache der Kinder hervor. Eine Urenkelin von Anna Autorin machen Astrid Gehrigs Werk zu Hess bewahrt das Familienarchiv der Fami- einer sehr wichtigen Veröfentlichung zur lie Hess und stellte es der Autorin für das Geschichte der nationalsozialistischen Ju- Buch zur Verfügung. Das Familienarchiv denverfolgung in Hamburg. Ein Stamm- enthält 160 in Hamburg geschriebene Brie- baum der Familie Hess rundet das gelunge- fe von Anna Hess aus der Zeit von 1937 bis ne Buch ab, das aber leider kein Namenre- 1943 an eine Tochter in Argentinien. Ihr gister besitzt.

42 Liskor – Erinnern Hamburger Jüdische Nachrichten, 1. Jahrg., Nr. 7, Hamburg 1907

2. Jahrgang, Nr. 008 43 Liskor – Erinnern nr. 008

Inhalt

Impressum / Editorial 2

Jürgen Sielemann Vom Umgang hamburgischer Behörden mit jüdischen Einwohnern fremder Staatsangehörigkeit im Kaiserreich und in der Weimarer Republik 3

Volker Reissmann Jüdische Filmschafende aus Hamburg Teil 2: John Brahm 20

Sylvia Steckmest Die Familien Mathiason, Lewisohn, Hambro und Dellevie 39

Jürgen Sielemann Neues aus unserer Bibliothek 41 Deutsches Programmheft zu John Brahms „The Lodger“ Foto: 20th Century Fox Lodger“ Foto: „The zu John Brahms Deutsches Programmheft