Ein fossiles Nashorn von Eschenbach (Kanton St. Gallen)
Autor(en): Bürgin, Toni / Becker, Damien / Oberli, Urs
Objekttyp: Article
Zeitschrift: Berichte der St. Gallischen Naturwissenschaftlichen Gesellschaft
Band (Jahr): 91 (2008)
PDF erstellt am: 09.10.2021
Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-832602
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http://www.e-periodica.ch BERICHTE DER ST.GALLISCHEN NATURWISSENSCHAFTLICHEN GESELLSCHAFT 123
91. Band Seiten 123-134 17 Abbildungen 0 Tabellen St.Gallen 2008
Ein fossiles Nashorn von Eschenbach (Kanton St.Gallen)
Toni Bürgin, Damien Becker und Urs Oberli
Inhaltsverzeichnis Zusammenfassung
Zusammenfassung 123 Aus dem granitischen Sandstein der Unteren Süsswassermolasse (Aquitanian) des 1. Ein Jahrhundertfund 123 Steinbruchs Brand (Gemeinde Eschenbach, Kanton 2. Zur Geologie der Fundstelle 125 St.Gallen) wird der Schädel eines urzeitlichen Nashorns beschrieben. Aufgrund 3. Vom Stichel zum 126 Tomografen charakteristischer Merkmale kann der Fund 4. Der Schädel und weitere Funde 128 der Art Diaceratherium lemanense (POMEL 1853) zugeordnet werden. Besonders auffallend 5. Uralt und stark bedroht 131 an diesem Fund ist die gut erhaltene Be- Dank :.... 133 zahnung. Aufnahmen mit dem Computer- Tomographen zeigen im Bereich der Literaturverzeichnis 133 Vorbacken- und der Backenzähne einen bevorstehenden Zahnwechsel. Dieser wurde mit zwei verschiedenen Methoden rekonstruiert. Der Fund erweitert die paläobiogeo- grafische Kenntnis des Taxons, das bisher nur aus Westeuropa bekannt war.
1. Ein Jahrhundertfund
Unter dem Handelsnamen
Dr. Toni Bürgin, Naturmuseum, Museumstrasse 32, CH-9000 St.Gallen; Dr. Damien Becker, Section d'archéologie et paléontologie, Republique et Canton du Jura, Office de la culture. Hôtel des Halles, CH-2900 Porrentruy Urs Oberli, Waldgutstrasse 21, CH-9010 St.Gallen 124 TONI BÜRGIN, DAMIEN BECKER UND URS OBERLI
Zürich gebracht werden, wo diese der Fund eines nahezu vollständigen Schädels granitischen Sandsteine das mittelalterliche eines jugendlichen Urzeit-Nashorns. Quadermauerwerk von Gebäuden und Auf einem bewaldeten Hügelzug zwischen Stadtmauern bildeten. Im 16. und 17. Jahrhundert Schmerikon und Eschenbach, baut die Firma waren sie fast die einzigen Sichtbausteine. Müller Natursteine AG schon seit vielen Zwischen 1860 und 1910 wurden in Zürich Jahrzehnten Bollinger Sandstein ab (Abbildung mit diesem Baumaterial weitere repräsentative 1). Der Abbau im Steinbruch Brand Steinfassaden erstellt. Der granitische erfolgt im Schachtbauverfahren bis in Tiefen Sandstein (KELLER 1892,RENZ 1939), wie von gegen 60 Metern (Abbildung 2). Dabei er aufgrund der gut erkennbaren kleinen, kommen Schrämmmaschinen und Diamantsägen roten Feldspatkörnchen in der Geologie zum Einsatz. Die bis zu 25 Tonnen bezeichnet wird, ist kompakt und massig. Er schweren Rohblöcke werden mit einem Kran lässt sich von Hand und maschinell sehr gut nach oben befördert und anschliessend in die bearbeiten. Zudem wird er wegen seiner nahe gelegene Steinhauerei gebracht, wo sie hohen Beständigkeit auch heute noch sehr formatiert und bearbeitet werden. Im an sich geschätzt. Gebildet wurde der granitische sehr homogenen Sandstein finden sich Sandstein aus durch mit Kalk zementiertem zuweilen schwärzliche, mergelige Einlagerungen. Sand zur Zeit der Unteren Süsswassermo- Blöcke mit solchen Partien werden lasse vor rund 20 Millionen Jahren (siehe separiert und enden in der Regel zerkleinert Kapitel Geologie). Er gilt in der Regel als als Material für Trockenmauern. Der Zufall fossilienarm. Umso überraschender war deshalb wollte es, dass ein Mitarbeiter der Firma
Abbildung 1: Abbildung 2: Der Steinbruch Brand um 1933. Der Steinbruch Brand heute. Foto: Müller Natursteine AG. Foto: Toni Bürgin. EIN FOSSILES NASHORN VON ESCHENBACH (KANTON ST.GALLEN) 125 einen kleineren Block mit nach Hause nehmen wollte, um daran seine Fertigkeiten als Steinmetz zu praktizieren. Dazu bediente er sich einer grösseren Platte, welche wegen ihrer Mergelflecken vermutlich schon etliche Jahre unverkäuflich auf dem Areal stand. Davon spaltete er einen Quader von rund 50 cm Länge, 30 cm Höhe und 30 cm Tiefe ab. Im Bruch zeigte sich auf der Oberfläche überraschend ein schwarzer Fleck in Form eines 43 cm langen
linger Sandstein von KAUFMANN (1860) Oberli. Sein Ziel war es, möglichst viel an entspricht. Datiert wurde die Fundstelle ins wissenschaftlichen Informationen aus dem Aquitanian, d. h. in den oberen Teil der Stein herauszuholen. Es war beabsichtigt, an Unteren Süsswassermolasse. Aus vergleichbaren der EMPA in Dübendorf vom noch im Stein Schichten stammen auch fossile Pflanzen, liegenden Fossil CT-Röntgenbilder anzufertigen. welche in der Nähe von St.Margrethen Das Gewicht des rund 30 Kilogramm gefunden wurden (KELLER 1892). schweren Steinblocks musste daher auf 15 Kilogramm reduziert werden. Glücklicherweise war die ganze Bezahnung noch 3. Vom Stichel zum Tomographen vollständig im Sediment eingeschlossen. Die Feinpräparation erfolgte mit Hilfe feiner Der Fund wurde auf seiner Oberseite und Pressluftnadeln und -sticheln unter der seitlich durch den Steinmetz Reto Zwicky Binokularlupe bei 6- bis 30-facher Vergrösse- mit einem groben Pressluft-Steinmeissel vom rung. Besondere Vorsicht musste beim umliegenden Gestein befreit. Die Feinpräparation Freilegen der Zähne verwendet werden. Im erfolgte anschliessend durch Urs harten Zahnschmelz sind im Verlauf der
Abbildung 6: Vereinfachte Stratigraphie Ma Stufen N Lithologie Lithostratigraphie der mittelländischen Pleistozän quartiire Ablagerungen Molasse. Zeichnung: Toni Bürgin, basierend Gelasian auf einer Grafik von D. Piacenzian Schotter-Ablagerungen Zanclean Becker, in BECKER & Karstfüllungen LAPAIRE (2005). Messinian Hebung & Erosion Tortonian 10 obere :a Serravalian Süsswasser- N o Molasse 151 Langhian 100 - 1500 m
Burdigalian obere 201 Meeres-Molasse
Aquitanian 100 - 1300 m
25 untere Süsswasser- Chattian Molasse
30 100 - 4000 m Rupelian untere Meeres-Molasse 351 + c Priabonian :a nordhelvetischer M O Flysch U1 Lutetian 0 - 150 m EIN FOSSILES NASHORN VON ESCHENBACH (KANTON ST.GALLEN) 127
Bodensee-Graben Plateau-Molasse abgescherte Molasse subalpine Molasse Helveticum
Verwerfung, Bruch Antiklinale Auf-, Überschiebung
Zürich
Eschenbach
Abbildung 7: Geologische Übersichtskarte. Jahrmillionen Spannungsrisse entstanden. Zeichnung: Toni Bürgin, basierend auf einer Absolute Konzentration war gefordert. Eine Karte von H. Naef, in NAEF (1999). kurze Unaufmerksamkeit oder eine unvorteilhafte Erschütterung kann einen Zahn zu schliessende Rekonstruktion. Bei einer kleinsten Stückchen explodieren lassen, wie Zahnlänge von 30 mm resultierten 60 Folien, eine Autoscheibe aus Sicherheitsglas. Gefestigt die anschliessend mit dem Cutter und konserviert wurde das Fossil ausgeschnitten wurden (Abbildung 9). Aufgebaut anschliessend mit Zaponlack. und rekonstruiert wurden im linken Vom anpräparierten Fund wurden an der Oberkiefer der Milchzahn D4, der Vorbackenzahn EMPA in Dübendorf mit einem industriellen (Praemolare) P4 und der Backenzahn (Molare) Computer-Tomographen 919 Bilder im M3 (
freien
Abbildung 10: Diaceratherium lemanense (POMEL, 1853). Der Schädel in Seitenansicht (oben), Aufsicht (mitte) und Untenansicht (unten). Fotos: Bernard Migy. 130 TONI BÜRGIN, DAMIEN BECKER UND URS OBERLI
Scheitelbein Tränenbein Stirnbein (Parietale) (Lacrimale) (Frontale) Nasenbein Praefrontalöffnung (Nasale) äussere Gehöröffnung
Zwischenkieferknochen (Praemaxillare)
Schneidezahn (Incisivus) Paroccipital-Fortsatz Kieferbein Ol P2 Postglenoid-Fortsatz (Maxillare) 04 Ml M2 Vorbackenzähne Jochbein Backenzähne (Praemolaren) (Jugulare oder Zygomaticum) (Molaren)
Abbildung 11: Diaceratherium lemanense (POMEL, 1853), Schädel in Seitenansicht mit Beschriftung der anatomischen Details. Zeichnung: Toni Bürgin.
Abbildung 12: Beckenteilstück eines Nashorns. Foto: Stefan Rohner.
Abbildung 13: Schienbein (Tibia) eines Nashorns. Massstab=10 cm. Foto: Stefan Rohner.
Abbildung 14: Rippe eines Nashorns. Massstab=10 cm. Foto: Urs Oberli. EIN FOSSILES NASHORN VON ESCHENBACH (KANTON ST.GALLEN) 131
bearbeitet wird, weiter eingehend untersucht. anderem auch das mit 5 Meter Höhe und 7 Neben dem oben beschriebenen Schädel Meter Länge grösste bekannte Landsäugetier, wurden bereits früher durch Steinbruchmitarbeiter das Indricotherium. Ihre grösste weitere Einzelknochen gefunden. Formenfülle erlebten die Nashörner im Miozän Diese umfassen das Bruchstück eines zwischen 25 und 5 Millionen Jahre vor heute Beckenknochens (Abbildung 12), eines Schienbeins (AGUSTI & ANTON 2002, HEISSIG 2006). (Tibia) (Abbildung 13) und einer Rippe Noch bis zum Beginn des Pliozäns, vor rund 5 (Abbildung 14). Das diese Stücke zu Millionen Jahren, waren Nashörner auch in demselben Individuum gehören, scheint Nordamerika weit verbreitet. Danach ging unwahrscheinlich, wurden sie doch alle separat ihre Vielfalt stark zurück. Gegen Ende des gefunden. Pleistozäns und dem Einsetzen der Eiszeiten In der Sammlung des Naturmuseums verschwanden die Nashörner auch in St.Gallen finden sich zudem drei historische Europa. Zu schaffen machte ihnen wohl neben Funde, welche sich ebenfalls der Gattung Di- der Klimaveränderung auch die starke aceratherium zuordnen lassen: Dies ist einerseits Konkurrenz durch die anpassungsfähigeren das Bruchstück eines rechten Unterkiefers Paarhufer und Wiederkäuer. Heute leben noch mit den Molaren M3~!, gefunden 1842 zwei Arten in Afrika (Breitmaul- und durch Konrad Rehsteiner in der Unteren Spitzmaulnashorn) und drei Arten in Asien (Panzer-, Süsswassermolasse bei Bendlehn (Gemeinde Java- und Sumatranashorn). Sie sind Speicher/AR) und andererseits zwei Unterkieferfragmente, links mit M1 und rechts mit PI aus der granitischen Molasse des Steinbruchs an der Strasse Rehtobel-Vogelherd. Diese drei Funde wurden in der Arbeit von RENZ (1939: S. 55, Fussnote 30) als verloren gegangen bezeichnet, sind aber tatsächlich immer noch in der Sammlung des Naturmuseums vorhanden (Abbildungen 15 und 16). Ein weiteres, unbestimmtes Unterkieferfragment eines Rhinocerotiden befindet sich in der des Sammlung Paläontologischen Abbildung 15: Instituts und Museums der Universität Historischer Nashornfund aus der Sammlung Zürich, Inventar-Nummer: A/V 78, S 69/11. Es des Naturmuseums St.Gallen. Gefunden 1842 stammt aus der Unteren Süsswassermolasse durch Pfarrer Konrad Rehsteiner in Bendlehn, Gemeinde Foto: Stefan von Bollingen/SG. Speicher/AR. Rohner.
5. Uralt und stark bedroht
Nashörner sind wie Pferde und Tapire Unpaarhufer (Perissodactyla) und werden in der Familie Rhinocerotidae GRAY, 1821 zu- sammengefasst (SCHENKEL 1987). Ihre Wurzeln hat die Familie im mittleren Eozän, vor rund 50 Millionen Jahren. Man unterscheidet heute rund 40 verschiedene Gattungen mit insgesamt über 140 Arten (CER- DENO 1998). Zu ihnen gehörte unter Abbildung 16: Historischer Nashornfund aus der Sammlung des Naturmuseums St.Gallen. Gefunden 1887 in einer Mergelgalle aus dem Steinbruch an der Strasse Rehetobel-Vogelherd. Foto: Stefan Rohner. 132 TONI BÜRGIN, DAMIEN BECKER UND URS OBERLI
nach dem Elefanten die grössten heute 1999, CERDENO 1998). Diese Zeit war lebenden Landsäuger. Alle diese Arten sind begleitet von einem deutlichen Klimawandel durch Bejagung und Lebensraumverlust von warm und feucht zu warm und trocken. stark bedroht (SCHENKEL et al. 2007). Dieses
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