Ein fossiles Nashorn von Eschenbach (Kanton St. Gallen)

Autor(en): Bürgin, Toni / Becker, Damien / Oberli, Urs

Objekttyp: Article

Zeitschrift: Berichte der St. Gallischen Naturwissenschaftlichen Gesellschaft

Band (Jahr): 91 (2008)

PDF erstellt am: 09.10.2021

Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-832602

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http://www.e-periodica.ch BERICHTE DER ST.GALLISCHEN NATURWISSENSCHAFTLICHEN GESELLSCHAFT 123

91. Band Seiten 123-134 17 Abbildungen 0 Tabellen St.Gallen 2008

Ein fossiles Nashorn von Eschenbach (Kanton St.Gallen)

Toni Bürgin, Damien Becker und Urs Oberli

Inhaltsverzeichnis Zusammenfassung

Zusammenfassung 123 Aus dem granitischen Sandstein der Unteren Süsswassermolasse (Aquitanian) des 1. Ein Jahrhundertfund 123 Steinbruchs Brand (Gemeinde Eschenbach, Kanton 2. Zur Geologie der Fundstelle 125 St.Gallen) wird der Schädel eines urzeitlichen Nashorns beschrieben. Aufgrund 3. Vom Stichel zum 126 Tomografen charakteristischer Merkmale kann der Fund 4. Der Schädel und weitere Funde 128 der Art Diaceratherium lemanense (POMEL 1853) zugeordnet werden. Besonders auffallend 5. Uralt und stark bedroht 131 an diesem Fund ist die gut erhaltene Be- Dank :.... 133 zahnung. Aufnahmen mit dem Computer- Tomographen zeigen im Bereich der Literaturverzeichnis 133 Vorbacken- und der Backenzähne einen bevorstehenden Zahnwechsel. Dieser wurde mit zwei verschiedenen Methoden rekonstruiert. Der Fund erweitert die paläobiogeo- grafische Kenntnis des Taxons, das bisher nur aus Westeuropa bekannt war.

1. Ein Jahrhundertfund

Unter dem Handelsnamen

Dr. Toni Bürgin, Naturmuseum, Museumstrasse 32, CH-9000 St.Gallen; Dr. Damien Becker, Section d'archéologie et paléontologie, Republique et Canton du Jura, Office de la culture. Hôtel des Halles, CH-2900 Porrentruy Urs Oberli, Waldgutstrasse 21, CH-9010 St.Gallen 124 TONI BÜRGIN, DAMIEN BECKER UND URS OBERLI

Zürich gebracht werden, wo diese der Fund eines nahezu vollständigen Schädels granitischen Sandsteine das mittelalterliche eines jugendlichen Urzeit-Nashorns. Quadermauerwerk von Gebäuden und Auf einem bewaldeten Hügelzug zwischen Stadtmauern bildeten. Im 16. und 17. Jahrhundert und Eschenbach, baut die Firma waren sie fast die einzigen Sichtbausteine. Müller Natursteine AG schon seit vielen Zwischen 1860 und 1910 wurden in Zürich Jahrzehnten Bollinger Sandstein ab (Abbildung mit diesem Baumaterial weitere repräsentative 1). Der Abbau im Steinbruch Brand Steinfassaden erstellt. Der granitische erfolgt im Schachtbauverfahren bis in Tiefen Sandstein (KELLER 1892,RENZ 1939), wie von gegen 60 Metern (Abbildung 2). Dabei er aufgrund der gut erkennbaren kleinen, kommen Schrämmmaschinen und Diamantsägen roten Feldspatkörnchen in der Geologie zum Einsatz. Die bis zu 25 Tonnen bezeichnet wird, ist kompakt und massig. Er schweren Rohblöcke werden mit einem Kran lässt sich von Hand und maschinell sehr gut nach oben befördert und anschliessend in die bearbeiten. Zudem wird er wegen seiner nahe gelegene Steinhauerei gebracht, wo sie hohen Beständigkeit auch heute noch sehr formatiert und bearbeitet werden. Im an sich geschätzt. Gebildet wurde der granitische sehr homogenen Sandstein finden sich Sandstein aus durch mit Kalk zementiertem zuweilen schwärzliche, mergelige Einlagerungen. Sand zur Zeit der Unteren Süsswassermo- Blöcke mit solchen Partien werden lasse vor rund 20 Millionen Jahren (siehe separiert und enden in der Regel zerkleinert Kapitel Geologie). Er gilt in der Regel als als Material für Trockenmauern. Der Zufall fossilienarm. Umso überraschender war deshalb wollte es, dass ein Mitarbeiter der Firma

Abbildung 1: Abbildung 2: Der Steinbruch Brand um 1933. Der Steinbruch Brand heute. Foto: Müller Natursteine AG. Foto: Toni Bürgin. EIN FOSSILES NASHORN VON ESCHENBACH (KANTON ST.GALLEN) 125 einen kleineren Block mit nach Hause nehmen wollte, um daran seine Fertigkeiten als Steinmetz zu praktizieren. Dazu bediente er sich einer grösseren Platte, welche wegen ihrer Mergelflecken vermutlich schon etliche Jahre unverkäuflich auf dem Areal stand. Davon spaltete er einen Quader von rund 50 cm Länge, 30 cm Höhe und 30 cm Tiefe ab. Im Bruch zeigte sich auf der Oberfläche überraschend ein schwarzer Fleck in Form eines 43 cm langen (Abbildung 3). Zu Hause begann er diesen Block mit dem Meissel zu bearbeiten. Angespornt durch die Abbildung 4: Entdeckung des arbeitete sich der Der Schädel nach der weiteren Freilegung durch Reto Foto:Toni Steinmetz auf beiden Längsseiten weiter Zwicky. Bürgin. nach unten und stiess zu seiner Überraschung beidseits auf dunkle Knochenbögen (Abbildung 4). In weiser Vorahnung brach er nun seine Präparation ab und zeigte den Fund Hans-Jakob Siber, dem Leiter des Saurier- Museums in Aathal/ZH. Schon bald stellte sich heraus, dass es sich bei diesem Fund um den Schädel eines grösseren Säugetieres handeln muss. Da die Fundstelle auf dem Gebiet des Kantons St.Gallen lag, verständigte Hans-Jakob Siber das Naturtnuseum in St.Gallen. Aufgrund der hohen Abbildung 5: Der Schädel in der Präparation bei Urs Oberli. wissenschaftlichen klar, dass der Bedeutung war Foto: Toni Bürgin. Fund gemäss Natur- und Heimatschutz-Gesetz an den Kanton übergehen wird und fachmännisch präpariert werden musste. 2. Zur Geologie der Fundstelle Diese Aufgabe übernahm Urs Oberli in St.Gallen. In rund 200 Stunden präparierte Wie bereits erwähnt, stammt der nachfolgend er das Stück weiter und zum Vorschein kam beschriebene Nashorn-Fund aus der Unteren der nahezu vollständige Schädel eines Süsswassermolasse (Abbildung 6). Die Urzeit-Nashorns (Abbildung 5). Gesteine dieser Schichten bildeten sich aus dem Abtragungsschutt der emporstauenden Alpen. Ihre Mächtigkeit steigt von Norden nach Süden an. Die Fundstelle liegt am gefalteten, südlichen Rand der mittelländischen Molasse (Abbildung 7), unmittelbar an der Grenze zur subalpinen Molasse (FREI 1979), im Schnittpunkt der Genferseeschüttung mit den Schwemmfächern der Rigi-Rossberg- und der Kronberg-Gäbris-Schüttung. Sie gehört somit Granitischen Sandstein-Formation Abbildung 3: zur Der vermeintliche . (HABICHT 1987), was der Granitischen Foto: Toni Bürgin. Molasse von STUDER (1853) und dem Bol- 126 TONI BÜRGIN, DAMIEN BECKER UND URS OBERLI

linger Sandstein von KAUFMANN (1860) Oberli. Sein Ziel war es, möglichst viel an entspricht. Datiert wurde die Fundstelle ins wissenschaftlichen Informationen aus dem Aquitanian, d. h. in den oberen Teil der Stein herauszuholen. Es war beabsichtigt, an Unteren Süsswassermolasse. Aus vergleichbaren der EMPA in Dübendorf vom noch im Stein Schichten stammen auch fossile Pflanzen, liegenden Fossil CT-Röntgenbilder anzufertigen. welche in der Nähe von St.Margrethen Das Gewicht des rund 30 Kilogramm gefunden wurden (KELLER 1892). schweren Steinblocks musste daher auf 15 Kilogramm reduziert werden. Glücklicherweise war die ganze Bezahnung noch 3. Vom Stichel zum Tomographen vollständig im Sediment eingeschlossen. Die Feinpräparation erfolgte mit Hilfe feiner Der Fund wurde auf seiner Oberseite und Pressluftnadeln und -sticheln unter der seitlich durch den Steinmetz Reto Zwicky Binokularlupe bei 6- bis 30-facher Vergrösse- mit einem groben Pressluft-Steinmeissel vom rung. Besondere Vorsicht musste beim umliegenden Gestein befreit. Die Feinpräparation Freilegen der Zähne verwendet werden. Im erfolgte anschliessend durch Urs harten Zahnschmelz sind im Verlauf der

Abbildung 6: Vereinfachte Stratigraphie Ma Stufen N Lithologie Lithostratigraphie der mittelländischen Pleistozän quartiire Ablagerungen Molasse. Zeichnung: Toni Bürgin, basierend Gelasian auf einer Grafik von D. Piacenzian Schotter-Ablagerungen Zanclean Becker, in BECKER & Karstfüllungen LAPAIRE (2005). Messinian Hebung & Erosion Tortonian 10 obere :a Serravalian Süsswasser- N o Molasse 151 Langhian 100 - 1500 m

Burdigalian obere 201 Meeres-Molasse

Aquitanian 100 - 1300 m

25 untere Süsswasser- Chattian Molasse

30 100 - 4000 m Rupelian untere Meeres-Molasse 351 + c Priabonian :a nordhelvetischer M O Flysch U1 Lutetian 0 - 150 m EIN FOSSILES NASHORN VON ESCHENBACH (KANTON ST.GALLEN) 127

Bodensee-Graben Plateau-Molasse abgescherte Molasse subalpine Molasse Helveticum

Verwerfung, Bruch Antiklinale Auf-, Überschiebung

Zürich

Eschenbach

Abbildung 7: Geologische Übersichtskarte. Jahrmillionen Spannungsrisse entstanden. Zeichnung: Toni Bürgin, basierend auf einer Absolute Konzentration war gefordert. Eine Karte von H. Naef, in NAEF (1999). kurze Unaufmerksamkeit oder eine unvorteilhafte Erschütterung kann einen Zahn zu schliessende Rekonstruktion. Bei einer kleinsten Stückchen explodieren lassen, wie Zahnlänge von 30 mm resultierten 60 Folien, eine Autoscheibe aus Sicherheitsglas. Gefestigt die anschliessend mit dem Cutter und konserviert wurde das Fossil ausgeschnitten wurden (Abbildung 9). Aufgebaut anschliessend mit Zaponlack. und rekonstruiert wurden im linken Vom anpräparierten Fund wurden an der Oberkiefer der Milchzahn D4, der Vorbackenzahn EMPA in Dübendorf mit einem industriellen (Praemolare) P4 und der Backenzahn (Molare) Computer-Tomographen 919 Bilder im M3 (), welcher noch Abstand von 0,5 mm aufgenommen (Abbildung unter einer dünnen Knochenlamelle steckt 8). Diese wurden später für die dreidimensionale (Abbildung 11). Die rechte Bezahnung wurde Rekonstruktion eines Vorbacken- durch 20 Millionen Jahre Bergdruck etwas und eines Backenzahnes verwendet (siehe deformiert und war für diesen Zweck weniger SCHINDEL, BUOB & FLISCH 2008, in geeignet. Die Bezahnung wurde nun diesem Band). Eine weitere, manuelle freipräpariert. Dadurch konnte geprüft werden, Rekonstruktion dieser Zähne fertigte Urs ob der originale D4 als Referenz mit dem Oberli an. Dazu übertrug er die CT-Bilder nachgebauten D4 übereinstimmt. Im vom Flachbildschirm auf 0,5 mm starke Originalschädel ist der P4 unter dem D4 und der Klarsichtfolien. Auf jeder Folie markierte er M3 unter seiner Knochenkappe zudem zwei Referenzpunkte für die an¬ verborgen. Dank diesem zerstörungs- 128 TONI BÜRGIN, DAMIEN BECKER UND URS OBERLI

freien konnte die Kauflächenstruktur 4. Der Schädel und weitere Funde der im Kiefer verborgenen Zähne der nachfolgenden anatomischen Beschreibung Die wissenschaftliche Bearbeitung des zugänglich gemacht werden und lieferte einmaligen Fundstückes erfolgt durch Damien wichtige Hinweise zur Artbestimmung Becker, Universität Fribourg, und wird (BECKER ET AL. in prep.). im Detail an anderer Stelle publiziert (BECKER ET AL. in prep.). Aufgrund verschiedener Schädelmerkmale bestimmte er das Stück als der Art Diaceratherium lemanense (POMEL 1853) zugehörig. Diese Art ist in der Literatur (z.B. OSBORNE 1900, SCHAUB & HÜRZELER 1948) auch unter dem Namen Aceratherium lemanense POMEL, 1853 und (HEISSIG 1999) als Brachydiaceratherium lemanense (POMEL, 1853) zu finden. Sie wird in die Unterfamilie Teleoceratina eingeordnet. Darin finden sich urzeitliche Nashörner mit verkürzten, stämmigen Beinen und einem massigen, schweren Körper. Sie trugen, wenn überhaupt, nur ein kleines Horn (Abbildung 17). Der nahezu vollständig erhaltene Schädel (Abbildung 10) ist wenig deformiert und misst von der Spitze der beiden Nasenbeine bis zum Ende des Hinterhauptes 44 cm. Seine Abbildung 8: maximale Höhe im hinteren Eines von 919 Schnittbildern aus dem beträgt Drittel Tomographen. Deutlich erkennbar ist 18 cm. Die maximale Breite der beiden der hellere Knochen. Aufnahme: Empa Jochbögen beträgt 19 cm. Besonders auffällig ist Dübendorf. das flache, wenig gewölbte Schädeldach. Nasenbeine (Nasalia) und Stirnbeine (Fronta- lia) zeigen keine aufgerauten Oberflächen, was bei anderen Arten als Indiz für das Abbildung 9: Vorhandensein von Hörnern gilt. Der Naseneinschnitt Rekonstruktion des Milchzahnes D4 von Urs Oberli. ist recht tief. Von der Bezahnung sind Oben sind die auf Folien Schichten mit übertragenen in der Ansicht von unten die beiden ersten den verschraubten Referenzpunkten zu sehen. Mit Schneidezähne (Incisiven I1), die vier Hilfe von Silikon entsteht eine Negativform, in welche Kunststoff gefüllt wird. Heraus kommt der fertige Vorbackenzähne (Prämolaren P1 - P4) und die beiden Zahn. Foto: Toni Bürgin. Backenzähne (Molaren M1 & M2) gut zu erkennnen. Ausser der Knochennaht zwischen den beiden Frontalia sind die Grenzen zwischen den Einzelknochen nur undeutlich ausgebildet (Abbildung 11). Der Fund wird im Rahmen des Nationalfonds-Projektes , welches an der Universität in Fribourg EIN FOSSILES NASHORN VON ESCHENBACH (KANTON ST.GALLEN) 129

Abbildung 10: Diaceratherium lemanense (POMEL, 1853). Der Schädel in Seitenansicht (oben), Aufsicht (mitte) und Untenansicht (unten). Fotos: Bernard Migy. 130 TONI BÜRGIN, DAMIEN BECKER UND URS OBERLI

Scheitelbein Tränenbein Stirnbein (Parietale) (Lacrimale) (Frontale) Nasenbein Praefrontalöffnung (Nasale) äussere Gehöröffnung

Zwischenkieferknochen (Praemaxillare)

Schneidezahn (Incisivus) Paroccipital-Fortsatz Kieferbein Ol P2 Postglenoid-Fortsatz (Maxillare) 04 Ml M2 Vorbackenzähne Jochbein Backenzähne (Praemolaren) (Jugulare oder Zygomaticum) (Molaren)

Abbildung 11: Diaceratherium lemanense (POMEL, 1853), Schädel in Seitenansicht mit Beschriftung der anatomischen Details. Zeichnung: Toni Bürgin.

Abbildung 12: Beckenteilstück eines Nashorns. Foto: Stefan Rohner.

Abbildung 13: Schienbein (Tibia) eines Nashorns. Massstab=10 cm. Foto: Stefan Rohner.

Abbildung 14: Rippe eines Nashorns. Massstab=10 cm. Foto: Urs Oberli. EIN FOSSILES NASHORN VON ESCHENBACH (KANTON ST.GALLEN) 131

bearbeitet wird, weiter eingehend untersucht. anderem auch das mit 5 Meter Höhe und 7 Neben dem oben beschriebenen Schädel Meter Länge grösste bekannte Landsäugetier, wurden bereits früher durch Steinbruchmitarbeiter das Indricotherium. Ihre grösste weitere Einzelknochen gefunden. Formenfülle erlebten die Nashörner im Miozän Diese umfassen das Bruchstück eines zwischen 25 und 5 Millionen Jahre vor heute Beckenknochens (Abbildung 12), eines Schienbeins (AGUSTI & ANTON 2002, HEISSIG 2006). (Tibia) (Abbildung 13) und einer Rippe Noch bis zum Beginn des Pliozäns, vor rund 5 (Abbildung 14). Das diese Stücke zu Millionen Jahren, waren Nashörner auch in demselben Individuum gehören, scheint Nordamerika weit verbreitet. Danach ging unwahrscheinlich, wurden sie doch alle separat ihre Vielfalt stark zurück. Gegen Ende des gefunden. Pleistozäns und dem Einsetzen der Eiszeiten In der Sammlung des Naturmuseums verschwanden die Nashörner auch in St.Gallen finden sich zudem drei historische Europa. Zu schaffen machte ihnen wohl neben Funde, welche sich ebenfalls der Gattung Di- der Klimaveränderung auch die starke aceratherium zuordnen lassen: Dies ist einerseits Konkurrenz durch die anpassungsfähigeren das Bruchstück eines rechten Unterkiefers Paarhufer und Wiederkäuer. Heute leben noch mit den Molaren M3~!, gefunden 1842 zwei Arten in Afrika (Breitmaul- und durch Konrad Rehsteiner in der Unteren Spitzmaulnashorn) und drei Arten in Asien (Panzer-, Süsswassermolasse bei Bendlehn (Gemeinde Java- und Sumatranashorn). Sie sind Speicher/AR) und andererseits zwei Unterkieferfragmente, links mit M1 und rechts mit PI aus der granitischen Molasse des Steinbruchs an der Strasse Rehtobel-Vogelherd. Diese drei Funde wurden in der Arbeit von RENZ (1939: S. 55, Fussnote 30) als verloren gegangen bezeichnet, sind aber tatsächlich immer noch in der Sammlung des Naturmuseums vorhanden (Abbildungen 15 und 16). Ein weiteres, unbestimmtes Unterkieferfragment eines Rhinocerotiden befindet sich in der des Sammlung Paläontologischen Abbildung 15: Instituts und Museums der Universität Historischer Nashornfund aus der Sammlung Zürich, Inventar-Nummer: A/V 78, S 69/11. Es des Naturmuseums St.Gallen. Gefunden 1842 stammt aus der Unteren Süsswassermolasse durch Pfarrer Konrad Rehsteiner in Bendlehn, Gemeinde Foto: Stefan von Bollingen/SG. Speicher/AR. Rohner.

5. Uralt und stark bedroht

Nashörner sind wie Pferde und Tapire Unpaarhufer (Perissodactyla) und werden in der Familie Rhinocerotidae GRAY, 1821 zu- sammengefasst (SCHENKEL 1987). Ihre Wurzeln hat die Familie im mittleren Eozän, vor rund 50 Millionen Jahren. Man unterscheidet heute rund 40 verschiedene Gattungen mit insgesamt über 140 Arten (CER- DENO 1998). Zu ihnen gehörte unter Abbildung 16: Historischer Nashornfund aus der Sammlung des Naturmuseums St.Gallen. Gefunden 1887 in einer Mergelgalle aus dem Steinbruch an der Strasse Rehetobel-Vogelherd. Foto: Stefan Rohner. 132 TONI BÜRGIN, DAMIEN BECKER UND URS OBERLI

nach dem Elefanten die grössten heute 1999, CERDENO 1998). Diese Zeit war lebenden Landsäuger. Alle diese Arten sind begleitet von einem deutlichen Klimawandel durch Bejagung und Lebensraumverlust von warm und feucht zu warm und trocken. stark bedroht (SCHENKEL et al. 2007). Dieses führte dazu, dass Die Vertreter der Gattung Diaceratlie- aus grossen Schwemmfächern Seen und Üer- rium, zu denen neben Diaceratheriam lema- schwemmungsebenen entstanden. Deutlich nense (POMEL, 1853), auch D. lamilloquense sichtbar ist dies auch an den gefundenen MICHEL, 1983, D. asphaltense (DEPÉRET, Pflanzenfossilien. 1903), D. tomerdingense DIETRICH, 1931, Die Diaceratherien waren kurzbeinig und D. aquinense (REPELLIN, 1911) und D. au- angepasst an eine halbwegs amphibische relianense (NOUVEL, 1866) gezählt werden, Lebensweise. Die Gattung verschwand am waren in Europa die dominierende Gruppe Ende des Burdigalien (Biozone MN 4b). grosser Nashörner. Sie lebten zwischen dem Weitere Funde von Diaceratheriam lema- Ende des Oligozäns und dem Beginn des nense (POMEL, 1853) stammen aus dem Miozäns (BRUNET et al. 1987, HEISSIG frühen Miozän von Deutschland und aus Frankreich. Auch in der Schweiz wurde im Kanton Bern ein Schädelrest dieser Abbildung 17: Art geborgen Lebensbild der unteren Süsswassermolasse. (OOSTER & FISCHER-OOSTER 1871). Die Tier- und Pflanzenwelt wurde aus Fossil- Doch keiner dieser Funde hat die Qualität und Spurenfunden im Bereich des Bergsturzgebietes des in Eschenbach gefundenen Fossil. Der Goldau von (Kanton Schwyz) Fund von Eschenbach erlaubt eine rekonstruiert. Neben den Nashörnern sind weitere genauere Diskussion der Säugetiere (hirschartige Paarhufer, Anthraco- morphometrischen therium) und Vögel (Kranich, Regenpfeifer) Eigenschaften auf Artebene und dank der Compu- zu erkennen. Zeichnung: Beat Scheffold. EIN FOSSILES NASHORN VON ESCHENBACH (KANTON ST.GALLEN) 133 tertomographie ein besseres Verständnis der Dank Individualentwicklung. Zudem liefert er neue Ansatzpunkte für das Verständnis der Für ihre wertvolle Mitarbeit und ihre ge- paläoökologischen und der paläobiogeogra- schätzen Hinweise danken die Autoren phischen Evolution auf Gattungsebene. folgenden Personen und Institutionen: Wie sah der Lebensraum des fossilen Reto Zwicky, (Finder) Nashorns von Eschenbach aus? Durch die immer Familie Müller, Neuhausen (Steinbruchbesitzer) weiter nördlich vordringenden Alpenflüsse Müller Natursteine AG, Neuhausen Ton und Sand ins gelangte Schlamm, Hans Jakob Siber, Saurier-Museum Aathal Alpenvorland. Es entstanden im frühen Miozän, Ralf Schindel, FHS St.Gallen (Stereolithographie) d. h. vor rund 25 Millionen Jahren, komplexe Alexander Flisch, EMPA Dübendorf Fluss- und Überschwemmungslandschaften. (Computer-Tomographie) Lokal bildeten sich Sümpfe und Seen, wo Tayfun Yilmaz, Section d'archéologie et kalkige und organische Sedimente abgelagert paléontologie Canton Jura wurden. der verschiedenen Aufgrund an Felix Weber, Tierpark Goldau (Überlassung Orten in der Umgebung gefundenen der Zeichnung von Beat Scheffold) Pflanzenfossilien (Magnolien, Walnussarten, Martin Schindler, Kantonsarchäologie St.Gallen Lorbeergewächse, Sumpfzypressen, Palmen) Amt für Kultur des Kantons St.Gallen geht man von einem subtropischen Klima (finanzielle Unterstützung) aus mit Jahres-Durchschnittstemperaturen Hildbrand-Fonds der Ortsbürgergemeinde um die 20°C (Abbildung 17), was in etwa den St.Gallen (finanzielle Unterstützung) heutigen Bedingungen in der Karibik entspricht. Neben Nashörnern wie dem oben beschriebenen, konnte in den Ablagerungen Literaturverzeichnis der Unteren Süsswassermolasse der AGUSTI, J. & M. (2002): Mammoths, Ostschweiz eine grosse Zahl weiterer Fossilfunde ANTON, Sabertooths, and Hominids: 65 Million Years of gemacht werden (FREI 1979). Dazu gehören Mammalian Evolution in Europe. - Columbia Hasenartige Nagetiere (Mäuse, Schläfer) University Press, New York. und Paarhufer. Auch das grosse Krallentier BECKER, D. & LAPAIRE, F. (2004): La Molasse Chalicotherium grande DE BLAINVILLE, du Jura (Cenozoique), Premiers résultats des 1849 ist durch einen rechten Unterkieferast, fouilles et recherches sur la tracé de laTransjurane gefunden in den granitischen Sandsteinen (A16). - Actes de la Société Jurassienne bei Bollingen, bekannt. In Rüfi, Gemeinde d'Emulation 2003,45-61. Schänis, wurde zudem in der Unteren BECKER, D., BÜRGIN, T. & OBERLI, U. Süsswassermolasse das Oberkieferfragment eines (2006): A juvenile skull of Diaceratherium lema- nense (Rhinocerotidae) from the Aquitanian Tapirs gefunden. 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