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chapter 7 Die Erde als Mond. Kopernikanische Wenden in Raumreiseerzählungen des 17. Jahrhunderts (Kepler, Godwin, )

Thomas Rahn

Kopernikanische Wenden? Im Experimentalraum der frühneuzeitlichen Raumreiseerzählungen1 wird auf ganz verschiedene Weisen probiert, die Kopernikanische Wende ,durchzuspielen‘ und die neue Astronomie durch Inversionen zu bestätigen. Im ersten Teil des Aufsatzes werden fiktive Blicke auf die Erde in Keplers Somnium, Godwins The Man in the Moone und Cyrano de Bergeracs L’Autre Monde verglichen,2 die auf die Evidenz kopernikanischer

1 Vgl. Nicolson M.H., „Cosmic Voyages“, English Literary History 7 (1940) 83–107; Nicolson M.H., Voyages to the Moon (New York: 1948); Guthke K.S., Der Mythos der Neuzeit. Das Thema der Mehrheit der Welten in der Literatur- und Geistesgeschichte von der kopernikani- schen Wende bis zur (Bern – München 1983); Pleithner R., „Zwei Mondreisen des 17. Jahrhunderts: Voyages imaginaires oder Reiseutopien?“, in Pleithner R. (ed.), Reisen des Barock. Selbst- und Fremderfahrung und ihre Darstellung (Bonn: 1991) 75–87; Campbell M.B., „Impossible Voyages: Seventeenth-Century Space Travel and the Impulse of Ethnology“, Literature and History, 3rd series 6, 2 (1997) 1–17; Pioffet M.-C., „Godwin et Cyrano: Deux conceptions du voyage“, Dalhousie French Studies 39/40 (1997) 45–57; Weber A.S., „Changes in Celestial Journey Literature: 1400–1650“, Culture and Cosmos: A Journal of the History of Astrology and Cultural 1 (1997) 34–50; Campbell M.B., Wonder & Science. Imagining Worlds in Early Modern Europe (Ithaca, N.Y.: 1999) 111–218; Guthke K.S., „Nightmare and : Extraterrestrial Worlds from Galileo to Goethe“, Early Science and Medicine 8 (2003) 173–195; Cressy D., „Early Modern Space Travel and the English Man in the Moon“, American Historical Review 111 (2006) 961–982; Aït-Touati F., Fictions of the Cosmos: Science and Literature in the Seventeenth Century (Chicago – London: 2011); Siebenpfeiffer H., „(Imagining) First Contact—Literary Encounters of the Extraterrestrial Other in 17th and 18th Century Novels“, in Blackmore S. – Haekel R. (eds.), Discovering the Human. Life Science and the Arts in the Eighteenth and Early Nineteenth Centuries (Göttingen: 2013) 139–155. 2 Drei Texte, die wiederholt als frühneuzeitliche Inauguraltexte des Science Fiction-Genres diskutiert wurden; vgl. Christianson G.E., „Kepler’s Somnium: Science Fiction and the Renaissance Scientist“, Science Fiction-Studies 3 (1976) 76–90; Menzel, D.H., „Keplers Place in Science Fiction“, Vistas in Astronomy 18 (1975) 895–904; Hervier J., „Cyrano de Bergerac et le Voyage spatial: de la fantaisie á la science-fiction“, in Blakian A. – Wilhelm J.J. (eds.), Proceedings of the Tenth Congress of the International Comparative Literature Association

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Thesen (Erdrotation, Planetenargument, Heliozentrismus) zielen. Der zweite Teil sucht in Keplers Somnium auf der Dispositionsebene des Buches nach Perspektivenwechseln und Fiktionalitätsmarkierungen, die als Transformation methodologischer Implikationen des Textes verstehbar sind. Im dritten Teil wird gezeigt, wie in der Zoologie und der Kosmologie der Mondbewohner in Cyrano de Bergeracs L’Autre Monde irdische Anthropozentrismen invertiert werden und in einer Prozeßepisode, die auf den Inquisitionsprozeß gegen Galilei anspielt, in eine Geltungskonkurrenz geraten.

1 Evidenz und evidentia: Blicke auf die Erde bei Kepler, Godwin und Cyrano de Bergerac

Die Raumreiseerzählungen der Frühen Neuzeit ermöglichen Beobachtungs­ s­zenarien, mit denen der großartigen Pseudo-Evidenz des Geozentrismus— dem Kreisen des Himmels um die Erde—durch evidentia, d.h. durch ein deskriptives und metaphorisches ,vor Augen Stellen‘ von Phänomenen, die sich nur im All betrachten lassen, begegnet werden kann.3 Die fiktionalen Blicke auf die Erde, die hier untersucht werden,

sollen Sichtbarkeit ersetzen, selbst Sichtbarkeiten werden. Wer Evidenz produziert, verfolgt die Absicht, bei seinen Adressaten einen Blickwechsel hervorzurufen, ein anderes Sehen und ein alternatives Verständnis zu implementieren.4

(New York: 1985) vol. 1: General Problems of Literary History, 436–442; Bozetto R., „Kepler’s ,Somnium‘; or, Science Fiction’s Missing Link“, Science Fiction-Studies 17 (1990) 370–382; Poole W., „Kepler’s Somnium and ’s The Man in the Moone: Birth of Science-Fiction 1593–1638“, in Houston C. (ed.), New Worlds Reflected. Travel and Utopia in the Early Modern Period (Surrey – Burlington 2010) 57–69. 3 Der Begriff der evidentia wird, mit Rücksicht auf die Entstehungszeit der untersuchten Texte, im Folgenden ganz bewußt in dem Sinne des 17. Jahrhunderts verwendet, wie er etwa bei Gerhard Johannes Vossius in dessen einflußreichem Rhetoriklehrbuch Commentariorum Rhetoricorum, sive Oratoriorum Institutionum libri sex (1630) begegnet, nämlich sowohl als Bezeichnung für deskriptive/narrative als auch für metaphorische Verfahren. Vgl. Campe R., „Vor Augen Stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung“, in Neumann G. (ed.), Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Germanistische Symposien. Berichtsbände 18 (Stuttgart – Weimar: 1997) 208–225, hier 213. 4 Rößler H., Die Kunst des Augenscheins. Praktiken der Evidenz im 17. Jahrhundert, Wissenschaftsgeschichte 2 (Berlin – Münster – Zürich: 2012) 15.