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Baugenossenschaft „Freie Scholle“ zu eG 2019 Widerstand in der Nazizeit – gelebte Geschichte in der „Freien Scholle“

Zwangs- und Fremdarbeiterlager in der direkten Nachbarschaft der „Freien Scholle“ Seite 2 „Freie Scholle“ Historie

Vorwort

Dieses Sondermitteilungsblatt soll unter 2 Aspekten an die dunkelste Periode der deut- schen Geschichte (1933 – 1945) und deren Auswirkung auf die Baugenossenschaft „Freie Scholle“ erinnern.

Widerstand in der Nazizeit – gelebte Geschichte in der „Freien Scholle“

Zwangs- und Fremdarbeiterlager in der direkten Nachbarschaft der „Freien Scholle“

Zu diesen beiden Themen hat im Oktober 2018 unser langjähriges Vorstandsmitglied, der Baugenosse Jürgen Hochschild, zwei Vortragsabende gestaltet. Der große Saal im „To- masa – Landhaus im Schollenkrug“ war an beiden Veranstaltungen voll besetzt. Nicht nur die hohe Teilnehmerzahl, sondern auch die vielen Fragen, Ergänzungen und Anregungen von Genossenschaftsmitgliedern zu den Vorträgen haben uns gezeigt, dass diese The- men in den vielfältigen, historischen Aufarbeitungen der „Freien Scholle“ bisher anschei- nend zu kurz gekommen sind.

Deshalb haben wir uns entschieden, dieses Sondermitteilungsblatt aufzulegen.

Impressum

„Freie Scholle“ Historie

— Widerstand in der Nazi-Zeit – gelebte Geschichte in der „Freien Scholle“

— Zwangs- und Fremdarbeiterlager in der Nachbarschaft der „Freien Scholle“

Sondermitteilungsblatt der Baugenossenschaft „Freie Scholle“ zu Berlin eG, Schollenhof 7, 13509 Berlin

Telefon 43 80 00-0 [email protected] www.freiescholle.de

Redaktion: Lisa Renger Herausgeber: Der Vorstand der Baugenossenschaft „Freie Scholle“ zu Berlin eG

Auflage: 1.800 Stück

Gestaltung und Produktion: weberstedt gmbh visuelle kommunikation, Berlin

Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. „Freie Scholle“ Historie Seite 3

Widerstand in der Nazizeit – gelebte Geschichte in der „Freien Scholle“

Dieser Vortrag ist dem Widerstand in In ihrem Kampf um den Bestand der „Eiserne Front“ Tegel von 1933 bis 1945 am Beispiel Republik sah sich die SPD zuletzt fast der Baugenossenschaft „Freie Schol- völlig auf sich allein gestellt: Gemä- in Bereitschaft le“ gewidmet. ßigte bürgerliche Parteien – mit Aus- nahme des katholischen Zentrums Zur Sicherung von Versammlungen An vielen Beispielen soll die Kreativi- – verloren ihre Anhängerschaft größ- und Demonstrationen hielt sich die tät und Kampfbereitschaft, aber auch tenteils an die antidemokratisch-nati- 1924 in Magdeburg gegründete Re- die Leidensfähigkeit vieler Genossen- onalistische Rechte. Eine Minderheit publikschutztruppe „Reichsbanner schaftsmitglieder aufgezeigt werden. ging zur SPD. Auch die KPD bot sich Schwarz Rot Gold“ bereit. Sie galt als trotz allem „Antifaschismus“ – samt überparteilich, denn auch liberalde- Ich habe sehr interessantes Materi- blutigen Schlachten mit der SA – nicht mokratische Kreise und Zentrumsan- al aus Gesprächen, Briefen, Büchern als Bündnispartei an. Die Kommunis- hänger wirkten mit. Doch in der In- und Radiosendungen zusammen- ten kämpften nicht für die Republik, dustriemetropole Berlin stellten die gestellt. Die Aussagen derjenigen, die sondern für Rätediktatur und „Sow- sozialdemokratischen Arbeiter das im Gefängnis oder im Zuchthaus wa- jet-Deutschland“. Ihr Hauptfeind war weiterhin größte Kontingent der Akti- ren, sind unfassbar und deshalb so die als „sozialfaschistisch“ diffamier- ven, es waren weit über 10.000 Men- bedrückend. Im Mittelpunkt steht da- te SPD. Die Sozialdemokratie setzte schen. bei das Wirken von Franz Neumann trotz verzweifelter, hitziger Massen- 1931 bildeten Reichsbanner, Gewerk- (Vorsitzender der Berliner SPD von stimmung und zunehmender Gewalt- schaften, SPD und Arbeitersportler 1946 – 1958). tätigkeit auf den Straßen (besonders einen kampfentschlossenen republi- in der Innenstadt) weiterhin auf die kanischen Verband, die „Eiserne Ziel des Beitrages ist: An Beispielen Macht des Parlamentarismus und auf Front“. Ihr Wahrzeichen, drei Pfeile, für vorbildliche Zivilcourage gerade in den Glauben an Vernunft und politi- sollten die geeinte Arbeitersolidarität der heutigen Zeit wachrütteln und Er- sche Aufklärung. symbolisieren. innerungen wachhalten.

Die politische Der SPD Vorsitzende Otto Wels rief den Massen die Pro- Ausgangslage gnose zu: „Gestrenge Herren regieren nicht lange!“, kom- Die letzten Jahre der Weimarer Re- mentierte der „Vorwärts“ diese publik hatten für die SPD ganz im Rede am nächsten Tag mit den Zeichen des Bemühens um die Erhal- Worten: „ Berlin ist nicht Rom. tung der demokratischen Verfassung Hitler ist nicht Mussolini. Berlin gestanden. Um die Machtergreifung wird niemals die Hauptstadt ei- der NSDAP zu verhindern, war die nes Faschistenreiches werden. Sozialdemokratie bereit gewesen, die Berlin bleibt rot!“ sozial sehr harte Politik des Reichs- kanzlers und Zentrumspolitikers Hein- rich Brüning durch Tolerierung parla- Bereits neun Wochen später mentarisch abzusichern (1930-1932). schienen sich die politischen Dies führte zu Wählerverlusten, meist Machtverhältnisse schon zugunsten der KPD, und zu innerpar- grundsätzlich verändert zu teilichen Auseinandersetzungen: 1931 haben. „ rote Viertel zer- spaltete sich ein Teil des linken Parteif- fallen“, triumphierte nämlich lügels ab und bildete die (einflußlose) der „völkische Beobachter“ Foto: Hans Pitteroff (links) in der Uniform eines Sozialistische Arbeiterpartei. am 13. April 1933. Schalmeien-Orchesters Seite 4 „Freie Scholle“ Historie

Es war das letzte Aufgebot zum Schutz der sterbenden Weimarer Republik.

Franz Neumann: „Ich bin ein sehr ak- tiver Mann gewesen, und ich habe das ganze Unglück kommen sehen. Nach dem Wahlsieg der Nazis am 14. Sep- tember 1930 habe ich mich von der gewerkschaftlichen Arbeit etwas zu- rückgezogen. Ich wurde Abteilungs- leiter der Sozialdemokratischen Partei „Freie Scholle“ und war auch im Kreis- vorstand der SPD und hatte auch zentral einige Funktionen.

Schalmeien-Orchester vor dem S-Bahnhof Waidmannslust

missar eingesetzt. Die Grundrechte Wir erinnern uns wurden eingeschränkt. Hitlers Weg zur Macht wurde dadurch erleichtert und

vorbereitet. Das „Reichsbanner“ hat 30. Januar 1933: an diesem Tag in Alarmbereitschaft Adolf Hitler wird ohne Wahlen zum gelegen und glaubte, durch die Ber- Reichskanzler ernannt. liner Polizei miteingesetzt zu werden zur Verteidigung der Republik. Daß die 1. Februar 1933: Vorgänge, wie sie dann abliefen, uns Auflösung des Reichstages durch den unendlich enttäuscht haben, das ist Reichspräsident von Hindenburg. verständlich. Wir glaubten tatsächlich, daß es mit Hilfe der preußischen Poli- zei, der preußischen Behörden und der 27. Februar 1933: Ich bin mit einigen aus der „Freien großen Gewerkschafts- und Parteibe- der Reichstag brennt Scholle“ in das „Reichbanner“ einge- wegung möglich gewesen wäre, dann treten und war dort bis zum Schluß doch den Nazis einen großen, starken aktiv tätig. Wir haben Versammlungs- Damm entgegensetzen zu können. schutz gemacht. Wir haben uns auch Daß das nicht geschah, das hat man- herumgeprügelt. Das ist selbstver- chen die Lust an der Politik verleidet. Kampfloser ständlich gewesen in dieser Zeit. Und Ich selbst bin aber immer weiter aktiv wir haben Erfolge und Mißerfolge geblieben. Es ist im November 1932 Untergang gehabt. Die größte Enttäuschung für gewesen, als ich dann in Reinicken- uns junge Menschen war am 20. Juli dorf auf die Wahlliste – die Wahl war Nach einmal, am 7. Februar 1933, ver- 1932. Das Datum bedeutet eigentlich, zum 5. März 1933 festgesetzt worden anstalteten SPD-nahe Organisationen das Ende der Weimarer Republik. Man – kam. Ich war 7. auf der Liste, für ei- im Lustgarten (Stadtzentrum) eine ein- spricht von einem „Staatsstreich“. nen so jungen Menschen ein hervor- drucksvolle Kampfdemonstration der Durch die erste Notverordnung des ragender Platz. Als der 5. März 1933 freien Berliner Arbeiterschaft. 200.000 Reichspräsidenten wurde Reichskanz- aber kam, war ich Spitzenkandidat; Menschen protestierten gegen die ler von Papen – schon ohne parlamen- denn die Sechs vor mir hatten schon neugebildete Hitler-Regierung, die tarische Mehrheit – zum Reichskom- auf die Wahl verzichtet.“ sich Anfang März Neuwahlen stellte. „Freie Scholle“ Historie Seite 5

Terror und Verfolgung in der „Freien Scholle“

Bereits im Februar 1933 brach der Terror der Nazis – nun ausgerüstet mit staatlicher Macht – über die Arbeiterbewegung herein. Alles geriet in Auflösung. Auf die Aktiven des Reichsbanners, der Arbeitersportbewegung und Arbeiterpartei- en, wurde Jagd gemacht.

Doch betrachten wir zunächst die Anfangsbe- dingungen in der „Freien Scholle“. Bis Anfang März 1933 war die Siedlung von nazistischer Infiltration bzw. Unterwanderung noch weitge- hend bewahrt. Die Milieubedingungen durch die Arbeiter – und Gewerkschaftsbewegung und ihre Kultur – und Freizeitorganisationen sowie der besondere Zusammenhalt als Schollaner stan- den der ideologischen Eroberung durch den Nationalsozialismus bis Frühjahr 1933 erfolg- reich entgegen.

Mitte März 1933 stürmten SA-Männer den Stütz- punkt der Republikschutztruppe Reichsbanner schwarz-rot-gold, es handelte sich um die Kel- lerräume des Hauses Egidystraße 65. Dort holte man die täglich vor dem Gebäude aufgezogene Drei-Pfeile-Fahne der „Eisernen Front“ herunter, zerstörte sie und verschleppte die Reichsbanner- männer Friedrich Schönwald und Hans Pitteroff, die anschließend in einem SA-Lokal misshandelt wurden.

Insgesamt gerieten kurz vor der Landtagswahl am 12. März 1933 auf diese Weise 70 Frauen und Männer allein aus der „Freien Scholle“ in die Hände der Nazis. Den als Anhänger des sozia- listischen Lagers bekannten Personenkreis wur- de dadurch auch die Teilnahme an der Landtags- wahl verwehrt. Einen Tag danach kamen fast alle verschleppten wieder frei.

Es war dann am 25. März 1933, das letztmalig – im enge- ren Sinne für 12 Jahre – an einem Mast, in diesem Fall im Schollenweg 39 im Garten von Alfred Trapp, die heimlich angebrachte Drei-Pfeile-Fahne der „Eisernen Front“ ein allen sichtbares, trotziges Zeichen des Freiheitsprotestes setzte. Seite 6 „Freie Scholle“ Historie

Walter Höppner: (1900–1984) aus mals aber nicht mitgenommen. Wir dem Erholungsweg 40 (zuletzt gelebt beide versuchten in der folgenden im Kampweg 5) berichtete 1983: Zeit, die SPD-Genossen in der Sied- lung zusammenzuhalten. Natürlich „Die Siedlung „Freie Scholle“ blieb gab es dabei einige unliebsame Din- verhältnismäßig unbelästigt. Ohne- ge: SPD-Mitglieder, die plötzlich aus hin war hier die SPD stark vertreten, der Partei austraten und darauf be- es wohnten aber auch viele Kommu- standen, eine schriftliche Bestätigung nisten hier. Am Tag der sog. Machter- darüber zu erhalten, die Partei bereits greifung gab es einen NS-Fackelzug 1932 verlassen zu haben. Wir gingen durch die „Freie Scholle“. Wir standen oft über die Dächer der Siedlung und am Fenster und ahnten Böses. Bis holten einige NS-Fahnen herunter. An- März 1933 ließ man die Siedlung dann fang 1934 gerieten wir dann als Mit- in Ruhe. Lediglich zum Tag der Wahlen glieder des illegalen Apperates der gab es eine Blitzaktion: Reichsbanner, Berliner SPD in Haft.“ Kommunisten und SPD-Leute wurden verhaftet, Reichsbannerkoppeln und Fahnen aus den Wohnungen geholt. Franz Neumann und ich wurden da-

Zeitzeugen zur Reichstagswahl am 5.3.1933

Irma Rehfeldt: (1904 – 1994) aus dem Walter Höppner: Ergebnisse der Wahlen Freilandweg 3 berichtet 1983: „Was mir ungeheuer in Erinnerung am 5.3.1933 „Im März 1933 konnten zahlreiche geblieben ist, das war die Wahl am Bewohner der „Freien Scholle“ nicht 5. März 1933. Am Tag zuvor saßen Bei den Wahlen zum Reichstag am mitwählen, denn sie waren am Sonn- zwei Männer in einem geschlossenen 17.11.1929 war die „Freie Scholle“ abend zuvor verhaftet worden. Unter Wagen und hatten eine Liste, wer ab- erstmals ein eigenständiger Stimmbe- den etwa 70 Inhaftierten war auch geholt werden sollte. Die klingelten zirk. mein Mann, Herbert Rehfeldt, und der überall und holten die Kommunisten Vorstand unserer Baugenossenschaft, und Sozialdemokraten, damit sie nicht Reichstag Kommunal Otto Stechert. wählen konnten. Dann fuhren sie mit 17.11. 14.09. 05.03. den Leuten Richtung Tegel ab. Sie Zum Glück kamen die Männer nicht hatten sich noch nicht getraut, die 1929 1930 1933 in den SA-Folterkeller in die Hede- Wahl zu fälschen.“ mannstraße sondern zunächst in die SPD 52,8% 51,7% 16,8% Schule am Waidmannsluster Damm „Den Montag kam ein Genosse, der und dann zum Polizeipräsidium am am Samstag abgeholt worden war und KPD 16,9% 16,7% 17,1% erzählt, daß er von der SA der Berliner Alexanderplatz. Geschlagen wurden NSDAP 6,7% 12,2% 31,1% sie nicht, nur verhört und dann freige- Polizei im Gefängnis am Alexander- lassen. Der letzte kam am Donnerstag platz übergeben wurde. Da waren kei- raus. ne Sitze. Alle mußten stehen, zusam- mengepfercht und nichts zu essen, Am 23. März wurde das Ermächti- Im Herbst 1933 gab es dann auch den ganzen Sonnabend und Sonntag. gungsgesetz erlassen. Hausdurchsuchungen.“ Es gab keine Verhandlungen. In der Nacht zu Montag haben sie sie dann Das Parlament wurde ausgeschaltet. entlassen.“ Bei der Wahl 1933 kam es zu Schlä- gereien vor dem Wahllokal, bei denen Blut geflossen ist. Nach der Wahl hol- te die SA die Mitglieder der SPD und KPD ab, um sie am Bahnhof Waid- mannslust ihre Wahlplakate abschrub- ben zu lassen.“ „Freie Scholle“ Historie Seite 7

Grete Sonnemann (1903 – 1990) aus der Stadtverwaltung, darunter mein Die dem Schollenweg 50 berichtete 1984: Verwandter Karl Reichel sowie die Stadtverordnete Ella Kay und Franz Am 2. Mai 1933 erfolgt die Gleich- „Am 1. April 1933 gelang es uns, in Neumann, die beide in der Fürsorge schaltung der Gewerkschaften. Die der „Freien Scholle“ unterzukommen. [Sozialarbeit] tätig waren. politischen Parteien werden verboten. Dadurch brach der Kontakt zu meinen Die Parteien SPD und KPD gehen zur alten Weddinger SAJ-Genossen ab. Die „Freie Scholle“ wurde wiederholt illegalen Arbeit über. Als Hochschwangere hatte ich für sie von Verhaftungen heimgesucht, z.B. noch im Februar 1933 vor Gericht aus- vor Wahlen. Ein anderes Mal wurde Die Gremien der Baugenossenschaft sagen können. Sie kamen zunächst unsere Genossenschaftssiedlung auf „Freie Scholle“ werden ebenfalls frei, aber ihr Verteidiger, Rechtsanwalt rote Fahnen durchsucht. Selbst unter gleichgeschaltet. Michaelis, wurde später entmannt in der schmutzigen Wäsche versteckte der Spree gefunden. Exemplare fanden sie und legten sie danach demonstrativ auf dem Mittel- Viele Freunde verloren auf Grund der streifen des Waidmannsluster Dam- „Säuberungen“ ihrer Arbeitsplätze bei mes aus.“

Die „Freie Scholle“ als Organ Nationalsozialistischer Politik

Das verschärfte Augenmerkt der neu- Auf dieser mit 400 Mitgliedern tausendjährigen Reiches‘ zu ersetzen. en Machthaber galt insbesondere den außerordentlich gut besuchten Ge- Sie wählten daher den Kompromiß, sozialdemokratisch ausgerichteten neralversammlung stellten alle Auf- drei Mitglieder der NSDAP in den Auf- Genossenschaften. Ein Mitarbeiter im sichtsratsmitglieder ihre Mandate zur sichtsrat zu delegieren. Daneben wur- preußischen Staatsministerium wurde Verfügung, nur noch drei ehemalige de die gleiche Mandatsziffer der SPD zum Beauftragten für die Gleichschal- Mitglieder waren auf der Einheitsliste und den politisch Unorganisierten zu- tung des gemeinnützigen Wohnungs- vertreten. Eine Woche darauf bestellte gestanden. In der gleichen Dreiteilung wesens, und überwachte auch in der der gleichgeschaltete Aufsichtsrat auf wurden die drei Vorstandsämter be- „Freien Scholle“ die Neubesetzung Veranlassung des Staatskommissars setzt. In der Folgezeit wurden jedoch der Vorstands- und Aufsichtsratsäm- eine neue Geschäftsführung. Ihr ge- bald die politisch Andersdenkenden ter. hört noch bis Ende 1933 der ehema- ausgekehrt, soweit sie nicht durch ihre lige Schollenredakteur Hugo Schulze Sachkenntnis der genossenschaftli- „Am 24. April fanden sich dann Be- an, der „stärkste Aktivposten der alten chen Arbeit schwer entbehrlich waren.“ auftragte der augenblicklichen Verwal- Garde“. (Aus: Geschäftsbericht 1945, S. 3f) tung mit einigen Baugenossen, die der neuen Staatsmacht eng verbunden „Bis 1933 stand die „Freie Scholle“ sind, zusammen, um über die Neuge- entsprechend der politischen Zusam- staltung der Verwaltung zu beraten. Es mensetzung der Mitgliedschaft stark wurde beschlossen, der am 27. Mai unter sozialistischem Einfluß. Dies stattfindenden Generalversammlung hatte bei der sogenannten Gleich- eine Einheitsliste der in den Aufsichts- schaltung im Jahr 1933 zur Folge, rat zu entsendenden Baugenossen daß die Nationalsozialisten es nicht vorzuschlagen.“ wagten, die damals amtierenden Or- (Aus: Mitteilungsblatt 4/1933) gane restlos durch die ‚Garanten des Seite 8 „Freie Scholle“ Historie

Festliche Veranstaltungen des Vorstandes der „Freien Scholle“ unter dem Hakenkreuz

In der Zeit von 1933 bis 1945 gehörten folgende Personen dem Vorstand der „Freien Scholle“ an:

– Werner Weymann (1933 – 1934) – P.G. Alfons Seydel (1933 – 1935) – Erich Merner (1934) – Otto Wassmann (1934 – 1938) – P.G. Wilhelm Schläfke (1935 – 1945) – P.G. Karl Schulz (1936 – 1945) – Hugo Schulze (1939 – 1945) „Freie Scholle“ Historie Seite 9

Festliche Veranstaltungen des Vorstandes der „Freien Scholle“ unter dem Hakenkreuz Seite 10 „Freie Scholle“ Historie

Originalliste der Blockwarte aus dem Mitteilungsblatt von Juni 1933 Noch im Juni 1933 wird mit der Er- Wir haben daher 70 Blockwarte er- Im Sommer 1933 kommt es aufgrund nennung von Blockwarten begonnen, nannt, denen die hohe Aufgabe zufällt, einer „Weisung von oben“ zur Umbe- um auch in der „Scholle“ den Weg Bindeglied zwischen der Verwaltung nennung des Lilienthalhofes, was die für Kontrolle und Bespitzelung der und den Mitgliedern zu sein. Genossenschaft jedoch tief bedauert. Bewohner zu ebnen. „Wir sind daher (Aus: Mitteilungsblatt 8/1933) Es besteht die Vermutung, daß Lilient- entschlossen, unsere Genossen in hal irrtümlich als Jude eingestuft wur- stärkerem Maße als je zur Mitarbeit Die „Freie Scholle“ hatte zu dieser Zeit de. „Die Behörden haben nun, nach- heranzuziehen und wollen versuchen 912 Nutzungseinheiten, das bedeutet, dem der Name sich in einem halben zu erreichen, daß aus dem kleinsten ein Blockwart hatte durchschnittlich Jahrzehnt eingebürgert hatte, es für Kreise der Zelle ein verantwortlicher 13 Wohnungen oder Einfamilienhäuser notwendig erachtet, aus technischen Träger dieser Idee herausgestellt wird. zu „betreuen“. Gründen die Umtaufe vollziehen zu müssen. Der Lilienthalhof hat nunmehr die amtliche Bezeichnung ‚Schollen- hof‘ erhalten.“ (Aus: Mitteilungsblatt 8/1933)

Anfang 1934 beginnen auch in der „Freien Scholle“ die ersten Verhaftungen

Franz Neumann (1904 – 1974) be- Walter Höppner berichtet 1982: … Am 18. Januar 1934 kamen wir richtet über die „Verhöre in der Prinz- ins Polizeipräsidium Alexanderplatz Albrecht-Straße: „Zwei Polizeibeamte brachten mich … Nun erließ auch der Haftrichter ei- mit der Straßenbahn zum Polizeire- nen Haftbefehl. Erst von jetzt an da- „Ich wurde in das Zimmer 325 einge- vier in die Schlieperstraße nach Tegel. tierte unsere Verhaftung. Im Juli 1934 liefert, in dem unter Leitung des Kom- Von dort ging es zur in die kamen wir dann als Untersuchungs- missars Rikowski die furchtbaren Miß- Prinz-Albrecht-Straße. Zu derselben häftlinge nach Moabit. Der Prozeß am handlungen erfolgten“… Zeit saß auch der frühere KPD-Vorsit- 14.7.1934 dauerte 1 ½ Stunden, bei zende Ernst Thälmann dort. insgesamt 19 Angeklagten. Viele von „… ich hatte das Glück, daß ich einer ihnen kamen aus dem Osten Berlins. verkehrten Gruppe zugeordnet wurde. Zunächst wurden mir Bilder vorgelegt. Die Anklage stand für alle auf Zucht- Aber ich hatte auch schwere Belastun- ‚Kennst du den?‘ – Nachdem ich ein haus.“ gen bei der Gestapo-Zentrale, so daß halbes Dutzend Fotos mit NEIN kom- ich – mit einigen anderen – schwersten mentiert hatte, ging die Prügelei los. Mißhandlungen ausgesetzt war. Die Vor und hinter mich trat ein Mann. Sie Gesundheit ist dadurch für das ganze schlugen auf den Kopf. Das Trommel- Leben dann gestört worden.“ fell des einen Ohres ging kaputt. Spä- ter brauche ich deshalb ein Hörgerät. Dann schlug man mit Ochsenziemern auf mich ein. Ich wurde bewußtlos. Daraufhin hielt man meinen Kopf unter Wasser und schleppte mich danach ans Fenster. Wir befanden uns im 4. Stock des Gebäudes. Man forder- te mich auf zu springen. Ich gab nicht nach. Danach brachte man mich in den Keller, wo ein bunt zusammen- gewürfelter Haufen Inhaftierter war. Zwei Tage danach begann dieselbe Prozedur noch einmal: Prügelei und Quälerei. Anschließend kam ich mit Franz Neumann ins SS-Gefängnis Co- lumbiahaus. „Freie Scholle“ Historie Seite 11 Seite 12 „Freie Scholle“ Historie

Einen kleinen Einblick in das Gefühlsleben eines Gefangenen erhalten wir, wenn wir uns die Briefe ansehen, die Walter Höppner während seiner Inhaftierung an seine Frau Wally geschrieben hat. Es ist allerdings zu bedenken, dass alle Briefe durch die Zensur gingen. Wir veröffentlichen Auszüge aus 5 Briefen, die Walter Höppner in der Zeit vom 16. Januar 1934 bis zum 15. Juli 1934 an seine Ehefrau geschrieben hat.

Walter Höppner, Polizeipräsidium, Alexanderstr. 10, Station VIII an Frau Wally Höppner, Berlin-Tegel, Erholungsweg 40

Berlin, 16.1.1934 Liebe Wally, seit gestern sind wir im Polizeipräsidium. Die Pakete mit Wäsche und Decke sowie Deinen Brief habe ich erhalten, wie Du ja wohl aus meinen beiden Briefen schon erfahren haben wirst. Uns geht es gut, sorgt Euch nicht. Wie es weitergeht wissen wir nicht. Hoffentlich zum Guten. … Wie lange wir hier bleiben, wissen wir auch nicht. … Nun seid alle tapfer und haltet zu Hause gut zusammen. Kopf hoch, es wird schon wieder besser werden. …

Walter Höppner, Berlin N.W. 40, Alt-Moabit 12a an Frau Wally Höppner, Berlin-Tegel, Erholungsweg 40

Gef. B. Nr. 7515/33 (Bei allen Sendungen anzugeben.)

Berlin 21. Januar 1934 Gelesen: … Liebe Wally, seit Freitag, dem 19.1., befinden wir uns im Untersuchungsgefängnis Moabit in Untersuchungs- haft. Gegen uns alle ist Untersuchungshaft verhängt. Es wird also jedenfalls zum Prozeß kom- men. Die Untersuchungshaft wird bei der großen Zahl der Beteiligten wohl einige Zeit dauern, ehe die Voruntersuchung abgeschlossen wird. Liebe Wally, ich habe Dir nun über unser Schicksal mitgeteilt, was ich selber weiß. Wir wollen nur hoffen, daß diese Zeit unseres Lebens so schnell wie möglich an unser vorübergeht. Ich ertrage es schon, denn Krieg, Inflation und Arbeitslosig- keit haben wir ertragen müssen. Warum nicht diese Zeit unseres gemeinsamen Lebensweges? … „Freie Scholle“ Historie Seite 13

Berlin 8. Februar 1934 Gelesen: … Liebe Wally, gestern Nachmittag erhielt ich Deinen zweiten Brief in dieser Woche. Den vom 31.1. bekam ich am Montag und den vom 4.2. am Dienstag. Die Freude war natürlich groß über Deine beiden Briefe. Ich darf die Briefe selbstverständlich behalten, die werden von mir alle nummeriert, und auf einem Bogen vermerke ich mir das Empfangsdatum. Ärger bereitest Du mir nicht mit Deinen Briefen. Die Anzahl ist keinen Beschränkungen unterworfen. Morgen bin ich genau 5 Wochen von Hause fort. Die Zeit vergeht furchtbar schnell, und doch könnte sie wegen mir noch einmal so schnell vergehen. Liebe Wally, wie lange das hier dauert weiß ich ja nun nicht, will aber auch keine falschen Hoffnungen in Dir wecken. Ich fürchte es dauert noch Wochen über Wochen ehe es überhaupt zum Termin kommt. Solange wir jetzt hier sind hat sich bis jetzt noch keiner um uns gekümmert. Doch laß den Mut nicht sinken. Einmal geht ja alles vorbei. Sprecherlaubnis ist endgültig abgelehnt. …

Berlin 12. Februar 1934 Gelesen: … Meine liebe Wally, … Nun ist am Mittwoch noch ein sehr schöner Brief von meiner Mutter eingetroffen, der mich sehr wehmütig gemacht hat. Meine Mutter kann es wohl nicht verwinden, daß ich im Gefängnis bin. Wenn Sie nur nicht wieder krank wird davon. Du weißt doch, das nimmt sie doch immer so mit. Sie schreibt mir, daß sie Dich zum Sonntag, also heute, zum Essen einladen wird. Über unser Boot soll ich mir keine Sorgen machen, schreibt sie, da helfen sie schon mit. Ich mache mir aber doch welche, daß das Geld nicht aufgebracht wird, aber ich glaube kaum, daß wir in diesem Sommer dazu kommen werden, das Boot zu benutzen. Ich schrieb Dir ja schon, daß sich hier kein Mensch um uns kümmert, und das ist ja das Niederdrückende an der ganzen Sache hier, daß man nicht weiß, wann ist das mal zu Ende. Wenn nun nämlich Termin (ist), und wir werden bestraft, so weiß man wenigstens, an dem und dem Tag bist Du frei. So sitzt man aber hier und zermartert sich sein Hirn, wie lange das noch gehen mag. Ich will Dich aber nun nicht weiter mit meinen Sorgen belästigen und Dir noch das Leben schwerer machen als es ohnehin schon ist. Doch muß ich Dir auch das mal schreiben dürfen, denn ich muß meinem Herzen mal Luft ma- Seite 14 „Freie Scholle“ Historie

chen und auch einem anderen meine Sorgen mitteilen. Und Du, liebe Wally, wirst ja verstehen, mir gerne tragen helfen. Meinem Zellengenossen kann ich mich nicht mitteilen. Der hat kein Verständnis dafür. Erstmal ist es ein krimineller Häftling, und zum zweiten nimmt er einen derartigen moralischen Standpunkt ein, den ich, der ich bestimmt kein Moralphilister bin, nicht teilen kann. …

Berlin 15. Juli 1934 Gelesen: 17/7.34 Unterschrift unleserlich Meine liebe gute Wally, wie schwer mir das wird, Dir heute den letzten Brief von hier zu schreiben, kannst Du Dir ein- fach nicht vorstellen. Du wirst von unserer Verurteilung ja schon gehört haben, aber darüber weiter unten. Die schwersten Vorwürfe mache ich mir ja darüber, daß ich Deinem Wunsch, als Zuhörer der Verhandlung beizuwohnen, nicht erfüllt habe. Bin ich doch so durch meine Schuld darum gekommen, Dich eine Viertelstunde ungestört sprechen zu können. Habe ich mich doch darum, daß ich Dich nicht mehr sprechen konnte, mehr aufgeregt als über das Urteil. In meiner Aufregung, daß Du nicht da warst, habe ich keinem der Bekannten einen Gruß an Dich aufge- tragen. Das ist mir aber erst nachher, als ich wieder in meiner Zelle war, eingefallen. Wenn ich gewußt hätte, daß so viele Zuhörer zugelassen werden, Du sprachst von zwanzig, es waren aber mindestens 100-120 anwesend, dann hättet Ihr auch kommen können. … Nur Du fehltest mir. Du bist mir sicherlich sehr böse. Ich kann Dich auch verstehen. Es war Dummheit von mir, Dich fernzuhalten. Wäre der Prozeß nicht so schnell zu Ende gewesen, das hatte keiner von uns erwar- tet, so hätten wir uns noch gesehen. … Meine liebe gute Wally, sei mir bitte nicht so sehr böse. Ich mache mir jede Stunde die bittersten Vorwürfe und bin so traurig wie noch nie solange ich in Haft bin. Vom Termin selbst nun will ich Dir berichten. Um ¼ 10 war alles versammelt. Bei der Zu- lassung der Zuhörer war ein Andrang, daß die Beamten den Raum sperren mußten. Es sind lange nicht alle reingekommen. Nach dem Namensaufruf wurde gleich, nachdem die Anklage verlesen wurde, in die Beweisaufnahme eingetreten. Da nur wenig Unstimmigkeiten vorhanden waren, „Freie Scholle“ Historie Seite 15

die zu klären waren, ging das ziemlich schnell. Gegen ½ 12 war die Beweisaufnahme geschlossen. Eine Pause von 10 Minuten brachten wir draußen zu. Dann nahm der Staatsanwalt das Wort und beantragte für alle Zuchthausstrafen von 3 – 1 ½ Jahren. Das Gericht zog sich zurück. Für mich waren 2 Jahre Zuchthaus beantragt ebenso Franz. Wir konnten dann mit den Angehörigen sprechen, und da habe ich Dich und die Eltern vermißt, aber es war ja meine Schuld. Du wirst sicher schöne Augen gemacht haben, als Du kamst. Der Senat trat dann wieder ein und verlas das Urteil: 3 zu 2 Jahren Zuchthaus, 8 zu 2 Jahren Gefängnis und 8 zu 1 ½ Jahren Gefängnis. Bei den letzten bin ich und auch Franz (Neumann) bei. Die Untersuchungshaft angerechnet. Also meine liebe Wally, 1 ½ Jahre Gefängnis für mich. Ich habe es ziemlich gefaßt aufgenommen, es hätte schlimmer kommen können. In letzter Woche hat das Gericht ein um die Hälfte höheres Urteil gefällt als der Antrag des Staatsanwaltes war. Man hat uns zugutegehalten, daß wir zu unserer Tat gestanden haben. Und alle haben das Urteil wie ein Mann auf sich genommen. Meine liebe Wally, weine nicht so sehr um mich. In einem Jahr bin ich bei Dir. Die Gewissheit haben wir und haben ein Ziel. Im Juli 35 sind wir wieder zusammen. Dieser Sommer ist bald vorbei und der Winter vergeht auch schnell und im nächsten Frühjahr können wir die Tage zählen bis zum Zusammensein. Sei nicht traurig und trage es so wie ich. Wir kommen sicher nach Plötzensee und von da mit Sammeltransport nach Ems in die Moore. Es kann etliche Wochen dauern bis wir wegkommen. Wie gesagt das denken wir uns. Vielleicht bleiben wir auch in Berlin. Also al- les noch offen. Auf jeden Fall bin ich im Juli 35 bei Dir und habe meine Freiheit wieder. Darum freue Du Dich so wie ich mich auf den Tag, wo Du mich in Empfang nehmen kannst. Und bleibe Dir immer, denn uns geht die Sonne nicht unter, Dein liebster und treuer Walter. Der Oma und dem Papa zum 51. herzliche Glückwünsche im nächsten Jahr bin ich dabei. Das kostet aber eine Kleinigkeit dann. … Seite 16 „Freie Scholle“ Historie

Resignation und Anpassung machen sich auf der „Scholle“ breit Doris Schrön (1919 – 2007) berichtet der, es kommen auch wieder bessere man vor seinem Nachbarn Angst ha- 1989: Zeiten. Wir schaffen das schon. Meine ben muss.“ Eltern bekamen von ihm auch mal den „Anfangs organisierte Franz Neu- Hinweis, wenn ihr sonntags mit eurem mann noch die Genossen. Doch gro- Besuch in der Laube seid, dann dürft Grete Sonnemann erinnert sich 1984: ße Angst und Mißtrauen verhinderten ihr nicht so laut sprechen. bald engere Verbindungen. Aus un- „Doch auch in der „Freien Schol- serer Straße wurde ein Kommunist Aber es gab natürlich auch andere le“ hingen dann später aus fast allen verschleppt und für mehrere Wochen Nachbarn.“ Fenstern Hakenkreuzfahnen. Obwohl inhaftiert. Sozialdemokraten wie Franz doch viele Nichtnazis und frühere So- Neumann und Walter Höppner wur- zialdemokraten hier wohnten, mach- den ebenfalls verhaftet. Jeder, der in Ingrid Riewe erinnert sich ebenfalls ten fast alle beim Fahnenraushängen die „Freie Scholle“ zog, wurde von uns 2018: mit. beäugt. Es geschah zu recht, denn ein junger, stiller Nachbar entpuppte sich „Einmal bekam ich eine richtige Wut Ausschlaggebend zur Beschreibung 1945 als ehemaliger Wachmann des auf unsere anderen Nachbarn, die Fa- der damaligen Verhältnisse war das KZ Sachsenhausen.“ milie Westphal. Mein damals 14-jäh- große Mißtrauen. Mit wem konnte man riger Bruder grüßte den 15-jährigen reden? Man wußte doch nicht, unter Nachbarssohn auf dem Gehweg mit welchem Druck jemand stand. Wenn Ingrid Riewe (geb. Klabuhn) erzählt „Tag Günther“. Der gab daraufhin mei- wir damals getan hätten, wozu wir 2018: nem Bruder eine Backpfeife und schrie eigentlich verpflichtet waren – mein „Du Pimpf, ich bin Dein HJ-Führer und Bruder Max Menzel (KPD) saß wegen „Wir hatten in der Egidystraße mit Eri- Du hast mich mit „Heil Hitler“ zu grü- Widerstandes im Zuchthaus –, wären ka und Hans Pitteroff ganz tolle Nach- ßen. Beim nächsten Mal mache ich wir nicht durchgekommen.“ barn. „Onki“ Pitteroff sagte immer wie- Meldung.“ Ist es nicht schlimm, wenn

Zum Schollenfest 1933 waren die Fassaden noch ohne Hakenkreuz-Fahne geschmückt. „Freie Scholle“ Historie Seite 17

Irma Rehfeldt berichtet 1983:

„In der ‚Freien Scholle‘ wohnten zwar viele Anti-Leute, aber was sollte man angesichts des Terrors machen? Man konnte nur versuchen, menschlich zu- sammenzuhalten. Zugegeben, man mußte vorsichtig sein. Den verbotenen Sender hörten wir darum zur Kriegs- zeit nur im Keller ab und informierten unseren Freund Franz Neumann.

Der Baugenossenschafts-Vorstand Otto Stechert half in einer kniffligen Situation. Bei den jährlichen Fest- umzügen der „Freien Scholle“ mußte doch eine Fahne dabei sein. Die rote Fahne mit den drei Pfeilen Eiserne Front ging nicht mehr, die Nazifahne wollten wir nicht. Da entwarf Stechert die weiß-grüne Fahne mit dem Häus- chen.“

Später waren die Nazi-Fahnen nicht zu übersehen. Otto Stechert Dass, was einmal sichtbar sozia- NS-Propaganda zu bewahren, wurden listisch, republikanisch bzw. sozial- für Kinder sozialistischer Elternhäu- demokratisch an der „Freien Scholle“ ser durch ältere Schollaner wiederholt war, verschwand bereits im Jahr der Wochenendfahrten organisiert (z.B. NS-Machtergreifung. Doch war nicht durch Paul Kräh noch im Sommer nur das äußere Bild betroffen, auch 1941). Manche Jugendliche, deren El- die innere Erosion war unübersehbar. tern erklärte NS-Gegner waren, befan- Martin Bartsch berichtet beispiels- den sich tatsächlich in einem inneren weise, dass in der zweiten Hälfte der Zwiespalt. Martin Bartsch beschreibt 30er Jahre selbst frühere sozialde- ihn folgendermaßen: „Ich wollte ins mokratische Familien ihren Kindern NS-Jungvolk, schon deswegen, weil das Spielen mit Altersgefährten aus man dort ein Messer tragen konnte. kommunistischen oder jüdischen El- Meine Mutter, eine leidenschaftliche ternhäusern angstvoll untersagten. Pazifistin und Linkssozialistin war Um wenigstens Teile der Jugend vor strikt dagegen.“ der völligen Vereinnahmung durch die Seite 18 „Freie Scholle“ Historie „Freie Scholle“ Historie Seite 19

Widerstand gegen die Judenverfolgung Mit Beschluss der Generalversamm- Rosemarie Sonnemann (geb. Kirsch- Keller auf. Monat für Monat kam aller- lung wurde am 12.5.1939 die Satzung ner) teilt 2001 mit: „Offensichtlich gab dings ein NS-Uniformierter, ein Schol- der Freie Scholle dahingehende geän- es selbst auf dem Tegeler Polizeirevier laner namens Hahn, um in unserem dert, dass Juden nicht mehr Mitglied in 293 einen oder mehrere Helfer, die Haus Nachforschungen anzustellen. der Genossenschaft werden konnten. die entsprechende Akte ‚verschwin- ‚Ich muss doch wissen, wie viele Ju- Am 9.12.1945 wurde dieser Paragraph den‘ ließen. Ich war natürlich damals den noch im Lande sind‘, sagte er zu- 3, Abs. 2 auf Beschluss der Mitglieder- zu klein, um heute die Ereignisse im letzt zu meiner Oma. 1945 verschwand versammlung wieder gestrichen. Der Einzelnen beschreiben zu können, er- er dann ganz plötzlich.“ damalige Geschäftsführer Alfred Dall- innere mich aber an eine angsterfüllte mann hat die Streichung umgehend Atmosphäre und die stete Sorge, ge- Werner Trapp berichtet von einem vorgenommen. (Siehe nächste Seite) trennt zu werden. Großvater Retzlaff weiteren Beispiel politischer Solidari- war Luftschutzwart. Seinen von ihm tät: Mehreren sozialdemokratischen Wie tief aber der Ungeist der Zeit in ausgebauten Keller suchten auch Familien, selbst ihm als Heranwach- den Kriegsjahren selbst in diese alte mehrere Nachbarn auf. Viele waren senden, war bekannt, dass sich Lutsi Arbeitersiedlung eingedrungen war, eingeweiht! Meines Wissens nahm Krause (Allmendeweg 34) eines sog. belegt die traurige Tatsache, dass Karl niemand Anstoß. Nur ein anonymes Halbjüdischen Jugendlichen, Gün- Buttkes jüdische Frau Edith 1944 von Schreiben protestierte, dass er ‚Ju- ter Katz, angenommen hatte, den sie Hausbewohnern im Schollenhof 14 den verstecke‘. Tatsächlich ‚tauchte‘ durch die Gefahren der Zeit brachte. der Zutritt zum Luftschutzkeller mit wiederholt der verfolgte Herr Lux bei (Nach 1945 emigrierte er in die USA). den Worten verwehrt wurde: „Das sind uns ‚unter‘ und hielt sich zeitweise im doch eure Leute, die die Bomben wer- fen!“

Andererseits gab es auch entgegen- gesetzte Beispiele des Verhaltens. So lebten in der Egidystraße 51 der Kriegsinvalide (Erster Weltkrieg) Walter Retzlaff (1898 – 1954) und seine Frau Gertrud (1899 – 1985). Aus der Be- ziehung ihres Sohnes Herbert (*1919) zu einem jüdischen Mädchen, Selma Kirschner (1923 – 42), war 1940 die kleine Tochter Rosemarie hervorge- gangen. Die alten Leute drängten ihren Sohn, nicht nur die Vaterschaft anzu- erkennen – was eine Haft wegen „Ras- senschande“ nach sich zog – sondern nahmen Mutter und Tochter aus den Hoffnungstaler Anstalten Lobetal im Jahre 1941 in ihre Obhut. Selma Kirschner, die bei Rheinmetall-Borsig arbeitete, beging dort den „Fehler“, eine stattliche Kinderbeihilfe zu be- antragen. Als sie dafür die Geburtsur- kunde mit dem Hinweis „mosaisch“ vorlegte, löste sie eine Lawine der Ver- folgung aus: Ende 1941 verschleppte man sie ins KZ Ravensbrück, im Jahr darauf wurde sie in Auschwitz ermor- det. In einem anhaltenden Ringen mit Polizeibehörden und NS-Stellen wei- gerten sich die Großeltern, ihren klei- nen Schützling herauszugeben – und hatten Erfolg. Seite 20 „Freie Scholle“ Historie

Aktiver Widerstand und Untergrund 1944 hatte sich eine kleine links- Geldsammlung zur Unterstützung der Doris Schrön erinnert sich 1989: sozialistische Widerstandgruppe um Angehörigen verhafteten Mitarbeiter. die Pädagogin Erika Bartsch (Erho- Durch vorzügliche Querverbindungen „Kurt Megelin zog erst nach 1933 in lungsweg 6), den Buchdrucker Fred gelang es, ab 1934 einen sogenann- die ‚Freie Scholle“. Politisch trat er Schmidt (Moorweg 6) und den Buch- ten „Warndienst“ einzurichten. Kurze nicht hervor. händler Carl Buttke (Schollenhof 14) Zeit vor benachrichtigten Verhaftun- in der „Freien Scholle“ herausgebildet. gen konnten die von der Gestapo Er war ein Filou, ein kleiner Spitzbube. Sie standen mit dem Baugenossen „Auserwählten“ in Sicherheit gebracht Reden – oder quatschen, wie der Ber- Kurt Megelin (Schollenhof 12, später werden. Zu den so Geschützen zähl- liner sagt – konnte er gut, obwohl er Egidystraße 1) in Verbindung. te beispielsweise der frühere Reini- mit der deutschen Sprache etwas auf ckendorfer SPD-Kreisvorsitzende Karl Kriegsfuß stand. 1936 meldete er sich Durch Zettel verbreiteten sie verbotene Schwarz. aus Anlaß der Olympischen Spiele als Rundfunknachrichten, die den offiziel- ‚deutsch-japanischer Dolmetscher‘ len Propagandalügen vom „Endsieg“ Obwohl die Gestapo Kurt Megelin und führte sehr belustigte Gruppen entgegentraten. Auf Grund großer Vor- hauptsächlich wegen der früheren Tä- durch die Reichshauptstadt. Dabei sicht konnten die politischen Freunde tigkeiten beim Bund weltlicher Schul- konnte er kein Wort japanisch!“ der Entdeckung ihrer Aktivitäten ent- gemeinschaften wiederholt verhörte gehen. und inhaftierte, konnte er doch jeden Obwohl Kurt Megelin zwischen 1933 Verdacht glaubhaft von sich weisen. und 1937 wiederholt viele Monate Ein besonderer Aktivist war der Bau- Selbst anderen Widerstandkämpfern eingesperrt worden war, konnte er genosse Kurt Megelin. Dem Buch- gab er keinen Einblick in seine wahre mehreren Verfolgten helfen und Un- drucker und Verwaltungsangestellten Rolle. So erinnert sich Walter Höppner tergetauchten Verstecke vermitteln. war es durch großes Geschick und daran, daß Kurt Megelin sich wieder- Anfang 1938 floh Kurt Megelin aus die Verschwiegenheit seiner Freunde holt nach dem Schicksal der verfolg- der Gefangenschaft. Er nutzte die aus der Führungsgruppe des „Roten ten Freunde aus der „Freien Scholle“ Gelegenheit zur Flucht aus dem Kran- Stoßtrupps“ gelungen, die große Ver- erkundigte, aber seine eigene illegale kentransport während der Dunkelheit. folgungswelle im November 1933 zu Arbeit verschweig. Im Gegenteil, er Trotz seines schlechten Gesundheits- überstehen. Zahlreiche Mitverschwö- tarnte sich selbst gegenüber Anhän- zustandes war Kurt Megelin schon rer bescheinigten ihm (nach dem gern der unterdrückten SPD. nach kurzer Zeit wieder illegal aktiv Krieg) herausragende Fähigkeiten und tätig. 1942 nahm der Lehrer Friedrich einen unermüdlichen Einsatz für Ver- Krüger in Megelins Auftrag Kontakt zu folgte. Der Pädagoge Friedrich Krüger oppositionellen militärischen Kreisen (1896 – 1984) erinnert sich: „Kurt Me- auf. Else Megelin arbeitete im Büro gelin war ein Fuchs, er war für die ille- des früheren Gewerkschaftsführers gale Arbeit geboren.“ Wilhelm Leuschner, der einer der be- deutendsten Männer des 20. Juli 1944 In den 20er Jahren Geschäftsführer war. Auch ihr gelang es – trotz einiger des Bundes der weltlichen Schulge- Wochen Gestapo-Haft – die Zeit der meinschaften und Vorsitzender der Diktatur zu überleben. Kurt Megelin Sozialistischen Arbeiterjugend, hatte engagierte sich nach dem Krieg im er im Bezirksamt eine Aufbau des Büchereiwesens im Bezirk Arbeit als Hauptsachbearbeiter gefun- Reinickendorf. Er verstarb nach langer den. 1932/1933 zählte er zum engen schwerer Krankheit 1979. Kern des Roten Stoßtrupps, konnte aber – als „Lehmann“ angeklagt und gesucht – die Zerschlagung der Orga- nisation überstehen. Die Leitung der Rest-Gruppe ging nun an ihn über. Der Vertrieb einer illegalen Zeitung wurde aus Sicherheitsgründen eingestellt. Das Hauptgewicht der Arbeit verleg- ten sie von 1934 an auf Betriebs- und Transportsabotage, auf Auslands- kurierdienst, Aktenentwendung und „Freie Scholle“ Historie Seite 21

Militarisierung der Jugend und Flucht aus dem Wehrertüchtigungslager

Seit 1944 zog sich die Schlinge des te, eskalierten. Der Jugendliche wurde Kauf. An Land rannte ich dann nass NS-Staates, der durch militärische von der Schule verwiesen und kam nach Hause (Moorweg 6). Niederlagen und verheerende Men- Mitte Februar wieder nach Berlin-Tegel schenverluste mehr und mehr in die zurück. (Die Kinderlandverschickung Dank der Hilfe des Schollenarztes und Defensive geriet, immer enger um nach Oberschlesien fand wegen des Humanisten Dr. Schünemann konnte den Hals der Heranwachsenden, die Vordringens der Roten Armee ohnehin meine Lungenentzündung in einem man mit allen erdenklichen Mitteln des ihr Ende.) Versteck ausheilen und ich überle- Drucks und der Propaganda frühzeitig ben.“ für die Kriegsmaschinerie gefügig ma- Noch mehr in Bedrängnis geriet ein chen wollte. anderer junger Schollaner. Wie Martin Bartsch, stammt er aus einem antina- So berichtete Martin Bartsch zistischen Elternhaus: Peter Schmidts (1929 – 2010, wohnhaft im Erholungs- Vater, der Buchdrucker Fred Schmidt weg 2, später im Schollenhof 13), (1900 – 1973), gehörte mit dem Buch- dessen Schule wegen der Bombar- händler Carl Buttke und der Handels- dierungen im Zuge der sogenannten lehrerin Erika Bartsch einem linkssozi- Kinderlandverschickung im Septem- alistischen Untergrundkreis an. ber 1943 nach Oberschlesien verla- gert wurde, davon, dass ein großer Peter Schmidt (1929 – 2009) berich- Teil der Schüler des Jahrgangs 1928 tet 2001: bereits im Januar 1944 zur Heimat- flak eingezogen worden war. Bartsch „Im Winter 1944/45 wurde ich mit und andere Jugendliche begann ein anderen Heranwachsenden in ein NS-Lehrer, durch Schießübungen zum ‚Wehrertüchtigungslager‘ auf der In- Erwerb des „HJ-Schießabzeichens“ sel Scharfenberg gesteckt. Waffen-SS anzulocken. Doch als der wegen sei- bedrängte uns, dass wir uns als ‚letz- ner Trefferquote gelobte Bartsch der tes Aufgebot‘ an die Front melden. Der Bemerkung „Jeder Schuß ein Ruß“ Druck wurde immer stärker. Wir be- widersprach, wurde er sofort aus dem kamen tagelang nichts zu essen und Lehrgang ausgeschlossen und fortan wurden zusammengeschlagen als „bolschewistischer Lude“ diffa- miert. Die Auseinandersetzungen zwi- Um dem Kriegsdienst zu entgehen, schen Bartsch und dem fanatischen floh ich und nahm dafür sogar die Ge- Lehrer, der den Heranwachsenden fahren des nächtlichen Durchschwim- schließlich im Februar 1945 verprügel- mens des eiskalten Tegeler Sees in

Krieg – Ende – Neubeginn

Die Wahlkampfparole der SPD „Wer „Freie Scholle“ – sozialistische Sied- linorgel“ aufgestellt, um die SA-Vertei- Hitler wählt; wählt den Krieg“ – wur- lung der Arbeiter“ stand in russischer digung der Brücke über den Nordgra- de grausame Realität. Am Ende des Sprache auf großen Tafeln, die an den ben in Tegel zu zerstören. „tausendjährigen Reiches“ stand die Grenzen der Siedlung aufgestellt wa- bedingungslose Kapitulation der deut- ren, um Ausschreitungen der Kampf- Martin Bartsch erzählt 1983: schen Wehrmacht im Mai 1945. truppen möglichst zu vermeiden. „Die ersten sowjetischen Soldaten In der „Freien Scholle“ war der Krieg Die Apriltage waren aber nochmals waren feine Menschen, dann kamen bereits am 22. April 1945 zu Ende. An sehr dramatisch für die Schollaner. wüste Schweine.“ Aufgrund des bru- diesem Sonntag passierten die ersten Ingrid Riewe erinnert sich 2018 an talen Verhaltens von einigen Sow- Soldaten der Roten Armee den Waid- schweren Artilleriebeschuss über die jetsoldaten gegenüber zahlreichen mannsluster Damm. Durch die Stra- „Freie Scholle“ hinweg. Die sowjeti- Frauen hatte die rote Armee in kurzer ßen der „Freien Scholle“ rückten sow- sche Armee hatte in der Dianastraße Zeit jeden Kredit bei den Schollanern jetische Panzer in Richtung Tegel vor. in Waidmannslust nochmals eine „Sta- verspielt. Seite 22 „Freie Scholle“ Historie

Sigrid Meier (geb. Buttke) beschreibt Ingrid Riewe sagte über die Sow- 10) und Georg Saar (KPD, Schollen- in einem Interview 2018 die beklem- jetischen Soldaten: „Die haben bei weg 64) die Sicherung dringendster mende Situation im Luftschutzkeller uns im Haus geklaut und haben nach Lebensbedürfnisse (Lebensmittel- im Steilpfad 3 folgendermaßen: Schnaps gestunken. Aber es hat uns versorgung, Schutz der Heimstätten, keiner etwas getan. Über Vergewalti- Aufrechterhaltung der öffentlichen „Die Soldaten kamen in den Keller, wir gungen wurde aber immer wieder ge- Ordnung, Weiterführung der Geschäf- hatten Angst. Einzelne Frauen wurden sprochen. Deshalb wurden wir Mäd- te in der Baugenossenschaft u.v.m.) mitgenommen. Was das Wort „Verge- chen auf doof, schmutzig und bucklig Es sei an dieser Stelle an die vielen waltigung“ bedeutet, wusste ich als hergerichtet. Wir sollten abstoßend Baugenossen gedacht, die während Kind noch nicht. Die Soldaten plün- wirken.“ der nationalsozialistischen Diktatur derten das benachbarte Lebensmittel- aus politischen, rassischen oder reli- geschäft am Waidmannsluster Damm Eine genossenschaftliche Notgemein- giösen Gründen verfolgt wurden oder und nahmen sich Alkohol und Zigaret- schaft, später in ‚Sozialistische Ar- gar ihr Leben lassen mussten. Aus der ten, alle verbleibenden Lebensmittel beitsgemeinschaft Freie Scholle‘ um- „Freien Scholle“ wurden 11 Bewoh- sollten wir uns nehmen.“ benannt, übernahm unter der Leitung ner als „Opfer des Faschismus“ aner- von Franz Neumann (SPD, Moorweg kannt.

Im September 1945 eröffnet Franz Neumann das erste Schollenfest nach dem 2. Weltkrieg in seiner Festzug unter dem Motto „12 Jahre haben wir Eigenschaft als Mitglied des Notvorstandes geschlafen, jetzt sind wir wieder gute Demo- kraten“

Das 1. Schollenfest nach Kriegsende. Franz Neumann bei der Verteilung von Brot an Untere Demonstrationsreihe: Irma Rehfeldt (l.) und Grete Sonnenmann (mit Hut) Rentner der „Freien Scholle“ 1945 „Freie Scholle“ Historie Seite 23

Die vorab genannten Schollaner engagierten sich später: Adolf Dünnebacke • Bezirksbürgermeister von Reinickendorf 1946 – 1960

Franz Neumann • Mitglied im Aufsichtsrat der „Freien Scholle“ • Stellvertretender Bezirksbürgermeister von Reinickendorf 1945 – 1946 • Vorsitzender der SPD Berlin 1946 – 1958 • Mitbegründer und Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt Berlin 1946 – 1969 • Mitglied des deutschen Bundestages 1949 – 1969 • Ehrensenator der Technischen Universität Berlin • Ehrenbürger von Berlin

Grete Sonnemann • Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses 1958 – 1967 • Berliner Stadtälteste Franz Neumann Irma Rehfeldt • Vorstand der „Freien Scholle“ 1947 – 1953

Walter Höppner • Vorstand der „Freien Scholle“ 1947 – 1967

Paul Lempert • Vorstand der „Freien Scholle“ 1948 – 1953

Ja, es sind sehr viele Hitler gefolgt. Aber es muss auch immer wieder aufgezeigt Ich widme diesen Beitrag meinem werden: Es gab auch welche, die sich entzogen haben und passiven oder akti- Großvater Paul Hochschild, der wie ven Widerstand geleistet haben. viele andere Baugenossen nach der Wahl am 5. März 1933 von SA-Leu- Wir müssen es denen danken, die ihr Leben riskiert haben und immer wieder ten mit Knüppeln zum S-Bahnhof daran erinnern, wofür sie es riskiert haben: Für Menschenwürde, Recht und Frei- Waidmannslust getrieben worden heit, Güter, die nicht selbstverständlich werden dürfen, sondern täglich bewahrt ist, um dort die geklebten Wahlpla- und verteidigt werden müssen – auch und gerade heute wieder. kate zu entfernen. Jürgen Hochschild

Quellen: • „Widerstand in Pankow und Reinickendorf“ von Hans-Rainer Sandvoß, 2009, Herausgeber: Gedenkstätte Deutscher Widerstand • Die „Andere Reichshauptstadt“ von Hans-Rainer Sandvoß, 2007, Lukas-Verlag • Tätigkeitsbericht des Franz-Neumann-Archiv e.V., 1978 • Franz-Neumann’s letztes Interview, 1974, Südwest-Funk Baden-Baden • „Freie Scholle“ – Ein Name wird Programm, Edition Arkadien, Renate Amann und Barbara von Neumann-Cosel • 70 Jahre – SPD „Freie Scholle“ – Ein Rückblick von Werner Trapp • Div. Mitteilungsblätter der Baugenossenschaft „Freie Scholle zu Berlin e.G. • Privates Archiv des Berichterstatters Seite 24 „Freie Scholle“ Historie „Freie Scholle“ Historie Seite 25

Zwangs- und Fremdarbeiterlager in der Nachbarschaft der „Freien Scholle“ Während des Zweiten Weltkrieges Volta-Werke, Reichsbahn und Reichs- Weißrussen, Ukrainer) schlechter be- mussten im Deutschen Reich und in post. Zwangsarbeiter gab es aber handelt als polnische, italienische den vom NS-Regime besetzten Län- auch in Handwerksbetrieben, der oder französische Zwangsarbeiter. dern knapp 20 Millionen Männer, Frau- Landwirtschaft, städtischen Institutio- An unterster Stelle standen jüdische en und Kinder Zwangsarbeit leisten. nen und Behörden, selbst in Kirchen- KZ-Häftlinge. Mehrere Hundert von Die Betroffenen waren zum größten gemeinden (Franz-Jordan Stift) und ihnen, überwiegend Frauen, waren in Teil Zivilpersonen aus den okkupier- Privathaushalten. den Ortsteilen Tegel und Reinicken- ten oder abhängigen Gebieten, hinzu dorf in Außenlagern vom KZ Sachsen- kamen Kriegsgefangene, KZ-Häftlin- Die Unterbringung erfolgte in der Re- hausen untergebracht und mussten ge, jüdische Bürger und Angehörige gel getrennt nach Nationalitäten in für Argus und Borsig arbeiten. Ihr Tod anderer verfolgter Bevölkerungsgrup- eigens errichteten, eingezäunten und wurde billigend in Kauf genommen. pen. bewachten Barackenlagern in der Nähe der Arbeitsstätte oder direkt auf Ab 1940 bestand eine diskriminie- Die Zwangsarbeiterinnen und Zwangs- dem Gelände der Betriebe, Privathäu- rende Kennzeichnungspflicht für pol- arbeiter sollten die zum Kriegsdienst sern oder auf Schiffen auf dem Tegeler nische „Zivilarbeiter“ und ab 1942 eingezogenen deutschen Arbeiter er- See. 140 Lagerstandorte mit mehr als durch gut sichtbare Aufnäher an der setzen und als billige Arbeitskräfte die je 20 Insassen konnten in Reinicken- Kleidung. Das „Ost“-Abzeichen wurde Kriegsproduktion aufrechterhalten. dorf bisher ausfindig gemacht werden. 1944 durch separate Aufnäher für die Die „Vernichtung durch die Arbeit“ von Die Lebens- und Arbeitsbedingun- einzelnen Volksgruppen ersetzt. Wer Juden, Sinti, Roma, politischen Geg- gen für die zwangsverpflichteten das Abzeichen nicht trug, konnte da- nern und „asozialem Leben“ war ein Menschen waren überwiegend men- für bestraft werden. weiteres grausames Ziel des Zwangs- schenunwürdig bis katastrophal. Da- arbeitereinsatzes. bei hing ihre Behandlung gemäß der Ein großes Lager, das von Borsig be- nationalsozialistischen Rassenideolo- trieben wurde, war das sogenannte In Berlin, der wichtigsten Rüstungs- gie von ihrer Herkunft ab. So wurden Steinberg-Lager am Waidmanns- schmiede des Deutschen Reiches, leb- sogenannte „Ostarbeiter“ (Russen, luster Damm. Der Schriftwechsel über ten in der Zeit von 1939 bis 1945 rund eine Million Zwangsarbeiter, davon ca. ein Viertel Frauen. Die zwangsrekru- Tegeler Fließ Moorweg Egidystraße tierten ausländischen Arbeiter stellten Schollenweg zeitweise über 20 % der Beschäftig- Allmendeweg ten. Im Bezirk Reinickendorf, dem ne- Osianderweg ben Spandau größten Rüstungsstand- ort in Berlin, gehen Schätzungen von ca. 30.000 betroffenen Menschen aus 16 Nationen aus, die tatsächliche Zahl Martin-Luther-Kirchhof Waidmannsluster Damm lag wahrscheinlich weit darüber. Liebfrauenweg Tomasa Bisher wurden 71 Industriebetriebe Landhaus im Bezirk Reinickendorf ermittelt, die Schollenhof Zwangsarbeiter einsetzten. Es waren Barnabasstraße Steilpfad in der Mehrzahl Maschinenfabriken, Moränenweg die im Laufe des Krieges oder be- Talsandweg AWO Kita reits davor auf Rüstungsproduktion Freie Scholle umstellten, z.B. Rheinmetall-Borsig, Alkett, Argus, die Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken, Schwarz-Pro- Erholungsweg peller, Raboma, Teves, Max Hensel, Seite 26 „Freie Scholle“ Historie

„Barackenlager am Fließ“ genannt. Die Häftlinge mussten ebenfalls für Tegeler Fließ Moorweg Egidystraße Rheinmetall-Borsig arbeiten und wa- Schollenweg ren hauptsächlich Südeuropäer. Auf Allmendeweg

Osianderweg diesem Gelände wurden auch kleinere Hütten errichtet, die nach dem Krieg als Nissenhütten und Behelfsheime umgebaut und für ausgebombte Te- geler bewohnbar gemacht wurden. Martin-Luther-Kirchhof Waidmannsluster Damm

Liebfrauenweg Aufgestellt werden sollten einge- Tomasa schossige sogenannte Reichsarbeits- Landhaus Schollenhof dienst-Baracken, die man als Behelfs- baracken für die Rüstungsindustrie Barnabasstraße Steilpfad errichten ließ. Ein zweites Schreiben Moränenweg folgte am 28. Juli 1942. Darin muss- Talsandweg AWO Kita ten sich Rheinmetall-Borsig und die Freie Scholle Gagfah (Gemeinnützige Aktien-Ge- sellschaft für Angestellten-Heimstät- ten) verpflichten, bis sechs Monate Erholungsweg nach Kriegsende die Baracken abzu- reißen. Ein drittes Schreiben datiert vom 20. August 1942. In diesem Brief die Errichtung dieses Lagers wird im Neu-Tegel und die Einfamilienhäuser, wird wiederum Bezug genommen auf Landesarchiv Berlin aufbewahrt. Mit die die Gagfah Anfang der 60er Jahre ein Schreiben vom 22. Juni 1942, das Schreiben vom 4. Juli 1942 informierte dort errichtet hat. Die Insassen waren vermutlich den Beginn des Schrift- der Stadtpräsident der Reichshaupt- hauptsächlich Franzosen, Belgier und wechsels zur Errichtung des Steinber- stadt Berlin den Oberbürgermeister Niederländer und mussten für Rhein- glagers dokumentiert. Im November – Baupolizei Abt. Reinickendorf, Ber- metall-Borsig arbeiten. 1942 war das Lager jedenfalls noch lin-Wittenau, Hauptstraße 63, über die nicht fertig. Nach der Bemerkung auf Errichtung eines Barackenlagers für 3. Berlin-Tegel, Osianderweg. Das Ge- der Rückseite des Schreibens vom 4. ausländische Arbeiter der Rheinme- lände erstreckte sich im Osianderweg Juli 1942, datiert vom 3. November tall-Borsigwerke in Tegel, Waidmanns- vom Kampweg bis zum Moorweg auf 1942, waren damals die Anschlüsse luster Damm. Nach einer flüchtig an- der Seite des Allmendeweges (Gelän- noch nicht hergestellt und es wurden gefertigten Lagerskizze, die diesem de der Gagfah). Das Lager wurde auch gerade die Leitungsgräben ausge- Schreiben beigefügt war, plante man es zwischen Waidmannsluster Damm, Egidystraße, Steilpfad, Moränenweg, Tegeler Fließ

Erholungsweg und Osianderweg. Egidystraße Moorweg Schollenweg

Allmendeweg Tatsächlich werden in der Literatur Osianderweg 3 Örtlichkeiten für das sogenannte „Steinberg-Lager“ genannt:

1. Berlin-Waidmannslust, Waidmanns- Martin-Luther-Kirchhof luster Damm 81–105. Das Gelände ist Waidmannsluster Damm das sog. „Purwin-Gelände“, das zur- Liebfrauenweg zeit von der „Freien Scholle“ bebaut Tomasa Landhaus wird und der Platz des Hundevereins. Schollenhof Das Lager wurde von der Deutschen Barnabasstraße Post und der Reichsbahn betrieben. Steilpfad Die Insassen waren hauptsächlich Moränenweg

Talsandweg Russen, Polen und Ukrainer. AWO Kita Freie Scholle

2. Berlin-Tegel, Erholungsweg. Auf dem Gelände befindet sich heute Erholungsweg hauptsächlich die Kleingartenkolonie „Freie Scholle“ Historie Seite 27

baggert. Aus einem Schreiben vom 5. bis 18.00 Uhr einschließlich kurzer schlechtesten Plätze, aber wenigstens April 1943 geht hervor, dass das Bara- Pausen. Die wöchentliche Arbeitszeit ging man sich nicht aus dem Weg. ckenlager am Erholungsweg schließ- betrug also 72 Stunden. Die Arbeit lich fertiggestellt war. Diese Schreiben war schwer und monoton. Die Ent- Die Aussagen von Schollanern zum veranschaulichen den umständlichen lohnung spottete jeder Beschreibung. Zusammenleben mit den Zwangs- und Instanzenweg, der beschritten werden Meistens waren es lediglich 3 RM pro Fremdarbeitern sind äußerst spärlich. musste, bis die Baracken schließlich Tag. Davon wurden dann noch für In Mitteilungsblättern der Genossen- erstellt waren. „freie Unterkunft und Verpflegung“ schaft ist darüber nichts zu lesen. So- 1,50 RM pro Tag abgezogen. Die Be- lidarität und Menschlichkeit bleiben im Der Lagerstandort am Erholungsweg zahlung erfolgte nur in den ersten Mo- Verborgenen. Kontakt zu den Zwangs- ist auf dem britischen „Town-Plan of naten der Zwangsunterbringung. In arbeiterinnen und Zwangsarbeitern Berlin“ von 1944 deutlich eingezeich- den letzten Monaten des Krieges wur- war verboten. Das Brot-Zustecken net und gut zu lokalisieren. Allerdings de kein Geld mehr ausgezahlt. musste also heimlich geschehen. Für geht aus der zeichnerischen Umset- die Schollaner waren die benachbar- zung nicht die Größe dieses Lagers An Sommerwochenenden war der ten Fremden Kriegsalltag. Sie gehör- hervor. Eingezeichnet sind hier acht Steinbergpark ein beliebter Ausflugs- ten dazu, wie die Verdunkelungen, die Baracken. Besonders deutlich ist das ort für die Fremdarbeiter, die in großer Lebensmittelkarten, die ausgebrann- Lager dagegen auf einer Luftbildauf- Zahl neben den Wegen im Gras lager- ten und zerbombten Wohnungen, die nahme der Alliierten vom 22. März ten. Die einheimische Bevölkerung Luftschutzkeller und die Todesanzei- 1945 zu erkennen. Fast der gesamte hat den Park gemieden. Am Sonntag gen mit dem Eisernen Kreuz. Die Dis- mittlere und östliche Teil des Lagers konnten die Zwangsarbeiter auch die kriminierung der „Fremdarbeiter“ wur- Erholungsweg war zu dem Zeitpunkt Nachmittagsvorstellung im Huber- de meistens ebenso hingenommen, zerstört, von den erhaltenen Baracken tus-Kino in Waidmannslust besuchen. wie der eigene spärliche Lebensstan- war ein Teil mit einem Tarnanstrich Reserviert waren die ersten beiden dard unter den Bedingungen der stän- versehen worden. Reihen im Kino. Es waren zwar die digen Bombenangriffe.

Das Lager im Osianderweg unterhielt Borsig. Eigentümer des Lagergelän- des war die gemeinnützige Siedlungs- Deutsche! gesellschaft Rheinmetall Borsig´scher Werksangehöriger. Das Lagergelände Wahrt inneren und äußeren Ab–tand von den Fremdvölkischen. erstreckte sich westlich der „Freien Scholle“ im Osianderweg, Kampweg Wer Krieg–gefangene wie Deutsche behandelt, wird zum Verräter und Moorweg. Mitte November 1941 waren die Baracken bereits errichtet, am deutschen Volke. - Feind bleibt Feind! - obwohl die Baugenehmigung noch ausstand. Die Abnahme war dann am E– ist verboten, mit Krieg–gefangenen aller Länder, mit Polen 7. Mai 1942. Diese betraf fünf Wohn- und Ostarbeitern zu –prechen. baracken, eine Wasch- und Badeba- racke, eine Abortbaracke sowie einen Kartoffel- und einen Kohlenbunker. E– ist verboten, mit Krieg–gefangenen Polen oder Ostarbeitern Ausgestattet war das Lager im Nor- an einem Tisch zu essen. den mit Splitterschutzgräben für 200 Personen. Die Zustimmung des Stadt- Wer seine Ehre nicht wahrt, und sich mit Krieg–gefangenen Polen präsidenten der Reichshauptstadt er- und Ostarbeitern einläßt, wird mit Zuchthau– bestraft. folgte sogar erst am 27. März 1943. Geplant war das Lager ursprünglich für 508 Personen, im Dezember 1942 Wer Krieg–gefangenen bei der Flucht behilflich ist, oder ihnen waren schon 160 Plätze belegt. 1943 Fluchthilf–mittel verschafft - Werkzeuge, Zivilkleidung, Landkarten erfolgte eine Erweiterung um 90 Per- u–w. - wird mit Zuchthau– bestraft. sonen.

Über das Leben in den Lagern selbst Jede deutsche Frau ist e– den Front–oldaten gegenüber schuldig, ist kaum etwas bekannt, fast nichts daß sie Abstand von den Fremdvölkischen hält. Die Deutsche Frau über eine Lagerkultur mit sozialen muß auch zur Wahrung ihrer Ehre jeden falschen Schein vermeiden. Rangordnungen und Überlebensni- schen. Gearbeitet werden musste Bleibe Dir jederzeit dieser Verantwortung bewußt. von montags bis samstags von 6.00 Seite 28 „Freie Scholle“ Historie

Zwei Schollaner haben sich 2018 im Interview mit mir erinnert: Baugenosse Gerhard Köhn, Baugenossin Sigrid Meier, Allmendeweg 49, Jahrgang 1937: Steilpfad 3, Jahrgang 1936:

„Mein Vater hatte ein fahrbares Obst- „Ich erinnere mich an die Baracken im mit deutschen Worten geneckt. Wir und Gemüsegeschäft. Er stand jeden Erholungsweg. Sie erstreckten sich Kinder hatten keine Angst. Die Russen Tag auf dem Waidmannsluster Damm vom Park bis zum heutigen Sandgras- waren sehr hilfsbereit. Die Russen hat- zwischen der Fleischerei Repke und weg. Dort befand sich auch ein großes ten Angst vor dem Kriegsende, denn dem Kürschnermeister Delbrouck. Je- Löschwasserbecken. In dem Lager von den sowjetischen Soldaten wur- den Abend lagen natürlich Kohl- und waren zum großen Teil Holländer und den sie als Kollaborateure betrachtet Salatblätter am Straßenrand. Mal ist auch mal Russen. In der Dunkelheit und dafür gejagt und oftmals getötet.“ auch ein Apfel herunter gefallen. Das haben sie geklingelt und nach Hilfs- holten sich dann im Dunkeln der Nacht arbeiten gefragt. Sie haben Kriegs- die Männer aus dem „Italienerlager“ beschädigungen repariert oder beim im Osianderweg. Das wurde von ei- Schneefegen geholfen. Wir wurden im nem Blockwart angezeigt. Mein Vater Talsandweg ausgebombt und muss- wurde daraufhin abgeholt und ver- ten in den Steilpfad umziehen. Hierbei hört. Er war mal eine Nacht lang weg. haben uns Fremdarbeiter geholfen. Strafen wurden nur angedroht. Über Als Belohnung gab es Brot oder ein die „fremden Nachbarn“ wurde in der paar Kartoffeln. Wir Kinder durften Familie nicht gesprochen. Sogar mein zwar zu den Fremden keinen Kontakt Großvater, der Kommunist war, hat aufnehmen, taten es aber trotzdem. über seiner Tätigkeit als Aufseher bei Die haben uns ein paar Brocken rus- Borsig nichts erzählt.“ sisch beigebracht und wir haben die

Gleich nach Ende des zweiten Weltkrieges wurden auf den freien Flächen auf dem Barackengelände auf dem Erholungsweg von Schollanern Kartoffeln und Gemüse angebaut. Im Hintergrund ist eine Baracke zu erkennen. „Freie Scholle“ Historie Seite 29

Das war eine kurze Darstellung dazu, was in den Jahren 1943/1944 bis Kriegsende in der direkten Nachbar- schaft unserer Genossenschaft so Grausames passierte. Der Lagerbau gehörte zur Programmatik des Natio- nalsozialismus und war ein Symptom der NS-Diktatur. Er resultierte nicht allein aus der Rüstungsproduktion im engeren Sinne, sondern ist eng verbunden mit den politischen, ras- sistischen und völkischen Zielen der Nationalsozialisten. Von Anfang an bedeuteten die Lager Gewalttätigkeit gegen Menschen.

Die Schollaner nahmen die Lager „zur Kenntnis“. Sie hatten ab 1943 mit sich selbst zu kämpfen. Die Zerstörung in der Scholle war zu diesem Zeitpunkt schon erheblich. Die Kontakte zu den Lagerinsassen wurden vermieden und Ebenfalls dem Lager im Erholungsweg hat sich im Juli 1945 der Schollenmaler Paul Lempert gewid- fanden lediglich im Schutz der Dunkel- met. heit statt.

Jürgen Hochschild

Nach Beendigung der Bautätigkeit auf dem Gelände am Waidmannsluster Damm 81/83 wird die „Freie Scholle“ auf einer Gedenktafel an die „unmenschliche Nutzung“ des Gelän- des in der Zeit von 1943 – 1945 erinnern.

Quellen:

• Rainer Kubatzki, Zwangsarbeiter- und Kriegsgefangenenlager, Standorte und Topographie in Berlin 1939 bis 1945, Berlin Verlage, Spitz GmbH

• Gertraud Eva Schrage, Und man schickte uns in die Baracke…, Zwangsarbeit in Berlin-Reinickendorf 1939 – 1945, Juni Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Vol 53, Jg. 2007

• Manfred Mendes, Leben in Waidmannslust, Berlin 2004, Mendes Eigenverlag

• Diverse: Unterlagen des Heimatkundemuseum Reinickendorf Seite 30 „Freie Scholle“ Historie

Fragen und Bemerkungen „Freie Scholle“ Historie Seite 31 Seite 32 „Freie Scholle“ Historie