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SWR2 Musikstunde

Von New York über Boston nach Cleveland – Zu Besuch bei drei amerikanischen Spitzenorchestern (1 - 5) Folge 1:

Von Susanne Herzog

Sendung: 11. Januar 2021 Redaktion: Dr. Ulla Zierau Produktion: SWR 2020

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Von New York, über Boston nach Cleveland: wir sind diese Woche bei berühmten amerikanischen Orchestern zu Gast, lauschen ihrem Klang und erzählen aus ihrer bewegten Geschichte. Ich bin Susanne Herzog. Herzlich Willkommen.

Eigentlich sollte es dieser Tage im Januar wieder losgehen bei den New Yorker Philharmonikern. Aber jetzt mussten das Orchester und sein Chefdirigent die ganze Saison absagen, bis zum Juni! Weil die Corona-Pause immer länger dauert, haben sich die Orchestermusiker schon im letzten Herbst ihre Instrumente geschnappt und sind mit einem roten Truck, dem NY Phil Bandwagon quer durch New York gefahren: in kleinen Gruppen haben sie in den Straßen und Parks von New York gespielt, um zumindest ein bisschen Musik zu den Menschen zu bringen.

MUSIK 1 : Scherzo aus der Serenade in D-Dur op. 25 The Chamber Music Society of Lincoln Center Titel CD: Odyssey. The Chamber Music Society in Greece CMS Studio Recordings (Hauslable, ohne weitere Angaben) LÄNGE 1’49

Das Scherzo aus der Serenade in D-Dur op. 25 von Ludwig van Beethoven haben Mitglieder der Chamber Music Society of Lincoln Center gespielt. Kammermusik im Freien: so werden die New Yorker Philharmoniker auch das Frühjahr überbrücken…

Wir schauen in dieser erzwungenen Pause einfach Mal zurück: in die Geschichte des ältesten Orchesters der USA. Und die beginnt am 7. Dezember 1842: In den Apollo Rooms am Broadway haben sich rund fünfzig Musiker versammelt. Sie spielen unter anderem Beethoven, seine fünfte Sinfonie. Die ist damals in den USA noch absolutes Neuland: es ist die amerikanische Erstaufführung, die der Dirigent da mit seinen Musikern zu Gehör bringt und gleichzeitig die Geburtsstunde der New Yorker Philharmoniker! , , , : sie alle und viele mehr standen seitdem am Pult der New Yorker Philharmoniker. Sie konnten den Klang dieses wunderbaren Orchesters formen, aber hatten auch immer Mal wieder mit dem sehr ausgeprägten Selbstbewusstsein der Musiker zu kämpfen: Der Kritiker Harold C. Schonberg hat es so beschrieben: die New Yorker, das sei eine „temperamentvolle Ansammlung von Primadonnen“.

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MUSIK 2 Ludwig van Beethoven: Menuetto, 3. Satz aus der Sinfonie Nr. 1 C-Dur New Yorker Philharmoniker, Leitung: Leonard Bernstein LC 06868-Sony Classical, SMK47514 LÄNGE 3‘20

Das war das Menuetto aus der ersten Sinfonie von Ludwig van Beethoven mit den New Yorker Philharmonikern und Leonard Bernstein.

Die New Yorker Philharmoniker, damals kurz: Das Philharmonic , bleibt, man kann es sich denken, in einer pulsierenden Stadt wie New York nicht ohne Konkurrenz. Konkurrent Nr. 1 ist Anfang des 20. Jahrhunderts das New York Symphony Orchestra. Das hat 1878 gegründet, später dann übernimmt sein Sohn Walter die Leitung. Im musikalischen Kräftemessen hat zuerst das Symphony Orchestra die Nase vorn. An seiner Seite ist nämlich der Stahlgigant Andrew Carnegie, der angeregt durch den Bau einer Konzerthalle finanziert: die „New York Music Hall“, besser bekannt als Carnegie Hall. Und zu ihrer Einweihung 1891 kommt niemand Geringeres als Peter Tschaikowsky höchstpersönlich nach New York. Kurioserweise wissen wir sogar, was Tschaikowsky in New York so alles durch den Kopf geht. Denn in einem kleinen Notizbuch notiert er ganz alltägliche Fragen, die sich ihm in der „Neuen Welt“ stellen: „Ist es sicher in Amerika, Wasser zu trinken? Welche Zigaretten rauchen Männer in New York City? Welche Hüte tragen sie? Bekomme ich meine Wäsche gewaschen?” Neben viel Alltäglichem beschäftigt Tschaikowsky aber natürlich auch der brandneue Konzertsaal, den er einweihen soll: „Akustik der neuen Musik Halle checken.“ steht also auch auf seiner to-do Liste. Mit den Musikern des New York Symphony ist Tschaikowsky sehr zufrieden: in einem Interview zeigt er sich überrascht, wie gut sie vom Blatt lesen und seine Musik verstehen. „Ich bewundere besonders die Flöten und Streicher. Die Flöten spielen wunderschön und süß und die Streicher haben eine sonore und reiche Klangqualität.“ Vor dem Eröffnungskonzert ist Tschaikowsky aber trotzdem extrem aufgeregt. Völlig umsonst, denn letztlich wird es eine Sensation und Tschaikowsky dirigiert sogar noch einige weitere Konzerte. An seinen Bruder Modest schreibt er: „Es lief so wunderbar. Ich frage mich, wieso ich derart nervös war. Selten zuvor habe ich mir vor einem Konzert so viele Sorgen gemacht, wie vor diesem. Eine Begeisterung war da, die ich selbst in Russland niemals hervorzurufen vermochte“.

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MUSIK 3 Peter Tschaikowsky: Schlusswalzer und Apotheose aus: Der Nussknacker op. 71 New Yorker Philharmoniker, Leitung: Kurt Masur LC 06019-TELDEC CLASSICS, 4509-94571-2 LÄNGE 3’39

Das war Kurt Masur mit den New Yorker Philharmonikern und dem Schlusswalzer aus der Nussknacker-Suite von Peter Tschaikowsky.

Keine zwei Jahre nach der triumphalen Eröffnung der Carnegie Hall durch Tschaikowsky mit dem Symphony Orchestra von New York, feiert diesmal das Philharmonic Orchestra einen sensationellen Erfolg in der Carnegie Hall: mit seinem Dirigenten spielt es 1893 die Uraufführung von Antonin Dvořáks 9. Sinfonie „Aus der Neuen Welt“ und die ist ja bis heute eins der beliebtesten Stücke der klassischen Musik. Während Theodore Thomas, Seidls Vorgänger bei den New Yorkern, ein Orchestererzieher der alten Schule war und als „menschliches Metronom“ galt, dirigiert Seidl sehr frei. Er weiß das Publikum für Dvořáks amerikanische Sinfonie zu begeistern: Seidl schwelgt in den Klängen, romantisch durch und durch. Diese Sicht auf die Musik hat er aus Europa mitgebracht, dort war er in Bayreuth Assistent von . Unter Seidl heißt es, das Orchester „singt“, es „seufzt und flüstert“. Die Uraufführung von Dvořáks 9. Sinfonie wird man sich also sehr farbig und gefühlsintensiv vorstellen können. Und das kommt sehr gut an: während der Uraufführung bricht bereits nach dem zweiten Satz Beifall los und das Publikum ruft „Dvořák! Dvořák!“. Dvořák, tief gerührt, steht auf, winkt mit zitternden Händen dem Publikum, dem Orchester und dem Dirigenten Anton Seidl und zieht sich dann wieder auf seinen Platz zurück.

MUSIK 4 Antonin Dvořák: Scherzo aus Sinfonie Nr. 9 e-Moll op. 95 New Yorker Philharmoniker, Leitung: Leonard Bernstein, 1962 LC 06868-Sony Classical, 47547 Länge 6’30

Das Scherzo aus Antonin Dvořáks 9. Sinfonie: wir haben es gehört mit den New Yorker Philharmonikern und Leonard Bernstein. Uraufgeführt seinerzeit von Anton Seidl, mit Dvořák höchstpersönlich im Publikum.

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So grandios diese Uraufführung war, bald steht es um das Orchester nicht mehr so gut: Die Philharmonic Society macht Schulden und verliert Mitglieder: es geht bergab… Außerdem gibt es inzwischen nicht nur Konkurrenz in New York durch das Symphony Orchestra, sondern auch in Boston: durch das Boston Symphony Orchestra. Das werden wir in der SWR 2 Musikstunde am Mittwoch und Donnerstag noch näher kennenlernen.

In New York naht Hilfe aus der High Society: Einige reiche Damen schließen sich zusammen und stecken ihr Geld und ihre Energie in die Rundumerneuerung der Philharmonic Society. Und eins ist den Damen klar: ein prestigeträchtiger Dirigent muss her! Glücklicherweise ist gerade Gustav Mahler in New York. Der streitet sich an der Met mit Arturo Toscanini, zwei Hitzköpfe treffen da aufeinander. Irgendwann hat Mahler es aber gründlich satt und da kommt ihm das Angebot, das Philharmonic Orchestra ab 1909 zu übernehmen, gerade recht. Und er hat ziemlich freie Hand: Mahler wechselt erstmal ungefähr die Hälfte aller Musiker aus und bringt auch noch seinen eigenen Konzertmeister mit. Überhaupt weht jetzt ein anderer Wind: Mahler fordert strenge Disziplin von Publikum und Orchester: wer zu spät kommt, steht vor verschlossenen Saaltüren, während der Orchesterprobe darf kein bisschen geplaudert werden und so weiter und so fort. Viele Musiker haben regelrecht Angst vor Mahler. Noch über fünfzig Jahre später erinnert sich ein Musiker in einem Interview daran, wie Mahler einen Geiger während einer Probe aufgefordert hat, eine Stelle alleine zu spielen, weil er glaubt, dass der Geiger unsauber gespielt habe. Der sagt, er sei zu nervös, er könne nicht spielen. Eine halbe Stunde später bittet ihn Mahler erneut, aber auch jetzt weigert sich der Geiger. Am nächsten Tag sagt er: „Es tut mir leid, Mr. Mahler, ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen, ich kann Ihnen diese Stelle nicht vorspielen.“ Mahler: „Dann haben Sie in einem Symphonieorchester nichts zu suchen. Sie gehören in das Hinterzimmer eines Saloons.“

Ja Mahler konnte schon ganz schön grob sein. Er ist ganz und gar nicht zufrieden mit dem Orchester. An seinen Freund und Kollegen schreibt er: „Mein Orchester hier ist das richtige amerikanische Orchester. Talentlos und phlegmatisch. […] Das Musizieren macht mir noch immer einen ungeheuren Spaß. Hätte ich nur ein bisschen bessere Musikanten!“

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MUSIK 5 Gustav Mahler: Zweiter Satz aus der Sinfonie Nr. 1 D-Dur New Yorker Philharmoniker, Leitung: Bruno Walter 00305-Philips, A01150L LÄNGE 6‘25

Eine Aufnahme des zweiten Satzes aus Gustav Mahlers erster Sinfonie mit dem Dirigenten Bruno Walter, der immer wieder als Gast bei den New Yorker Philharmonikern war.

So wie auch Sergej Rachmaninow: Er tourt als Pianist vielfach durch die USA und tritt dabei auch mit seinem dritten Klavierkonzert auf. Furchtbar schwer zu spielen: Rachmaninow hat es noch während der Überfahrt nach Amerika auf dem Ozeandampfer geübt, auf einer stummen Tastatur. Im November 1909 spielt er die Uraufführung mit dem New York Symphony Orchestra und Walter Damrosch und wenige Monate später tritt er dann mit dem New York Philharmonic Orchestra und Gustav Mahler auf. Rachmaninow schätzt Mahler als Dirigenten und freut sich auf die Zusammenarbeit. Er erinnert sich: die Probe sollte um zehn Uhr beginnen. Doch Mahler probt erst noch andere Werke und sage und schreibe zwei Stunden muss der berühmte Pianist warten, bis Mahler ihn endlich an den Flügel bittet. Und da bleibt dann eigentlich nur noch eine halbe Stunde Zeit bis zur Pause des Orchesters. Sie spielen Rachmaninows drittes Konzert durch und schon währenddessen hat die Pause eigentlich längst angefangen. Doch dann geht’s erst so richtig los: Mahler sagt: so jetzt wiederholen wir den ersten Satz. Rachmaninow erwartet Protest vom Orchester, aber zu seiner Überraschung machen alle Musiker ohne Murren mit! Als sie fertig sind, geht Rachmaninow zu Mahler, um ein paar Details zu besprechen. Einige Musiker packen schon Mal ganz leise ihre Instrumente ein. Doch das ärgert Mahler. Er explodiert: „So lange ich hier bin, steht keiner auf!“ schnauzt er die Musiker an. Aber zuweilen wehren sich die Musiker auch. Zum Beispiel als einer der Geiger Mahler immer wieder sozusagen aus erster Hand berichtet, wie es um die Stimmung innerhalb des Orchesters bestellt ist. Die anderen Musiker empfinden ihn als Spitzel und beschweren sich bei dem Damenkomitee, das dem Orchester vorsteht. Und tatsächlich wird Gustav Mahler von Mrs. George Sheldon in deren Villa zum Gespräch zitiert. Die Damen um Mrs. Sheldon schlagen sich in diesem Fall auf die Seite der Musiker: besagter Geiger wird entlassen. Da hat Mahler dann mal den Kürzeren gezogen.

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Aber wie auch immer es um die Stimmung zwischen Mahler und seinen Musikern bestellt ist: Die Aufführung von Rachmaninows 3. Klavierkonzert ist ein riesiger Erfolg. Wir hören hier in der SWR 2 Musikstunde in den ersten Satz rein: es spielen Vladimir Horowitz und die New Yorker Philharmoniker mit dem Dirigenten Eugene Ormandy.

MUSIK 6 Sergej Rachmaninow: 1. Satz (Ausschnitt) aus dem Klavierkonzert Nr. 3 d-Moll op. 30 New Yorker Philharmoniker, Vladimir Horowitz, Klavier Leitung: Eugene Ormandy, 1978 LC 00316-RCA Records Label, 09026-61564-2 LÄNGE ausblenden bei 4‘25

Ein Ausschnitt aus dem ersten Satz von Sergej Rachmaninows drittem Klavierkonzert: das war eine Aufnahme von 1978 mit Vladimir Horowitz und den New Yorker Philharmonikern unter Eugene Ormandy.

In der Saison 1928/29 wird Arturo Toscanini Chef der New Yorker Philharmoniker. In den Jahren zuvor haben sich Dirigenten immer wieder Spielzeiten aufgeteilt. Sie konnten damit ihren persönlichen Terminkalender freier gestalten und auch Engagements in Europa wahrnehmen: wie etwa , der beim Concertgebouw Orchester in Amsterdam ist. Und anders herum kommt Wilhelm Furtwängler aus Europa immer wieder nach New York und dirigiert die Philharmoniker. Solche Stars kosten viel Geld, hinzu kommen Touren des Orchesters durch ganz Amerika. Bald steht es um die Finanzen nicht mehr besonders gut. Einziger Trost: auch der größte Konkurrent, das New York Symphony Orchestra, schwächelt. Deshalb fusionieren die beiden Konkurrenten 1928 zu einem einzigen Orchester: den New Yorker Philharmonikern.

Toscanini ist begeistert von dem neu zusammengesetzten Orchester. Und auch die Musiker schätzen den italienischen Maestro, die Intensität seiner Musizierhaltung. „Jeder Satz einer Sinfonie wurde zum Krisenfall“, erinnert sich ein Musiker, „Jede Aufführung wurde so gespielt, als hinge unser aller Leben von ihrem restlosen Gelingen ab. Jenseits aller Technik war da ein Rest geheimnisvoller persönlicher Macht, die das normale Fassungsvermögen überstieg.“ Toscanini arbeitet in den Proben unerbittlich. Er ist berühmt und auch ziemlich gefürchtet für sein sagenhaftes Gehör: wenn ein einzelner Musiker auch nur einen Ton nicht ganz exakt spielt, hört Toscanini das und pickt ihn heraus. Er feilt an einer ausgeglichenen Balance

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zwischen Streichern und Bläsern, er probt hundertprozentig exaktes Zusammenspiel, der Rhythmus muss bis ins letzte Detail sitzen, absolut strikt und immer energiegeladen. Toscaninis Credo: alles, was in den Noten steht, exakt befolgen! Der Wille des Komponisten ist heilig! Heilig für die Musiker, wenn Toscanini selbst meint etwas besser zu wissen, ändert er doch ein paar Kleinigkeiten in den Noten.

MUSIK 7 Ludwig van Beethoven: Finale aus der Sinfonie Nr. 7 A-Dur op. 92 New Yorker Philharmoniker, Leitung: Arturo Toscanini,1936 LC 00316-RCA Records Label, 88985376042-02 LÄNGE 6‘56

Arturo Toscanini hat die New Yorker Philharmoniker dirigiert: beim Finale aus der siebten Sinfonie von Ludwig van Beethoven, eine historische Aufnahme von 1936.

Toscanini begeistert das New Yorker Publikum: Die Konzerte des Orchesters sind gefüllt bis auf den letzten Platz und Studenten möchten gerne in den Proben zuhören. Dabei können sie dem Maestro beim „Making of“ auf die Finger schauen und vielleicht hinter das Geheimnis seines Erfolgs kommen. Doch das Charisma von Toscanini hat auch seine Schattenseiten. Legendär sind seine unglaublichen Wutanfälle beim Proben. So schlimm, dass bald alle Zuhörer ausgeschlossen werden, auch die wissbegierigen Studenten. Denn wenn Toscanini in Rage gerät, ist er nicht zu bremsen: er beschimpft Musiker, besonders gern auf Italienisch, denn auf Englisch fallen ihm die entsprechenden Kraftausdrücke nicht so schnell ein. Da kommt dann nur so etwas heraus wie „You’re a bad, bad man“ oder „You have no ears, no eyes!“. Er zerbricht Taktstöcke, tritt gegen Notenständer, schleudert die Partitur auf den Boden und so weiter und so fort. Ein echter Choleriker! Hinterher entschuldigt Toscanini sich dann oft. Zum Beispiel so: „Gott sagt mir, wie die Musik klingen soll und ihr steht manchmal einfach im Weg!“ Ob das die Musiker wieder sanft gestimmt hat, na ich weiß nicht… Aber zu Toscaninis Verteidigung muss man sagen: er ist auch besonders kritisch und hart gegen sich selbst. Auch sich selbst nennt sehr schnell „Idiot“ und hämmert mit den Fäusten gegen seine Schläfen. Letztlich vertragen die Musiker und Toscanini sich dann doch immer wieder: denn die New Yorker Philharmoniker wissen: es geht Toscanini nur um die Musik, auch wenn er herumwütet, meint er es eigentlich nicht wirklich persönlich.

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MUSIK 8 Bartholdy: Scherzo aus der Schauspielmusik zu Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ New Yorker Philharmoniker, Leitung: Arturo Toscanini, 1926 LC 05537-NAXOS, 8110844 LÄNGE 4’45

Ein Ausschnitt aus einer historischen Aufnahme mit Arturo Toscanini und den New Yorker Philharmonikern: das Scherzo aus Felix Mendelssohn-Bartholdys Sommernachtstraum.

1936 verlässt Toscanini die New Yorker Philharmoniker: ihm fehlt die Oper und er ist völlig genervt von den Streitereien, die sich hinter den Kulissen abspielen, mit dem Verwaltungsrat des Orchesters. Im April findet sein Abschiedskonzert in der Carnegie Hall statt: ein reines Beethoven und Wagner Programm mit dem Geigengott Jascha Heifetz als Solist in Beethovens Violinkonzert. Die zwei Superstars Toscanini und Heifetz auf einmal: da ist das Interesse riesig! Die Karten kosten so viel wie sonst das Abonnement einer ganzen Saison und entsprechend hat sich für die wenigen verbleibenden Stehplätze eine Schlange von um die tausend Leuten vor der Carnegie Hall gebildet. Der Andrang ist so groß, dass sogar berittene Polizisten für Ordnung sorgen müssen. Mit Toscanini geht für die New Yorker Philharmoniker eine goldene Ära zu Ende. In den nächsten Jahrzehnten folgen ihm zwar hervorragende Dirigenten nach, wie zum Beispiel Artur Rodzinski, der vorher beim Cleveland Orchestra war. Aber besonders ein junger Amerikaner macht ab 1958 Furore: Leonard Bernstein!

Mehr von Lenny - wie er von Freunden und Fans liebevoll genannt wird - und den New Yorkern morgen dann in der SWR 2 Musikstunde. Ich bin Susanne Herzog. Danke für‘s Zuhören und ich freue mich, wenn Sie morgen wieder mit dabei sind.

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