FRIEDEMANN VOGEL / BONGARTS Hamburger Trainer Doll (2. v. l.), Spieler: Morgens um acht mit der Aktentasche ins Büro

FUSSBALL Aufbruch in die Moderne Eine neue Trainer-Generation bringt frische Ideen in die . Sie setzt auf flache Hierarchien, arbeitet nach klaren Konzepten und propagiert das Ende des „Heldenfußballs“. Die junge Profi-Elite zeigt sich aufgeschlossen.

ie Gewissenhaftigkeit, mit der Tho- nernovize ist nämlich der Meinung, dass tor, der seine „Jungs“ vor dem Spiel stark- mas Doll, 38, seinen Job als Trainer sein Job sehr viel mit penibler Vorberei- zureden versuchte – und der die Kicker, Ddes Hamburger SV versieht, ist an tung, Methodik und Systematik zu tun hat. wenn sie mal wieder versagt hatten, „an vielen Details zu erkennen. Vorige Woche Alles, was er mit seinen Profis einstudieren der Ehre“ packte oder sie mit abschätzigen etwa, im Trainingslager im spanischen La möchte, soll nachvollziehbar sein. Und so Bemerkungen in der Boulevardpresse in Manga, ließ er zur Selbstkontrolle jede reißt er seine Kicker unentwegt mit neuen die Pfanne haute. Übung mit einer Videokamera filmen. Da- Ideen aus dem Trainingstrott. In Italien be- In der Mannschaft kam die öffentliche heim, im Kraftraum der AOL Arena, regi- stellte der ehemalige Profi von Lazio Rom Schelte nicht gut an, zumal als deutlich strieren Computerchips jede Streckung und jüngst mannshohe Spielerattrappen, die er wurde, dass Toppmöller außer Plattitüden jede Beugung der Fußballprofis. Doll hat zur Schulung des Positionsspiels in den Ra- („Ich lebe und sterbe für den Fußball“) den gläsernen Athleten eingeführt. sen rammen kann – so hatte er es einst in nicht viel zu bieten hatte. So stellte der Doch was HSV-Sportchef Dietmar Bei- der Serie A gelernt. Kettenraucher gegen Arminia Bielefeld ersdorfer noch drei Monate nach Dolls Ein- Dass Dolls Berufsauffassung in Hamburg Mitte Oktober gleich mehrere Spieler auf stand erstaunt, ist die Aktentasche, die der als revolutionär wahrgenommen wird, hat Positionen auf, die ihnen fremd waren – Coach mitbringt, wenn er an einem nor- auch mit seinem Vorgänger Klaus Topp- den Angreifer Sergej Barbarez beorderte er malen Arbeitstag um acht Uhr früh sein möller, 53, zu tun. Der war in Sachen Trai- gar ins Abwehrzentrum. Büro im Untergeschoss des Stadions be- ningsplanung eher vom alten Schlag. Einen Tag später war Toppmöller ent- tritt. Doll sieht dann nicht aus wie ein Trai- „Toppi Tacheles“ („Hamburger Mor- lassen. Und ob der Bauchmensch jemals ner, sondern wie ein Buchhalter. genpost“) hielt sich nicht lange mit strate- wieder bei einem ambitionierten Erstligis- Und so gilt Dolls Aktentasche beim HSV gischen Feinheiten auf. Der Mann von der ten unterkommen wird, ist ungewiss. Der als Symbol für eine Zeitenwende. Der Trai- Mosel verstand sich vor allem als Motiva- Trend spricht eher dagegen.

104 der spiegel 3/2005 Sport VLADIMIR RYS / BONGARTS VLADIMIR RYS Jungstar Mertesacker, Manager Kaenzig Keine Sonderrechte, keine Skandale BAUMANN / AUGENKLICK BAUMANN TEAM 2 Stuttgarter Nationalspieler Kuranyi (r.), Bielefelder Trainer Rapolder: „Wir müssen weg von dieser Namensgläubigkeit“

Denn in jüngster Zeit drängt eine Gene- Lage der Liga streut der Haudegen noch ein Namenloser, hat sich im System Ra- ration von Trainern nach, die konzeptio- heute unters Volk. Wenn Lattek, 70, sonn- polders mit couragierten Auftritten bis ins nelles Arbeiten als wesentlichen Bestandteil tagmorgens in der DSF-Sendung „Dop- deutsche Nationalteam gespielt. ihres Berufs erachtet: Fußball-Analytiker pelpass“ zu Wort kommt, dann wirkt es, als Rapolder, der regelmäßig vor BWL- wie der Mainzer Jürgen Klopp, der Biele- erzählte Opa vom Krieg. Studenten an der Universität St. Gallen felder Uwe Rapolder, der Schalker Ralf Doch so verstockt Lattek auch in die Ka- Vorträge hielt und der zuweilen auch vor Rangnick und eben der Hamburger Doll. meras schwadroniert: Die Reformer hält er Bertelsmann-Managern über Führungs- Der Aufstieg der Modernisierer im deut- nicht mehr auf. „Die Defizite waren zu of- strategien doziert, hat schnell Gefallen ge- schen Trainergewerbe hat nichts von ei- fensichtlich“, sagt der Schweizer Ilja Kaen- funden an der Rolle des bewunderten nem Umsturz. Es ist vielmehr ein Verjün- zig, 31, dessen Auftrag es ist, als Manager Neuen. Der Coach mit dem braunen Teint gungs- und Verdrängungsprozess, der aus den Traditionsclub in die Mo- ist eloquent, er hört sich gern reden, und der Not entstanden ist. Denn von der ra- derne zu führen, „die Vereine haben er- er ist von seinen Methoden überzeugt. Vie- santen technischen und taktischen Ent- kannt, dass sie sich neuen Ideen nicht län- le seiner Ansichten hat er vom Schweden wicklung in Europa war der Mittelstand ger verschließen dürfen.“ Tord Grip angenommen, unter dem er als der Bundesliga abgehängt worden. Und so hat nun auch ein Mann wie Uwe Profi in Bern spielte und der heute als Co- Jahrelang hatten sich eher schlichte Ein- Rapolder, 46, eine Chance bekommen. Der Trainer der englischen Nationalelf tätig ist. peitscher wie Werner Lorant, Frank Pa- Schwabe, der während seiner Profizeit in Doch sein Vorbild ist der Italiener Arri- gelsdorf, Winfried Schäfer, Friedhelm Fun- der Schweiz ein Studium der Wirtschafts- go Sacchi, ein Fundamentalist des System- kel oder Toppmöller an den Außenlinien wissenschaften abschloss, durfte seine Trai- fußballs. Als Rapolder dem Fußballdirek- breit gemacht. Sie hatten ihre fußballeri- nerphilosophie lange nur in den Niede- tor von Real Madrid unlängst im Bernabéu- sche Sozialisation als Bundesligaspieler in rungen der Zweiten Liga verbreiten – bis er Stadion begegnete, knallte er die Hacken den siebziger oder achtziger Jahren erlebt im vorigen Frühjahr mit Arminia Bielefeld zusammen. Was er sich von seinem Idol und galten als Männer der Tat. In Wahrheit den Aufstieg in die Bundesliga schaffte. bereits abgeschaut hat, ist dessen schnei- allerdings erschöpften sich ihre Strategien Und siehe da: Die Ostwestfalen, vor Sai- dende Kritik. Hierzulande, resümiert der zumeist in dumpfer Blut-, Schweiß- und sonbeginn als Abstiegskandidat gehandelt, Bielefelder Trainer in seinem fensterlosen, Tränenrhetorik: Ihre Spieler mussten „Gras gehörten in der Hinrunde zu den at- stickigen Büro, sei viel zu lange „Helden- fressen“, „sich den Arsch aufreißen“ oder traktivsten Teams. Rapolders Mannschaft fußball“ propagiert worden, „wonach eine „rennen, bis die Lunge platzt“. bestach durch variables, druckvolles, Mannschaft auf einen Star zugeschnitten Das ist genau der Ton, mit dem Udo Lat- schnelles und phantasiereiches Spiel. Mehr sein müsse – ähnlich einem Radteam bei tek, der zwischen 1971 und 1987 mehr als noch: Der Südafrikaner Delron Buckley, der Tour de France mit Kapitän, Bergfah- ein Dutzend Titel gewann, zum erfolg- 27, beim VfL Bochum über Jahre nur rern, Sprintern und Wasserträgern“. reichsten deutschen Coach wurde – und mäßig erfolgreich eingesetzt, avancierte in Der Arminia-Coach will „weg von dieser damit zum Vorbild einer ganzen Trainer- Bielefeld zu einem der besten Torjäger im Namensgläubigkeit und von dieser Spe- riege. Latteks Mythos ist zwar längst ver- Lande. Und der rechte Verteidiger Patrick zialisierung“. Spieler seiner Auswahl müss- blasst, doch seine brachialen Ansichten zur Owomoyela, 25, vor sechs Monaten noch ten „vielseitige Aufgaben übernehmen“

der spiegel 3/2005 105 Sport und nach akribisch ausgefeilten Laufwe- fenberg und – drei Selbst- gen und Passfolgen „mit hoher Laufbe- darstellern mit extremem Mitteilungsbe- reitschaft ihren Beitrag liefern“. Auch dürfnis, von denen jeder eine eigene Stand- derartiger Konzeptfußball bringe „Helden leitung zum Boulevard unterhielt. hervor“, betont Rapolder: „Helden mit so- Es ist ja erst ein paar Jahre her, dass im zialer Kompetenz, Spieler wie Buckley deutschen Fußball nichts wichtiger zu sein oder Owomoyela.“ schien als die Frage, ob Matthäus die Toch- Ihre Abneigung gegen den herkömm- ter des Vereinsarztes heiratet; zu welcher lichen Starkult erklärt, warum die derzeit Strafe ein Amtsgericht Effenberg verdon- progressivsten deutschen Trainer nicht un- nert, weil der in einer Discothek eine Frau bedingt bei Topclubs arbeiten. Denn ihr geschlagen hat; und ob Basler mal wieder

Spielverständnis setzt das Abflachen von / BONGARTS HASSENSTEIN ALEXANDER in einem Spielcasino gezockt hat oder Hierarchien voraus – Ärger mit sogenann- Alt-Trainer Lattek nicht. ten Leitwölfen, die sich um ihren Status Opa erzählt vom Krieg Dies alles wirkt wie aus einer fernen sorgen, ist vorprogrammiert. Zeit. Nicht, dass die heutige Spielergene- Andererseits wächst auch beim Esta- nationale wie der Hannoveraner Per Mer- ration besser Fußball spielt. Nur: Wer bei blishment der Bundesliga ein lernwilliger tesacker, 20, der Kaiserslauterer Marco En- der WM in Deutschland im kommenden Kicker-Typus nach, für den Gemein- gelhardt, 24, oder der Stuttgarter Kevin Jahr dabei sein möchte, da ist Bundestrai- schaftsdenken selbstverständlich ist. Das Kuranyi, 22, großspurige Auftritte. Sie sind ner Jürgen Klinsmann auf einer Linie mit Motto dieser etwas stromlinienförmigen nett, sie sind höflich, sie sind sich zum Ver- den Klopps und den Dolls, muss funktio- Jungstars: keine Sonderrechte, keine Skan- wechseln ähnlich. Denn sie wissen, dass nieren und sich unterordnen – so hat es dale. Sie besinnen sich aufs Wesentliche dieselben Blätter, die sie heute umgarnen, Deutschlands oberster Fußball-Lehrer in und treiben ihre Karrieren voran. sie morgen niedermachen können. Kuranyi einem Verhaltenskodex verfügt. Warum er außerhalb des Spielfelds denn hat allein seit August sieben Tore in der Na- Klinsmann ließ sich dabei wohl auch von immer so zurückhaltend sei, wollte eine tionalelf erzielt, er könnte mitmachen beim seinem schwäbischen Landsmann Rapol- TV-Journalistin erst kürzlich vom Stutt- Rummel um seine Person. Aber er blockt der inspirieren. Der Bielefelder Coach fi- garter Torhüter Timo Hildebrand wissen. ab: „Ich kenne doch die Mechanismen.“ xiert die Ansprüche an seine Profis zuwei- Die Antwort könnte aus einer Benimm- „Die Spieler sind zielorientierter ge- len in einer gegenseitigen Vereinbarung. Fibel stammen: „Ich bin 25 Jahre alt, also worden“, sagt Thomas Strunz, 36, seit neu- Rapolder nennt das „Mentalvertrag“. noch nicht in einem Alter, in dem ich es mir estem Sportdirektor beim VfL Wolfsburg. Im Kern ist die Botschaft an die Spieler erlauben könnte, Sprüche zu klopfen.“ Als Profi hat er es bis vor wenigen Jahren immer die gleiche: Du bist wichtig. Noch Auch auf die Gefahr hin, als Langwei- noch ganz anders erlebt. Beim FC Bayern wichtiger aber ist die Mannschaft. ler zu gelten, verkneifen sich Jung-Inter- spielte er mit Lothar Matthäus, Stefan Ef- Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger