Masarykova univerzita

Filozofická fakulta

Ústav germanistiky, nordistiky a nederlandistiky

Německý jazyk a literatura

Auf den Spuren von Herta Müller und ihrem Werk

BAKALÁ ŘSKÁ PRÁCE

Lenka Koppová

Vedoucí práce: Mgr. Aleš Urválek, Ph.D.

Brno 2011

Ich bestätige hiermit, dass ich diese Bakkalaureatsarbeit selbständig verfasst und keine anderen, als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe.

Brno 5. 1. 2011 ...... Lenka Koppová

An dieser Stelle möchte ich Herrn Mgr. Aleš Urválek, Ph.D. herzlich bedanken. Weiter danke ich Mirjam Herbst, weil sie mir geholfen hat meine Arbeit zu korrigieren und meinen Eltern für die materielle Unterstützung während des ganzen Studiums.

Meinen Eltern gewidmet

Inhaltverzeichnis

1. Einführung...... 6 1.1. Einführung in die Problematik...... 6 1.2. Ziel der Arbeit...... 6 2. Herta Müller ...... 8 2.1. Leben und Werk der Autorin ...... 8 2.2. Werke und Preise ...... 8 2.3. Familie Müller...... 9 2.4. Ceau șescos Schikane...... 10 2.5. Emigration...... 12 3. Politischer und historischer Hintergrund...... 14 3.1. Deutsche Minderheit in Deutschland - Banatische Schwaben...... 14 3.2. Widerstand und Proteste...... 15 4. Figuren der Erzählung...... 17 4.1. Windisch...... 17 4.2. Amalie...... 18 4.3. Katharina, Frau von Windisch ...... 19 5. Textanalyse – anhand des Romans Der Mensch ist ein Großer Fasan auf der Welt ...... 20 5.1. Text aus der strukturellen Sicht...... 20 5.2. Sprachbilder ...... 22 5.3. Deutsch...... 23 5.4. Metaphorik, Anzeichen und Aberglauben ...... 24 5.5. Text aus der sexuellen Sicht...... 25 5.6. Erzählperspektive...... 27 6. Zusammenfassung...... 30 7. Bibliographie...... 32 7.1. Primärliteraturen...... 32 7.2. Sekundärliteraturen ...... 32 7.3. Internetquelle...... 33

1. Einführung

1.1. Einführung in die Problematik

Diese Arbeit ist der Nobelpreisträgerin aus dem Jahre 2009 Herta Müller gewidmet, die in einem deutschsprachigen Dorf in Rumänien ausgewachsen ist. Schwerpunkt dieser Arbeit ist ihre Erzählung Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt , die zu ihren ersten Werken gehört. In dieser Erzählung ist Kritik am Leben innerhalb der Dorfgemeinschaft und des kommunistischen Regimes in Rumänien viel vertiefter, als in ihrem Erstlingswerk Niederungen , das gleich nach ihrem Studium herausgegeben wurde.

Diese Arbeit habe ich in vier Teile eingeteilt. Der erste Teil behandelt das Leben der Autorin und die Bedingungen, unter denen sie aufgewachsen ist. Ich beschreibe hier, was in ihren Werken typisch und außergewöhlich ist. In diesem autobiographischen Teil sind ihre Werke, Preise, Erlebnisse mit dem repressiven Systems Ceaușescos und ihre Emigration nach Deutschland eingeordnet.

Mit der Beschreibung des politischen und historischen Hintergrunds der Banatschwaben im zweiten Teil, versuche ich Herta Müllers Partizipation am Widerstand und an den Protesten gegen das Regime darzustellen und beleuchte deren Folgen.

Der dritte Teil umfasst Charakteristiken und Beziehungen der vier ausgewählten Figuren, zu denen Windisch, die Hauptfigur dieser Erzählung, seine Tochter Amalie, seine Frau Katharina und der Kürschner gehören und die für unsere Zwecke wichtig sind.

Der letzte und zugleich der wichtigste Teil dieser Arbeit heißt Textanalyse . In diesem nehme ich eine Analyse des Romans Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt hinsichtlich dessen Struktur vor, sowie hinsichtlich der Darstellung von Sexualität. Ich widme mich hier den Sprachbildern, Metaphorik, Anzeichnen und Aberglauben und zugleich analysiere ich den Erzähler in dem Unterkapitel Erzählperspektive .

1.2. Ziel der Arbeit

In dieser Arbeit stelle ich mir eine wichtige Frage, ob die Literatur dieser Autorin nur ein unverständlicher Abklatsch und Kitsch ist, oder ob es sich um eigenartige, verwunderliche und seltsame Werke mit einem doppelten Sinn handelt. Manche Rezensionen werfen vor, dass ihr Stil des Schreibens kein echter und sinnvoller literarischer Stil ist und dass sie eigentlich nur kurze widersinnige absurde Sätze und Bilder gestaltet. Ich versuche festzustellen, was sie 6 dazu führte, sich neue Kombinationen und Konsturktionen auszudenken und Tabuthemen wie Körperausscheidungen, Ekel, sexuelle Obsessionen, Alkoholismus in der Familie und Inzest öffentlich zu kritisieren. Mein Ziel ist mindestens zwei Elemente herauszufinden, die beweisen sollen, dass es sich kaum um unwerte Literatur handelt.

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2. Herta Müller

2.1. Leben und Werk der Autorin

Herta Müller wurde am 17. August 1953 in einem deutschsprachigen Dorf Nitzkydorf im Banat, eine Region in Rumänien, geboren. Ihre Literatur ist Teil der rumäniendeutschen (sog. fünften deutschen) Literatur, wie die Werke der Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen genannt werden, die in die Tradition von Paul Celan und Rose Ausländer gestellt werden. Dabei schreibt Müller wie andere rumäniendeutsche Autoren Familienromane als Schuldgeschichten ihrer Dörfer. In der Vergangenheit dieser Dörfer gab es die Erfahrung von Nationalsozialismus und Krieg, in der Gegenwart die des kommunistischen Diktators.

Der Nachteil der immer wiederkehrenden hartnäckigen Kritik Herta Müllers am rumäniendeutschen Gesellschaftsgefüge ist, dass sie ganz leicht in den Verruf der Nestbeschmutzung kommt. Sie greift Tabuthemen auf: Alkoholismus in der Familie, Fremdgehen, Inzest, die Vergangenheitsbewältigung und skizziert gebrochene Charaktere in Überlebensstrategien angesichts der Überwachungsgemeinschaft Dorf und dem alles beherrschenden diktatorischen Staat.

Ihre Texte verursachen Irritation und gesellschaftliche Provokation umso mehr, als sie in einem überschaubaren sozialen Gefüge des Dorfes, einer rumäniendeutschen Minderheit hervortreten. Es gehört viel Mut dazu sich den herausfordernden Texten auseinanderzusetzen, weil sonst das Risiko, selbst als Netzbeschnutzer zu gelten, sich erhöhte.

2.2. Werke und Preise

Zu ihren früheren Werken gehören Niederungen (1982), eine Novellensammlung, die in Rumänien zensiert herausgegeben wurde. Zwei Jahre später erschienen Niederungen unzensiert in Deutschland, und im gleichen Jahr wurde Drückender Tango in Rumänien veröffentlicht. In diesen zwei Werken schildert Herta Müller das Leben in einem kleinen deutschsprachigen Dorf und die ihr dort begegnende Korruption, Intoleranz und Unterdrückung. Von der einheimischen Presse dafür kritisiert, erfuhr sie von den deutschsprachigen Medien außerhalb Rumäniens ein höchst positives Echo.

Zu den prosaistischen Werken der Autorin gehören Barfüßiger Februar (1987) und Reisende auf einem Bein (1989) . Die Romane Der Fuchs war damals schon der Jäger (1992), Herztier (1994) und Heute wär ich mir lieber nicht begegnet (1997) vermitteln mit ihren 8 herausgemei βelten Details ein Bild des Alltagslebens in einer erstarrten Diktatur. Diese Romane zeigen, wie repressive Strukturen tradiert werden, wie kollektive Normen, das Niederschmetternde und Unterdrückende des allgemeinen Gesetzes im Gegensatz zum Humanen stehen. Demütigung und Ausschluß, Angst und Bedrohung, Anpassung und Widerstand, Flucht und Exil sind ihre Lebensthemen, die auch im doppelsinnigen Untertitel Vom Weggehen und Ausscheren ihrer Text-Bild-Collagen Der Wächter nimmt seinen Kamm (1993) zum Ausdruck kommen. Des Weiteren ist die Erzählung Der Fremde Blick oder das Leben ist ein Furz in der Laterne (1999) und Im Haarknoten wohnt eine Dame (2000) erwähnenswert. Letzteres ist auch ein Gedichtband in Bild-Text-Collagen.

Zu ihrem essayistischen Werk gehören Der Teufel sitzt im Spiegel (1991), Hunger und Seide (1995) und (1996). Atemschaukel (2009) ist Herta Müllers letzer, großer, berührender Roman über ein sowjetisches Arbeitslager, für den sie 2009 den Literaturnobelpreis erhielt.

Das Werk Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt aus dem Jahre 1986, wird in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehen. Es spielt im Rumänien Ceau șescus, in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts und beschreibt das Warten der deutschstämmigen Familie Windisch auf die Ausreisegenehmigung in den Westen. Während immer mehr der rumäniendeutschen Nachbarn das Dorf verlassen, bleibt der Familie die Ausreise weiterhin verwehrt. Der Zustand des Wartens ist unerträglich – das Leben scheint stillzustehen. Erst als sich die Tochter Amalie für die Ausreisegenehmigung verkauft, bekommt die Familie die ersehnten Papiere. 1

Für ihre Werke hat Herta Müller folgende Preise gewonnen: 1987 Ricarda-Huch-Preis der Stadt Darmstadt, 1989 Marieluise-Fleißner-Preis der Stadt Ingolstadt, 1991 Kranichsteiner Literaturpreis, 1994 Kleist-Preis, 1995 Europäischer Literaturpreis Aristeion, 1998 Impac- Dublin-Literaturpreis für den Roman "Herztier", 1999 Franz-Kafka-Preis, 1999 Ida-Dehmel- Literaturpreis und wie schon erwähnt wurde - im Jahre 2009 Nobelpreis für Literatur.

2.3. Familie Müller

Ihre Familie betreffend, gehörten ihre Eltern der deutschsprachigen Minderheit in Rumänien an. Der Vater hat im Zweiten Weltkrieg in der Waffen-SS gedient. Viele Rumäniendeutsche wurden 1945 in die Sowjetunion deportiert, darunter Herta Müllers Mutter. Diese war fünf

1 MÜLLER, Herta. Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2009. 9

Jahre in einem Arbeitslager in der jetzigen Ukraine interniert. Lange Zeit später führt dies in Herta Müllers Werk Atemschaukel (2009) zur Schilderung des Exils der Rumäniendeutschen in der Sowjetunion. „Im Ersten Weltkrieg war mein Großvater Soldat. Er kam in Kriegsgefangenschaft“, beschreibt Herta Müller in ihrem autobiographischen Buch Der König verneigt sich und tötet .2 Schon auf den ersten Blick war das Schicksal dieser Familie missgünstig.

Herta Müller verbrachte ihre Kindheit ohne größere finanzielle und materielle Entbehrungen. „Als ich klein war, musste ich weder Hunger leiden noch barfüßig laufen und ich lag abends zum Einschlafen immer in frisch bezogenem Bettzeug,“ führt Müller aus. Sie hatte aber ihre täglichen Aufgaben, musste Kühe hüten und im Haushalt mithelfen. In dem abgelegenem Dorf Nitzkydorf, wo Herta Müller aufwuchs, führte keine Asphaltstraße, nur Staubwege. Bis in den 1980er Jahren war das Dorf von seiner fast nur deutschen Bevölkerung banatschwäbisch geprägt. 3 Nach dem Sturz Ceau șescus setzte in Nitzkydorf eine der stärksten Aussiedlungswellen aus dem Banat ein. Bei der Volkszählung vom Januar 1992 bekannten sich in Nitzkydorf nur noch 56 Personen zum Deutschtum, was beweist, dass heute die deutsche Minderheit fast verschwunden ist. Die Nachbardörfer waren zwei rumänische Dörfer, ein slowakisches und ein ungarisches Dorf. Jedes für sich mit seiner eigenen Sprache, seinen Feiertagen, seiner Religion, seiner Kleidung.

Als Herta Müller 15 Jahre alt war, ging sie nach Timi oara (Temeswar), um dort an der Universität Germanistik und Rumänistik zu studieren. Sie widmete sich dem Studium von 1973 bis 1976. Das Studium und das Leben in Timi oara konfrontierte die heutige Schriftstellerin mit einer ganz anderen Realität, als die ihres Dorfes. Zum Beispiel hatte sie anfänglich erhebliche Probleme mit Rumänisch, besonders beim Verstehen und bei der Sprachanwendung. Jedoch konnte sie ihren Rückstand aufholen und bis zum Ende ihres Studiums erreichte sie ein muttersprachähnliches Kompetenzniveau.

2.4. Ceau șescos Schikane

Nach dem Abschluss ihres Studiums arbeitete sie von 1977 bis 1979 als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik. Aufgrund ihrer Weigerung mit der Geheimpolizei zusammenzuarbeiten und

2 MLA style: "The Nobel Prize in Literature 2009 - Bio-bibliography". Nobelprize.org. [online]. [ 15 Dec 2010 ]. 3 MÜLLER, Herta. Der König verneigt sich und tötet. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2008. 10

Spitzeldienste zu leisten, wurde sie dort entlassen. Nach ihrer Entlassung war sie den Schikanen der Securitate ausgesetzt. In ihrem autobiographischen Buch Der König verneigt sich und tötet erzählt sie anhand des Beispiels eines Fahrradkaufes in der Stadt Temeswar von ihren Erfahrungen mit dem Geheimdienst. Bei einem Verhör merkte der Securitate an: „Es gibt auch Verkehrsunfälle.“ Nach fünf Tagen fuhr sie ein Lastauto an und schleuderte sie durch die Luft. 4

Die literarische Verarbeitung dieser Erfahrungen wird anhand des folgenden Textbeispiels verdeutlicht. Nach Herta Müllers Ankunft von den Fransen des Dorfs in die Stadt wurde der Asphalt „ein Teppich, auf dem statt des Panoptikums der Sterbetage der staatlich geplante Tod um die Knöchel schlich: die Repression“:

In den ersten Jahren bekam ich sie überall zu sehen. Sie betraf Leute, die ich nicht persönlich kannte. Ich fürchtete sie nur im allgemeinem, lebte zu nah dran, um sie nicht zu sehen, aber zu weit weg davon, um zu kapieren, was sie anrichtet. Sie lief neben mir her, nie durch mich in dieser ersten Zeit. Ein heftiges Stück Mitleid für die, die sie grad getroffen hatte, dieses spontane Mitgefühl, das mich eine Weile packte und dann von selbst wieder wegging.[…] Das flaue Schuldgefühl, nichts verhindern zu können, was andere trifft, und das schäbige Glück spüren, dass die Strafe einen selbst nicht getroffen hat. Jeden, der zuschaute, konnte sie treffen, außer dem Atmen war doch alles verboten, es gab überall, wo man hinsah, für jede unzählige Gründe.

Erst in den nächsten Jahren hatte ich Freunde, die beschattet und regelmäßig verhört, deren Wohnungen durchsucht, deren Manuskripte beschlagnahmt, die vom Studium exmatrikuliert und die verhaftet wurden. Was ich bis dahin als beklemmende Atmosphäre spürte, wurde konkrete Angst. 5

Bei einem der sich wiederholenden Verhören fragte dessen Vernehmer Herta Müller verächtlich: „Was glaubst du, wer du bist“. Es war gar keine Frage, umso mehr nutzte Herta Müller die Gelegenheit zu antworten: „Ich bin ein Mensch wie Sie.“ In den turbulenten Abschnitten der Verhöre nannte er sie eine Scheiße, ein Dreck, einen Parasiten, eine Hündin, wenn er moderater war, eine Hure oder einen Feind. Oft trainierte er das Erniedrigen an ihr, weil sein Arbeitstag noch Stunden dauerte.

Nach der langen Zeit der Arbeitslosigkeit, fand sie einen Arbeitsplatz als Lehrerin, bzw. Erzieherin im Kindergarten. Sie verbrachte dort nur zwei Wochen, weil sie es nicht aushalten konnte, dass die Imitation Ceau șescus schon bei Fünfjährigen unübersehbar war und die

4 MÜLLER, Herta. Der König verneigt sich und tötet. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2008. S. 131. 5 MÜLLER, Herta. Der König verneigt sich und tötet. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2008. S. 51-52 11

Manipulation des Staatssystems schon die ersten Erfolge erzielte. „Die Kinder waren versessen auf Parteigedichte, auf patriotische Lieder und das Singen der Landeshymne“, erklärt Müller. 6

Trotz des missgünstigen Schicksals der Autorin, zu dem wir ihr Leben auf dem armen Dorf und im Angst vor der Ceau șescos Schikane zählen können, gelang es ihr sich nicht darauf zu verzichten und eigene Erfahrungen in ihre literarischen Werke einzufügen.

2.5. Emigration

Da Herta Müller die Diktatur in Rumänien öffentlich kritisiert hatte, wurde sie in ihrer Heimat mit Publikationsverbot belegt. 1987 emigrierte sie zusammen mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Richard Wagner, nach Deutschland. Nach der Emigration nach Deutschland war sie Gastdozentin unter anderem in Paderborn, Warwick, Hamburg, Swansea, Gainsville (Florida), Kassel, Göttingen, Tübingen und Zürich. Jetzt wohnt sie in Berlin. Seit 1995 gehört sie zu den Mitgliedern der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt.

Aus politischen Gründen verließ Rumänien in den 1980er Jahren nicht nur Herta Müller und Richard Wagner, sondern auch Rolf Bossert, Werner Söllner und Johann Lippet. Das Interesse in Deutschland ist bei ihrer Ankunft groß. Diese Autoren und Autorinnen schreiben engagierte Literatur und treten politisch orientiert auf. Herta Müllers antiidyllische Dorfbeschreibung in Niederungen gibt 1984 dazu den ersten literarischen Impuls. Rumäniendeutschen Künstlerinnen und Künstler, die später aussiedeln, können ohne Probleme nach Deutschland einreisen. Sie selbst sehen sich nicht in erster Linie als Aussiedler, also als Angehörige des deutschen Volkes, sondern vielmehr als politische Exilanten einer verbrecherischen Diktatur. Von den Deutschen werden sie aufgrund ihres unbekannten Dialektes als Ausländer wahrgenommen, obwohl sie mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen sind. Die rumäniendeutschen Texte der Ankunftszeit behandeln vor allem die Erfahrungen in der Diktatur und den schwierigen Neuanfang in Deutschland. Nach Petra Meurer motiviert „d ie Migration als biografischer Hintergrund des Protagonisten die Neugestaltung seiner Identität. Die Herkunft aus einer anderen Kultur dient dabei unter anderem als Erklärung für chauvinistische Äußerungen“. 7

6 MÜLLER, Herta. Der König verneigt sich und tötet. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2008. S. 152-153. 7 ARNOLD, Heinz Ludwig. TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur: Sonderband, Literatur und Migration, IX/06. München: Richard Boorberg Verlag GmbH & Co, 2002. S. 190. 12

Herta Müller ist in ihrem literarischen Werdegang primär Dichterin, keine Journalistin. Aber sie hat immer betont, dass sie nicht außerhalb der politischen und sozialen Realität schreibt. Ihre Romane und Erzählungen sind welthaltig, bzw. universal, weil sie autobiografisch sind. Ihre Themen sind eng an ihre Herkunft aus eines deutschsprachigen Minderheitendorf im Banat gebunden. Sie schreibt über die Zeit des Faschismus, die sie erlebte, und die Ära Ceau șescu, in der sie aufwuchs. Der Totalitarismus der dörflichen Klausur weitete sich zur Überwachung durch den rumänischen Geheimdienst in der Stadt aus. Schreiben wurde zu einer intimen Möglichkeit auf Zwang und Gewalt zu reagieren.

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3. Politischer und historischer Hintergrund

3.1. Deutsche Minderheit in Deutschland - Banatische Schwaben

Die Autorin schöpft nicht nur Motive und Themen aus realen Geschichten, sondern auch aus der Atmosphäre und den Erfahrungen des Lebens der deutschen Minderheit im Banat. Auf dem Territorium Rumäniens lebten damals zwölf deutsche Siedlungsgruppen: Siebenbürger Sachsen, Banater und Sathmarer Schwaben, Bessarabiendeutsche, Buchenlanddeutsche, Dobrudschadeutsche, Landler, Durlacher, Deutschböhmen, Steyrer, Temeswarer und Zipser. Sie unterschieden sich hinsichtlich ihrer Herkunftsgebiete, dem Zeitpunkt ihrer Einwanderung, ihrer Siedlungsgebiete und ihrer historischen Entwicklung. 8 Zu den zwei bekanntesten Siedlungsgruppen gehören zurzeit Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben.

Nach Karl Horak waren die Banater Schwaben nur darauf angewiesen, was sie selbst gezüchtet und angebaut haben. Durch die Arbeit des Menschen wurde die Naturlandschaft umgestaltet. Der Boden wurde gerodet, Seen trockengelegt, durch Kanäle wurde der Wasserhaushalt reguliert. Sie versorgten hier das Land mit dem lebensspendenden Nass und entsumpften dort den Boden durch Ableitung des überschüssigen Wassers. Weite Flächen tragen nun Weizen-, Mais- und Rübenfelder, Weingärten sind angelegt, ausgedehnte Weiden nähren das Vieh. Mit Recht konnte das Banat aufgrund seiner reichen Ernten als Kornkammer der österreichisch-ungarischen Monarchie bezeichnet werden. 9

Während des Regimes Ceausescu, vom Jahre 1968 an, verdichtete sich der Nationalismus, “die totale Rumänisierung“, und Rechtsunterdrückung der Minderheiten. Zur Auswanderung brauchten die Staatsbürger der rumäniendeutschen Minderheit Pässe. Mehrheitlich wurden diese über Bestechungsmaßnahmen erwirkt, aber wer Bestechung ablehnte oder kein Geldmittel hatte, musste auf die Genehmigung viele Jahre warten. Sobald die Ausreiseerlaubnis erteilt wurde, mussten die Leute ihr Hab und Gut nach bestimmten ungünstigen Tarifen verkaufen, was auch in der Erzählung Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt dargestellt ist:

8 GÖLLNER, Carl. Geschichte der Deutschen auf dem Gebiete Rumäniens, redigiert von Carl Göllner, Miglied der Akademie für soziale und politische Wissenschaften der Sozialistischen Republik Rumänie, 12. Jahrhundert bis 1848. Erster Band. Bukarest: Kriterion Verlag 1979, S. 323. 9 HORAK, Karl. Das deutsche Volksschauspiel im Banat . Marburg: N.G. Elwert Verlag, 1975. S. 32. 14

„Heute waren zwei Männer da“, sagt sie. „Sie haben die Hühner gezählt und aufgeschrieben. Sie haben acht Hühner gefangen und mitgenommen. Sie haben sie in Drahtkäfige gesperrt. Der Anhänger des Traktors war voll mit Hühnern.“ Windischs Frau seufzt. „Ich hab unterschrieben“, sagt sie. „Auch für vierhundert Kilo Mais und hundert Kilo Kartoffeln. Das nehmen sie später, haben sie gesagt. Die fünfzig Eier hab ich ihnen gleich gegeben.“ 10

In Rumänien wurde alle Ideologie des Regimes durch den Personenkult Ceau șescus gebündelt. Mit der gleichen Methode, wie im Kindesalter der Dorfpfarrer die Angst vor Gott den Menschen in den Kopf setzen wollte, verbreiteten die Funktionäre ihre sozialistische Religion: „Was du auch tust, Gott sieht dich, er ist endlos und überall. Die zigtausend Mal ins Land gestellten Porträts des Diktators wurden durch die Berieselung mit seiner Stimme unterstützt. Durch stundenlange Übertragungen seiner Reden im Rundfunk und Fernsehen sollte des Diktators Stimme als Kontrolle jeden Tag in der Luft liegen. Diese Stimme war jedem im Lande so bekannt, wie das Rauschen von Wind oder fallendem Regen“, 11 beschreibt Herta Müller weiter.

3.2. Widerstand und Proteste

Im Jahre 1972 ist eine literarische Gruppe „Aktionsgruppe Banat“ entstanden. Zu ihren Mitgliedern haben Albert Bohn, Rolf Bossert, Werner Kremm, Johann Lippet, Gerhard Ortinau, Anton Sterbling, William Totok, Richard Wagner und Ernest Wichner gehört. Sie kritisierten das politische System und bemühten sich um die Erhaltung der banatschwäbischen Traditionen. Diese Gruppe wurde von der Geheimpolizei verfolgt, verboten und die Mitglieder verhaftet. Nach dem Jahre 1975 haben sie sich der literarischen Gruppe “Literaturkreis Adam Müller-Guttenbrunn“ angeschlossen, zu denen Helmuth Frauendorfer, Roland Kisch, Horst Samson, Werner Söllner und Herta Müller gehört haben. Nicht nur Banatschwaben sind in Temeswar in einen Streik getreten, wobei die Organisatoren verhaftet wurden. Dank dieser Proteste hat die rumänische Revolution begonnen, die zur Ceau șescos Hinrichtung geführt hat.

Nach diesem Ereignis siedelten die übrigen rumänischen Deutschen aus. Von der ursprünglichen Zahl 750 000 ist nur knapp ein Zehntel geblieben. Andreas Kossert beschreibt in seinem Buch Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945 das Leben der ausgesiedelten Deutschen in Deutschland. Sie haben es nicht leicht gehabt, die

10 MÜLLER, Herta. Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt . 3. Ausgabe. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2009. S. 68-69. 11 MÜLLER, Herta. Der König verneigt sich und tötet. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2008. S. 151. 15

“deutsche Deutschen“ haben sie für zweitrangige Bürger betrachtet. 12 Dieses Thema war in Deutschland lange Zeit mit einem Tabu belegt.

12 DENEMARKOVÁ, Radka. Cestovní pas . Praha: Mladá fronta, 2010. S. 105. 16

4. Figuren der Erzählung

In diesem Kapitel beschäftige ich mich mit Figuren der Erzählung Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt . Das Schicksal der Hauptfigur ist von der politischen Situation in Rumänien beeinflusst. Herta Müller hat als Hauptfigur einen Mann gewählt. Die Männergestalt passt besser zu diesem Geschehen, da die Gestalt eines Mannes traditionell mit Emotions- und Empfindungslosigkeit assoziiert wird. Jede der Figuren kann faktisch auftreten, ich vermute, dass in jedem Dorf solche Menschen mit solchen Berufen leben konnten. Im Zentrum der ganzen Novelle stehen Windisch, seine Frau Katharina und ihre Tochter Amalie. Alle übrigen Menschen sind ebenso unglücklich und ohnmächtig, wie die Familie Windisch. Die Autorin nimmt ein abgrenzende Distanz zu den Figuren ein. Die Figuren sind reserviert, kalt und ruhig. Tischler, Nachtwächter, Bürgermeister, Pfarrer, Milizionär und Kütscher treten ohne Eigenname auf, sie sind hier nur nach ihren “Berufen“ genannt. Die Figuren treten symbolisch und ohne Logik auf. Keiner von ihnen hat den Mut sich anders als die Anderen benehmen.

4.1. Windisch

Die Figur Windisch lernt der Leser schon im ersten Kapitel kennen. Das Geschehen wird im Dorf durch ihn beleuchtet. Windischs Figur ist kompliziert. Er ist ein Müller, der eine Frau namens Katharina und ein Tochter namens Amalie hat. Seine Ehefrau hat er nach der Rückkehr aus dem Krieg kennen gelernt und geheiratet, nachdem er vernommen hat, dass seine Freundin Barbara im Lager gestorben ist. Ihre Beziehung lässt sich mit dem folgendermaßen Abschnitt beschreiben.

In Rußland sind die Leute verhungert, und du hast vom Huren gelebt. Und nach dem Krieg hättest du weiter gehurt, wenn ich dich nicht geheiratet hätt. 13

Die ganze Familie Windisch wartet auf die Pässe zur Ausreise. In ganzem Buch finden wir keine physische Beschreibung Windischs, aber wir können uns ableiten, dass er wegen seines Berufes körperlich und psychisch stark sein muss. Trotzdem fühlt er sich ohnmächtig, er sehnt, wartet und hofft. Er wird als ein Ehrenmann präsentiert, der seine Tochter wegen eines Ausreiseantrags an die Miliz nicht verschenken will. Er glaubt ganz naiv, dass er die Macht

13 MÜLLER, Herta. Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2009, S. 74 17 durch das Verschenken von Mehl und Geld erkauft. Wiederholt bringt Windisch dem Bürgermeister Mehl, was aber trotzdem nicht weiter hilft.

Noch fünf Transporte, Windisch, sagte der Bürgermeister, und zu Neujahr das Geld. Und zu Ostern hast du den Paß.[…] Windisch rekapituliert. Der zwölfte Transport seitdem, und zehntausend Lei, und Ostern ist längst gewesen. 14

In seinem Name ist das Wort Wind verschlüsselt, wobei die ganze Familie Windisch mit diesem Name behaftet ist:

Es geht kein Wind, sagt er. Der Nachtwächter spreizt die Finger in den Luft: Der Wind geht immer, auch wenn man ihn nicht spürt. 15

Bis zum Ende der Novelle versöhnt sich Windisch nicht damit, dass seine Tochter sich für den Milizionär und den Pfarrer hingeben musste. Er glaubt nicht an eine bessere Zukunftsperspektive, weder in der kargen Heimat, noch im reichen Deutschland. Der Familie Windisch als Aussiedler wird es schlimmer ergehen als denen, die geblieben sind.

4.2. Amalie

In ihrer Kindheit, im Alter von 7 Jahren, wird sie während eines Spiels von Rudi verführt. Er schob ihr Kleid hinauf. Er hat Milch von ihr getrunken, saugte an Amalies Brustwarzen, Rudi biss ihr in die kleinen braunen Knoten. Nachdem sie mit Schmerzen nach Hause gekommen ist, hat Windisch gesagt: Amalie wird uns noch Schande machen 16 .

Später tritt sie als ein Sexualobjekt auf, das jung und schön ist. Amalie zieht vom Dorf in die Stadt um, gleich wie andere damalige junge Menschen. Ein Grund dafür ist vor allem die Arbeitslosigkeit. Amalie ist Lehrerin von Beruf, gleich wie Herta Müller, die zwei Wochen in Kindergarten verbracht hat.

Wir vermissen einen Widerspruch oder Ekel, als sie mit Milizionär und Pfarrer beiliegt. Es scheint, dass Amalie ihr Schicksal ganz annimmt und dass sie diesem sogar zustimmt.

14 MÜLLER, Herta. Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2009, S. 16 15 Vgl. ebd. S. 74 16 Vgl. ebd. S. 40 18

4.3. Katharina, Frau von Windisch

Windischs Frau war fünf Jahre lang in Rußland gewesen. 17 In Russland zu sein, bedeutet in diesem Fall, dass sie in einem Arbeitslager in Russland war. Sie hat dort gehurt, damit sie überlebt und einige Vorteile gewinnt. Windisch kann sich damit nicht aussöhnen. Beim Essen legt Katharina Amalie ans Herz:

„Wenn du heiratest, mach deine Augen auf“, sagt sie. „Das Trinken ist eine schlimme Krankheit.“ Amalie leckt ihre rote Fingerspitze ab. „Und nicht gesund“, sagt sie. Windisch schaut die dunkle Spinne an. „Das Huren ist gesünder“, sagt er. 18

Drei weitere Beispiele können uns ihre Beziehung näher bringen.

„In Rußland hat sie die Beine für ein Stück Brot gespreizt“, sagten die Leute nach dem Krieg. Windisch dachte damals: „Sie ist schön und der Hunger tut weh.“ 19

Windisch schlägt mit der Faust die Schuppentür zu. „Du mußt es ja wissen“, schreit er, „aus Rußland mußt du das wissen. Dort ist es dir auch nicht um die Schande gegangen.“ 20

Windisch kommt spät nach Hause und seine Frau meint, dass er besoffen ist und schreit ihn an): Du Hurenbock, schreit sie. Ich werde deiner Tochter sagen, was du treibst.[…]Windisch schlägt ihr ins Gesicht. Sie schweigt. Sie senkt den Kopf. Weinend stellt sie die Teekanne auf den Tisch. 21

Die drei wichtigsten Personen wurden in diesem Kapitel vorgestellt. Sie dienen uns als Mittel, durch welche wir typische Eigenschaften für Müllers Werke bestimmen können. Im Vordergrund stehen hier Windisch selbst, seine herzlose Beziehung zu seiner Frau Katharina und seine herzlose Tochter Amalie, die ihr Schicksal ohne Emotionen annimmt.

17 MÜLLER, Herta . Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt , Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2008. S. 89. 18 Vgl. ebd. S. 88 19 Vgl. ebd. S. 46 20 Vgl. ebd. S. 74 21 Vgl. ebd. S. 49 19

5. Textanalyse – anhand des Romans Der Mensch ist ein Großer Fasan auf der Welt

Herta Müllers Bekanntheit steigerte sich beträchtlich, insbesondere mit der Nobelpreisehrung. Trotz ihrer Berühmtheit gibt es in Tschechien nur eine kleine Menge an Sekundärliteratur. In diesem Kapitel will ich mich mit der Textanalyse Herta Müllers Buch Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt beschäftigen. Dieses Buch ist in die englische (The Passport, 1989), schwedische (Människan är en stor fasan på jorden, 1987), französische (L'homme est un grand faisan sur terre, 1988), spanische (El hombre es un gran faisán en el mundo, 1992) und nicht zuletzt in tschechische Sprache (Cestovní pas, 2010) übersetzt .

5.1. Text aus der strukturellen Sicht

Diese Novelle spielt sich auf ungefähr 100 Seiten ab und enthält mehrere kurze Kapitel, die wiederum aus kurz gefassten Sätzen bestehen. Dadurch wird die Aussagekraft jedes einzelnen Kapitels sehr groß. Thema Müllers Werke ist monothematisch. Es ist eine hohe Kunst so schreiben zu können, aber trotzdem ist es lesbar für alle Bevölkerungsschichten. Man muss vorher nicht die ganze Lebensgeschichte von Herta Müller kennen, da sich vieles durchs Lesen dieses Buches erschließt. Die Menge der Informationen im Text ist reduziert, damit sich der Leser nicht übersättigt fühlt. Das Buch ist in viele, kleine, zusammenhängende und kurze Kapitel aufgeteilt. Jedes einzelne Kapitel hat eine eigene Überschrift, die sich auf das ganze Kapitel bezieht.

Der Novellentitel zitiert ein rumänisches Sprichwort. Es bedeutet, dass ein Mensch, gleich wie ein Fasan, nicht höher fliegt, als ihm die Umstände und die eigenen Beschränkungen erlauben. Auf dieses Sprichwort wird noch zweimal im Buch zurückgegriffen. Nach Radka Denemarková, die diese Erzählung ins Tschechische übersetzt hat, führt es schon im Titel das „schablonierte Denken vor.“ 22

Ralph Köhnen schreibt in seinem Beitrag Terror und Spiel: „Anders als in den Niederungen gibt es einen Anfangs- und Endpunkt einer erkennbaren äußeren Handlung: Sie reicht vom Antrag auf Ausreisegenehmigung in die Bundesrepublik, Verzögerung, Vorbereitungen und schließlich der Ausreise selbst bis zum späteren Besuch von Windischs Familie im

22 DENEMARKOVÁ, Radka. Cestovní pas. Praha: Mladá fronta, 2010. S. 107-108. 20

Heimatdorf. Die neue Welt der Dauerwellen und Fönfrisuren schiebt sich ins Schlussbild, das Windisch nebst Familie bei einer rumäniendeutschen Kommunion mit eigenem Mercedes und Ritter-Sport-Schokolade zeigt, die an die Dorfbewohner verteilt wird. Die Alternativen erscheinen allesamt inakzeptabel: Dableiben bedeutet den Tod (wie für die Figuren Dietmar oder die alte Kroner), Fortgehen ist für Windisch, als Warenfetischist und patriarchaler Gewalttäter, nur der Übergang in neues halbkriminelles Spießertum – »die Semantik des Endes« ist umfassend, die »das Dorf als absterbenden Lebens- und Kulturzusammenhang« zeichnet.“ 23

Was die Struktur betrifft, hat Herta Müller ein Lied eingefügt. In der Seitenstraße singt eine Männerstimme und Windisch ist dabei. Die Sprache ist vulgär und umgangssprachlich.

Einst fuhr ich nach Berlin, die schöne Stadt zu gsiehn. Tirihaholala die ganze Nacht.[…]

Sollst mir dein Tochter schicken, ich will sie einmal ficken. Tirihaholala die ganze Nacht.[…]

Mein Herr, das schickt sich nicht, mein Tochter fickt sich nicht. Tirihaholala die ganze Nacht. […]

O Mutter, laß mich doch, warum hab ich mein Loch. Tirihaholala die ganze Nacht. […]

O Mutter, borg mir deine, die meine ist zu kleine. Tirihaholala die ganze nacht.[…]

Ich kann sie dir nicht borgen, dein Vater braucht sie morgen. Tirihaholala die ganze Nacht. 24

Herta Müllers Erlebnisse aus dem Banat rufen moralische Fragen hervor. Ihre Geschichten rankten sich um das Thema der Macht und des Machtmissbrauchs, sowie der Machtlosigkeit. Das korrupte System in Rumänien wird deutlich angesprochen. Um an Ausreisepapiere heranzukommen schlafen Frauen in der Erzählung mit Milizionären, oder man besticht mit Geschenken. Zum Beispiel Taufscheine vom Pfarrer und Ausreisegesuche nebst Stempelmarken vom Polizisten, werden kurz vor der Ausreise mit der Vergewaltigung von Windischs Tochter Amalie durch den Kirchen- und den Milizmann besiegelt.

Der Nachtwächter hat Windisch erzählt, daß der Pfarrer in der Sakristei ein Eisenbett stehen hat. In diesem Bett sucht er mit den Frauen die Taufscheine. „Wenn es gutgeht“, hat der Nachtwächter gesagt, „sucht er die Taufscheine fünfmal. Wenn es gründliche

23 ARNOLD, Heinz Ludwig. TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur: Herta Müller , VII/02. München: Richard Boorberg Verlag, 2002, S. 20-21. 24 MÜLLER, Herta. Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt . Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2009. S. 38-39. 21

Arbeit leistet, sucht er sie zehnmal. Der Milizmann verliert und verlegt bei manchen Familien siebenmal die Gesuche und die Stempelmarken. Er sucht sie mit den Frauen, die auswandern wollen, im Lagerraum der Post, auf der Matratze“. 25

Ralph Köhnen behauptet: „Die Parataxen in dieser Novelle können den Zusammenhang von Angst und Stottersprache nachbilden, die selbst eine Reaktion auf Unterdrückung ist, und allgemein zeigen sie ein zerfallenes Weltbild an. Den parataktischen Bild- und Satzgefügen entspricht, dass auch die Satzzeichen sich jeder signifikanten Markierung enthalten und keine Orientierung mehr bieten: Immer nur der Lakonismus von Punkt oder Komma, der die Werte umwertet, Energiebeträge umschichtet, das Schlimmste zum Schönen und das Schöne zum Hässlichen prägt.“ 26

Im Text kann der Leser Wirklichkeit und Realität fühlen, weil der Text von Herta Müllers Erfahrungen und Wahrnehmungen während ihrer Jugend ausgeht. Was den Wortschatz betrifft, benutzt die Autorin ihre Lieblingsbegriffe, sowie Archaismen, Komposita und Neologismen. Todesmetaphorik ist zu Beginn gleich erkennbar: "Seit Windisch auswandern will, sieht er überall im Dorf das Ende." Diese Metapohorik ist typisch für die derzeitige Gesamtsituation dieser sterbenden Welt der gebliebenen Deutschen im Banat.

5.2. Sprachbilder

Sprachbilder in dieser Erzählung ermöglichen eine anschaulichere Darstellung eines Sachverhaltes. Nach Ralph Köhnen bilden „Spätfaschismus, Sozialismus und fanatisches Deutschtümmern das Amalgam eines autoritären, ausgrenzenden Denkens – all diese deprimierende Verhältnisse, die sich wiederum in den Sprachbildern äußern“. 27 Die Geheimpolizei demonstriert unter anderem ihre Willkür, indem sie Privatbesitz enteignet. Bevor die Leere eintritt (oder um sie zu verhindern), werden am Verfall des Lebens noch einmal die blühendsten Farben gewonnen. Und entsprechend sind Herta Müllers Bilder auch nicht nur „todesnahe, verzweifelte Visionen eines an Repressalien leidenden Menschen.“

Bettina Brandt befasst sich in ihrem Beitrag Schnitt durchs Auge mit den surrealistischen Bildern bei Yoko Tawada, Emine Sevgi Özdamar und Herta Müller: Die Erzählung Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt ist „ein Gedicht in Prosa. Bildhaft. Die Bilder im

25 MÜLLER, Herta. Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt . Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2008. S. 51. 26 ARNOLD, Heinz Ludwig . TEXT+KRITIK: Zeitschrift für Literatur, Herta Müller. VII/02. München: Richard Boorberg Verlag GmbH & Co., 2002. S. 27. 27 ARNOLD, Heinz Ludwig. TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur: Herta Müller , VII/02. München: Richard Boorberg Verlag, 2002, S. 22. 22

Text gewinnen die Stärke erst dann, wenn das Bild im Kopf des Lesers oder Betrachters einen Schock auslöst. Dieser Schock wiederum geht von den unterschiedlich gepolten Kräften der beiden Bestandteile des Bildes aus und ist desto stärker, je größer die Stärke des Spannungsfeldes ist.“ 28

„Sprachbilder sind insgesamt das Medium der Autofiktionalität“, behauptet Ralph Köhnen „ein Bilderreichtum, der die Handlung meist suspendiert, wofür Herta Müller von Rezensenten oft gescholten wurde. Es handelt sich um Bilderstrategien von Verschiebung und Verdichtung, die Freud in seinem Kapitel über Traumarbeit in der Traumdeutung als Mechanismen analysierte, die Zensur zu täuschen. Abbremsung, Arretierung gegen den reibungslosen ökonomischen Ablauf, Zerschlagung des geläufigen Wahrnehmungsfilms in Einzelbilder – das sind Sprach-Bild-Strategien, die das Ich verschwinden lassen und es in Zeichen verbergen.“ 29

Im Leser rufen diese Sprachbildern eine Spannung, Nervosität und Phantasie hervor und wie schon vorher gesagt, sind das in diesem Fall keine Bilder voller Verzweiflung.

5.3. Deutsch

Herta Müller hat außer ihrem Verhältnis zur deutschen Sprache, in der sie nun schon seit Jahrzehnten schreibt, eine zusätzliche Beziehung zu einer anderen Sprache und Kultur. Sie kann dadurch aus der Welt des “Dazwischen“ und dem Reservat des “Schreibens zwischen zwei Welten und zwei Sprachen“ befreit werden, wodurch es wiederum möglich wird, Abschied von einer an der Herkunft orientierten Identitätspolitik zu nehmen. Nach Radka Denemarková ist ihr Deutsch „kristallisch und dabei expressiv. Sie gemahnt Franz Kafkas Deutsch. Ihr Deutsch ist sehr besonders – dicht, kein typisches Deutsch. 30 Die kurzen Sätze arbeiten wie auch die Kurzprosaformen mit meist offenen Handlungsbögen, arbeiten mit an dem, was Kafka als kleine Literaturen bezeichnete – Ausdrucksformen einer Bevölkerungsminderheit, die sich aber einer traditionsreichen Sprache bedient.“

28 ARNOLD, Heinz Ludwig, TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur: Sonderband, Literatur und Migration, IX/06. München: Richard Boorberg Verlag, 2002. S. 75-76. 29 ARNOLD, Heinz Ludwig. TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur. Herta Müller . München: Richard Boorberg Verlag GmbH & Co, 2002. S. 24. 30 DENEMARKOVÁ, Radka. Cestovní pas . Praha: Mladá fronta 2010. S. 110. 23

5.4. Metaphorik, Anzeichen und Aberglauben

Der Text ist mit Anzeichen und Aberglauben gesättigt. Zum Beispiel, wenn die Eule sich auf das Dach gesetzt hat, soll jemand im Haus gestorben sein. Falls die Eule zum Abendhimmel hinauf geflogen ist, sagte man, dass die Seele des Gestorbenen diese Welt verlässt. Hier symbolisiert die Eule den Tod. Erstens ist es des Tischlers Mutter, die Alte Kroner, die wegen der Eule nicht sterben kann, obwohl der Sargdeckel schon auf ihren Tod wartet.

„Eine Eule“, sagt der Nachtwächter. Er legt die Hand auf den Mund. „Bei der alten Kroner brennt seit drei Nächten das Licht.“ Windisch schiebt das Fahrrad. „Sie kann nicht sterben“, sagt er, „die Eule setzt sich auf kein Dach“. 31

Zweitens stirbt Dietmar, ein Freund von Amalie, der in den Krieg eingezogen wurde. Die Eule ist ihm zum Schicksal geworden.

Ein Soldat sieht die junge Eule im Gestrüpp. Er legt das Gewehr ins Gras. Er steht auf. Die Kugel fliegt. Sie trifft. […] Der Pfarrer sagt: „Die junge Eule hat an der Donau gesessen und an unser Dorf gedacht.“ 32

„Die Eulen haben keine Ruh, und das Wasser hat keine Ruh“, sagt Windisch. „Wenn sie krepiert, kommt eine andere Eule ins Dorf. Eine junge, dumme, die sich nicht auskennt. Die setzt sich auf alle Dächer.“ Der Nachtwächter schaut in den Mond. „Dann sterben wieder junge Leute“, sagt er. […] Dann ist es wieder wie im Krieg, sagt er. 33

Die Metaphorik des Frosches weist auf die Kontinuität des Zentralthemas Diktatur hin und zugleich auf die erzählerischen Anfänge: auf die Geschichten aus der banatschwäbischen Provinz, nicht zuletzt auf den Debütband Niederungen. Am Ende der Titelerzählung ist der Frosch allgegenwärtig, generationentief verinnerlicht:

Die Frösche quakten aus den schwarzen Lungen eines toten Vaters, aus der starren Luftröhre meines röchelnden Großvaters, aus den verkalkten Adern meiner Großmutter. Die Frösche quakten aus allen Lebenden und Toten dieses Dorfes. Jeder hat bei der Einwanderung einen Frosch mitgebracht. Seitdem es sie gibt, loben sie sich, dass die Deutsche sind, und reden über ihre Frösche nie, und glauben, dass es das, wovon zu reden man sich weigert, auch nicht gibt. Dann kam der Schlaf. Ich fiel in ein großes Tintenfaß. So dunkel musste es im Schwarzwald sein. Draußen quakten ihre deutschen Frösche. Auch Mutter hatte aus Rußland einen Frosch mitgebracht. Und ich hörte Mutters deutschen Frosch bis hinter meinen Schlaf. 34

31 MÜLLER, Herta. Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt . Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2009, S. 10. 32 Vgl. ebd. S. 94 33 Vgl. ebd. S. 68 34 MÜLLER, Herta. Niederungen . Berlin: Rotbuch Verlag 1984. S. 94. 24

In der Novelle beschreibt die Autorin gleich in der zweiten Geschichte, die Der Erdfrosch genannt wird, Nachwächters Traum.

„Ich hab mit meiner Frau geredet. Der Erdfrosch hat mit den Augen meiner Frau geschaut. Er hat den Zopf meiner Frau gehabt. Er hat ihr Nachthemd angehabt, und es war bis zum Bauch hinaufgerutscht. Ich hab gesagt, deck dich zu, deine Schenkel sind welk. Ich hab es zu meiner Frau gesagt. Der Erdfrosch hat sich das Nachthemd über die Schenkel gezogen. Ich hab mich neben das Bett auf den Stuhl gesetzt. Der Erdfrosch hat gelächelt mit dem Mund meiner Frau. Der Stuhl quietscht. Der Erdfrosch hat sich den Zopf meiner Frau auf die Schulter gelegt. Er war so lang wie das Nachthemd war. Ich hab gesagt: Dein Haar ist gewachsen. Der Erdfrosch hat den Kopf gehoben und geschrien: Du bist besoffen, gleich fällst du vom Stuhl.“ 35

Diese Metaphorik, Anzeichen und Aberglauben sind hier auf dem richtigen Platz, weil der Leser die Möglichkeit hat sich etwas Neues über das Land und seine Kultur vorzustellen.

5.5. Text aus der sexuellen Sicht

Die Liebe erscheint in den Texten Müllers nicht als Gefühlsbeziehung, sondern nur als dumpfe Körperlichkeit und Sexualität: „Erotik ist kein Spiel koketter Phantasien“, unterstreicht Verena Auffermann, „sondern Begierde, Trieb. Durch das Thematisieren der Sexualität im banatschwäbischen Milieu verstößt Herta Müller wiederum gegen prinzipielle Tabus von Minderheiten und ihrer Literatur.“ 36 Die Sexualität wird sowohl in der Familie als auch in der Öffentlichkeit unterdrückt und verdrängt.

Die Autorin bricht mit dieser Art von Darstellung Tabus, thematisiert Körperausscheidungen, Ekel und vermeintliche sexuelle Obsessionen. Folgender Abschnitt ist eine Beschreibung der Situation, wo Amalie dem Pfarrer die „Beine spreizen“ muss. Dort, wo die Dorfbewohner in zwei Gruppen zerfallen – in jene, die den Pass haben und in die andere, die ihn nicht haben, muss man selbstverständlich bestechen, um das ersehnte Ausreisedokument zu bekommen. Windisch versucht es mit Mehl. Der Milizmann ist jedoch mit den Mehlsäcken nicht zufrieden. Amalie, Windischs Tochter, soll vielmehr mal zur Audienz kommen und die “Beine spreizen“ oder wie es direkt im Text heißt: “ jetzt ist deine Tochter dran “. Der zweite wichtige Mann in diesem Amtsverfahren ist der Pfarrer, der mit den Frauen auf dem Eisenbett die Taufscheine sucht. Der Pfarrer macht es katholisch und der Milizmann staatenlos. Es

35 MÜLLER, Herta. Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt . Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2009. S. 8 36 BOZZI, Paola. Der fremde Blick: Zum Werk Herta Müllers. Würzburg: Königshausen and Neumann GmbH., 2005. S. 86 25 kommt tatsächlich zu dieser Audienz, weil es der Meinung der Mutter nach nun nicht um die Schande geht, sondern um den Pass:

Amalie spürt den Mund des Milizmanns an ihrem Hals. Sein Atem riecht nach Schnaps. Er drückt seine Hände auf ihre Knie. Er schiebt ihr Kleid hinauf. „Ce dulce e ști”, sagt der Milizmann. Seine Mütze liegt neben seinem Schuh. Seine Rockknöpfe glänzen.

Der Milizmann knöpft seinen Rock auf. „Zieh dich aus“, sagt er. Unter dem blauen Rock hängt eine schwarze Kutte heraus). Er streift Amalie eine Haarsträhne von der Wange. „Wisch deinen Lippenstift ab“, sagt er. Der Milizmann küßt Amalies Schulter. Das silberne Kreuz fällt vor seinen Mund. Der Pfarrer streichelt Amalies Schenkel. „Zieh das Unterkleid aus“, sagt er.

Amalie sieht den Altar durch die offene Tür. Zwischen den Rosen steht ein schwarzes Telefon. Das silberne Kreuz hängt zwischen Amalies Brüsten. Die Hände des Milizmanns drücken Amalies Brüste. „Du hat schöne Äpfel“, sagt der Pfarrer. Sein Mund ist naß. Amalies Haar hängt an der Bettkante herab. Unter dem Stuhl stehn die weißen Sandalen. Der Milizmann flüstert: „Du riechst gut.“ Die Hände des Pfarrers sind weiß. Das rote Kleid leuchtet am Ende des Eisenbetts. Zwischen den Rosen läutet das schwarze Telefon. Jetzt hab ich keine Zeit, stöhnt der Milizmann. Die Schenkel des Pfarrers sind schwer. „Kreuz die Beine auf meinem Rücken“, flüstert er. Das silberne Kreuz drückt auf Amalies Schulter. Der Milizmann hat eine feuchte Stirn. „Dreh dich um“, sagt er. Die schwarze Kutte hängt am langen Nagel hinter der Tür. Die Nase des Pfarrers ist kalt. „Mein kleiner Engel“, keucht er.

Amalie spürt die Absätze der weißen Sandalen im Bauch. Die Glut aus der Stirn brennt in den Augen. Amalies Zunge drückt im Mund. Das silberne Kreuz glänzt in der Fensterscheibe. 37

In der Novelle werden die kurzen intimen Augenblicke zwischen Amalie und ihrem Freund Dietmar, der als Soldat während eines Manövers starb, in der Darstellung auf zufällige Splitter reduziert: 38

Dietmar öffnet eine Holztür neben dem Schaufenster. Hinter der Tür ist ein dunkler Gang. Die Dunkelheit riecht nach faulen Zwiebeln. An der Wand stehn drei Mülltonnen wie große Dosen nebeneinander. Dietmar drückt Amalie auf die Mülltonne. Der Decker knarrt. Amalie spürt Dietmars stoßendes Glied im Bauch. 39

Paola Bozzi erwähnt, dass „mit dieser Beschreibung der Allgegenwart des Körpers Herta Müller vor allem einer politischen Literatur verpflichtet ist, die der Frage nach dem Verhältnis

37 MÜLLER, Herta. Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2008. S. 103-104. 38 BOZZI, Paola. Der fremde Blick: Zum Werk Herta Müllers. Würzburg: Königshausen and Neumann GmbH., 2005. S. 87. 39 MÜLLER, Herta. Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2009. S. 66. 26 zwischen Macht und Subjektivität nachspürt. In ihrem Werk bleibt selbst der Körper nicht individueller Besitz, sondern wird noch in seiner reinen Materialität Opfer der alles erfassenden Staatsmacht. Müller literarisiert die damit verbundenen Erfahrungen von Gewalt, Schmerz und Tod so, dass der (meisten weibliche) Körper als ein Objekt erscheint, auf den und in den etwas eingezeichnet wird, er wird als sozialer Körper zum Aufbewahrungsort von Erinnerungen, er ist eine Art soziales Gedächtnis. So lässt der Blick in den Spiegel die eigene Gestalt als besetzten Körper wahrnehmen, in den sich die Diktatur für immer deformierend eingeschrieben hat.“ 40

Durch die Beschreibung Katharinas Masturbation, wie sie im folgenden Abschnitt durchgeführt wird, wird erstmalig die sexuelle Befriedigung von Frauen thematisiert. „Weibliche Masturbation als Ausnahmefall weiblicher Sexualität findet kaum in der Literatur statt – vor allem nicht in der rumäniendeutschen,“ fährt Paolo Bozzi weiter. 41 Dadurch zerstört Herta Müller ein Tabu der Minderheit und eckt durch die beschriebenen Bilder an:

Die Beine seiner Frau standen wie aufgerissne Fensterflügel auf dem Bettuch. Sie zuckten im Licht. Windischs Frau riß die Augen auf. Ihr Blick war nicht geblendet von dem Licht. Er war nur starr.

Windisch bückte sich. Er schnürte seine Schuhe auf. Er schaute unter seinem Arm hindurch auf die Schenkel seiner Frau. Er sah, wie sie den schleimigen Finger aus dem Haar zog. Sie wußte nicht, wo sie die Hand mit diesem Finger hinlegen sollte. Sie legte sie auf ihren nackten Bauch. 42

Sollte ich etwas bezeichnen, was in ihrem Werk aufgezeichnet ist, wären es die eklige Szenen, wie beispielsweise die folgende:

Windisch schluckt eine weiche weiße Nudel. Sie legt sich in seinen Hals. Windisch legt den Löffel auf den Tisch und hustet. Seine Augen füllen sich mit Wasser. Windisch erbricht die Suppe in die Suppe. Seine Mundhöhle ist sauer. 43

5.6. Erzählperspektive

„Der explizit antinationale Charakter der Texte, ein scheinbar autobiografischer Ich-Erzähler, die bewusst eingesetzte Erzählperspektive des Kindes und der dazugehörige erstaunte Blick, das Montageverfahren, das Betonen der Materialität der Sprache, Sprachskepsis und erhöhte

40 BOZZI, Paola. Der fremde Blick: Zum Werk Herta Müllers. Würzburg: Königshausen and Neumann GmbH., 2005. S. 88. 41 Vgl. ebd. S. 87 42 Vgl. ebd. S. 17 43 MÜLLER, Herta. Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt . Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2009 S. 86 27

Sprachsensibilität“ 44 – Bettina Brandt in Schnitt durchs Auge bestimmt Kriterien, nach denen wir erkennen, dass es sich um ein surrealistischer Werk handelt.

Der heterodiegetische Erzähler steht außerhalb der Handlung, trotzdem gelingt es ihm die Handlung näher zu bringen. Über die Geschichte benachrichtigt er neutral und objektiv und vertritt die Position des Beobachters und Vermittlers. Von den anderen Werken Müllers unterscheidet sich die Novelle Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt nicht viel. Der politische Hintergrund ist in manchen ihrer Bücher dargestellt. Wir wissen immer wer spricht. Der heterodiegetische Erzähler berichtet die Rede der Figuren. Er benutzt oft direkte, bzw. wörtliche Rede. Diese Redeweise zeichnet sich durch das Verb “sagen“ aus, z. B. sagte er, sagte sie usw. Die Rede wird dabei in Anführungszeichen gesetzt.

Er schildert die Geschichte des jungen Mannes in der dritten Person – ein so genannter Er- Erzähler. Die literarische Zensur und ehemalige politische Situation ermöglichte nicht Kritik an der Politik zu veröffentlichen. Der Erzähler bietet dem Leser eine Allwissenheit über Windischs Schicksal und hilft dem Leser sich besser zu orientieren und den Text verstehen. Der Leser hat genug Zeit und Raum selbstständig nachzudenken und sich Bilder zu gestalten.

Es handelt sich um eine chronologisch rekonstruierte Handlung durch bestimmte Gestaltung. Was Erzähltempus betrifft, ist diese Novelle überwiegend im Präsens geschrieben. Die Erzählung ist kürzer als das Geschehen, dieses summarische Erzählen nennen wir Raffung. In dieser Novelle wird einmal erzählt, was sich einmal ereignet hat, so genannte singulative Erzählung. Innere Rede von Figuren und innere Monologe gibt es hier keine. Die Darstellung der Gedanken wird hier durch direkte Rede angezeigt.

Herta Müllers Erlebnisse aus dem Banat rufen moralische Fragen hervor. Ihre Geschichten rankten sich um das Thema der Macht und des Machtmissbrauchs, sowie der Machtlosigkeit. Das korrupte System in Rumänien wird deutlich angesprochen. Um an Ausreisepapiere heranzukommen schlafen Frauen in der Erzählung mit Milizionären, oder man bringt Geschenke zur Bestechung. Zum Beispiel Taufscheine vom Pfarrer und Ausreisegesuche nebst Stempelmarken vom Polizisten werden kurz vor der Ausreise mit der Vergewaltigung von Windischs Tochter Amalie durch den Kirchen- und den Milizmann besiegelt.

44 ARNOLD, Heinz Ludwig, TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur: Sonderband, Literatur und Migration, IX/06. München: Richard Boorberg Verlag, 2002. S. 74 28

Der Nachtwächter hat Windisch erzählt, daß der Pfarrer in der Sakristei ein Eisenbett stehen hat. In diesem Bett sucht er mit den Frauen die Taufscheine. „Wenn es gutgeht“, hat der Nachtwächter gesagt, „sucht er die Taufscheine fünfmal. Wenn es gründliche Arbeit leistet, sucht er sie zehnmal. Der Milizmann verliert und verlegt bei manchen Familien siebenmal die Gesuche und die Stempelmarken. Er sucht sie mit den Frauen, die auswandern wollen, im Lagerraum der Post, auf der Matratze“. 45

Nach Petra Meurer ist der Erzählton bei Müller „ausgeglichen und neutral. Allerdings weist die befremdende Bildlichkeit und Leitmotivik, wenn man im psychologischen Bereich bleiben möchte, schizophrene Strukturen wie etwa Verfolgugnswahn auf und zeigt mir dieser psychologischen Charakterisierung auf eine erzählende Figur. In diesem ästhetischen Paradox vorortet Müller die Grausamkeit diktatorischer Machtausübung. Daher sieht Herta Müller den Riss als ihre maßgebliche poetologische Kategorie. Wie erwähnt sie in ihrem Beitrag ist eine allgemeine Fremdheit, das Motiv des Bruchs zwischen sich und der Welt, Herta Müllers Texten als Grunderfahrung menschlichen Daseins eingeschrieben. 46

In der Textanalyse widme ich mich dem Text aus dem strukturellen und sexuálen Sicht. Ein interessantes Element ist, dass die Autorin Metaphorik, Anzeichen und Aberglauben in diesem Erzählung oft benutzt. Sprachbilder sind alle ihre Bücher typisch. Ihr Deutsch ist „kristallisich und dabei expressiv“. Es gibt ein heterodiegetischer Erzähler, der außerhalb der Handlung steht. Geschichte des jungen Mannes ist in der dritten Person geschildert. Eine chronologisch rekonstruierte Handlung, keine innere Rede und innere Monologe.

45 MÜLLER, Herta. Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt . Frankfurt am Main: Fischer TaschenbuchVerlag, 2008. S. 51. 46 ARNOLD, Heinz Ludwig, TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur: Sonderband, Literatur und Migration, IX/06. München: Richard Boorberg Verlag, 2002. S. 194. 29

6. Zusammenfassung

Diese Arbeit ist der Nobelpreisträgerin aus dem Jahre 2009 Herta Müller gewidmet, die in einem deutschsprachigen Dorf in Rumänien ausgewachsen ist. Schwerpunkt dieser Arbeit ist ihre Erzählung Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt , die zu ihren ersten Werken gehört. In dieser Erzählung ist Kritik des Dorfes und des kommunistischen Regimes in Rumänien noch viel vertieft als in ihrem Erstlingswerk Niederungen , das gleich nach ihrem Studium herausgegeben wurde. In dieser Arbeit konzentrierte ich mich darauf, ob die Literatur dieser Autorin nur ein unverständlicher Abklatsch und Kitsch ist, oder ob es sich um eine eigenartige, verwunderliche und seltsame Werke mit einem doppelten Sinn handelt.

Diese Arbeit habe ich in vier Teile eingeteilt. Der erste Teil behandelt das Leben der Autorin und der Bedingungen, unter denen sie aufgewachsen ist. Der Leser kann bemerken, dass Herta Müller reiche Erfahrungen mit dem Leben auf dem Dorf hat. Manche ihrer Erfahrungen spiegeln sich in ihren Werken wider. Ich widme mich ihrem Leben unter Ceua șescos Regime und in der Emigration. Im zweiten Teil Politischer und historischer Hintergrund stellte ich die Geschichte der deutschen Minderheit in Rumänien, der Banater Schwaben vor, vor allem deren Gründung und Aussiedlung. In diesem Teil schätze ich Widerstand und Proteste gegen das Regime und ihre Folgen, Entstehung der Gruppe “Aktionsgruppe Banat“ und “Literaturkreis Adam Müller-Guttenbrunn“ ein.

Windisch, die Hauptfigur dieser Erzählung, sein Tochter Amalie und seine Frau Katharina gehören zu den wichtigsten Figuren und sind für unsere Zwecke wichtig. Sie dienen als Mittel durch welche wir typische Eigenschaften für Müllers Werke bestimmten. Herzlose Beziehungen untereinander und Schicksalsaufnahme beobachten wir während des ganzen Buches.

Im vierten Teil, wo ich mich mit der Textanalyse beschäftigte, widmete ich mich dem Text aus der strukturellen und sexuellen Sicht, Sprachbildern, Metaphorik, Anzeichnen und Aberglauben und zugleich analysiere den Erzähler.

Mein Ziel war, mindestens zwei Elemente herauszufinden, die die Qualität Müllers Werke beweisen würden. Eins der zwei Elemente sind die kurz gefassten Sätze, durch sie wird die Aussagekraft jedes einzelnen Kapitels sehr groß.

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Das Thema ihrer Werke ist monothematisch und die Menge der Informationen ist reduziert. Man muss vorher nicht die ganze Lebensgeschichte kennen.

Nach Ralph Köhnen sind Herta Müllers Bilder nicht nur „todesnahe, verzweifelte Visionen eines an Repressalien leidenden Menschen.“ Bettina Brandt behauptet: „Die Bilder im Text gewinnen die Stärke erst dann, wenn das Bild im Kopf des Lesers oder Betrachters einen Schock auslöst. Dieser Schock wiederum geht von den unterschiedlich gepolten Kräften der beiden Bestandteile des Bildes aus und ist desto stärker, je größer die Stärke des Spannungsfeldes ist.“ Sie hat diese Erzählung als ein “Gedicht in Prosa“ bezeichnet. Im Leser rufen diese Sprachbildern eine Spannung, Nervosität und Phantasie hervor und wie schon vorher gesagt, sind es in diesem Fall keine Bilder voller Verzweiflung.

Herta Müller hat außer ihrem Verhältnis zur deutschen Sprache, in der sie nun schon seit Jahrzehnten schreibt, eine zusätzliche Beziehung zu einer anderen Sprache und Kultur. Sie kann dadurch aus der Welt des “Dazwischen“ und dem Reservat des “Schreibens zwischen zwei Welten und zwei Sprachen“ befreit werden, wodurch es wiederum möglich wird, Abschied von einer an der Herkunft orientierten Identitätspolitik zu nehmen. Nach Radka Denemarková ist ihr Deutsch „kristallisch und dabei expressiv. Sie gemahnt Franz Kafkas Deutsch. Ihr Deutsch ist sehr besonders – dicht, kein typisches Deutsch.

Was die sexuelle Sicht betrifft, ist Liebe in dieser Erzählung keine Gefühlsbezeichnung, sondern Begierde und Trieb. Die Sexualität wird sowohl in der Familie als auch in der Öffentlichkeit unterdrückt und kritisiert. Herta Müller bricht mit dieser Art von Darstellung Tabus, Körperausscheidungen und Ekel – Pfarrer macht es katholisch und der Milizmann staatenlos. Trotzdem gibt es kurze intime Augenblicke zwischen Amalie und Dietmar, ansonsten gelten Körper nur als Opfer der alles erfassenden Staatsmacht. Die Masturbation der Frau gilt als weibliche Befreiung. Dieses Thema findet sich kaum in der Literatur statt.

Der explizit antinationale Charakter der Texte, ein scheinbar autobiografischer Ich-Erzähler, die bewusst eingesetzte Erzählperspektive des Kindes und der dazugehörige erstaunte Blick, das Montageverfahren, das Betonen der Materialität der Sprache, Sprachskepsis und erhöhte Sprachsensibilität – Kriterien, nach denen wir erkennen, dass es sich um ein surrealistischer Werk handelt. Von den anderen Werken Müllers unterscheidet sich die Novelle Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt nicht viel. Der politische Hintergrund ist in manchen ihren Büchern dargestellt.

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7. Bibliographie

7.1. Primärliteraturen

MÜLLER, Herta. Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt . Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2009.

7.2. Sekundärliteraturen

ARNOLD, Heinz Ludwig. TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur. Sonderband: Literatur und Migration , IX/06. München: Richard Boorberg Verlag GmbH & Co., 2006.

ARNOLD, Heinz Ludwig . TEXT+KRITIK, Zeitschrift für Literatur, Herta Müller. VII/02. München: Richard Boorberg Verlag GmbH & Co., 2002.

BOZZI, Paola. Der fremde Blick : Zum Werk Herta Müllers. Würzburg: Königshausen and Neumann GmbH., 2005.

DAMA, Hans. Österreich und die Banater Schwaben : Festschrift. An der Schwelle zum 100- jährigen Jubiläum des Verbandes der Banater Schwaben Österreichs (1907-2007). Wien: Verlag Pollischansky, 2007.

GÖLLNER, Carl. Geschichte der Deutschen auf dem Gebiete Rumäniens: redigiert von Carl Göllner, Mitglied der Akademie für soziale und politische Wissenschaften der Sozialistischen Republik Rumänien . Erster Band, 12. Jahrhundert bis 1848, Bukarest: Kriterion Verlag, 1979.

HORAK, Karl. Das deutsche Volksschauspiel im Banat . Marburg: N.G. Elwert Verlag, 1975.

MÜLLER, Herta. Der König verneigt sich und tötet . Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 2009.

TEJCHMAN, Miroslav. Dějiny Rumunska . Praha: Karolinum – nakladatelství Karlovy univerzity, 1997.

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7.3. Internetquelle

MLA style: "The Nobel Prize in Literature 2009 - Bio-bibliography". Nobelprize.org. [online]. [15 Dec 2010].

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