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BRGÖ 2013 Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs

JÜRGEN WEITZEL, Würzburg Der Reichshofrat und das irreguläre Beschneiden des Rechtsmittels der Appellation

wuchsen Beeinträchtigungen des Rechts zur 1. Einleitung Appellation, die zugleich den Kaiser in seinem Die Haltung des Reichshofrats zu rechtsver- Recht, Appellationen anzunehmen und über sie letzenden Beschränkungen der Appellation ist zu befinden, verletzten, nicht nur aus reinen bislang nicht ausdrücklich zum Gegenstand der Machtambitionen. Es boten vielmehr die Zu- Forschung geworden,1 doch begründeten Lektü- ständigkeitsordnung und das Verfahrensrecht reeindrücke die Hoffnung, dass sich auch au- eine Fülle unklarer und oft langfristig streitiger ßerhalb der Originalakten, die ich nicht konsul- Situationen, in denen die Rechtswidrigkeit – tiert habe, zum Thema verwertbare Aussagen zumal heute – eine nur vermutete und nicht würden finden lassen. Zudem konnte die Frage- definitiv nachweisbare ist. Gerade das 16. Jahr- stellung im Rahmen der Tagung breit und offen hundert kennt solche neuralgischen Punkte der angegangen werden. Sie verfolgt alle nur denk- Ordnung des neuen Rechtsmittels. – Bei hinrei- baren Äußerungen und Maßnahmen des Reichs- chender Quellendichte könnte der Versuch un- hofrats, insbesondere also nicht nur solche in ternommen werden, hinsichtlich der Befassung den vor ihm selbst geführten Appellationsver- des Reichshofrats mit dem Problem bestimmte fahren. Der Reichshofrat konnte sich einschlägig Phasen zu unterscheiden. Im günstigen Fall auch zu Verboten und Behinderungen der Ap- könnten die einschlägigen Quellen auch dazu pellation in Verfahren anderer Gerichte verhal- etwas aussagen, wie er das untersuchte Phäno- ten oder in seinen Conclusa zu diesen Erschei- men bewertet, politisch und rechtlich eingeord- nungen abstrakt-grundsätzlich, also verfas- net hat. All dies ist hier der Quellenlage und sungsrechtlich und rechtspolitisch, Stellung auch des Umfangs einer solchen Untersuchung nehmen. Das irreguläre Verbot der Appellation wegen nur am Rande möglich. Es könnte etwa als deren generelle oder aber einem einzelnen die Regierungszeit Kaiser Karls V. charakteris- Verfahren geltende Untersagung und die Be- tische Merkmale tragen. Für die Zeit bis zum hinderung des Rechtsmittels als seine im Prinzip Dreißigjährigen Krieg könnte relevant sein, in überwindbare Erschwerung sind beide ein Be- welchem Umfang sich der Reichshofrat im Be- schneiden oder Beeinträchtigen des Rechts zur wusstsein der Zeitgenossen neben dem Reichs- Appellation im Sinne dieser Untersuchung. als Appellationsgericht etabliert Auch die Klassifizierung als „irregulär“ bedarf hatte. Sodann dürften die seit 1592 (zum Antrag einiger erklärender Worte. Streng genommen des Grafen Simon zu der Lippe)2 anlässlich der geht es um Reichsrechtswidrigkeit. Doch er-

1 Hinsichtlich des RKG vgl. WEITZEL, Der Kampf um 2 EISENHARDT, Die kaiserlichen Privilegia de non ap- die Appellation. pellando 97. Von den bei Eisenhardt genannten ist

http://dx.doi.org/10.1553/BRGOE2013-1s163 164 Jürgen WEITZEL

Erteilung von Appellationsprivilegien zahlreich Konflikt- und Problemfelder. Sie führten bei erhaltenen Reichshofratsgutachten eine negative divergierenden Rechtsauffassungen unweiger- Grundwertung auch der Appellationsbeein- lich Beeinträchtigungen des Appellationsrechts trächtigungen erkennen lassen. Die möglicher- herauf. Zu nennen sind die unklare Lage hin- weise hier einsetzende Linie wurde verstärkt sichtlich der in der Goldenen Bulle enthaltenen durch § 116 des Jüngsten Reichsabschieds, in Appellationsprivilegien,4 die Frage nach der dem der Kaiser sagt, er wolle „ins künfftige mit Wirksamkeit eines althergebrachten reichsstän- Ertheilung der Privilegiorum de non appellando dischen Nichtgebrauchs eines Rechtsmittels […] fürters an Uns halten“.3 Dieselbe Zusage oder Rechtszuges ans Reich gegen die seit 1495 machen die Wahlkapitulationen seit 1711, so geltende Neuregelung dieser Materie,5 die bis dass schließlich das 18. Jahrhundert viele Zeug- 1532 unklare Situation der reichsrechtlichen nisse dafür bietet, dass der Reichshofrat regel- Appellation in peinlichen Strafsachen6 und die mäßig und mit peinlicher Genauigkeit gegen Problematik der Erstreckung der Privilegien des Appellationsbeeinträchtigungen jeglicher Art Hauses Habsburg auf das kaiserliche Landge- vorgegangen ist. richt in Schwaben.7 Auch das Zustandekommen Die nachfolgenden Ausführungen sind also von Reichsabschied 1532 Titel III § 12, des ersten vorwiegend beschreibenden Charakters. Als Reichsgesetzes gegen landesherrliche Appella- Gliederungsgedanke dient der unterschiedliche tionsverbote,8 sollte wohl Anlass zur Produktion Stellenwert, der Maßnahmen und Entscheidun- reichshofrätlicher Quellenzeugnisse gegeben gen des Reichshofrats zukommt. Damit sind haben. Doch wird der Reichshofrat in dieser nicht selten auch spezifische Quellengruppen Vorschrift nicht einmal genannt. Sie besagt, der und Zeiträume angesprochen. Behandelt wer- eidlich erzwungene Verzicht auf die Appellation den der Reichshofrat als kaiserliches Beratungs- sei „den gemeinen Rechten zuwider, und Un- organ in zentralen Fragen der Gerichtsverfas- serm Kayserl. Cammer-Gericht, und desselben sung sowie bei Anträgen auf Gewährung oder Oberkeiten abbrüchig“.9 Diesem „Ausfall“ des Erweiterung eines Appellationsprivilegs, der Reichshofrats entsprechen übrigens Privilegien Reichshofrat als Hilfsorgan des Kaisers zum wie die für Bremen und Kaufbeuren 1541,10 die Schutz von Frieden und Recht allgemein, der allein das Kammergericht als denkbares Ziel der Reichshofrat und Appellationsbeeinträchtigun- nunmehr untersagten Appellation nennen. gen in vor ihm selbst geführten Streitverfahren Meist aber steht hinter dem kaiserlichen „Uns“ und der Reichshofrat als allgegenwärtiger der Reichshofrat. Ihn selbst als Appellations- Wächter über Gerichtsverfassung und Appella- gericht beim Namen zu nennen, kommt erst seit tionsverfahren im 18. Jahrhundert. der Mitte des 17. Jahrhunderts allmählich in

2. Zentrale Beratungstätigkeit 4 Vgl. EISENHARDT, Die Rechtswirkungen 75ff.; WEIT- ZEL, Der Kampf um die Appellation 87ff. Im 16. Jahrhundert und insbesondere in den 5 Ebd. 87ff., 325327; DERS., Zur Zuständigkeit 213ff. Jahren bis 1555 gab es eine ganze Reihe die Ap- 6 SZIDZEK, Das frühneuzeitliche Verbot. pellation als neues Rechtsmittel betreffender 7 MOSER, Von der Teutschen Justiz-Verfassung 2, 938ff.; WEITZEL, Der Kampf um die Appellation 59ff. 8 Ebd. 238ff. dies das älteste Reichshofratsgutachten. Ab 1629 sind 9 Zit.n. ebd. 242. dann mehr als 20 verzeichnet. 10 EISENHARDT, Die kaiserlichen Privilegia de non 3 Zit.n. ebd. 50. appellando 179f., 231ff. Der Reichshofrat und das irreguläre Beschneiden des Rechtsmittels der Appellation 165

Übung.11 Auch in den anderen zentralen Fragen bleibt zu hoffen, dass die Aufarbeitung der in- der Gerichtsverfassung und des Appellations- tern geführten Akten weitere Aufschlüsse bieten rechts sind bislang vom Reichshofrat zeugende wird. Quellen kaum aufgetaucht. Als Akteure stehen vielmehr das Reichskammergericht, die ihm gewidmete Visitationskommission (1526, 1531), 3. Anträge auf ein der Reichstag, das Reichsregiment und die Kur- Appellationsprivileg fürsten auf ihren Kurfürstentagen vor uns. In dem sich seit 1544 verschärfenden Streit dar- Von mittlerem Relevanzniveau zwischen Einzel- über, ob für die Appellationen vom Schwäbi- fallbehinderung und Grundfragen der Gerichts- schen Landgericht das Reichskammergericht verfassung sind die Situationen, in denen der oder aber die Oberösterreichische Regierung in Kaiser über die Vergabe oder Erweiterung eines Innsbruck zuständig sei, wurde der Schwäbi- Appellationsprivilegs zu befinden hatte. Stellte sche Kreis tätig, und es finden sich auch kaiser- ein Landesherr ein solches Gesuch, um eine liche Reskripte ans Reichskammergericht und an zuvor kraft angeblicher Rechtsgewohnheit be- den Landrichter, doch war in diesem Konflikt hauptete Apellationsbefreiung ganz oder auch auf österreichischer Seite die Hofkanzlei und nur teilweise zu legitimieren, so erscheint die nicht der Reichshofrat federführend. Im Gegen- Chance, der Haltung des Reichshofrats zu Ap- teil: Es wurde dieser gelegentlich zum Wider- pellationsverboten ansichtig zu werden, beson- part von Hofkanzlei und – späterhin – Oberster ders groß. Man kann nämlich auch vor den ein- Justizstelle.12 Der weithin negative Quellen- schlägigen Reichshofratsgutachten der Jahre seit befund rechtfertigt nicht die Annahme, der 1592 davon ausgehen, dass die Vergabe dieser Reichshofrat sei mit den vielgestaltigen zentra- Privilegien regelmäßig vom Reichshofrat vorbe- len Fragen des Appellationsrechts des 16. Jahr- raten wurde. hunderts nicht befasst gewesen. Man kann auch Einblick in eine solche Problemlage bieten nicht seine zunächst bekanntlich wenig ausge- glücklicherweise Quellen zu Geschehnissen in prägte Tätigkeit als Appellationsgericht ins Feld Würzburg um die Mitte des 16. Jahrhunderts.13 führen. Das Abheben allein auf das Reichskam- Im Sommer 1549 appellierte die Witwe Anna mergericht im gesetzlichen Beeinträchtigungs- Sailer gegen ein Urteil des Würzburger Stadtge- verbot von 1532 und die frühen Appellations- richts, das sie zur Zahlung von 7.000 Gulden an privilegien zeigen allerdings an, wie sehr das mehrere Gläubiger verpflichtete, an das Reichs- Reichskammergericht in der ersten Hälfte des kammergericht. Die Appellaten und dann auch 16. Jahrhunderts das Bild prägte, das sich die der Würzburger Bischof Melchior von Zobel Öffentlichkeit von einem Appellationsgericht bestritten die Zulässigkeit der Appellation we- des Reiches machte. Der Befund erklärt sich am gen des ihr angeblich entgegen stehenden Her- ehesten dadurch, dass der Reichshofrat als Bera- kommens, wonach gegen Urteile des Stadtge- tungsorgan des Kaisers in dessen Entscheidun- richts seit unvordenklicher Zeit nur die Supplik gen nach außen hin nicht in Erscheinung trat. Es an den Bischof möglich sei. Dies, obwohl der Würzburger Bischof im September 1530 ein auf

200 Gulden limitiertes Appellationsprivileg ent- 11 Zuvor ist gelegentlich vom „Hoff- oder Cammerge- richt“ die Rede, z.B. im Illimitatum für Bayern 1628, vgl. ebd. 166ff., Zitat 167. 13 Dazu WEITZEL, Der Kampf um die Appellation 212; 12 MOSER, Von der Teutschen Justiz-Verfassung 2, EISENHARDT, Die kaiserlichen Privilegia de non appel- 942974, 988f. lando 124, 336ff. 166 Jürgen WEITZEL gegen genommen hatte. Im August 1549 wur- staunlichem Maße funktionsfähig. Einhellig den dem Stadtgericht und den Gläubigern vom wurde ein derart begründetes Beschneiden der Reichskammergericht Ladung, Kompulsorial- Appellation an die Reichsgerichte – so wird man brief und Inhibition zugestellt. Im September wohl formulieren dürfen – verworfen. Würz- fand der erste Termin statt. Im Oktober ließ burg hat sich auf seinen vorgängigen Brauch Bischof Melchior Kaiser Karl V. durch den Bi- nicht mehr berufen. schof von Arras eine Supplik überbringen. Darin Doch der Reichshofrat agierte keineswegs im- bittet er den Kaiser um Bestätigung des Brau- mer hinreichend aufmerksam und zügig gegen- ches, den er hinsichtlich der Appellationen vom über landesherrlichen Appellationsverboten. Als Würzburger Stadtgericht in Anspruch nimmt. erstes lässt dies das Gutachten vom 18. April Die Supplik ist ausführlich begründet. Diese 167014 zum Antrag der beiden regierenden Gra- Bittschrift war am 12. und 15. November 1550 fen von Baden erkennen, ein Privileg von 1475, Gegenstand von Erörterungen im Hofrat des auf dessen Grundlage die Badenser die Appella- Kaisers, was ein Reichshofratsprotokoll belegt. tionsfreiheit vom Reichshofrat und vom Rott- Im Laufe der Verhandlungen mit dem Kaiser weiler Hofgericht in Anspruch nahmen, nun- und belehrt durch den Fortgang der Appella- mehr auf das Reichskammergericht zu erstre- tionssache Sailer, muss Bischof Melchior sein cken. Die badische Tradition, den eigenen Un- Vorhaben, eine kaiserliche Bestätigung des zu- tertanen die Appellation an die Reichsgerichte mindest seit 1482 bezeugten Brauches zu erwir- möglichst zu erschweren, ja zu verbieten, lässt ken, als realitätsfern erkannt haben. Sie wäre sich bis in die Jahre um 1500 zurückverfolgen. einem illimitierten Privileg gleich gekommen, Zuletzt hatte ihnen das Landrecht von 1622/54 das zu dieser Zeit nicht einmal die Kurfürsten das Anrufen des Reichskammergerichts aus- unbestritten in Anspruch nehmen konnten. drücklich untersagt. Da den Grafen eine „besse- Durch Zwischenurteil vom 17. Juni 1551 nahm re“ Scheinbegründung nicht einfiel, beriefen sie das Reichskammergericht die Appellation der sich 1670 auf das privilegium odiosum von 1475. Sailerin ungeachtet der dagegen vorgebrachten Doch der Reichshofrat, der bislang offenbar zu Einreden an. Der Reichshofrat koordinierte sein allem Ränkespiel geschwiegen hatte, durch- Vorgehen offenbar zeitlich mit dieser Entschei- schaute den Charakter des Privilegs von 1475 als dung. Er beschloss am 13. November 1551, dass eines privilegium de non evocando, rief den in der Würzburger Privilegiensache „die begehr- Reichsabschied von 1654 in Erinnerung und te Extension“ statthaben solle. Da das nicht die warnte, dass „wan den Herren Marggraffen zu in Frage stehende Würzburger Appellations- Baden ein mehreres nachgegeben werden, ande- praxis meinen kann, muss Bischof Melchior re Stände von gleichmäßiger condition eine glei- zwischenzeitlich seinen Antrag vom November che freyheit suchen und Ewre kayserliche Majes- 1550 zurück genommen und auf Extension des tät entweder eine große offension zugezogen Privilegs vom September 1530 angetragen ha- oder dero und des Reichs iurisdiction in medi- ben. Aufgrund des Beschlusses vom 13. Novem- atos mit der Zeit fast gäntzlich verlohren wer- ber 1551 wurde die Extension der Appellations- den dörffte.“15 Der Reichshofrat hatte spätestens summe auf 400 Gulden Hauptsumme durch in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Erteilung eines auf den 12. November 1550 zu- rück datierten Privilegs vollzogen. 14 Ebd. 157ff.; WEITZEL, Der Kampf um die Appella- Das weitgehend für sich sprechende Geschehen tion 153ff. 15 zeigt die beteiligten Reichsorgane, insbesondere EISENHARDT, Die kaiserlichen Privilegia de non appellando 159. Reichshofrat und Reichskammergericht, in er- Der Reichshofrat und das irreguläre Beschneiden des Rechtsmittels der Appellation 167

Zeichen der Zeit erkannt. In allen seinen ein- ben, zumal sich Württemberg nicht darauf beru- schlägigen Stellungnahmen formuliert er seit- fen hatte. Auswärtige konnten bis 1730 unge- dem derartige Warnungen und schlägt, wo im- hindert appellieren. Um auch diesen Rest an mer möglich, die Ablehnung des Gesuchs oder Appellationsfreiheit zu beseitigen, bediente sich aber eine geringere als die beantragte Erweite- Eberhard Ludwig 1732 des Privilegs von 1495. rung vor.16 Allerdings ist von einem Anrufen Der Reichshofrat resolvierte: „Nachdem aus des Fiskals wegen des Verbots im Badischen denen von dem Herrn Herzog producirten pri- Landrecht nicht die Rede. Nur die Entscheidung vilegiis de non appellando nicht einmal zu erse- des Gesuchs von 1670 wird vorbereitet. Erst das hen, dass dieselben auf appellationes, so an die Kurfürstentum Baden hat 1803 ein Appellations- allerhöchsten Reichsgerichte gehen, zu ziehen privileg erhalten. und zu verstehen seien, als findet des Herrn Zu einer der badischen vergleichbaren Situation Herzogs Gesuch um die Declaration und Exten- hatte der Reichshofrat im Jahre 1732 aufgrund sion derselben um so weniger statt.“19 Auch eines Antrags des Herzogs Eberhard Ludwig Württemberg erlangte ein illimitiertes Appella- von Württemberg zu gutachten, seinem Hofge- tionsprivileg erst 1803. richt die Freistellung auch von den Appella- tionen zu gewähren, die von Auswärtigen, also nicht Untertanen des Herzogs, eingelegt wür- 4. Schutz von Frieden und Recht den.17 Er stützte sich dabei auf ein Privileg von allgemein 1495. Das Württemberger Landrecht von 1555 hatte den Untertanen ausdrücklich die Berufung Der Kaiser hatte nicht nur für Recht und Gericht an auswärtige Gerichte, als die jetzt auch die im judiziellen Sinne zu sorgen, sondern für Reichsgerichte angesehen wurden, verboten, die Frieden und Recht ganz allgemein. Auch bei Landstände dem – reichsrechtlich unbeachtlich – dieser Aufgabe stand ihm der Reichshofrat als zugestimmt. Warum dann der Kaiser und sein Beratungs- und Hilfsorgan zur Seite. Eva Ortlieb Reichshofrat das Landrecht im Oktober 1555 hat aus den Beständen „RHR, Geleit- und bestätigten und das Reichskammergericht die Schutzbriefe“ sowie „Promotoriales“ einige „Insinuation des Landrechtes im Ganzen [und] einschlägige Anordnungen Kaiser Karls V. mit- eines Auszuges mit den Bestimmungen über die geteilt: Geleitbrief für Hans Gering bis zum Ab- Berufung an die Reichsgerichte“18 1571 akzep- schluss eines am Reichskammergericht rechts- tierte, ist unbekannt. Es darf spekuliert werden. hängigen Appellationsprozesses, vom 27. Mai Schlichte Unaufmerksamkeit scheidet wohl aus, 1544; desgleichen für Barbara Hegk nach Appel- jedenfalls seitens des Reichskammergerichts. lationsbehinderung durch Bürgermeister und Habsburgische Interessen in Vorderösterreich Rat der Stadt Schlettstadt, vom 23. Juni 1544; wären als Motiv doch wohl zu weit hergeholt. Schutzbrief für Claus Rantzau gegen Übergriffe Hat man also 1555 und 1571 den Charakter des durch seine Prozessgegner in einem Appella- Privilegs von 1495 verkannt? Schwer zu glau- tionsverfahren, vom 3. März 1551.20 Diese Quel- len, von denen wir liebend gern noch viele wei- tere hätten, bestätigen die Annahme, dass Be- 16 So z.B. 1592, vgl. oben mit Anm. 2. einträchtigungen des Appellationsrechts durch 17 Vgl. EISENHARDT, Die kaiserlichen Privilegia de non Regierende, Gerichte und Prozessgegner jeden- appellando 123; WEITZEL, Der Kampf um die Appella- tion 205ff. 18 EISENHARDT, Die kaiserlichen Privilegia de non 19 Ebd. appellando 123. 20 ORTLIEB, Der Hofrat 57 Anm. 88. 168 Jürgen WEITZEL falls in der Konsolidierungsphase der Appella- zumindest partiellen Funktionsteilung zwischen tion keine Seltenheit waren. Sie zeigen weiter- mehreren Organen an Boden gewonnen. Dem hin, dass der Reichshofrat die dergestalt Be- folgend war gerade der frühe Reichshofrat ein schwerten nicht einfach auf die verfahrenstypi- allgemeines Regierungsorgan und „nicht in schen Schutz- und Zwangsbriefe der jeweiligen erster Linie von seiner Gerichtsfunktion her zu Appellationsgerichte verwies, sondern unab- verstehen“. Aber er war selbstverständlich auch hängig davon der kaiserlichen Höchstgewalt das persönliche Gericht des Kaisers. Als Appel- Raum ließ. Wie oft und wie lange dies der Fall lationsgericht ist der Hofrat Karls V. allerdings war, muss noch geklärt werden. „nur selten“ tätig geworden.22 Unter den rund 3.000 Judizialakten des Hofrats dieses Herr- schers hat sich bislang nur ein gutes Dutzend 5. Appellationsverfahren vor dem Appellationen finden lassen. Und bei ihnen ha- Reichshofrat ben wir es nicht nur mit vor ihm und seinen Kommissionen wirklich durchgeführten Appel- Dass sich landesherrliche Appellationsverbote lationsverfahren zu tun. Es kam auch zu Ab- und -behinderungen grundsätzlich sowohl ge- weisungen des Antrags sowie zu schlichten gen das Reichskammergericht wie auch gegen Klärungs- und Sicherungsmaßnahmen hinsicht- den Reichshofrat richten konnten und richteten, lich der Appellationsberechtigung, denen die ist nahe liegend. Beide Höchstgerichte standen (Rück-)Verweisung der Sache zur Verhandlung den jeweils verfolgten Interessen der Landesher- vor dem Reichskammergericht oder einem an- ren oder der Appellaten grundsätzlich gleich- deren Appellationsgericht folgte. Dem Reichs- ermaßen im Wege. Das 16. Jahrhundert ist für hofrat war offenbar keineswegs daran gelegen, die Tagung deshalb von besonderem Interesse, die Appellationsverfahren des Alltags an sich zu weil die Aktivitäten, die der Reichshofrat in ziehen. Seine Motivationslage erhellt aus einem diesem Zeitraum als Appellationsgericht entfal- kaiserlichen Schreiben an Kammerrichter und tete, in dem laufenden Forschungs- und Edi- Beisitzer des Reichskammergerichts vom Okto- tionsvorhaben erst näher beschrieben werden ber 1550. Zwar betrifft dieses einen Fall der sollen. Für die Regierungszeit Kaiser Karls V., Rückverweisung nach zeitweiligem Stillstand also die Phase, in der sich der königliche Hofrat des Reichskammergerichts, doch spricht die zum dauerhaft organisierten Reichshofrat wan- praxisnah und nicht rechtstechnisch formulierte delte, hat Eva Ortlieb jüngst den aktuellen For- Begründung für sich. Der Kaiser teilt mit, „daß schungsstand dargestellt.21 Es geht dabei nicht er und seine Hofräte mit anderen Aufgaben um die alte, verfehlte Frage, ob angesichts der belastet seien und den Prozess nicht weiterfüh- Reformen von 1495 dem Kaiser überhaupt noch ren könnten. Außerdem würden so Ungelegen- die Richterfunktion im Reich zugestanden habe. heiten für die Parteien vermieden“, die sonst Auch das Spannungsverhältnis zwischen dem dem kaiserlichen Hof folgen müssten.23 Kaiser und den Reichsständen in puncto Wahr- In den ersten drei Bänden des Inventars zu den nehmung der und Einfluss auf die Rechtspre- Akten des Kaiserlichen Reichshofrats haben sich chung ist wohl gelegentlich zu stark in den Vor- fünf Appellationsverfahren finden lassen, in dergrund getreten. Europaweite Entwicklungen denen Beeinträchtigungen des Rechtsmittels zur in den Blick nehmend hat der Gedanke einer

21 ORTLIEB, Vom königlichen/kaiserlichen Hofrat; DIES., 22 Ebd. 47, 56. Der Hofrat. 23 Ebd. 50 Anm. 60. Der Reichshofrat und das irreguläre Beschneiden des Rechtsmittels der Appellation 169

Sprache kommen. Davon datieren immerhin sion zur Prüfung der Akten des Augsburger zwei aus dem letzten Drittel des 16. Jahrhun- Verfahrens. Dieses sei unter Verstoß gegen die derts, zwei gehören dem 17. und eines dem frü- Halsgerichtsordnung geführt, insbesondere aber hen 18. Jahrhundert an. Ein Verfahren, in dem es seien seine Appellationsanträge und Widerkla- nicht um einen reichshofrätlichen Appellations- gen zu Unrecht abgewiesen worden. Die Stadt prozess geht, sondern um kaiserliche Schutz- beruft sich auf das Appellationsver- maßnahmen zugunsten eines Jenenser Rechts- bot in peinlichen Sachen. Ein Augsburger Jurist professors, nehme ich hinzu.24 Ich will versu- erhält einen kaiserlichen Kommissionsauftrag chen, ein paar Charakteristika zu benennen. zur Güte. Die Stadt wird vom Reichshofrat im 1571 fühlten sich die Regierung des Herzogs Dezember 1572 und erneut im April 1573 aufge- von Sachsen-Weimar und Jenaer Theologiepro- fordert, den Inhaftierten gegen Kaution bezie- fessoren durch Beiträge ihres Kollegen, des Ju- hungsweise Urfehde freizulassen. – In einer in risten Peter Brem, zu einer theologischen Kont- ihren Details schwer zu fassenden Auseinander- roverse beleidigt. Brem wird erst unter Haus- setzung wegen Schuldforderungen und Voll- arrest gestellt, dann verhaftet, und es wird, als streckungsmaßnahmen erhob 1582 der Geschä- er und seine Verwandten den Kaiser und das digte den Vorwurf, er sei durch seine vom Abt Reichskammergericht anrufen, gegen ihn ein von Ursberg (bei Krumbach, Schwaben) als zu- Verfahren wegen Verletzung der Appellations- ständiger Obrigkeit angeordnete Inhaftierung privilegien des Hauses Sachsen und der Statuten daran gehindert worden, gegen das maßgeb- der Universität Jena durch Verfassen einer be- liche Urteil zu appellieren. Der Antrag auf Ein- leidigenden Schrift eingeleitet. Es ergingen zu- setzung einer kaiserlichen Kommission zur Re- gunsten Brems drei kaiserliche Fürbittschreiben: gelung der Auseinandersetzungen wird abge- im November 1571, im September 1572 und im wiesen.26 – Um Beleidigungen und einen mög- März 1573. Die Tätigkeit des Reichshofrats in licherweise nachgeschobenen Untreuevorwurf der Sache wurde im Januar 1572 eingestellt. Im ging es auch 1607–1608 in Straßburg.27 Der spä- Juni 1572 erging an Herzog Johann Wilhelm von tere Appellationskläger war als Rechtsberater Sachsen(-Weimar) die Ladung des Reichskam- diverser Straßburger Stifte dem Fiskal des mergerichts zur Rechtfertigung wegen der Ver- Markgrafen von Brandenburg als Administrator haftung Brems und verweigerter Justiz. – Im des Hochstifts Straßburg bei dem Versuch in die Jahre 1572 verklagten zwei Augsburger Bürger Parade gefahren, Ansprüche des Markgrafen auf einander wechselseitig vor dem Stadtgericht kirchliche Güter und Rechte durchzusetzen. Als wegen der in einer mutmaßlich unberechtigten er ankündigte, gegen zwei ihn schuldig spre- Pfandverwertung steckenden und weiterer im chende Straßburger Bescheide an den Kaiser Umfeld dieser Kontroverse erfolgter Ehrverlet- oder an das Reichskammergericht appellieren zungen.25 Der Verwerter wurde freigesprochen, zu wollen, sei er als Prokurator des Kleinen Rats der möglicherweise Geschädigte zur Leistung entlassen worden und habe die Stadt verlassen von 850 Gulden Schadensersatz verurteilt. Da er müssen. Stadtmeister und Großer Rat der Stadt nicht zahlen konnte, wurde er inhaftiert. Der Straßburg tragen vor, der Kläger habe ausdrück- Verurteilte und Inhaftierte bat am Reichshofrat lich auf Rechtsmittel verzichtet. Zudem sei der um die Einsetzung einer kaiserlichen Kommis- Prozess – wohl noch vor der Appellation – ange- sichts des Untreueverdachtes in ein Kriminal- 24 SELLERT, Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats I/1, Nr. 516. 26 Ebd. Nr. 1969. 25 Ebd. I/2, Nr. 1051. 27 Ebd. I/1, Nr. 925. 170 Jürgen WEITZEL verfahren übergegangen. – Vor dem Kaiserhof ber voneinander abzugrenzen. Das Agieren des beleidigt fühlte sich im Jahre 1647 der Kurfürst Reichshofrats in den aufgeführten Fällen ist aus von Trier.28 Der spätere Appellationskläger war den Akten kaum je über einen längeren Zeit- im Rahmen eines Prozesses der Trierer Land- raum oder gar bis zum Ende der Kontroversen stände gegen den Kurfürsten vor dem Kaiser zu verfolgen. Der Reichshofrat erkannte selten tätig geworden und hatte in Wien nicht nur Appellationsprozesse, forderte Berichte der Ob- Schriftsätze, sondern auch gegen den Kurfürsten rigkeiten und die Freilassung von Inhaftierten, gerichtete Schriften verteilt. In erster Instanz vermittelte kaiserliche Fürbittbriefe und ernann- wurde er von einer Kommission des Trierer te einen Kommissar zur Güte, suchte auch sonst, Hofgerichts mit dreijähriger Landesverweisung einen Vergleich zu stiften. Die Ladung ihrer und der Konfiskation der Hälfte seiner Güter reichsständischen, gar fürstlichen Gegner zum bestraft. Er musste versprechen, auf keinerlei Prozess konnten die Beschwerten wohl eher Weise gegen den Kurfürsten vorzugehen. Sein vom Reichskammergericht erwarten. Sohn, der ihn bei der Verteilung der Schriften unterstützt hatte, wurde inhaftiert. Die Ankün- digung, an den Kaiser appellieren zu wollen, 6. Massenhafte Kontrollen im habe der Kurfürst mit einem Edikt beantwortet, 18. Jahrhundert das den Appellationskläger und seinen Sohn für rechtlos erklärt und ein Kopfgeld auf sie ausge- Davon, dass die Quellen zumindest seit der setzt habe. – 1707 schließlich beschwerte sich Mitte des 17. Jahrhunderts eine steigende Kon- Franz Ludwig von Hutten, dass Vertreter der trolldichte in Sachen Appellationsverbote anzei- Reichsritterschaft in der Wetterau in einem von gen, war bereits die Rede. Es könnte allerdings ihm gegen widerspenstige Untertanen geführten sein, dass dieser Eindruck auch durch den Um- Prozess verhindert hätten, „daß das Appella- stand hervorgerufen wird, dass die Quellenlage tionsdokument zugestellt und über die Zustel- für die zweite Hälfte der Existenz von Reichs- lung sowie die Anforderung der Akten förm- hofrat und Reichskammergericht eine wesent- liche Dokumente und Bestätigungen angefertigt lich bessere ist. Hier haben wir die quellenge- worden seien“.29 sättigten Arbeiten von Johann Ulrich von Cra- Auffällig ist, wie häufig Beleidigungen den mer30 und Johann Jacob Moser31 zur Hand. Auch Ausgangspunkt der Kontroversen bilden, dass Johann August Reuß32 und Matthäus Joseph etliche dieser Beleidigungen aus dem Agieren in Schick33 sind zu nennen. Für die ältere Epoche rechtlichen und theologischen Streitfragen er- steht bis 1555 an Vergleichbarem und Erschlos- wuchsen, dass schnell inhaftiert und weniger senem nur das Staats-Archiv des Johann Hein- zügig freigelassen wurde, dass uns heute die rich Harpprecht34 zur Verfügung. Es konnten Anordnung der Haft, der Landesverweisung allerdings für Baden und Württemberg im und ähnlicher Repressalien unverhältnismäßig 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts gravierend erscheint und dass es offenbar Kontrolldefizite aufgezeigt werden. Dem ist als Schwierigkeiten machte, beziehungsweise eine 30 bewusst geschaffene Grauzone gab, Verfahren Insbes. CRAMER, Wetzlarische Nebenstunden. 31 Insbes. MOSER, Von der Teutschen Justiz-Verfas- in peinlichen Sachen und Iniurienprozesse sau- sung. 32 REUSS, Teutsche Staatskanzley. 33 SCHICK, Über das reichsständische Instanzen-Recht. 28 Ebd. Nr. 850. 34 HARPPRECHT, Staats-Archiv des Kayserlichen und 29 Ebd. II/1, Nr. 658. des Hl. Röm. Reichs Cammer-Gerichts. Der Reichshofrat und das irreguläre Beschneiden des Rechtsmittels der Appellation 171 weiterer eindrucksvoller Fall das Appellations- Dem Reichskammergericht kam keine vom kon- verbot an die Seite zu stellen, das seit 1606 im kreten Prozess abgelöste Kontrollfunktion zu. Es Deutschen Orden galt, bis es schließlich nach konnte also einen ihm lediglich bei Gelegenheit 160 Jahren Gegenstand einer Rüge des Reichs- eines beliebigen Verfahrens – etwa durch ein hofrats wurde. Anlässlich der Händel, die der landesherrliches Berichtsschreiben – bekannt ehemalige Komtur der Deutschordens-Ballei gewordenen appellationsbeschränkenden Arti- Franken, Friedrich Karl von Eyb, verursachte, kel, eine landes- oder ordensrechtliche Norm erging am 11. April 1768 der folgende Verweis also, nicht einfach kassieren. Zumindest musste an den Orden: „Ihro Kayserl. Maj. hätten bei der Fiskal erst ein entsprechendes Verfahren Gelegenheit gegenwärtiger Sache nicht nur aus einleiten und betreiben. Da war der Reichshofrat dem extractive beygebrachten XIV. Capitul des schlagkräftiger. Anno 1606 erneuerten Statuten-Buchs missfäl- Da die Fülle der vom Reichshofrat im 18. Jahr- ligst wahrgenommen, dass durch den Art. 8 der hundert gerügten und kassierten Appellations- Teutsche Orden sich ganz ohnbefugt und nich- beeinträchtigungen hier nicht einmal statistisch tiglich angemaßet, alle Appellationes und Re- dargestellt werden kann, will ich zur Veran- cursus von denen Aussprüchen eines Groß- schaulichung jeweils knapp einige typische Capituls zu einem solchen Verbrechen zu ma- Problembereiche vorstellen und kommentieren. chen, welches die dritte und höhere Ordens- Bischöfe und ihre Gerichte wurden immer wie- Strafe nach sich ziehen solle, sondern, dass auch der einmal gerügt, so der Bischof von Lüttich bey ereignenden Fällen der Teutsche Orden kein und seine Schöffen 1754/55, der von Lübeck Bedencken trage, dieses ganz nichtige Princi- 1760 und der von Trient 1764.36 Nicht immer pium selbst gegen Kayserl. Maj. und Allerhöchst lassen die Quellen die Art der Beeinträchtigung dero Reichs-Gerichte in der Anwendung geltend klar erkennen. Das Reskript an den Bischof zu zu machen: Wie nun aber Allerhöchst dieselbe Lübeck lautet: „Kayserliche Majest. hätten mit diese Ohngebühr keineswegs hingehen lassen, nicht wenigem Befremden aus seinem Bericht noch zugeben könnten; Als wollten Kayserl. ersehen, dass er die von einem Lübeckischen Maj. mit Cassation dieses Articuls, so viel solche Capituls-Bauern an Dieselbe Reichsgesezmäßig Allerhöchst dieselbe betrifft, auch dessen An- ergriffene Appellation vor eine strafbare Empö- wendung, auf das schärfste geahndet und für rung und Verletzung der Landeshoheit anzuse- das künfftige auf das nachdrucksamste hiermit hen vermeine: Sie könnten Ihme Ihro über eine verbotten haben“.35 Mit diesem Dokument sind solche, die Kayserliche Maj. verkleinernde, und wir in der hohen Zeit des Kampfes gegen Appel- den Reichgesezen entgegen lauffende, Äusse- lationsverbote und -behinderungen angekom- rung geschöpftes Mißfallen nicht verbergen; men, den 60er, 70er und 80er Jahren des 18. Jahr- verbieten Ihme anbey, bey sonst unausbleiben- hunderts. Ich könnte wohl auch von der Regie- der schärfferer Kayserlicher Ahndung, so wohl rungszeit Kaiser Josephs II. sprechen. Auch das gegenwärtigen Appellanten den an Dero Kay- Reichskammergericht trug damals seinen Teil serl. Reichs-Hofrath billig genommenen Recurs zur Bekämpfung der Beeinträchtigungen des auf einige Art entgelten zu lassen, als auch in Appellationsrechts bei, in erster Linie aber sahen andern Fällen die an die höchste Reichsgerichte sich wohl der Kaiser und sein Reichshofrat in zu ergreifende Appellationen weder directe der Pflicht – und in ihren Interessen verletzt.

36 MOSER, Von der Teutschen Justiz-Verfassung 1, 35 WEITZEL, Der Kampf um die Appellation 232. 571–573. 172 Jürgen WEITZEL noch indirecte, zu erschweren“.37 – Unter den 1771, Braunschweig-Wolfenbüttel 1771, Meck- gerügten Appellationsklauseln finden sich auch lenburg).42 – Auch hinsichtlich der Ableistung solche in fürstlichen Familienverträgen und in der Appellationssolemnien konnte es zu Mei- den privaten Statuten einer Emdener Handels- nungsverschiedenheiten zwischen dem iudex a gesellschaft (1720).38 – Die Einführung eines quo und dem iudex ad quem kommen.43 – Ein landesherrlichen Revisionsgerichts und die weites, im Laufe des 18. Jahrhunderts vorwie- Handhabung der die Appellation vertretenden gend gegenüber kleinen Landesherren Brisanz Revision machten wiederholt Schwierigkeiten gewinnendes Problemfeld war das der uner- (Ostfriesland 1626 und 1662/63, Bischof zu Bam- laubten Vermehrung und Lenkung der Instan- berg 1761, Salzburger Bischof 1771).39 – Die Er- zen.44 Am Anfang stand wohl seit dem Ausgang streckung von Appellationsprivilegien auf nach- des 17. Jahrhunderts der Streit um eine zweite träglich erworbene Territorien ist eine altbe- Instanz der Reichsritter. Der Kaiser und die kannte, auch im 18. Jahrhundert relevante Prob- Reichsgerichte wollten nicht leiden, dass die lemsituation (kgl. Preuß. Regierung zu Cleve Reichsritterschaft im Rahmen ihrer Organisation 1749 und 1765).40 – Auch im 18. Jahrhundert oder aber auch einzelne Ritter eine Appella- überschritten iudices a quo, denen die eingelegte tionsinstanz errichteten (markante Entscheidun- Appellation rechtlich unzulässig oder unbe- gen der Reichsgerichte 1753, 1757, 1767, gründet erschien, ihre Befugnisse, indem sie das 1789/90).45 Es galt aber auch, die Tätigkeit von Verfahren – z.B. durch Aktenversendung an Kommissionen und Deputationen abzuwehren, eine Juristenfakultät – fortführten, die Akten- die abseits des ordentlichen, herkömmlichen übergabe verhinderten oder in die Vollstre- Instanzenweges aus vielfältigen und schwer ckung des Urteils eintraten. Es geht hier meist kontrollierbaren Gründen, doch oft mit den nicht allein um fehlende Rechtskenntnisse – die Parteien und der Appellation an die Reichsge- freilich in solchen Fallgestaltungen nicht selten richte nachteiligen Folgen, eingesetzt wurden nur vorgeschützt wurden –, sondern auch um (Stadt Augsburg 1743, ein mandatum poenale de die offenbar unausrottbare Vorstellung, dass die abstinendo ab multiplicatione instantiarum gegen eingelegte Appellation den iudex a quo beleidige. Baden noch 1805).46 Bereits 1737 stellte der Er konnte die Einlegung des Rechtsmittels pro Reichshofrat gegenüber dem Kölner Kurfürsten frivola erklären, die Appellationsschrift als „fa- klar, dass eine Münsteraner Kriminalsache, die mosschrift“41 deklarieren, um ihr so rechtswid- einer in Bonn niedergesetzten Kommission rig jede Wirkung abzusprechen. Einschlägige übertragen worden war, ad Judicem plane incom- (Geld-)Strafen trafen neben der appellierenden petentem gezogen worden sei.47 Die Bemühun- Partei zumeist auch deren Anwalt und/oder gen zur Sicherung der herkömmlichen Instan- Notar. Es wurde auch damit gedroht, Appellan- zenordnung verbanden sich in der zweiten Hälf- ten und ihre Sachwalter im Falle des Unterlie- te des 18. Jahrhunderts mit dem höchst aktuel- gens abzustrafen (Sachsen-Weimar 1734, Bent- heim-Steinfurt 1742, Schwäbisch-Gmünd 1760, 42 Ebd. 589ff., 592, 595. Stadt Bremen 1760, Stadt Köln 1760, Bamberg 43 Ebd. 573, 584587; WEITZEL, Der Kampf um die Appellation 255ff. 44 Ebd. 270ff., 283ff., 302ff. 37 Ebd. 572. 45 MOSER, Von der Teutschen Justiz-Verfassung 1, 566; 38 Ebd. 575f. WEITZEL, Der Kampf um die Appellation 305ff. 39 Ebd. 566, 575, 581f. 46 Ebd. 304. 40 Ebd. 567f. 47 MOSER, Von der Teutschen Justiz-Verfassung 1, 41 Ebd. 591. 1037. Der Reichshofrat und das irreguläre Beschneiden des Rechtsmittels der Appellation 173 len Vorwurf der Kabinettsjustiz.48 Im Kampf der Abkürzungen: Reichsgerichte gegen den meist kleinstaatlichen Siehe das allgemeine Abkürzungsverzeichnis: Despotismus gewann die persönliche Recht- http://www.rechtsgeschichte.at/files/abk.pdf sprechung des Landesherrn oder auch die seines Kabinettssekretärs mehr und mehr nicht nur die Literatur: Züge einer zu Unrecht bestehenden Instanz, sondern auch die Vermutung einer in der Sache Johann Ulrich von CRAMER, Wetzlarische Nebenstun- den, 128 Teile (Ulm 17551773, Hauptregister Ulm unfähigen oder gar willkürlichen Justiz. Die auf 1779). die Reichsgerichte zukommende Welle unzu- Bernhard DIESTELKAMP, Reichskammergericht und lässiger Kabinettsjustiz war sehr beachtlich: in Rechtsstaatsgedanke. Die Kameraljudikatur gegen den Jahren ab 1780 wurden u.a. die Bischöfe von die Kabinettsjustiz (= Juristische Studiengesell- und Passau, die Fürsten von Nassau- schaft Karlsruhe 210, Heidelberg 1994). Saarbrücken, Hohenlohe-Schillingsfürst und Ulrich EISENHARDT, Die kaiserlichen privilegia de non appellando (= Quellen und Forschungen zur Solms-Braunfels, die Grafen von Isenburg-Bü- höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 7, Köln dingen, Leiningen-Westerburg, Solms-Rödel- Wien 1980). heim, Solms-Laubach, Solms-Lich und die von DERS., Die Rechtswirkungen der in der Goldenen Wittgenstein in einschlägigen Erkenntnissen zu Bulle genannten privilegia de non evocando et appellando, in: ZRG GA 86 (1969) 7596. einer den Reichsgesetzen entsprechenden Ad- Johann Heinrich HARPPRECHT, Staats-Archiv des Kay- ministration der Justiz aufgefordert.49 – Selbst- serlichen und des Hl. Röm. Reichs Cammer- verständlich hatte auch die sehr schwierige Ab- Gerichts oder Sammlung von gedruckten und grenzung zwischen Justizsachen und Policey- mehrentheils ungedruckten Actis publicis, 6 Bde. sachen Appellationsbeeinträchtigungen im Ge- (Ulm 17571785). folge. Ich schließe mit einem Zitat aus einem Johann Jacob MOSER, Von der Teutschen Justiz-Ver- fassung, 2 Teile (= Neues Teutsches Staatsrecht 8/1 Reichshofrats-Conclusum, das im Jahre 1726 an- und 8/2, am MainLeipzig 1774, ND lässlich eines stadtinternen Streites in Frankfurt Osnabrück 1967). am Main erging: „Ihro Kayserl. Maj. wollten Eva ORTLIEB, Der Hofrat Kaiser Karls V. für das Reich dem Rath sein kühnes Unternehmen, die an als Reichshöchstgericht, in: Ignacio CZEGUHN u.a. (Hgg.), Die Höchstgerichtsbarkeit im Zeitalter Allerhöchstdieselbe gestellt gewesene Appella- Karls V.: eine vergleichende Betrachtung (= Schrif- tionen, unter dem Scheinnamen einer Policey- tenreihe des Zentrums für rechtswissenschaftliche sache, auf die Seite zu sezen, hiemit ernstlich Grundlagenforschung Würzburg 4, Baden-Baden verweisen“.50 2011) 3959. DIES., Vom königlichen/kaiserlichen Hofrat zum Reichshofrat, in: Bernhard DIESTELKAMP (Hg.), Das Reichskammergericht. Der Weg zu seiner Grün- Korrespondenz: dung und die ersten Jahrzehnte seines Wirkens (= Quellen und Forschungen zur höchsten Ge- Prof. i. R. Dr. Jürgen Weitzel richtsbarkeit im Alten Reich 45, KölnWeimar Julius-Maximilians-Universität Würzburg Wien 2003) 221289. Lehrstuhl für Deutsche und Europäische Rechtsge- Johann August REUSS, Teutsche Staatskanzley (Ulm schichte, Kirchenrecht und Bürgerliches Recht 17831803). Domerschulstr. 16, 97070 Würzburg, Deutschland [email protected] Matthäus Joseph SCHICK, Über das reichsständische Instanzen-Recht, deren unerlaubte Vervielfälti-

gung und insbesondere von der sogenannten Ca- 48 Vgl. DIESTELKAMP, Reichskammergericht. binets-Instanz (GießenDarmstadt 1802). 49 WEITZEL, Der Kampf um die Appellation 313. Wolfgang SELLERT (Hg.), Die Akten des Kaiserlichen 50 MOSER, Von der Teutschen Justiz-Verfassung 1, Reichshofrats, Serie I: Alte Prager Akten, Bd. 12, 1057. 174 Jürgen WEITZEL

bearb. v. Eva ORTLIEB, Serie II: Antiqua, Bd. 1, Jürgen WEITZEL, Der Kampf um die Appellation ans bearb. v. Ursula MACHOCZEK (Berlin 20092011). Reichskammergericht. Zur politischen Geschichte Christian SZIDZEK, Das frühneuzeitliche Verbot der der Rechtsmittel in Deutschland (= Quellen und Appellation in Strafsachen. Zum Einfluß von Re- Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Al- zeption und Politik auf die Zuständigkeit insbe- ten Reich 4, KölnWien 1976). sondere des Reichskammergerichts (= Konflikt, DERS., Zur Zuständigkeit des Reichskammergerichts Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alt- als Appellationsgericht, in: ZRG GA 90 (1973) 213 europas Fallstudien 4, KölnWeimarWien 2002). 245.

Zusammenfassung

Reichshofrat und Reichskammergericht bekämpften rechtswidrige Maßnahmen und Normen, die das Recht der Appellation an die Reichsgerichte einschränkten. Der Reichshofrat war allerdings nicht nur Gericht, sondern auch Rat des Kaisers. Als solcher konnte er auch tätig werden, wenn kein Appellations- prozess anhängig war. Zwischen 1495 und 1555 trug der Reichshofrat zur Konsolidierung des neuen Instruments der Appellation bei. Später entschied er Anträge von Fürsten und Städten auf neue oder erweiterte Appellationsprivilegien. Durch Geleitbriefe stärkte der Reichshofrat ganz generell das Recht und das gerichtliches Verfahren. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kontrollierte und rügte er massiv Fürsten und Städte, wenn sie die Regeln der Rechtsprechung verletzten. Seine Sensibilität für das Problem der illegalen Appellationsverbote und sein Erfolg in deren Bekämpfung variierten nach den jeweiligen Umständen.

Summary

The Imperial (“Reichshofrat”) as well as the Imperial Chamber Court (“Reichskammergericht”) fought against illegal measures and norms that restricted the parties´ right to appeal to the imperial courts. How- ever, the Imperial Aulic Council was not only a court but also the Emperor´s Council. Thus the Council could be active without an appeal being sub judice. During the period from 1495 to 1555 the Aulic Council contributed to the consolidation of the new instrument of appeal. Later on it judged when princes or towns filed a petition to obtain a new or an extended privilege of appeal. In appropriate letters of safe-conduct the Council strengthened right and process in a general way. During the second half of the 18th century the Imperial Aulic Council controlled and censured princes and towns in a massive way for ignoring the rules of jurisdiction. Attention given to the problem of illegally forbidden appeals and success in its suppression were of varying quality.