XII Einleitung

Die geistlichen Vokalwerke Bartholdys, die frühen Meisterwerk die Eindrücke wider, die der 16-Jährige in diesem Band ediert sind, weisen eine Vielfalt musikalischer von der französischen Kirchenmusik gewann. Bestimmt wurde Charakteristika auf, die vor allem durch den jeweiligen diese maßgeblich von Luigi Cherubini, dem Mendelssohn auch Entstehungshintergrund begründet sind und die sich in ihrer persönlich begegnete. Aus den Briefen Mendelssohns ist die musikalischen Faktur und Form ausdrücken. Der Band enthält Unzufriedenheit mit der vor allem „unernsten“ Kirchenmusik Werke für gemischten Chor und groß besetztes Orchester, so in Paris herauszulesen, wie ihn dort überhaupt „der Zustand das frühe fünfstimmige Kyrie MWV A 3, das vokalpolyphone der Musik gar nicht zufrieden stellt“1. Auf den 64-jährigen „Tu es Petrus“ MWV A 4, die doppelchörige Choralbear- Cherubini bezogen berichtete er: „Der ist vertrocknet und beitung „Herr Gott, dich loben wir“ MWV A20 und das acht- verraucht. Neulich hörte ich in der königlichen Capelle eine sätzige Auftragswerk Lauda Sion MWV A 24, die schlichten Messe von ihm, die war so lustig, wie er brummig ist, d. h. über Choralharmonisierungen mit Gemeindegesang „Allein Gott alle Maaßen. […] Kurz, ich behaupte, daß Cherubini, der in der Höh sei Ehr“ MWV A 21 und „Vom Himmel hoch, da einzige Mensch ist, auf den Klingemanns Wort mit dem ausge- komm ich her“ MWV A 22 sowie die Stücke für Solostimme brannten Vulcan paßt. Er sprüht noch zuweilen, aber er ist und Instrumente Salve Regina MWV C 2, Ave maris stella ganz mit Asche und Steinen bedeckt.“2 Gleichwohl ließ sich MWV C 3 (beide für Sopran) und das Tenor-Accompagnato Mendelssohn für sein Kyrie von der Kirchenmusik Cherubinis „The Lord God Almighty“ MWV C 4. Keine der neun inspirieren. Das wird vor allem hörbar im markanten, imitie- Kompositionen wurde zu Lebzeiten Mendelssohns publiziert, rend einsetzenden Motiv ab T. 37, welches das Motiv des Kyrie wenngleich Drucklegungen des „Tu es Petrus“ und des Lauda II aus Cherubinis Messe solennelle per il Principe Esterházy in Sion geplant waren. d-Moll aus dem Jahr 1811 zitiert.3 Ebenso deuten tonartliche Dieser heterogene Werkkorpus spiegelt nicht nur in singulärer Übereinstimmung und klangliche Parallelen des Mendelssohn- Weise die Vielfalt der kompositorischen Mittel der Mendels- schen Kyrie mit dieser Messe Cherubinis an, in welche sohnschen Tonsprache wider, sondern ist auch Abbild einer Tradition der junge Komponist dieses offensichtlich einzu- Entwicklung des kirchenmusikalischen Schaffens sowohl des reihen gedachte.4 Komponisten als auch seiner Zeit. Sodann berichtete Felix Mendelssohn Bartholdy am 9. Mai stolz und selbstbewusst seiner Schwester Fanny: „Ich habe dieser Kyrie MWV A 3 Tage ein Kyrie gemacht, a 5 voci und grandissimo Orchester, das an Dickigkeit, alles übertrifft, was ich je zusammengesetzt Bis ins 20. Jahrhundert ungedruckt blieb das Kyrie für ge- (com ponirt) habe. Es kommt auch ziemlich viel Pizzicato drin mischten Chor und Orchester MWV A 3, Mendelssohns dritte vor, und was die Posaunen betrifft, da ist auf eine gute groß besetzte geistliche Komposition nach dem Gloria MWV Luftröhre der Bläser gerechnet.“5 Am selben Tag teilte sein A 1 und dem Magnificat MWV A 2. Die einzige erhaltene Vater mit: „Morgen früh bringt Felix sein hier verfertigtes Niederschrift ist die auf den 6. Mai 1825 datierte autographe Kyrie an Cherubini“6. Tatsächlich hatte dieser für den 12. Mai Partitur. Zu dieser Zeit hielt sich der junge Komponist mit eine Einladung zu Cherubini, um „avoir le plaisir de le voir, et seinem Vater in Paris auf. Zweifellos spiegeln sich in diesem d’achever d’examiner son Kyrie“7. Doch war das Stück nicht

1 Brief vom 6. April 1825 an Lea und Bartholdy und Carl Wilhelm Ludwig Heyse, Music Division, New York Public Library for the Performing Arts, Astor, Lenox and Tilden Foundations, *MNY++ Mendelssohn Bartholdy, Felix, family letters (im Folgenden: US-NYp, Familienbriefe), Nr. 23, gedruckt in: Rudolf Elvers (Hrsg.), Felix Mendelssohn Bartholdy. Briefe, Frankfurt am Main 1984, S. 42–47, das Zitat S. 42. 2 Ebd. Bei der gehörten Messe handelt es sich, wie bereits Susanna Großmann-Vendrey, Felix Mendelssohn Bartholdy und die Musik der Vergangenheit, Regensburg 1969 (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Band 17), S. 21, erwähnt, um die polystilistische, vor allem im Kyrie dem zeitgemäßen Opernstil folgende Messe de Chimay in F-Dur aus dem Jahr 1809. Zum Eindruck, den wiederum der junge Mendelssohn auf Cherubini machte, siehe vor allem Ralf Wehner, Studien zum geistlichen Chorschaffen des jungen Felix Mendelssohn Bartholdy, Sinzig 1996 (= Musik und Musikanschauung im 19. Jahrhundert. Studien und Quellen, Band 4) (im Folgenden: Ralf Wehner, Chorschaffen), S. 162. 3 Die Messe d-Moll resultierte aus dem – wohl aus finanziellen Gründen letztlich gescheiterten – Vorhaben Nikolaus II. Fürst Esterházys, Cherubini zu seinem Kapellmeister zu ernennen. Diese Messe steht demnach nicht nur hinsichtlich ihrer musikalischen Form in der Tradition der sechs letzten Messen Joseph Haydns sowie der C-Dur-Messe Ludwig van Beethovens. 4 Zu berücksichtigen ist dabei, dass allgemeine Aspekte wie Tonart, Klangfarbe, punktierte Figuren auf das Textwort „Kyrie“, aber auch Elemente der Themenbehandlung u. ä. ebenso auf andere bedeutende zeitgenössische Werke der Gattung, aber auch auf Mozarts Requiem und Bachs h-Moll-Messe verweisen und somit kaum als Beweise für eine „Huldigungskomposition“ gelten können, wie dies R. Larry Todd im Vorwort seiner Ausgabe Felix Mendelssohn Bartholdy. Kyrie in d, Stuttgart 1986, S. 3 ausführt. Vgl. dazu auch Ralf Wehner, Chorschaffen [Anm. 2], S. 165–166. Zudem ist freilich – wie bei allen Kompositionen der frühen Jahre – davon auszugehen, dass Carl Friedrich Zelter im Zuge des Unterrichts den eigentlichen Anstoß zur Vertonung dieses Ordinariumsteiles gab. 5 Brief vom 9. Mai 1825 von Abraham und Felix Mendelssohn Bartholdy an Lea, Fanny und Rebecka Mendelssohn Bartholdy, US-NYp, Familienbriefe, Nr. 27, dieser Teil des Briefes zuerst gedruckt in: Karl Mendelssohn Bartholdy, Goethe und Felix Mendelssohn Bartholdy, Leipzig 1871, S. 29. 6 Ebd. 7 Brief vom 11. Mai 1825 von Luigi Cherubini an Felix Mendelssohn Bartholdy, Bodleian Library, University of Oxford (im Folgenden: GB-Ob), MS. Autogr. b. 10, S. 813–814. XIII exklusiv für Cherubini bestimmt oder gar auf Wunsch doch nun seit mehreren Jahrhunderten Musik machen, und in Cherubinis komponiert,8 da Mendelssohn die Partitur wieder ihren Hauptkirchen wo möglich alle Sonntag eine musikali- mit nach Berlin nahm. So entspricht es wohl auch nicht ganz sche Messe singen, bis heute noch nicht eine einzige besitzen, den Tatsachen und muss im Übrigen als stolze Übertreibung von der man sagen könnte, daß sie nur erträglich passend, nur des Lehrers entschuldigt werden, wenn Carl Friedrich Zelter nicht geradezu störend und opernhaft sei. […] Wäre ich am 28. Mai 1825, also etwa eine Woche nach Rückkehr der Katholik, ich setzte mich gleich heute Abend hin und finge an, Mendelssohns aus Paris, an Johann Wolfgang von Goethe und es möchte werden wie es wolle, so würde es die einzige schrieb: „Er hat dem Cherubini ein Kyrie dort angefertigt das Messe, welche wenigstens mit fortdauernder Erinnerung an den sich hören und sehen läßt um so mehr als der brave Junge nach kirchlichen Zweck geschrieben wäre. Aber ich will es vorläufig seinem Gewandten Naturell das Stück fast ironisch in einem nicht thun; – vielleicht einmal später, wenn ich älter bin.“11 Geiste verfaßt hat der, wenn auch nicht der Rechte doch ein 1839 schickte ihm der mit Mendelssohn schon länger in engem solcher ist den Cherub. stets gesucht und, wenn ich nicht sehr Kontakt stehende Appellationsrat Erich Heinrich Wilhelm irre nicht gefunden hat.“9 Gleichwohl irrte Rudolf Werner, Verkenius (1776–1841) aus Köln, Kuratoriumsmitglied der dem die Partitur nicht bekannt war, als er vermutete: „Wenn Niederrheinischen Musikfeste, ein römisches Messbuch zu, auch Zelters Mitteilung von einer gewollten Anlehnung an woraufhin der Komponist verlauten ließ: „An die Messe denke Cherubinische Art mit Vorsicht aufzunehmen ist, so muß ich oft, aber leider ohne daran zu schreiben.“12 dieses Kyrie doch eine rasch hingeworfene Arbeit gewesen sein, Für eine geplante spätere Verwendung dieses frühen Meister- die nicht dem inneren Drang entsprang und der Entfaltung werks spricht auch die Tatsache, dass sich, obwohl sich die eigner Individualität wenig Raum ließ.“10 Das Kyrie ist einer- einzige Niederschrift zeitlebens im Besitz Mendelssohns seits durchaus als stringente Weiterentwicklung des Cherubi- befunden haben muss, keine öffentliche Aufführung des Kyrie nischen Kirchenstils zu verstehen, markiert aber andererseits nachweisen lässt. Einzig eine private Aufführung am Klavier dennoch und trotz der thematischen und klanglichen Reminis- am 13. Oktober 1825 ist belegt durch Sir George Smart zenzen einen wesentlichen Schritt in Richtung eines individu- (1776–1867), der sich zu dieser Zeit im Hause Mendelssohn ellen Kirchenstils Mendelssohns. In seiner orchestralen und aufhielt: „Young Mendelssohn […] played a clever kyrie of his kontrapunktischen Anlage entspricht es dem zeitgemäßen own composition, the voice parts well put together but difficult. Ideal der Erhabenheit und zeugt hinsichtlich der kompositori- He uses two sopranos for the cantos and another soprano for schen Mittel von erstaunlicher handwerklicher Reife. the alto, this being the usage in the academy he studied in at Die Komposition ist lediglich mit den Textworten „Kyrie Berlin.“13 Möglicherweise haben Stimmen für eine Aufführung eleison“ unterlegt; da somit der Textbaustein „Christe eleison“ – vermutlich durch die Singakademie zu Berlin – existiert. Ein fehlt, ist streng genommen eine liturgische Verwendung nicht Hinweis darauf findet sich in einer von Fanny Hensel 1835 möglich. Es wäre allerdings verfehlt, es deshalb als unvollstän- erstellten Liste im Zusammenhang mit dem Umzug aus Berlin: diges „Übestück“ anzusehen. Vielmehr muss man heute davon „Katalog der von Felix in Berlin hinterlassenen und nach Leipzig ausgehen, dass es als Kyrie I (oder Kyrie II) Teil einer mehrsät- zu schickenden Sachen […] Notene Sachen […] Mendelssohn zigen, groß dimensionierten Missa hätte sein sollen, ja vielleicht Camacho, leeres Notenbuch, Altes Compositionsbuch, dito, als solcher schon von Anfang an konzipiert war. In den folgen- Stimmen zu Camacho, Sommernachtstr. St., Ouvertüre c. St., den Jahren beschäftigte den Komponisten stark das Vorhaben, Liederspiel St., Fuga St., Concert g m St., Kyrie St., Octett St., eine katholische Messe zu schreiben. Deutlich äußerte er 2 Doppelconcerte St., Ouvert. Melusine St., Walpurgisnacht dies in einem Brief an den befreundeten Pastor Albert Baur St.“14. Die Partitur wiederum galt ca. ein Jahrhundert lang als (1803–1886) aus Belzig und legte bei dieser Gelegenheit selbst- verloren. Zwar wusste Julius Rietz beim Verfassen des bewusst die Gründe dar: „Wenn Du aber sagst, ‚unsre arme „Verzeichniß der sämmtlichen musikalischen Compositionen Kirche‘, so muß ich Dir wunderhalber erzählen, daß ich zu von Felix Mendelssohn Bartholdy“15 von diesem Werk und meinem Erstaunen gefunden habe, daß die Katholiken, die erwähnte es als „Kyrie für 5stimmigen Chor und Orchester.

8 So Rudolf Werner, Felix Mendelssohn Bartholdy als Kirchenmusiker, Frankfurt am Main 1930 (im Folgenden: Rudolf Werner, Kirchenmusiker), S. 30. 9 Zitiert nach: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, Münchner Ausgabe, hrsg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm, Band 20.I Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832, hrsg. von Hans-Günter Ottenberg und Edith Zehm in Zusammenarbeit mit Anita Golz, Jürgen Gruß, Wolfgang Ritschel und Sabine Schäfer, München 1991, S. 846. 10 Rudolf Werner, Kirchenmusiker [Anm. 8], ebd. 11 Brief vom 12. Januar 1835 an Albert Baur, Standort unbekannt, zitiert nach: Briefe aus den Jahren 1833 bis 1847 von Felix Mendelssohn Bartholdy, hrsg. von Paul und Carl Mendelssohn Bartholdy, Leipzig 1863 (im Folgenden: Briefe aus den Jahren 1833 bis 1847), S. 75–77, das Zitat S. 76. 12 Brief vom 13. Dezember 1839 an Erich Heinrich Wilhelm Verkenius, Standort unbekannt, zitiert nach: Ernst Wolff, Briefe von Felix Mendelssohn Bartholdy an Kölner Freunde, in: Rheinische Musik- und Theater-Zeitung 10 (1909), Nr. 9, S. 137. Die Nachricht über eine angeblich vor 1830 von Mendelssohn komponierte Messe für den Rektor Johannes Latzel (1778–1830) in Reinerz, die laut Sekundärliteratur verbrannt sein soll, gehört mit Sicherheit ins Reich der Legenden. Vgl. Paul Dengler, Geschichte des Bades Reinerz, Reinerz 1903, S. 59 und Ralf Wehner, Einleitung zu Serie VI, Band 4 dieser Ausgabe, S. XIII, besonders Anm. 8. 13 H. Bertram Cox and C. L. E. Cox, Leaves from the Journals of Sir George Smart, London 1907, S. 173. 14 Brief vom 3. November 1835 von Fanny Hensel an Felix Mendelssohn Bartholdy, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 30, Green Books IV-204. Vgl. dazu auch Kritischer Bericht sowie Serie III, Band 5 dieser Ausgabe, Kritischer Bericht, S. 183, Quellenbeschreibung, Quelle B. 15 In: Briefe aus den Jahren 1833 bis 1847 [Anm. 11], S. 499–520. XIV

1825.“16, hatte aber offenbar bei der Gesamtausgabe der Werke Fanny, die an diesem Tag ihren 22. Geburtstag feierte.21 Die Mendelssohns keinen Zugang zur Quelle. George Grove Beschenkte war äußerst angetan: „Er hat sich überhaupt in der musste 1880 konstatieren: „it seems to have been lost“17. Erst letzten Zeit der Kirchenmusik zugewendet; zu meinem 1964 erschien ein Klavierauszug in Oxford, der Herausgeber Geburtstag hat er mir ein Stück gegeben, neunzehnstimmig für Ralph Leavis hatte dafür Zugang zur Quelle aus damaligem Chor und Orchester, über die Worte ‚Du bist Petrus und auf Privatbesitz, von wo sie 1970 in die Bodleian Library in diesen Fels will ich meine Kirche gründen‘ (aber lateinisch). Ich Oxford gelangte.18 halte es für ein sehr bedeutendes Werk, glaube aber, dass es seine volle Würdigung nur in einer Aufführung finden kann, wozu „Tu es Petrus“ MWV A 4 wieder eine grosse Kirche und mancherlei Anstalten gehören. Sie sehen, wie plausibel das ist.“22 Das Dilemma des Stückes ist 1827 machte Mendelssohn in Heidelberg die folgenreiche Be- hier treffend auf den Punkt gebracht. Trotz der hohen musika- kanntschaft mit Anton Friedrich Justus Thibaut (1772–1840). lischen Qualität fehlten für eine entsprechende Rezeption der Der bedeutende Kirchenmusikreformer hatte in seiner zuvor liturgische Rahmen einerseits und leistungsfähige Musiker erschienenen Schrift „Ueber Reinheit der Tonkunst“19 die andererseits, die imstande gewesen wären, das groß besetzte, Rückbesinnung auf die a cappella ausgeführte Vokalpoly- aber zugleich durch eine relativ kurze Aufführungsdauer phonie des 16. Jahrhunderts verfochten und sie zum Ideal der gekennzeichnete Werk angemessen zu Gehör zu bringen. Kirchenmusik erklärt. In der Folge entstand eine Bewegung, Der direkte Einfluss Thibauts auf Mendelssohns „Tu es Petrus“ die Komponisten wie Giovanni Pierluigi da Palestrina und zeigt sich in der weitgehend vokalpolyphonen Anlage, den Tomas Luis de Vittoria ins öffentliche Bewusstsein zurück- modalen Anklängen, den strukturellen Motiv- und Abschnitts- führte, deren Kompositionen als Vorbilder für zeitgenössische bildungen und nicht zuletzt dem Partiturbild, das optisch von liturgische Musik deklarierte und sich schließlich zum der Brevis bestimmt ist. Der fünfstimmige Chor im stile antico Caecilianismus entwickelte. Mendelssohn berichtete anschau- ist allerdings eingebettet in das Klangbild eines zeitgenössi- lich am 20. September des Jahres: „Gestern Nachmittag wurde schen Orchestersatzes.23 Letztlich gilt das Stück als tatsächliche das Wetter schlecht, und die Langeweile unter uns Dreien Fortführung der Ambitionen des Kyrie MWV A 3, verbunden groß, da fiel mir ein, daß T. in seinem Buche von einem Tu es mit den Erfahrungen der Begegnung mit Justus Thibaut. Und Petrus! gesprochen hatte, und weil ich nun denselben Text doch nimmt es im Schaffen Mendelssohns zugleich eine sin- gerade componire, so faßte ich ein Herz und einen Frack, und guläre Position ein. Mendelssohn selbst war begeistert und ging gerade zu ins Kaltethal, falle ins Haus.“20 berichtete Carl Klingemann (1798–1862): Einige neue Kom- Ein Großteil seiner Komposition des „Tu es Petrus“ war denn positionen und „ein grosses Tu es Petrus (das wohl mein auch schon vor Mendelssohns Rückkehr nach Berlin fertigge- gelungenstes Stück ist) […] zeigen wenigstens, dass mein Herz stellt. Mendelssohn datierte das Kompositionsautograph auf nicht staubig geworden.“24 Und Adolf Fredrik Lindblad den 14. November 1827 und schenkte es seiner Schwester (1801–1878) schrieb er: „Auserdem [sic] habe ich ein ‚Tu es

16 Ebd., S. 516. 17 George Grove, Artikel Mendelssohn, in: Ders. (Hrsg.), A Dictionary of Music and Musicians, Band 2, London 1880, S. 257. 18 Zur Provenienz dieser einzigen Quelle siehe Kritischer Bericht, Quellenbeschreibung. 19 Erstmals erschienen 1824 in Heidelberg, 1826 folgte ebenda bereits die 2. Auflage. 20 Brief vom 20. September 1827 an Lea, Abraham und Fanny Mendelssohn Bartholdy, US-NYp, Familienbriefe, Nr. 46, gedruckt in: S[ebastian] Hensel, Die Familie Mendelssohn 1729–1847. Nach Briefen und Tagebüchern, Berlin 1879 (im Folgenden: S. Hensel, Die Familie Mendelssohn), Band 1, S. 164–166, das Zitat S. 165. Im selben Brief charakterisiert er Thibaut und beschreibt dessen Einfluss auf sein eigenes Schaffen: „[…] es giebt nur einen Thibaut, aber der gilt für sechse. Das ist ein Mann! […] [er] weiß wenig von Musik, selbst seine historischen Kenntnisse darin sind ziemlich beschränkt, er handelt meist nach bloßem Instinct, ich verstehe mehr davon, als er – und doch habe ich unendlich von ihm gelernt, bin ihm gar vielen Dank schuldig. Denn er hat mir ein Licht für die alt=Italienische Musik aufgehen lassen, an seinem Feuerstrom hat er mich dafür erwärmt. Das ist eine Begeisterung und eine Glut, mit der er redet, das nenne ich eine blumige Sprache! […] So sprach er zum Abschiede: ‚Leben Sie wohl, und unsere Freundschaft wollen wir an den Luis de Vittoria und den Sebastian Bach anknüpfen‘.“, ebd., S. 164–165. 21 Diese Praxis war fast eine Gewohnheit für den Komponisten geworden: „Du weißt daß ich sonst Lieblingsstücke mir bis zu dem Tage aufsparte, um dann auf die letzte Seite den 14ten November hinmalen zu können; das habe ich denn nun hier auch mit meiner Ouvertüre zu Melusina gethan, malte recht lang ud. sorgfältig an den letzten Clarinetten und Flöten, ud. sah mir dann die ganze Partitur lustig durch, wie auch die von meinen beiden DoppelConcerten, vom Petrus ud. Hora est.“, Brief vom 14. November 1833 an Fanny Hensel, US-NYp, Familienbriefe, Nr. 212, erster Brief, zuerst gedruckt in: Eva Weissweiler (Hrsg.), Fanny und Felix Mendelssohn. Briefwechsel 1821 bis 1846, Berlin 1997, S. 140–142, das Zitat S. 141. Das Autograph des „Tu es Petrus“ ist wohl auch nach Fanny Hensels Tod nicht mehr in den Besitz Felix Mendelssohn Bartholdys gelangt; denn es ist im Nachlass- Band 47 überliefert, der zu jenen Bänden gehört, die nicht im Nachlass-Katalog, sondern erst im Schenkungsvertrag 1878 erwähnt sind. Siehe dazu Ralf Wehner, Felix Mendelssohn Bartholdy. Thematisch-systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke (MWV). Studien-Ausgabe, Wiesbaden etc. 2009, S. XIV. 22 Brief vom 23. Dezember 1827 von Fanny Mendelssohn Bartholdy an Carl Klingemann, Standort unbekannt, zitiert nach: S. Hensel, Die Familie Mendelssohn [Anm. 20], Band 1, S. 181. Im selben Brief äußerte sie ferner scherzhaft die Befürchtung, „er möchte katholisch geworden sein“ (ebd.) angesichts der intensiven Zuwendung seines Bruders zur Gattung Kirchenmusik. 23 Aus dieser Tatsache entspann sich die nominal-definitorische und deshalb letztlich hinfällige Kontroverse, ob es sich hierbei um einen stile antico in einem solchen Sinne handelt, bei dem sich Mendelssohn vor allem direkt an der Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts orientiert oder aber in größerem Umfang orientiert am stile antico eines Johann Sebastian Bach. Vgl. dazu Ralf Wehner, Chorschaffen [Anm. 2], S. 194–199 und Ulrich Scheideler, Komponieren im Angesicht der Musikgeschichte. Studien zur geistlichen a-cappella-Musik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Umkreis der Sing-Akademie zu Berlin, Berlin 2010 (= Musikwissenschaft an der Technischen Universität Berlin, Band 11), besonders S. 219–246. 24 Brief vom 5. Februar 1828 an Carl Klingemann, Standort unbekannt, zitiert nach: Felix Mendelssohn-Bartholdys Briefwechsel mit Legationsrat Karl Klingemann in London, hrsg. und eingeleitet von Karl Klingemann [jun.], Essen 1909 (im Folgenden: Briefwechsel mit Klingemann), S. 48. XV

Petrus‘ für Chor und Orchester alles in allem 19stimmig machte, fehlen die Belege. Eine mögliche Aufführungspartitur gemacht, welches mein bestes Stück ist“25. hat sich zwar in einer Abschrift30 erhalten, die aus dem Ob es sich bei der von Fanny Mendelssohn Bartholdy in ihrem Nachlass Schelbles von seiner Witwe Aug. Amalie Schelble, Tagebuch geschilderten Begebenheit um die erste Aufführung genannt Molly, zusammen mit den jeweils Schelble gewidme- des Stückes handelte, bleibt unklar; jedenfalls notierte sie am ten Autographen des Chorals „Ach Gott, vom Himmel sieh Mittwoch, dem 1. April 1829: „Mont. früh spielte F in der darein“ MWV A 13 und des „Ave Maria“ MWV B 19 für Garnisonkirche. Etwas Furchtbareres habe ich nie gehört, als 3,40 fl. an den Cäcilienverein verkauft wurde.31 Doch scheint den ersten Chor aus der Passion, wie ihn F. spielte. Nichts klang das „Tu es Petrus“ als einziges der Mendelssohn-Werke, die in darauf als Tu es Petrus, welche ungeheuer ist. Es war sehr schön: Frankfurt zu dieser Zeit nachweisbar sind, nicht unter das werden wir nicht mehr hören, wenn Felix fort ist.“26 Wie Schelbles Leitung zur Aufführung gebracht worden zu sein.32 beim darauffolgenden Eintrag vom Mittwoch, dem 8. April, Die Meldung des Komponisten aus London im Sommer 1829 handelte es sich möglicherweise aber nur um eine Adaption für an die Familie legt eine avisierte Aufführung in England nahe: Orgel: „Freitag […] Nach Tisch in die Parochialkirche, wo F. „Mein SommerNsTr. bleibt hier für das Philharm. das ihn Orgel spielte. Den ersten Chor 2mal, den letzten Chor, ‚nun verlangt hat. Ebenso mein Choral ‚Wer nur den lieben Gott‘ u. rufst du mich‘ mehrere Orgelsachen, und zuletzt im Dämmern wahrscheinlich der Petrus für die festivals“33. Eine Abschrift34 Tu es Petrus. Es war sehr poetisch.“27 Eine Aufführung durch schenkte Mendelssohn sodann dem befreundeten Thomas die Singakademie zu Berlin scheint naheliegend, da sich eine Attwood (1765–1838), Organist an St. Paul’s Cathedral, Abschrift in deren Besitz befand, wie aus einem Begleitbrief Professor der Royal Academy of Music und Mitglied der Carl Friedrich Rungenhagens an die Witwe Cécile Mendels- London Philharmonic Society. Die Abschrift enthält eine ganze sohn Bartholdy zur Übersendung des Autographs des Te Deum Reihe autographer Eintragungen sowie eine autographe MWV B 15 hervorgeht: „Das Werk [Te Deum] schrieb der Widmung auf dem Titelblatt vom 18. November 1829. Zu Verewigte im Jahre 1826 unter Leitung Seines würdigen dieser Zeit hielt sich Mendelssohn auf dem Landgut Norwood Meisters; auch das ‚Tu es Petrus‘ das ‚Hora est‘ und die Cantate Surrey auf, um eine Verletzung seines Beines auszukurieren, zum Dürerfeste, welche die S. A. in Abschrift besitzt, entstanden die ihn über mehrere Woche daran hinderte, am gesellschaftli- auf gleiche Veranlassung.“28 Die geplante, wohl erste öffentliche chen und musikalischen Leben Englands teilzunehmen. Aufführung der „Motette“ am 8. Mai 1828 durch die Singakade- Offenbar nutzte der Komponist die Gelegenheit, die Kopie mie zusammen mit der Wiederaufführung der Festmusik MWV des „Tu es Petrus“ durchzusehen und darin sporadisch Stimm- D 1 und einer „Ouvertüre von J. S. Bach“ musste aber kurzfri- führungen, Textunterlegungen und Bogensetzungen zu ändern, stig abgesagt werden.29 Wann das „Tu es Petrus“ erstmals in bevor er die Partitur seinem Gastgeber Attwood zueignete. Berlin erklang, lässt sich somit nicht feststellen. Doch eine öffentliche Aufführung gab es auch in London sehr Auch für eine Aufführung durch den Cäcilienverein Frankfurt wahrscheinlich nicht. am Main unter der Leitung von Johann Nepomuk Schelble Zuvor hatte Mendelssohn in Wien einem bis vor kurzem unbe- (1789–1837), der sich im Übrigen außerordentlich um die kannten Schreiber die Anfertigung einer weiteren Kopie des Rezeption der frühen Kirchenmusik Mendelssohns verdient „Tu es Petrus“ erlaubt und diese eigenhändig betitelt. Ein

25 Brief vom [19. Februar und] 22. April 1828 an Adolf Fredrik Lindblad, Basel, Paul-Sacher-Stiftung, Sammlung Grumbacher, Ref. No. 203, zitiert nach: Bref till Adolf Fredrik Lindblad från Mendelssohn, Dohrn, Almqvist, Atterbom, Geijer, Fredrika Bremer, C. W. Böttiger och andra, Stockholm 1913, S. 22. 26 Zitiert nach: Fanny Hensel. Tagebücher, hrsg. von Hans-Günter Klein und Rudolf Elvers, Wiesbaden etc. 2002, S. 12. 27 Ebd., S. 13. 28 Brief vom 4. Januar 1849 von Carl Friedrich Rungenhagen an Cécile Mendelssohn Bartholdy, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv (im Folgenden: D-B), in: Mus. ms. autogr. F. Mendelssohn Bartholdy 46. Faksimile-Abdruck in: Serie VI, Band 1 dieser Ausgabe Tedeum, hrsg. von Werner Burkhardt, Leipzig 1976, S. X. Der Verbleib der erwähnten Abschrift ist nicht bekannt (vgl. Kritischer Bericht, Quellenbeschreibung, Quelle [D]). 29 Siehe dazu Serie VII, Band 1 dieser Ausgabe Festmusik („Dürer-Festmusik“) MWV D 1, hrsg. von Annette Thein und Birgit Müller, Einleitung S. XX und dort besonders Anm. 81. Auf diese nur geplante Aufführung bezieht sich offensichtlich Wm. A. Little, Mendelssohn and the Berlin Singakademie: The Composer at the Crossroads, in: R. Larry Todd (Hrsg.), Mendelssohn and his World, Princeton (NJ) 1991, S. 67: „In 1828 he conducted his motet, Tu es Petrus (op. 111), and his cantata written for the Albrecht Dürer Festival.“ 30 Siehe Kritischer Bericht, Quellenbeschreibung, Quelle H. 31 Vgl. Oskar Bormann, Johann Nepomuk Schelble. 1789–1837. Sein Leben, sein Wirken und seine Werke. Ein Beitrag zur Musikgeschichte in Frankfurt am Main, Diss. Frankfurt am Main [1926] (im Folgenden: Oskar Bormann, Schelble), Anhang III. Der Nachlaß Schelbles, S. 91–92. Carl Heinrich Müller, Felix Mendelssohn, Frankfurt a. M. und der Cäcilien-Verein II, in: Volk und Scholle, Jg. 3, Heft 11 (1925), S. 338, zählt zu der Gruppe der aus Schelbles Privatbesitz stammenden alle Handschriften des Cäcilienvereins, doch befanden sich die Choralbearbeitung „O Haupt voll Blut und Wunden“ MWV A 8 (im Konvolut Mus. Hs. 194, MWV Sammelhandschrift 12) sowie das Jube Dom’ne MWV B 10 und das Kyrie c-moll MWV B 12 (vgl. Oskar Bormann, Schelble, ebd., S. 91) beim Tod Schelbles bereits in der Sammlung des Vereins. 32 Vgl. Oskar Bormann, Schelble [Anm. 31], Anhang IV. Uebersicht über die Aufführungen des Cäcilienvereins von der Gründung an bis zum Todesjahr Schelbles. 1818–1837. Nach den Verzeichnissen im Archiv des Cäcilienvereins zusammengestellt, S. 95–111. Die Akten des Vereins sind nicht erhalten; es besteht allerdings kaum Grund, an den Ausführungen Bormanns zu zweifeln. Auch der – möglicherweise nur partiell erhaltene – Briefwechsel von Schelble und Mendelssohn enthält keine Hinweise einer geplanten oder stattgehabten Aufführung. 33 Brief vom 17. Juli 1829 an Abraham Mendelssohn Bartholdy, US-NYp, Familienbriefe, Nr. 72, zuerst gedruckt in: S. Hensel, Die Familie Mendelssohn [Anm. 20], Band 1, S. 239 –240. 34 Siehe Kritischer Bericht, Quellenbeschreibung, Quelle C. XVI

Schenkungsvermerk auf dem Titelblatt vom 15. November Piatkowski erbetene „Reformations-Sinfonie“ MWV N 15, 1850 an den Pianisten und Komponisten Joseph Christoph die Mendelssohn wegen ihrer „jugendlichen Unvollkommen- Kessler (1800–1872) stammt von Franz von Piatkowski.35 Ein heit“ nicht hergeben wollte und Piatkowski stattdessen auf unveröffentlichter Brief von Piatkowski an Mendelssohn seine bereits bei Schlesinger als op. 11 erschienene Sinfonie aus dem Jahr 1838 verrät den Schreiber der Quelle: „Den Tu Nr. 1 MWV N 13 verwies, erklang am 18. Juni 1841 in es Petrus, wovon Sie mir eine Abschrift gestattet, und das Lemberg, wohl schon unter Piatkowskis Leitung.41 Doch Titelblatt selbst geschrieben haben, bewahre ich als Document, wenngleich Piatkowski in der Folge auch die Kirchenmusik und wünsche nichts sehnlicher, als daß Sie uns recht bald mit Lembergs wesentlich prägte und dabei große vokalinstrumen- neuen Werken erfreuen mögen.“36 Mendelssohns Antwort tale Werke zu Aufführungen brachte,42 lässt sich ausgerechnet lässt Rückschlüsse auf die enge Beziehung der beiden im vom „Tu es Petrus“ keine Aufführung nachweisen.43 August und September 1830 in Wien zu: „Wohl bedurfte es Und schließlich tragen auch die beiden Abschriften von nicht […] der Erinnerung an die Herren Hauser ud Friedrich Louis Weissenborn (1815–1862), die erst in den Goldschmidt um mir Ihr Andenken zurückzurufen, das in 1840er Jahren entstanden sein können und von denen eine meinen damaligen Aufenthalt in Wien so fest verflochten ist; dem Notenbestand des Gewandhauses angehörte, keine wie oft habe ich an diese frohe, frische Zeit gedacht ud an die Aufführungsspuren.44 vergnügten Stunden die wir damals zusammen verlebten.“37 Dennoch zeugt allein die relativ hohe Anzahl von mindestens Am Schluss des Briefes heißt es: „Wie freut es mich, daß neun Abschriften von der großen Beliebtheit des Stückes. Sie sich immer noch meiner erinnert und an meiner Musik Schon im Jahr 1830 sah Mendelssohn den Druck vor. Adolph Vergnügen gefunden haben!“38 Piatkowski war k.u.k. Landes- Bernhard Marx (1795–1866) sollte eine Abschrift, deren Aus- advokat, hatte um 1830 in Wien studiert und lebte dann in fertigung Mendelssohns Mutter veranlasst hatte, an den Verlag Lemberg, wo er den Galizischen Musikverein mitbegründete Simrock in Bonn verkaufen.45 Falls dies nicht gelingen sollte, und ihn ab spätestens 1844 als Musikdirektor39 mehrere Jahre plante Mendelssohn die Drucklegung bei Mechetti in Wien. lang leitete, wobei er auch Mendelssohnsche Kompositionen Von dort schrieb er an Eduard Devrient (1801–1877): „[…] ich aufführte.40 Die in dem kurzen Briefwechsel 1838 von bitte Dich Marx zu fragen, ob er den Petrus in Bonn an

35 Die Partitur gelangte 1855 mit der Übersiedelung Kesslers wieder zurück nach Wien. Siehe dazu Kritischer Bericht, Quellenbeschreibung, Quelle G. 36 Brief [vom 14. April 1838] von Franz von Piatkowski an Felix Mendelssohn Bartholdy, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 33, Green Books VII-185. Ein weiterer Hinweis auf Piatkowski und auf die Provenienz der Handschrift findet sich im Brief vom 19. Dezember 1840 von Gustav Carl Lipinsky (1790–1861) an Felix Mendelssohn Bartholdy bezüglich eines Austausches von Portraits: „Bey meiner Abreise von Lemberg, ersuchte mich der Hr Landes und Gerichts Advokat Dr Franz Piatkowski auch Vorstand des galizischen Musik-Vereins – der sich Ihrer näheren Bekanntschaft von Wien aus rühmt und auch Ihr Oratorium ‚Tu es Petrus‘ in Manuskripte besitzt – Sie, Hochgeerter Herr! seinerseits zu bitten: […]“, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 38, Green Books XII-156. Lipinsky war bis 1836 Kapellmeister in Lemberg und ab 1839 Konzertmeister der Dresdner Hofkapelle. 37 Brief vom 26. Juni 1838 an Franz von Piatkowski, Privatbesitz, Teilfaksimile in: Sotheby’s, London, Katalog Fine Printed and Manuscript Music including the Mannheim Collection (6 December 1991), S. 112 (lot 128); zuerst vollständig gedruckt in: Max Friedländer, Ein Brief Felix Mendelssohns, in: Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 5 (1889), S. 483–489 (im Folgenden: Max Friedländer, Ein Brief), das Zitat S. 483–484. Der Brief befand sich damals im Besitz des Autors. 38 Ebd., zitiert nach: Max Friedländer, Ein Brief [Anm. 37], S. 484. Aufgrund dieser Korrespondenz konnte nun auch der öfter in Mendelssohnbriefen nach 1830 (siehe unten) vertraut als „der Doctor“ oder „der Doctor aus Wien“ bezeichnete Herr als jener Piatkowski – und nicht etwa als Adolph Bernhard Marx – identifiziert werden. 39 „Musikdirector. Herr Franz Piatkowski, D. d. R. und Landesadvocat.“, in: Hof- und Staats-Handbuch des österreichischen Kaiserthumes II. Theil, Wien 1844, S. 286. Nach Max Friedländer, Ein Brief [Anm. 37], S. 489, wurde Piatkowski 1840 Ausschussmitglied des Galizischen Musikvereins und leitete bis 1847 ihre öffentlichen Konzerte. Der nur von 1838 bis 1848 existierende Verein wurde offenbar maßgeblich, wenn nicht gar ausschließlich von ihm geprägt. 40 „Der galizische Musikverein unter der Direction des Dr. jur. Piatkowski (ebenfalls Dilettant) brachte in diesem Jahre auch wieder manches Tüchtige, worunter besonders hervorzuheben sind: Hillers ‚Zerstörung von Jerusalem‘ – der erste Theil des ‚Paulus‘ und Haydn’s ‚Schöpfung‘, […] es ist erfreulich, dass dieses Institut nur Gediegenes begünstigt und auf diese Weise dem hiesigen, im Allgemeinen etwas verflachten Musiksinn zu Hilfe zu kommen sucht.“, Allgemeine musikalische Zeitung 46 (1844), Nr. 14 (4. April), Sp. 238–241. Der Bericht ist mit „Lemberg“ betitelt und von „Johannes“ im Januar 1844 verfasst. Aus dem Jahr 1845 meldet die Neue Zeitschrift für Musik: „[…] wir hörten von dem Guten das Beste: Beethoven, Mendelssohn, Spohr, Gade […] Dennoch erlebten wir große Aufführungen seiner [Mendelssohns] Werke unter Dr. Piatkowski’s Leitung, dem gute Kenntnisse nicht abzuleugnen sind. So wurde Paulus gegeben, […] dann die Symphonie=Cantate, alle Ouverturen und eine Symphonie. […]“, Neue Zeitschrift für Musik 23 (1845), Nr. 21 (9. September), S. 83–84. 41 Isabel Röskau-Rydel, Kultur an der Peripherie des Habsburger Reiches. Die Geschichte des Bildungswesens und der kulturellen Einrichtungen in Lemberg von 1772 bis 1848 (= Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund, Band 15), Wiesbaden 1993, S. 276. 42 „Seitdem Dr. Piatkowski nicht mehr Director des Musikvereins ist, scheint er sich der Kirchenmusik angenommen zu haben, und wir hören daher in der Dominicaner=Kirche bisweilen, eine Beethoven’sche, Weber’sche oder Cherubini’sche Messe, ein Requiem von Mozart, Winter oder Tomaschek; nun dabei läßt sich doch leben und fromm sein.“, Neue Zeitschrift für Musik 23 (1845), Nr. 34 (24. Oktober), S. 136. 43 Handschriftliche Stimmen scheinen sich vor Ort nicht erhalten zu haben; siehe zum Bestand des Musikvereins und seiner Nachfolgeorganisationen: Irina N. Antonjuk, Die Musiksammlung der Bibliothek der L’vivs’ka deržavna muzycnaˇ akademija im. M. Lysenka. Zeugnisse der interkulturellen Musikkultur Galiziens, in: Musik-Sammlungen. Speicher interkultureller Prozesse, hrsg. von Erik Fischer, Berichte des interkulturellen Forschungs- projektes „Deutsche Musikkultur im östlichen Europa“, Stuttgart 2007, Band 2, S. 331–343. 44 Siehe Kritischer Bericht, Quellenbeschreibung, Quellen J und K. 45 Im Brief vom 6. Juli 1830 von Lea Mendelssohn Bartholdy an ihren Sohn, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 28, Green Books II-53, heißt es in Anspielung auf Rechtfertigungen in Briefen an den Vater: „[…] so thu es, Petrus! Eben genanntes laß ich abschreiben, weil M. es, wie Fanny mir sagt, nach Bonn mitnehmen will. Zum durchsehen ist keine Muße übrig, ud. du wirst das dort selbst übernehmen müßen, da ich froh sein muß, wenn ichs nur bis übermorgen, wo M. reisen will, bekomme.“ XVII

Simrock verkauft hat, oder nicht, und mir den Bescheid denn: „Mechettis haben nicht geschrieben des Petrus wegen; darüber umgehend d.h. stante pede auf Deutsch, zu schreiben das Ding bleibt also noch länger liegen für jetzt, und wird nicht (Du kannst auch einen sonstigen Brief hinzusetzen.) Sie haben daran sterben, es ist dick genug.“50 So blieb das Stück tatsäch- mir in Wien angeboten die Partitur zu stechen; wenn es also in lich einige Zeit unberührt. Erst ca. vier Jahre später nahm es sich Bonn nichts ist, so nehme ich das an und eigne es dem Papst der Komponist wieder hervor, um einen erneuten Versuch zu zu, oder der Herzoginn von Dessau oder sonst.“46 Einen unternehmen, es drucken zu lassen: „Cherubini sagte mir, als Monat später hakte er aus Graz bei der Familie noch einmal ich ihm mein Tu es Petrus zeigte höchst brummig mais ceci est nach: „Auch das Tu es Petrus habe ich in Wien Gelegenheit à refaire, und ich stritt mich lang ud. breit mit ihm damals herauszugeben, natürlich in Partitur; ich wünsche daher zu darüber, aber jetzt, wo ich es herausgeben will, sehe ich doch, erfahren, ob es Marx an Simrock verkauft hat, oder nicht.“47 daß er Recht gehabt hat, und ich muß das ganze Stück von vorn Da dies aus unbekanntem Grund offensichtlich nicht gesche- an umarbeiten und ausputzen, was eine schwere Arbeit ist. hen war, nahm Mendelssohn das Erscheinen bei Mechetti in Indeß freue ich mich doch es drucken zu lassen.“51 Mendelssohn den Blick, um das es zunächst auch vielversprechend schien. hatte es offenbar tatsächlich 1832 Cherubini in Paris gezeigt. Franz Hauser (1794–1870) in Wien sollte dabei vermitteln: Ein „Umarbeiten und Ausputzen“ des Stückes siebeneinhalb „Nun noch einige Buchhändleriana: mein tu es Petrus ist nicht Jahre nach seinem Entstehen kann gleichwohl durch keine heraus gekommen und auch nicht verkauft, wenn also der überlieferten Quellen belegt werden. Wie konkret also die Mechetti Lust hat, das Stück zu stechen, so soll ers mit großem erneuten Pläne einer Drucklegung waren, lässt sich schwer Vergnügen haben, doch bitte ich Sie sich keine besondere beurteilen; jedenfalls blieben auch diese ergebnislos. Mühe drum zu geben, sondern die Sache nur einmal, etwa mit Das „Tu es Petrus“ beschäftigte Mendelssohn über einen lan- dem Doctor, den ich sehr grüßen lasse, zu besprechen; will er gen Zeitraum; dies erlaubt Rückschlüsse auf dessen zentrale dann, ist’s gut, wo nicht, so hab ich wohl eine Gelegenheit Bedeutung innerhalb seines Schaffens. Unstreitig hätte er das es bald und vielleicht dann mit mehrerem Andern bekannt Stück zu gern gedruckt gesehen, denn neben einem gewissen zu machen. Doch bitte ich Sie um Antwort hierüber.“48 Stolz über die Arbeit, die er empfunden hat, legte er beson- Optimistisch und geistreich instruierte er Hauser dann aus deren Wert auf die Verbreitung der Kirchenkomposition. Rom: „Sie schreiben mir, daß Mechettis mein Tu es Petrus ste- Der Erstdruck erschien erst 1868 bei Simrock und parallel bei chen wollen. Da Sie so freundlich gewesen sind, sich der Sache Novello. Seitdem haftete dem Stück ungerechtfertigt das anzunehmen, so sind Sie auch vielleicht so gut, jetzt Ihnen zu Etikett eines nicht voll gültigen Jugendwerkes an. sagen, daß es mir also recht sey, und ich mich freuen würde, wenn es dort erschiene daß ich mir kein Honorar aber einige Choral „Herr Gott, dich loben wir“ MWV A 20 Freyexemplare ausbedingen wollte, und daß ich endlich eine Korrektur selbst machen müsse, weil es auf Genauigkeit sehr Bei der Vertonung des deutschen Te Deum handelt es sich ankommt. Es versteht sich, daß es die Partitur ist die erscheint. um Mendelssohns erste Komposition für die Dommusik in Sie thäten mir also einen großen Gefallen, wenn Sie mir umge- Berlin. Der Kompositionsauftrag des preußischen Königs hend schreiben, ob Mechettis entschieden sind, damit ich Friedrich Wilhelm IV. wurde durch den Geheimrat Ludwig das Stück durchsehen, und abschreiben kann. […] ob die von Massow (1794–1859) brieflich übermittelt: „Auf Aller- Abschrift, die der Doktor besitzt correkt genug ist, um den höchsten Befehl Sr. Maj. des Königs ersuche ich Ew. Stich darnach anzufangen, falls, wie Sie mir schreiben, die Wohlgeboren, um die Gefälligkeit, so schnell als möglich zu Herausgabe eilt, oder ob es besser ist, auf meine Partitur zu dem Herr Gott dich loben wir (dem Ambrosianischen warten, überlasse ich ganz Ihrer Weisheit. Der Titel soll dann Lobgesang, dessen Anfang Sie nach Einlage mir aufzuschrei- auch erfolgen; Finis wünschte ich möchte es dem Papst zueig- ben die Güte hatten) […] 1, die Partitur für einen 4stimmigen nen, wir haben aber keinen, und das Conclave bringt die Chor 2, die Partitur zu einer Instrumental=Begleitung für Römer und die Fremden zur Verzweiflung […].“49 Doch etwa 36 Glieder der Kapelle, und Orgel, aufzusetzen. Die Instru- weitere acht Wochen später scheint Mendelssohn resigniert, mental-Begleitung darf nur aus Saiten=Instrumenten

46 Brief vom 5. September 1830 an Eduard Devrient, The Morgan Library & Museum, New York, Morgan Collection, Musicians Letters, MLT M5377.D514(3), zuerst gedruckt in: Eduard Devrient, Meine Erinnerungen an Felix Mendelssohn-Bartholdy und Seine Briefe an mich, Leipzig 1869, S. 105–111, das Zitat S. 110–111. 47 Brief vom 6. Oktober 1830 an Abraham Mendelssohn Bartholdy, US-NYp, Familienbriefe, Nr. 121. 48 Brief vom 9. Dezember 1830 an Franz Hauser, Standort unbekannt, zitiert nach Abschrift in: D-B, MA Nachl. 7,30/1,2. Zum erwähnten „Doctor“ siehe Anm. 38. 49 Brief vom 30. Januar 1831 an Franz Hauser, Standort unbekannt, zitiert nach Abschrift in: D-B, MA Nachl. 7,30/1,3. Papst Pius VIII. starb am 30. November 1830, das Konklave dauerte bis zum 2. Februar 1831. Mit der „Abschrift, die der Doktor besitzt“ ist ganz offensichtlich die Partitur Piatkowskis (Quelle G) gemeint. 50 Brief vom 21. März 1831 an Franz Hauser, Standort unbekannt, zitiert nach Abschrift in: D-B, MA Nachl. 7,30/1,4. 51 Brief vom 23. März 1835 an Abraham Mendelssohn Bartholdy, US-NYp, Familienbriefe, Nr. 227. Wahrscheinlich paraphrasiert Eric Werner über genau diesen Brief, wenn er in Mendelssohn. A new image of the composer and his age, New York 1963, S. 134 einen Brief vom 28. März 1835 erwähnt: „Many years later, apropos of a discussion of Cherubini’s cautious judgement of Felix’s Tu es Petrus, Mendelssohn admitted: ‘I was too eager then to exhibit pettily original touches and was not ready for the truth. Today I recognize the importance of wholeness.’“ XVIII

Trompeten und Posaunen bestehen. Stimmverhältnis bitte müssen ist glaube ich, gerade das was der König wünscht, und ich zu bemerken.“52 Dieses Ersuchen ist freilich eher eine was ich nicht wünsche; jedenfalls giebt er dann einen Bestätigung der bereits getroffenen Vereinbarung als der Anhaltpunct zur Verständigung.“56 Gleichwohl gilt die Auftrag selbst. Denn das Kompositionsautograph trägt die Vertonung des fünfstrophigen Textes nach Martin Luther, Schlussdatierung: „Leipzig 16. Juli 1843“, wonach die Arbeiten „Herr Gott, dich loben wir“, als Mendelssohns bedeutendste an diesem Stück bereits zwei Tage nach Abfassung des von Choralbearbeitung der 1840er Jahre. Das doppelchörige und Massowschen Briefes beendet waren. Mendelssohn hielt sich stellenweise solistisch besetzte Stück mit der Begleitung von während dieser Zeit öfter in Berlin auf, um die letzten Streichern, Orgel und vier Posaunen57 erzielt vor allem durch Formalitäten seiner Anstellung als königlich-preußischer die gekonnte Abwechslung der Besetzung und die Bildung Generalmusikdirektor für kirchliche und geistliche Musik zu verschiedener Stimmgruppen beeindruckende Klangwir- klären.53 König Friedrich Wilhelm IV. versuchte seit seiner kungen. Im Übrigen zeigt sich Mendelssohns Routine im Thronbesteigung 1840, Berlin zu einer Kulturmetropole zu Umgang mit modalen Choralmelodien in gelegentlich über- machen, wozu eine repräsentative Kirchenmusik einen wesent- raschenden harmonischen Aussetzungen und gewagten lichen Beitrag leisten sollte. Hierfür sollten bedeutende Rückungen, vor allem dann, wenn es galt, sich wiederholende Persönlichkeiten an die Stadt gebunden werden. Der Name melodische Phrasen verschieden zu harmonisieren, um Felix Mendelssohn Bartholdy war dabei von Anfang an im Monotonie zu vermeiden. Spiel. So diskutierte der König etwa mit Christian Karl Josias Der am 21. März 1843 neu gegründete Domchor hatte erstmals Bunsen (1791–1860) schon im Jahr 1840 die konkreten am 7. Mai des Jahres öffentlich unter der Leitung August Aufgaben eines künftigen Kirchenmusikdirektors Mendels- Neithardts (1793–1861) gesungen. Schon am 26. Mai wohnte sohn.54 Bereits im November des Jahres deutete von Massow Mendelssohn einer Probe bei. Am 22. Juli 1843, also bereits dies gegenüber Mendelssohn an, doch bis zu einer offiziellen etwa eine Woche nach Abschluss der Komposition, wurde Ernennung zum Generalmusikdirektor für kirchliche und zwischen 2 und 4 Uhr nachmittags der Choral „Herr Gott, geistliche Musik dauerte es bis zum 22. November 1842. dich loben wir“ zum ersten Mal geprobt, wie August Eduard Mendelssohn blieb danach jedoch vorerst noch in Leipzig, Grells (1800–1886) Acta und Tagebuch festhält: „[…] prima denn es war vereinbart, dass er seinen Dienst vor Ort erst dann vista ‚Herr Gott dich loben wir‘ nach Mendelssohns antreten sollte, wenn die vereinbarten Voraussetzungen, wie die Bearbeitung, 2 Chörig, mit Bogeninstrumenten u. Posaunen u. Neugründung des Domchores, die Etablierung einer Orgel.“58 Wahrscheinlich als Reaktion auf diese erste Probe Gesangsschule, die Finanzierung der Orchestermusiker und teilte von Massow Mendelssohn am 24. Juli 1843 brieflich mit: eine neue Gottesdienstordnung, abschließend erfüllt wären. „Sr. Majestät der König befiehlt mir so eben Ew. Wohlgeboren Wenige Tage nach der Fertigstellung des Chorals schrieb Felix zu schreiben, daß Allerhöchstdieselbe allerdings einen großen Mendelssohn Bartholdy an seinen Bruder Paul: „das ist der Werth darauf lege, daß Sie nach Berlin kommen möchten, um längste Choral ud die langwierigste Arbeit, die mir vorge- am 6ten August zu der bewußten kirchlichen Feier das kommen ist“55. Dem königlichen Kompositionsauftrag kam Tedeum im Dom selbst zu dirigiren. Sr. Majestät meint, es sei Mendelssohn nach, ohne dass dessen Ergebnis ihm eine Her- dies die würdigste Art, wie Sie ihr Amt als General Musik- zensangelegenheit geworden wäre; vielmehr zeigte er damit Director für die Kirchen Musik beginnen könnten.“59 Nachdem guten Willen im Zuge der anstehenden Übernahme der die letzten Proben und die Generalprobe am 4. August unter Dommusik, denn „der Choral den ich dazu habe ausschreiben Anwesenheit Mendelssohns stattgefunden hatten, feierte man

52 Brief vom 14. Juli 1843 von Ludwig von Massow, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 44, Green Books XVIII-20. Beim hier erwähnten aufgeschriebenen Anfang handelt es sich offenbar um Quelle A, eine vierstimmige Aussetzung der ersten sechs Takte des Chorals. 53 Siehe grundlegend dazu: David Brodbeck, A winter of discontent. Mendelssohn and the Berliner Domchor, in: Mendelssohn Studies, hrsg. von R. Larry Todd, Cambridge 1992, S. 1–32; zur aufgefundenen „Acta betreffend: die Berufung des Componisten Dr. Felix Mendelssohn Bartholdi nach Berlin und seine Ernennung zum Kapellmeister und General-Musikdirector, sowie die ihm als Wirkungskreis übertragene Oberaufsicht und Leitung der kirchlichen und geistlichen Musik“ und zur Vorgeschichte der Einstellung, zu den entsprechenden Verhandlungen und der beabsichtigten Gründung der Singschule bzw. eines Konservatoriums anhand der Dokumente: Thomas Ertelt und Jürgen Kloosterhuis, Vorstellungen eines wunderlichen jungen Mannes. Die Akte Mendelssohn, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 40 (2004), S. 277–302; ausführlicher dazu: Wolfgang Dinglinger, „Acta betreffend: Die Berufung des Componisten Dr. Felix Mendelssohn Bartholdi nach Berlin“. Briefe von und an Felix Mendelssohn Bartholdy, in: Mendelssohn-Studien 14 (2005), S. 189–219. 54 Siehe dazu und zum Folgenden detailliert Wolfgang Dinglinger, Mendelssohn – General-Musik-Direktor für kirchliche und geistliche Musik, in: Felix Mendelssohn Bartholdy. Kongreß-Bericht Berlin 1994, hrsg. von Christian Martin Schmidt, Wiesbaden etc. 1997, S. 23–36. 55 Brief vom 21. Juli 1843 an Paul Mendelssohn-Bartholdy, US-NYp, Familienbriefe, Nr. 637, zuerst gedruckt in: Briefe aus den Jahren 1833 bis 1847 [Anm. 11], S. 382–384, das Zitat S. 382. 56 Brief vom 26. Juli 1843 an Paul Mendelssohn-Bartholdy, US-NYp, Familienbriefe, Nr. 638, zuerst gedruckt in: Briefe aus den Jahren 1833 bis 1847 [Anm. 11], S. 385–387, das Zitat S. 386. 57 Neben Alt-, Tenor- und Bassposaune kommt hier zur Komplettierung eines vierstimmigen Bläsersatzes die sehr selten anzutreffende Sopranposaune zum Einsatz. Auf Trompeten verzichtete Mendelssohn bei der Komposition. 58 Acta und Tagebuch betreffend meine (Grells) Thätigkeit bei dem im Jahre 1843 neuorganisirten Gesang=Institut für die Dom=Kirche in Berlin., D-B, NL E. Grell 5 D.1, zitiert nach: Klaus Rettinghaus, Ein „Lieblingsinstitut“ Mendelssohns. Neue Quellen zu Felix Mendelssohn Bartholdys Wirken für den Königlichen Hof- und Domchor zu Berlin, in: Mendelssohn-Studien 16 (2009) (im Folgenden: Klaus Rettinghaus, Lieblingsinstitut), S. 128. 59 Brief vom 24. Juli 1843 von Ludwig von Massow an Felix Mendelssohn Bartholdy, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 44, Green Books XVIII-34. XIX den Festgottesdienst zwei Tage später, worüber wiederum Grell bzw. achttaktigen Choralaussetzungen des deutschen Gloria Auskunft gibt: „Dom 11 Uhr. Feier des 1000jährigen Deutsch- „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ MWV A 21 und des land. Voller Chor bei der Lit(urgie) in A Dur. Nach der Weihnachtsliedes „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ Predigt Herr Gott dich loben wir. ohne alles Präludium. MWV A 22 für Gemeindegesang und Orchester sind für den Mit Kanonen. Übervolle Kirche. 23 Violinen 5 Contraviolons. ersten Weihnachtsfeiertag 1843 bestimmt. An diesem 25. De- 4 Posaunen.“60 Rudolf Werner schreibt – ohne Nachweis – zember sang der Berliner Domchor unter Mendelssohns über die Uraufführung: „Am 6. August 1843 fand im Berliner Leitung außerdem Psalm 2 „Warum toben die Heiden“ MWV Dom unter Mendelssohns Leitung und der üblichen Begleitung B 41 und „Frohlocket, ihr Völker“ MWV B 42 sowie Chor von 100 Kanonenschüssen die Aufführung statt.“61 Vermutlich Nr. 12 aus Georg Friedrich Händels Messias „Denn es ist uns stützte sich Werner auf den Bericht von August Reissmann in ein Kind geboren“. Alle Stücke sind in Form von autographen dessen Mendelssohn-Biographie: „An diesem Tage [6. August Partituren (von Händels Chor nur die Orgelstimme) gemein- 1843] wurde mit dem sonntäglichen Gottesdienste zugleich die sam überliefert und mit einem Titelblatt mit der Beschriftung kirchliche Feier des – auf den 10. August fallenden 1000jährigen „Psalm und Gesänge Zur Feier des ersten Weihnachtstages in Erinnerungsfestes an die Constituierung des deutschen Reichs der Domkirche zu Berlin“ versehen.64 Die Choräle waren durch den Vertrag zu Verdun – verbunden, und nach der, durch somit integrale Bestandteile dieser gottesdienstlichen Musik. den Hofprediger Dr. Strauß gehaltenen Predigt, führte der Die Gesangsstimme ist in den Partituren jeweils untextiert, Domchor das Te Deum mit Begleitung von Streichinstrumenten die Melodie wurde von der Gemeinde gesungen.65 Demnach und Posaunen nach der Bearbeitung Mendelssohn’s und unter sind die Choräle genau genommen nicht explizit für den dessen Leitung aus, begleitet von den bei solchen Gelegenheiten Berliner Domchor, sondern für die Berliner Dommusik üblichen 101 Kanonenschüssen, die auf dem Platze am geschaffen. Königlichen Schlosse gelöst wurden.“62 Den wohl zuverlässig- sten Bericht liefert allerdings die Berliner Tagespresse; demnach Lauda Sion MWV A 24 ist die Anzahl der abgegebenen Kanonenschüsse nach unten zu korrigieren: „Der gestrige Tag war, zufolge des Allerhöchsten Im April 1845 erhielt Felix Mendelssohn Bartholdy vom Befehls vom 6. v. M., ausschließlich zur kirchlichen Feier des Kaufmann und Musiklehrer Henri Magis66 aus Lüttich eine tausendjährigen Bestehens des deutschen Reichs bestimmt. […] Anfrage für eine Komposition zu besonderem Anlass: Zur Besonders erhebend war aber der dritte Gottesdienst in der Feier des 600-jährigen Jubiläums des ersten Fronleichnams- Domkirche, der um 11 Uhr seinen Anfang nahm. […] festes sollte der Komponist die von Thomas von Aquin (ca. Nachdem das Gebet gesprochen worden war, begann der 1225–1274) verfasste Sequenz Lauda Sion Salvatorem verto- Dankpsalm mit Musik- und Orgelbegleitung, und machte so, nen: „L’an 1246 on a celebré la fete Dieu pour la premiere fois durch die Macht der Töne, den tiefsten Eindruck. Während des dans l’eglise primaire de St Martin a [sic] Liege. Chaque siècle Gesanges im Innern der Kirche wurden vor dem Zeughause 36 a [sic] pareille epoque on a fait dans cette Eglise un Jubilé en Kanonenschüsse abgefeuert.“63 mémoire de cette institution, de sorte que l’an 1846 cette solennité doît encore avoir lieu.“67 Die Feierlichkeiten wurden Choral „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ MWV A 21 und von einem am 18. Februar 1844 gegründeten Exekutivkomitee Choral „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ MWV A 22 zur Organisation des Fronleichnamsfestes vorbereitet und sollten im Juni 1846 an dem Ort, an dem zum ersten Mal das Nachdem Mendelssohn schließlich am 25. November 1843 Festum Sollemnitas Sanctissimi Corporis et Sanguinis Christi nach Berlin übergesiedelt war, übernahm er seinen Dienst für im Jahr 1246 begangen worden war, in der Kirche St. Martin de die Domkapelle zu Weihnachten dieses Jahres. Die vierzehn- Liège68, stattfinden: „La Commission permanente et les membres

60 Zitiert nach: Klaus Rettinghaus, Lieblingsinstitut [Anm. 58], S. 128. 61 Rudolf Werner, Kirchenmusiker [Anm. 8], S. 111. 62 August Reissmann, Felix Mendelssohn-Bartholdy. Sein Leben und seine Werke, Berlin 1867, S. 260f. Das Abfeuern von Kanonenschüssen ist auch belegt durch: Heinrich Bellermann, August Eduard Grell, Berlin 1899, S. 69. 63 Berlinische Nachrichten von Staats= und gelehrten Sachen. In der Haude und Spenerschen Zeitungs=Expedition (im Folgenden: Haude und Spenersche Zeitung), Nr. 182, 7. August 1843, S. 8. 64 MWV Sammelhandschrift 54. 65 Die Edition trägt diesem Umstand Rechnung, in dem sie den Text der ersten Strophe ergänzt; gleichwohl ist davon auszugehen, dass nicht nur eine Strophe des jeweiligen Chorals erklungen ist. 66 Henri Guillaume Marie Jean Pierre Magis-Ghysens (1800–1863), von Mendelssohn als „Mr. Magis=Ghyseur“ bzw. „Magis Ghyseur“ benannt. 67 Brief vom 22. April 1845 von Henri Magis an Felix Mendelssohn Bartholdy, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 47, Green Books XXI-153, zuerst gedruckt in: Lothar Schmidt, Mendelssohns ‚Lauda Sion‘ und die Idee einer „wirklichen Kirchenmusik“, in: „Zu groß, zu unerreichbar“. Bach- Rezeption im Zeitalter Mendelssohns und Schumanns, hrsg. von Anselm Hartinger, Christoph Wolff und Peter Wollny, Wiesbaden etc. 2007, S. 161–180 (im Folgenden: Lothar Schmidt, Kirchenmusik), S. 176. 68 Das Hochfest Fronleichnam geht auf eine Vision der Hl. Juliana von Lüttich (1192–1258) im Jahr 1209 zurück. 1246 wurde dieses Fest des Altars- sakraments im Bistum Lüttich durch Bischof Robert eingeführt und schließlich 1264 durch die Bulle Transiturus de hoc mundo Papst Urbans IV. (vor 1200–1264, mit bürgerlichem Namen: Jacques Pantaléon), der vormals Erzdiakon von Lüttich war, offiziell zum Hochfest für die Gesamtkirche erhoben. Dies schloss die Schaffung eines eigenen Propriums für Liturgia horarum und Messe ein, das Thomas von Aquin in Form der Hymnen Panis angelicus, Pange lingua, Adoro te devote, Verbum supermum prodiens und der vor dem Evangelium ihren Platz findenden Sequenz Lauda Sion verfasste. XX regents m’ont Chargé de faire le programme de la partie die weite Entfernung voneinander eine baldige Begegnung ver- Musicale et de la depense que’elle pourroît occasionner, je ne hindert: „[…] j’ai Celui de vous informer que j’ai un tenor solo vous cacherai pas Monsieur que je suis du nombre des dont l’étendue de sa voix est de [Noten notiert] mais les deux admirateurs de vos sublimes productions et qu’ainsi j’attache premières et les deux dernières notes ont moins de puissante un grand prix a [sic] ce que vous voulussiez bien vous Charger que tous les autres. Je vous remercie infiniment d’avoir eu la de la Composition d’un Lauda Sion pour ce Jubilé.“69 bonté de fixer le prix, ayez l’obligeance de me dire si vous desi- Mendelssohn war zwar schon spätestens 183170 und dann als rez tirer sur moi ou si vous préférez recevoir le montant en un Musikdirektor in Düsseldorf mehrfach Zeuge eines Fronleich- billet payable chez un banquier de votre ville. Je regrette vive- namsfestes samt Prozession geworden, doch empfand er seine ment, Monsieur, qu’un si grand espace nous separe, ce seroit Kenntnisse über Ablauf und Bedeutung der Liturgie noch pour moi le plus Grand bonheur de pouvoir faire plus ample- als mangelhaft. Dennoch erfolgte seine Zusage postwendend ment votre connaissance.“74 Am 1. Juni bat Mendelssohn um am 26. April 1845 aus Frankfurt, wobei er sich zugleich erkun- den genauen Text, da er nur das Cherubinische Lauda Sion, das digte, welche Besetzung dafür vorgesehen sei: „Mais avant tout den Text nur unvollständig vertone, zur Hand habe; außerdem je désirerais savoir si c’est avec Orchestre & Choeur, ou seule- ersuchte er um Auskunft über die Vorstellungen zum zeitli- ment avec Orgue, avec des Voix Solos, ou bien tout à fait sans chen Umfang der Komposition und den Termin für die instrumens que la Composition doit être faite.“71 Magis über- Fertigstellung: „Puis je vous prie de me transmettre une copie ließ ihm die Wahl, erklärte sich bereit, ihm alle Mittel zur Verfü- exacte des paroles du ‚lauda Sion’; comme je n’en ai qu’une gung zu stellen und beschrieb ihm die Orgel sowie die Akustik composition (de Chérubini) & que je ne suis pas certain s’il n’a des Raumes: „L’Eglise est assez vaste et d’une grande elevation; rien changé aux paroles, je désire en avoir une copie authenti- la musique y produit un bon effet; L’orgue est très harmonieux: que. Puis je voudrais savoir s’il me faudra me tenir dans de il renferme un Grand Orgue, un positif, un echo, et une pédale certaines bornes quant à la durée du morceau pour l’occasion, séparée, c’est un 32 pieds commencant a [sic] l’ut tout en bas et ou si je puis lui donner la longueur comme à un autre morceau finissant vers le haut au sol. Je ne vous soumets cette dernière de ce genre.“75 Mit der Zusendung des Textes in französischer observation que pour le cas ou [sic] vous auriez l’intention de und lateinischer Sprache76 antwortete Magis am 5. Juni, dass es vous servir de cet instrument. L’orchestre est au grand complet, keine zeitliche Beschränkung gebe. Für die Vertonung seien et l’hospice des Orphelins, où j’enseigne la Musique par die Strophen „Lauda Sion“, „Ecce panis angelorum“ und amusement vous fournira un Chœur de 70 voix, soprane, alto, „Bone pastor“ verbindlich, im Übrigen müsse aber nicht der tenore et basse, dont vous pouvez disposer et que je puis rendre gesamte Text vertont werden: „Il me seroit fort agreable, plus nombreux encore. Sous le rapport du chant, comme sous Monsieur, de pouvoir recevoir votre partition dans le courant celui des instruments vous pouvez donner a [sic] vos inspirations du mois de decembre prochain. – Voici suivant vos désirs copie tout le developpement que vous jugerez convenable.“72 des paroles du Lauda Sion. en latin et en francais, mais c’est Mendelssohn veranschlagte das Honorar auf 400 Francs und pour avoir les paroles latines, je pense Monsieur, que les Nos 1, fragte, ob ein guter Solotenor zur Verfügung stünde: „Comme 21 et 22 sont indispensables ensuite il vous est libre de choisir vous me dites qu’il s’agirait d’une grande musique à Orchestre dans les autres Nos ce qui vous semblera mieux convenir pour & Choeur, et que vous ne voulez pas vous prononcer sur la votre Composition, quant à la longueur du Morceau, vous somme que la commission destinerait à cet objet, j’en fixerais pouvez Monsieur lui donner tout le developpement que vous le prix à 400 francs. En cas que cela vous convenait je vous prie- jugerez convenable, rien ne s’oppose à sa durée.“77 rais en même temps de me faire savoir si vous pouvez disposer Von Beginn an widmete sich Mendelssohn der Arbeit an d’un bon ténor Solo, ou si je devrais me borner à écrire pour dieser Komposition besonders intensiv. Um sich über den le Choeur seulement.“73 Er würde sich sonst auch nur auf historischen, theologischen und liturgischen Hintergrund des den Chor beschränken. Die Antwort Magis’ vom 29. Mai be- Lauda Sion zu informieren, reiste er sogar nach Mainz zu inhaltet die Mitteilung über den Stimmumfang des Solotenors Johann Joseph Schott (1782–1855) und ließ sich vor Ort von (c–h1) und die Frage, ob die Zahlung des Honorars bar oder katholischen Kirchenmusikern und Theologen über dessen per Bankscheck erfolgen solle. Außerdem bedauert Magis, dass Bedeutung aufklären; seinem Bruder schrieb er: „Ists nicht

69 Wie Anm. 67. 70 Am 2. Juni 1831 in Sorrento, vgl. Einträge und Zeichnung in seinem Notizheft, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn g. 3, fols. 14v–15v. 71 Brief vom 26. April 1845 an Henri Magis, Bibliothèque du Conservatoire royal de Bruxelles (im Folgenden: B-Bc), 26238 B no. 1, gedruckt in: Albert van der Linden, Un Fragment inédit du „Lauda Sion“ de F. Mendelssohn, in: Acta musicologica 26 (1954), S. 48–64 (im Folgenden: Albert van der Linden, Un Fragment), S. 49. 72 Brief vom 23. Mai 1845 von Henri Magis an Felix Mendelssohn Bartholdy, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 47, Green Books XXI-190, zuerst gedruckt in: Lothar Schmidt, Kirchenmusik [Anm. 67], S. 176–177, das Zitat S. 176. 73 Brief vom 27. Mai 1845 an Henri Magis, B-Bc, 26238 B no. 2, gedruckt in: Albert van der Linden, Un Fragment [Anm. 71], S. 50. 74 Brief vom 29. Mai 1845 von Henri Magis an Felix Mendelssohn Bartholdy, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 47, Green Books XXI-197. Dieser Brief ist bislang ungedruckt. 75 Brief vom 1. Juni 1845 an Henri Magis, B-Bc, 26238 B no. 3, gedruckt in: Albert van der Linden, Un Fragment [Anm. 71], S. 50. 76 Textquelle H. 77 Brief vom 5. Juni 1845 von Henri Magis an Felix Mendelssohn Bartholdy, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 47, Green Books XXI-215, gedruckt in: Lothar Schmidt, Kirchenmusik [Anm. 67], S. 177. XXI sonderbar, daß ich übernommen habe, für ein 1000jähriges Partitur solle dann aber direkt an Magis in einem versiegelten Katholisches Fest in Lüttich eine große Musik (Lauda Sion Umschlag erfolgen: „Devant me rendre a [sic] Bruxelles il ne p.p.) zu componiren? Die nähern Umstände, ud. wie ich m’a pas été possible de repondre plutot [recte: plus tôt] à la gestern in Mainz Erkundigung über die Liturgische Bedeutung lettre que vous m’avez fait honneur de m’écrire le 14 Courant. des Stücks einzog, ud. die Organisten bei einer ungeheuren j’ai vu avec un extreme plaisir que votre œuvre avancait; on Terrine Maitrank traf, nehmen sich wieder mündlich besser ne cesse de me demander quand je recevrai cette partition. aus.“78 Auch brieflich fragte er Schott um Rat, der ihm Mitte Monsieur Delrez avoît sans doute oublié de faire ma Juni 1845 leihweise ein römisches Choralbuch zusandte, aus Commission, il vient de me donner une lettre pour Mr Eyssens dem Mendelssohn den später in seiner Komposition zitierten que je vais leur envoyer en les prîant de vous faire Connaître le Anfang der Choralmelodie in der Fassung vor der Choral- Nom de la Maison avec laquelle ils correspondent a Leipzi[g], reform des 19. Jahrhunderts übernahm. Im Begleitbrief heißt j’espère, Monsieur, que la chose est arrangée a [sic] ne souffrir es: „Der Hymnus Lauda Sion kommt bei der Feier des aucune difficulté. Veuillez je vous prie mettre votre partition a Altarssakraments vor […]. Alle diese Feste beabsichtigen, Gott [sic] mon adresse sous enveloppe cachettée.“82 Doch erst am durch lauten Jubel öffentlich für die große Wohlthat der Ende des Jahres 1845 kündigte Mendelssohn die Übersendung Einsetzung dieses Sakraments zu preisen und zu verherrlichen. der Partitur an, entschuldigte sich für die Verspätung, erkun- Der Charakter der dem Feste angepassten Musik ist demge- digte sich nach dem genauen Termin der geplanten Aufführung mäß nicht sanft, sondern pompös feierlich.“79 Die Intensität und bat Magis, ihm noch einmal den Zweck des Festes zu der Beschäftigung mit dem Werk schon im Vorfeld der eigent- erläutern: „Je n’ai pas encore pu achever le morceau que j’écris lichen kompositorischen Arbeit zeigt, dass Mendelssohn dies pour vous, ayant été continuellement dans un très grand trou- wohl als Chance begriff, nun eine angemessene festlich-liturgi- ble d’affaires, mais je compte vous envoyer ma partition dans sche katholische Kirchenmusik zu schaffen, wie sie ihm schon le cours de la semaine prochaine. En attendant je vous prie de länger vorschwebte.80 Dieser Anspruch zeigt sich nicht zuletzt me faire savoir (s’il est possible par le retour du Courier) quel auch in der Komposition selbst. Die Wahl der musikalischen est le jour où vous comptez faire exécuter ce morceau, & si ce Mittel und ihr Einsatz stehen im Dienst des liturgischen jour est irrévocablement fixé. Veuillez aussi me dire encore une Ablaufs und seiner Dramaturgie, die Besetzung und Orches- fois le but de la grande cérémonie qu’on prépare pour ce jour trierung repräsentieren Feierlichkeit und angemessene Würde. là; vous l’aviez indiqué dans votre première lettre, mais je ne Nach Aussage des Komponisten war die Arbeit am Lauda l’ai pas sous les yeux dans ce moment & voilà pourquoi je vous Sion schon im Herbst 1845 weit fortgeschritten, denn Mitte prie de me faire une réponse aussitôt que vous le pourrez.“83 In Oktober meldete er an Magis den Umzug nach Leipzig und der mit Kurier zugestellten Antwort brachte Magis seine stellte ihm die Zusendung des Manuskripts Ende November in Freude über die avisierte Komposition zum Ausdruck, da er Aussicht: „La partition que je dois composer pour vous est erst kürzlich ein Violinkonzert Mendelssohns gehört habe, das assez avancée déjà pour que je puisse espérer vous la faire „con furore“ zur Aufführung kam. Die Feierlichkeiten würden remettre vers la fin du mois prochain. Mais ayant changé de am 11. Juni beginnen und zwei Wochen lang andauern, anwe- domicile je ne pourrai me servir de l’adresse que vous m’avez send würden, so Magis, alle Bischöfe Belgiens, der Erzbischof donné à Francfort s/m pour vous faire parvenir mon manu- von Paris, mehrere weitere Bischöfe aus Frankreich und script, et je vous prierai donc de me nommer une maison de Deutschland sowie der päpstliche Nuntius und zahlreiche Leipsic à laquelle vous voudrez bien donner vos instructions Prälaten sein: „[…] tous les Eveques de la Belgique y seront, concernant cette affaire.“81 Die Antwort von Magis erfolgte l’archeveque de Paris et plusieurs Eveques de france et d’alle- erst am 25. Oktober, da er sich, wie er mitteilte, länger in magne ont egalement promis d’y assister, le nonce du Pape doit Brüssel aufgehalten habe. Monsieur Delrez werde sich um die être au nombre de ces prélats, et les plus grands orateurs de geschäftliche Abwicklung kümmern, die Übersendung der France se sont engagés a [sic] venir precher“84. Das Lauda Sion

78 Brief vom 10. Juni 1845 an Paul Mendelssohn-Bartholdy, US-NYp, Familienbriefe, Nr. 682. 79 Notiz zum Brief vom 13. Juni 1845 von Johann Joseph Schott an Felix Mendelssohn Bartholdy, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 47, Green Books XXI-243, der Brief 221. Die Notiz enthält zwei Verse des deutschen Kirchenliedes „Lobe Sion, deinen Hirten“, deren Melodievariante Mendelssohn jedoch nicht verwendet. 80 Vgl. dazu und zum Folgenden auch: Clemens Harasim, Felix Mendelssohn Bartholdys Religiosität im Spiegel seiner lateinischen Kirchenmusik, in: Die Tonkunst 6 (2012), Nr. 4, S. 469–479. 81 Brief vom 14. Oktober 1845 an Henri Magis, B-Bc, 26238 B no. 4, gedruckt in: Albert van der Linden, Un Fragment [Anm. 71], S. 50. Die hier angedeutete Angelegenheit der Honorarüberweisung wird auch durch das Frankfurter Commissions- und Speditionshaus Eyssen & Claus in einem Schreiben an Magis vom 12. November 1845 zur Sprache gebracht: „Suivant vos désirs nous avons fait prevenir le Sieur Mendelsohn Bartholdy que nous lui ferons payer fr. 400 pr vt compte contre remise de la partition en question; mais un nous mande que le dit Sieur Bartholdy est absent et qu’il ne sera de retour que dans un mois et qu’alors on ne manquera pas de lui réclamer la susdite partition pour vous la faire parvenir sans retard. Si donc vous auriez d’autres instructions à nous donner, nous les attendons de suite.“, B-Bc, 26238 B no. 5, gedruckt in: Albert van der Linden, Un Fragment [Anm. 71], S. 51. 82 Brief vom 25. Oktober 1845 von Henri Magis an Felix Mendelssohn Bartholdy, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 48, Green Books XXII-165. Dieser Brief ist bislang ungedruckt. 83 Brief vom 27. Dezember 1845 an Henri Magis, B-Bc, 26238 B no. 6, gedruckt in: Albert van der Linden, Un Fragment [Anm. 71], S. 51. 84 Brief vom 31. Dezember 1845 von Henri Magis an Felix Mendelssohn Bartholdy, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 48, Green Books XXII-327; gedruckt in: Lothar Schmidt, Kirchenmusik [Anm. 67], S. 177–178, das Zitat S. 178. XXII solle mehrmals während der Feierlichkeiten erklingen: „[…] laisser dépendre de moi.“91 Mit der Vertonung des gesamten vous aussi mon cher Monsieur Mendelssohn, avez bien voulu Textes, womit er gewissermaßen den Auftrag übererfüllte, nous accorder votre puissant Concours pour donner a [sic] cette zeigte Mendelssohn einmal mehr sein tiefes Verständnis und fête tout l’éclat possible aussi je me propose de faire executer sein besonderes Interesse für das Sujet. Er kündigte nun seine plusieurs fois le Lauda sion que vous nous composez. je le Anwesenheit ab dem 8. Juni in Lüttich an: „Comme je dois destine pour les jours les plus Solennels comme par exemple le diriger la fête musicale qui aura lieu à Aix-la-Chapelle pendant 11 juin jour de la fête Dieu le 14, le 21 et 25, dernier Jour. je les jours de Pentecôte, je compte pouvoir me rendre à Liège le reserve en outre pour ces jours, mais le matin, psalm, non 8 ou 9 de juin pour assister à la fête du 11 et pour entendre nobis domine Etc que vous connaissez un peu.“85 In den l’exécution de ce morceau”92. Seine nachdrückliche Bitte, die Neujahrsgrüßen an die Schwiegermutter Jeanrenaud konnte Partitur inzwischen nicht aus den Händen bzw. nur in solche Mendelssohn schreiben: „Ich höre mancherlei von Rheinischen eines redlichen Kopisten zu geben, verbunden mit dem Hinweis Musikfesten, Englischen Festivals, Belgischen Cérémonies – auf die spätere Drucklegung, bedeutet wohl, dass Mendelssohn eine oder die andre davon führt mich am Ende doch wieder im bereits mit dem Verlag Schott in Verhandlungen über eine solche Lauf des Sommes an den Rhein, so Gott will! Und ists nur im stand: „Je n’ai qu’une chose à ajouter; c’est de vous prier de ne Durchflug so sehe ich Sie doch einmal wieder.“86 Gleichwohl pas laisser sortir ma partition d’entre vos mains, et de ne la verzögerte sich die Übersendung der Partitur nach Liège noch confier qu’à un Copiste dont vous connaissez la probité. Je ein wenig; hauptsächlich scheint Mendelssohn in den ersten pourrais avoir des désagréments sans fin si cette partition était Wochen des Jahres 1846 an der Komposition gearbeitet zu publiée à mon insu, car la propriété de la publication (si le mor- haben. Am 17. Januar erwähnte er gegenüber Ignaz Moscheles: ceau était publié dans la suite) ne serait pas à moi et j’en aurais „Nun habe ich nur noch hinzuzufügen, […] daß ich allerdings donc toute la responsabilité.“93 Am gleichen Tag, an dem er ein Lauda Sion für ein Kirchenfest in Lüttich componirt diese Zeilen schrieb und wohl auch die Partitur versandte, habe“87. Als die Komposition längst abgeschlossen war, am 15. machte Mendelssohn in seinem Haushaltsbuch folgenden April, informierte er auch seinen Freund Carl Klingemann Eintrag: „Honorar aus Lüttich 107 | 10“94. Die Zahlung war voller Stolz über die anstehende Aufführung beim „Kirchen- demnach fast gleichzeitig mit der Übersendung der Partitur fest in Lüttich, zu dem ich ein neues grosses katholisches erfolgt. Magis war in Vorauszahlung gegangen, denn erst am Stück komponiert habe (10 Nummern stark mit vielen 12. März stellte das Komitee ein Zahlmandat an Magis über Cantibus firmis und Tromboni und dergleichen)“88. 464,40 Francs aus, die er für das Lauda Sion von Mendelssohn Am 23. Februar oder kurz zuvor sandte Mendelssohn schließ- aufgewendet habe.95 Dieser gezahlte Betrag ist mehrfach lich eine von Weissenborn angefertigte Partiturabschrift89 nach nachgewiesen96 und setzt sich aus 400 Francs Honorar und Lüttich.90 Im separaten Schreiben an Magis heißt es: „Excusez 64,40 Francs für Versand, Korrespondenz, Überweisungs- le retard de cet envoi; mais il m’a semblé que pour une sollen- gebühren etc. zusammen.97 In der Sitzung am 5. März teilte nité comme celle que vous préparez le poëme en entier devrait Magis dem Komitee mit, er habe das erhaltene Manuskript des être chanté, sans en omettre un seul verset, et voilà pourquoi Lauda Sion binden lassen und werde sich um die Kopien der mon ouvrage est devenu plus étendu et m’a couté bien plus de Stimmen kümmern: „Mr. Magis annonce qu’il a reçu de Mr. temps que je ne pensais au commencement. Il durera presque Mendelssohn, la partition de la musique du Lauda Sion qui une demi-heure; j’espère que ce ne sera pas trop long, comme lui avait été demandé pour la fête du jubilé; qu’il l’a fait relier vous n’avez pas fixé le temps & que vous l’avez bien voulu et qu’il s’occupera immédiatement de la copie des diverses

85 Ebd. Tatsächlich erklang das Stück dann dreimal während der Feierlichkeiten; nach der Premiere vom 11. Juni am darauffolgenden Sonntag, den 14. Juni, und am 22. Juni, jeweils im Rahmen des sakramentalen Segens 5 Uhr nachmittags. Siehe dazu: Souvenirs du Jubilé de 1846, Pot-pourri, [Liège 1846], S. 28–29 und S. 59; vgl. auch Anm. 118. 86 Brief vom 30. Dezember 1845 an Elisabeth Jeanrenaud, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 20, fols. 84–85. 87 Brief vom 17. Januar 1846 an Ignaz Moscheles, in: Mendelssohn’s Letters to Moscheles 1826–1847 (Album Moscheles), fol. 57, University of Leeds, Leeds University Library, Brotherton Collection, MS Music Mendelssohn, gedruckt in: Briefe von Felix Mendelssohn-Bartholdy an Ignaz und Charlotte Moscheles, hrsg. von Felix Moscheles, Leipzig 1888, S. 251–255, das Zitat S. 254. 88 Brief vom 15. April 1846 an Carl Klingemann, Standort unbekannt, zitiert nach Briefwechsel mit Klingemann [Anm. 24], S. 312–314, das Zitat S. 313. 89 Quelle C. 90 Die Sendung ging dann doch nicht direkt an Magis, sondern an Ferdinand Otto im Auftrag des vermittelnden Jacques Delrez. 91 Brief vom 23. Februar 1846 an Henri Magis, B-Bc, 26238 B no. 7, gedruckt in: Albert van der Linden, Un Fragment [Anm. 71], S. 51–52, das Zitat S. 51. 92 Ebd. 93 Ebd. Im Schreiben folgt der Hinweis auf die diesbezügliche Anweisung auf der ersten Seite der Partitur, womit noch einmal der Charakter der Quelle C als Uraufführungspartitur bestätigt wird. Magis entsprach dieser Bitte, u. a. versah er die meisten der ausgeschriebenen Stimmen mit entsprechenden Besitzstempeln (siehe Quellenbeschreibung, Quelle F). Auch die Textkorrekturen und vor allem die Textergänzungen, um die Mendelssohn bittet, finden sich in Quelle C von fremder Hand: „J’ai trouvé beaucoup de fautes, surtout dans les paroles, parce que mon Copiste ici ne comprend pas le latin; s’il s’en trouve encore je prie votre chef des Choeurs & de l’Orchestre de vouloir bien les corriger.“, ebd. 94 GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn f. 8, fol. 4. 95 Vgl. Comptes-rendus des assemblées notables du 3 juin 1805 – 12 mars 1846, S. 58, in: Liège, Archives paroissiales de l’église St.-Martin à Liège, III C 12. 96 Archiconfrérie du T-St-Sacrement – registre des R/D [recettes et dépenses], in: Liège, Archives paroissiales de l’église St.-Martin à Liège, III C 17, Eintrag vom 13. März 1846 Nr. 41 sowie Relevé des dépenses du jubilé, in: ebd., VI D 2. 97 Vgl. den Vermerk unter: „3. Frais relatifs à la musique.“, Recettes et dépenses du jubilé de la Fête-Dieu de 1846, S. 11, in: ebd., VI D 2. XXIII parties.“98 Das Ausschreiben der Stimmen begann zeitnah, das Lauda Sion so sehr gefallen habe, dass man es ihm denn bei einem nicht geringen Teil der Stimmen ist der später mehrmals ans Krankenbett habe bringen müssen: „Mon père nachgesandte Satz Nr. 6 ausgelassen, der dann auf Einzelblätter ayant été dangereusement malade et l’étant encore trop pour geschrieben und zur Aufführung entsprechend eingelegt pouvoir vous écrire, il me charge de l’honneur de vous informer wurde.99 Für Kopierarbeiten wurde am 13. März eine Zahlung qu’il à [sic] reçu d’abord votre Laudation [sic], et ensuite le an Magis zur Erstattung der Kosten für die Herren Bouma numéro 6 du même morceau, dont il vous remercie infiniment. (18 Francs) und Detheux (21,60 Francs) angewiesen.100 Ces morceaux, Monsieur, lui ont fait un si grand plaisir qu’il a Zufällig an demselben Tag sandte Mendelssohn von Leipzig fallu, quoiqu’étant au lit, les lui donner plusieurs fois pour qu’ils aus die Abschrift der Chorfuge „Sub diversis speciebus“ [Nr. 6] [sic] les lisent: il en est enchanté: il vous prie d’agreer ses an Magis. Er habe zunächst erwogen, sie wegzulassen, da die remerciements avec l’expression de sa plus haute estime.“103 Textworte bereits im vorangehenden Satz vertont seien und Wahrscheinlich ahnte Henri Magis aber bereits, dass die das gesamte Werk zu lang geraten würde. Doch obwohl es eine Komplexität der Komposition, deren zeitlicher und orches- Fuge sei und trotz der Länge habe er nun beim erneuten Lesen traler Umfang und die technischen Schwierigkeiten die der Partitur „bei klarem Kopf“ bemerkt, wie passend der Satz Fähigkeiten der Ausführenden übersteigen würden. Eine erste sei, und daher wünsche er, diesen nach dem Chor „Docti Gesamtprobe, der diverse Teilproben vorangingen, scheint nicht sacris institutis“ [Nr. 5] und vor der Arie „Caro cibus“ [Nr. 7] ohne Probleme vonstatten gegangen zu sein. Von einer zweiten, einzufügen: „Je vous envoye ci-joint encore un morceau qui viel besser verlaufenen, diesmal auch halböffentlichen Gesamt- fait partie du Lauda Sion dont je vous ai envoyé la partition il probe am 6. Juni war dann sogar in der Zeitung zu lesen: „Samedi y a 15 jours. J’avais retenu ce morceau parceque les paroles se soir a eu lieu la seconde répétition du Lauda Sion de Mendels- trouvent déjà dans celui qui doit le précéder, & que je craignais sohn, qui, cette fois a beaucoup mieux marché. Un public choisi ce serait trop long; mais comme je relis la partition à présent à assistait à cette répétition, on remarquait parmi les assistants M. tête reposée je désire le remettre à sa place, malgré qu’il soit un l’envoyé et ministre plénipotentiaire de S. M. prussienne à la peu sévère, & malgré que ce soit une Fugue, & malgré sa cour de Bruxelles, et M. le marquis de Rhodes, sénateur.“104 longueur. Ayez donc la bonté Monsieur de le faire copier & Erst am Tag der Generalprobe, einen Tag vor der Aufführung, chanter après le morceau ‚Dogma datur Christiani[’] &c (qui reiste Mendelssohn von Köln aus nach Lüttich, was wiederum se termine par les mêmes paroles employées ici ‚latent res die Zeitung ankündigte: „Le célèbre compositeur ne doit arriver eximiae’)“101. Auf beide Postsendungen hatte Magis nicht dans notre ville que mercredi prochain; il présidera à une répé- reagiert, und so wandte sich Mendelssohn – um deren Verlust tition de son œuvre, avant la fête.“105 Er hatte sich dort mit bangend – ein letztes Mal am 18. April 1846 nach Lüttich mit dem befreundeten Schriftsteller, Literatur- und Musikjourna- der Bitte um eine Bestätigung des Erhalts: „Je vous prie de me listen Henry Fothergill Chorley (1808–1872) verabredet: „I faire savoir par quelques lignes si la partition que je vous ai come to Liege only for one day to hear my ‚Lauda Sion‘ and envoyé par Mr. Otto d’ici, ainsi qu’un Appendix que je lui ai must return to Cologn to-morrow (Friday) for the Festival. fait parvenir quelques jours après, sont arrivés chez vous. J’y But I left two billets d’entrée for the church of St Martin’s in avais joint deux lettres pour vous & espère que le tout ne se case you and Mr. Hullah may require them […].“106 Entgegen sera point egaré.“102 Den Eingang der Partitur mitsamt der einer gedruckten Ankündigung („Nous apprenons que le Nr. 6 bestätigte nun der Sohn, Edouard Magis, der den célèbre compositeur Mendelsohn viendra diriger lui-même son erkrankten Vater bei der Organisation des Festes vertrat und Lauda Sion, qui sera exécuté au grand jubilé de Saint-Martin à diesen entschuldigte, wobei er hervorhob, dass seinem Vater Liège”107) dirigierte Mendelssohn – wie vereinbart – nicht die

98 Comptes-rendus des assemblées notables du 3 juin 1805– 12 mars 1846, S. 56, in: ebd., III C 12. 99 Siehe Kritischer Bericht, Quellenbeschreibung, Quelle F. 100 Archiconfrérie du T-St-Sacrement – registre des R/D [recettes et dépenses] in: Liège, Archives paroissiales de l’église St.-Martin à Liège, III C 17, Einträge vom 13. März 1846 Nr. 39 und 40. 101 Brief vom 13. März 1846 an Henri Magis, B-Bc, 26238 B no. 8, gedruckt in: Albert van der Linden, Un Fragment [Anm. 71], S. 52. Offensichtlich handelt es sich um eine Fehlinformation, wenn Theodor Müller-Reuter, Lexikon der deutschen Konzertliteratur. Ein Ratgeber für Dirigenten, Konzertveranstalter, Musikschriftsteller und Musikfreunde, Leipzig 1909 (im Folgenden: Theodor Müller-Reuter, Lexikon), S. 111 ausführt: „Nach Lüttich ist im Februar nur die erste Nummer des Psalms geschickt worden, die andern folgten je nach Fertigstellung nach. (Nach authentischen Mitteilungen aus Lüttich.)“. Müller-Reuter geht ebenso irrtümlich von einer Aufführung ohne den besagten Chor Nr. 6 aus; ebd., S. 110, da er ebd., S. 111 glaubt, die Partiturabschrift für John Hullah (Quelle D) sei als Aufführungspartitur in Lüttich verwendet worden. 102 Brief vom 18. April 1846 an Henri Magis, B-Bc, 26238 B no. 9, gedruckt in: Albert van der Linden, Un Fragment [Anm. 71], S. 52. 103 Brief vom 20. April 1846 von Edouard Magis an Felix Mendelssohn Bartholdy, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 49, Green Books XXIII-234. Der Brief ist bislang ungedruckt. 104 La Gazette de Liége vom 8. Juni 1846. 105 La Gazette de Liége vom 4. Juni 1846. 106 Brief vom 10. Juni 1846 an Henry Fothergill Chorley, Scripps College, Claremont, CA., Ella Strong Denison Library, Perkins Autograph Letter Collection [ohne Signatur]. Der Name in der Anrede ist bis auf den letzten Buchstaben ausgeschnitten: „My dear […]y“; es ist jedoch ganz offensichtlich, dass es dort ursprünglich „Chorley“ hieß. Da der Brief datiert ist mit „Liège 10 June 1846“, muss sich Mendelssohn bereits vom Mittwoch vor Fronleichnam vor Ort befunden haben; die Angabe “to-morrow (Friday)“ bezieht sich demnach auf den 11. Juni, wohl dem Anreisetag Chorleys. In diesem Brief heißt es dann am Schluss: „Do not you come to Cologn to hear the 2000 voices? Shall I never meet you again in Deutschland? Should we not shake hands at Cologn? I wish you would say yes. Always yours Felix Mendelssohn Bartholdy.“ 107 La Belgique Musicale 6 (1846), H. 39 (29. Januar), S. 156, zweite Meldung unter der Rubrik „Nouvelles. Bruxelles“. XXIV

Aufführung, assistierte jedoch bei der Probe, wie aus seinem Zuhören sehr gut amüsirt, ud. kann mir jetzt doch ganz genau späteren Bericht an Schwester Fanny Hensel hervorgeht: „O vorstellen, wie mein Lauda Sion bei guter Ausführung klingen Belgique – daß ich nicht dirigirte, geht sehr natürlich zu: ich muß. Einiges daraus hätte Dir gefallen, glaub’ ich, ud. ich freue kam eine Viertelstunde vor der Generalprobe an, und hatte nie mich darauf es Dir vorzuspielen.“114 In der Illustrirten Zeitung daran gedacht dort auch wieder Tact zu schlagen; nun stürm- war zu lesen: „Mendelssohn componirte für das Fest eigens ten sie alle sehr auf mich ein, aber ich war zum Zuhören eine Pièce: Lauda Sion; mit der Aufführung des von Schul- gekommen und blieb meinem Plane treu.“108 Wie sehr sich der knaben gesungenen höchst schwierigen Werkes konnte man Komponist gleichwohl in die Probenarbeit einbrachte, zeigen nur unzufrieden sein, eine Unzufriedenheit, die der Componist seine zahlreichen Eintragungen (vor allem zur Dynamik und selbst, der vom Rhein herüber gekommen war und mit Artikulation) in die Aufführungspartitur.109 Die Leitung der Serenaden und Soiréen höchlich gefeiert wurde, unverholen Uraufführung hatte Henri Magis inne.110 aussprach. Was den musikalischen Werth des Werkes anbe- Während des sakramentalen Segens im Anschluss an eine langt, so ist dasselbe viel eher wahre Kirchenmusik, als die Predigt des Kurienbischofs Mgr. Baron de Wykerslooth im früher dahin einschläglichen Hervorbringungen des Meisters; Rahmen der Vesper am Nachmittag des 11. Juni 1846, dem es enthält große Schönheiten.“115 Die Wiederholung der Auf- Fronleichnamstag, erklang das Lauda Sion zum ersten Mal, führung am Sonntag, dem 14. Juni, scheint von etwas besserer wie es hieß wunderschön in Erfindung und Stil, von wesenhaft Qualität gewesen zu sein; ein gewisser J. J. Orban, bei dem geistlichem Charakter und des bedeutenden Festes angemes- Mendelssohn während des Aufenthaltes in Liège Quartier ge- sen: „Après le sermon, et pendant le salut, on exécutait le nommen hatte,116 konnte die Musik uneingeschränkt genießen magnifique Lauda Sion de Mendelssohn, magnifique de pensée und sich von der Reichhaltigkeit der Motive beeindrucken et de style, par son caractère essentiellement religieux, digne lassen, wie er dem Komponisten am 27. Juni des Jahres nach de la fête qu’on célèbre.“111 Mademoiselle Vercken, vermutlich Leipzig berichtete: „Je n’avois entendu qu’imparfaitement eine Schwester von Théophile Vercken (1823–1901), dem l’œuvre que vous avez bien voulu composer pour St Martin; Gründer der Gesangsklasse des Lütticher Konservatoriums, elle a été exécutée de nouveau pendant le Jubilé, et j’ai pu aller übernahm den Solosopran und erhielt dafür 300 Francs.112 Die l’écouter avec la tranquilité qu’exige une semblable composi- Partien in den Soloquartetten sangen außerdem die jeweils tion; la richesse des motifs et le grandiose de ce travail ont mit 30 Francs entlohnten Vorsänger Nasquinet, Brasseur und fait sur moi une vive impression.“117 Über die Wiederauffüh- Larose.113 Für die meisten Zuhörer war dies ein besonders ein- rungen am Sonntag (14. Juni) und am Montag (22. Juni), drückliches Erlebnis, obwohl die Qualität der Ausführung jeweils wiederum während des sakramentalen Segens, gibt nach übereinstimmenden Berichten eher bescheiden war; so die Publikation Souvenirs du Jubilé de 1846 Auskunft: „Le berichtete der Komponist an seine ältere Schwester: „Zudem dimanche 14, un drapeau français nous annonce que Mgr. waren die Mittel, die ihnen die Bischöfe zugestanden hatten, Parisis, évêque de Langres, officie à la messe pendant laquelle höchst mangelhaft, ud. damit wäre auch mit der einen Probe on exécute la messe de Weber; à 11 heures le Père Deschamps gar nichts zu machen gewesen. Statt dessen habe ich mich beim prêche à la Cathédrale, à 5 heures le P. De Ravignan monte en

108 Brief vom 27. Juni 1846 an Fanny Hensel, D-B, MA Ep. 108, zuerst gedruckt in: S. Hensel, Die Familie Mendelssohn [Anm. 20], Band 3, S. 239–245, das Zitat S. 242. 109 Vgl. dazu Kritischer Bericht, Quellenbeschreibung, Quelle C. 110 „EA.: 1. Lüttich, Donnerstag, d. 11. Juni 1846 (Fronleichnamstag) in der Kirche St. Martin während des Gottesdienstes nach dem Manuskript unter Leitung von Mr. Henri Magis–Ghysens; Soli von Mitgliedern des Chores gesungen.“, Theodor Müller-Reuter, Lexikon [Anm. 101], S. 110. Ebd., S. 111 heißt es: „Als 1846 die 600jährige Jubelfeier der Einsetzung des Fronleichnamsfestes in Lüttich begangen werden sollte, wollte man es mit einer besonderen Komposition des Lauda Sion verherrlichen und übertrug dieselbe M. – Die Annahme, dass M. die EA. selbst geleitet habe, ist irrtümlich, er wohnte zwar dem Feste bei, dirigierte jedoch nicht. […] Der Dirigent Magis war ein Musikliebhaber, nicht Fachmann. Wiederholung des Werkes fand am 14. Juni statt.“ 111 La Gazette de Liége vom 12. Juni 1846 sowie nahezu wortgleich in: Relation du sixième jubilé séculaire de l’institution de la Fête-Dieu, célébré au mois de juin 1846 à l’église primaire de Saint-Martin A Liége par l’auteur des esquisses historiques sur la Fête-Dieu, Ste-Julienne et l’église St.-Martin, Liége, H. Dessain, imprimeur de l’évèché, Août 1846, S. 24. Vgl. zum Festablauf selbst die zahlreichen gedruckten Programme und die mehr als 30 selbstständigen Publikationen im Nachgang des Festes (Bibliographie in Relation, ebd., S. 75–79), in denen allerdings Mendelssohns Musik nur selten Erwähnung findet. Eine kurze Zusammenfassung des Jubiläums in neuerer Zeit mit Erwähnung Mendelssohns findet sich bei Mady et Didier Bolly-Hansez, Les jubilés de la Fête-Dieu, in: Saint-Martin. Mémoire de Liège, Ausstellungskatalog, hrsg. von Marylene Laffineur-Crepin, [Liège 1990], S. 251–258. 112 Vgl. den Eintrag „Vercken, Melle, pour avoir chanté les solos“ unter „3. Frais relatifs à la musique“, in: Recettes et dépenses du jubilé de la Fête-Dieu de 1846, S. 11, Liège, Archives paroissiales de l’église St.-Martin à Liège, VI D 2. 113 Vgl. den Eintrag „Nasquinet, Brasseur et Larose, chantres pour offices pendant le jubilé, à chacun 30 francs“ unter „3. Frais relatifs à la musique“, in ebd. Die Kosten für die Musik während der bis 25. Juni andauernden Festtage insgesamt beliefen sich schließlich auf 4395,59 Francs, vgl. ebd.; davon wurden für das Orchester sowie deren Leitung und Proben 3161,94 Francs an Herrn Witmeur gezahlt, Magis erhielt „pour remboursement de diverses dépenses“ 120,26 Francs, siehe ebd. 114 Brief vom 27. Juni 1846 an Fanny Hensel [Anm. 108]. 115 Das Sechshundertjährige Jubiläum der Einsetzung des Fronleichnamsfestes zu Lüttich, in: Illustrirte Zeitung, VII. Band, Nr. 164 (22. August 1846), S. 119–120, das Zitat S. 120; unterzeichnet ist der Bericht mit „Dr. Brühl“. Siehe auch den Bericht in: Stadt=Aachener Zeitung, Nr. 165 (14. Juni) 1846. 116 La Gazette de Liége hatte bereits in ihrer Ausgabe vom 1. Juni 1846 mitgeteilt: „Nous apprenons que M. Orban père a bien voulu mettre sa maison à la disposition du conseil de fabrique de St.-Martin, pour recevoir M. Mendelssohn pendant le séjour que cet artiste fera dans notre ville.“ 117 Brief vom 27. Juni 1846 von J. J. Orban an Felix Mendelssohn Bartholdy, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 49, Green Books XXIII-327. XXV chaire à St.-Martin; ce sermon est suivi du salut pendant auch kirchenmusikalische Traditionalisten. Der Autor des in lequel on exécute pour la seconde fois le Lauda Sion de Briefform abgefassten Berichtes „Du Jubilé de Liège, et de Mendelssohn.“118 „Le lundi 22 la messe pontificale fut chantée l’état de la musique religieuse en Belgique“123 äußerte aus- par Mgr. Giraud, archevêque de Cambray; le P. De Ravignan führlich und anschaulich seine Unzufriedenheit über den prêcha à St-Paul à 11 heures et M l’abbé Dupanloup à 5 heures zeitgenössischen Umgang mit dem historischen Erbe des à St-Martin où l’on exécuta pour la 3e fois le magnifique Mittelalters; zunächst hinsichtlich der Architektur, dann auch Lauda Sion de Mendelssohn.“119 Noch zweieinhalb Jahre spä- hinsichtlich der Musik. Im Irrglauben, er würde „j’aurais ter, aus Anlass der ersten Aufführung des Stückes in England voulu y rencontrer les fils des croisés et non pas les contem- durch John Hullah (1812–1884), erinnerte sich der Rezensent porains de Voltaire“124, beschwerte er sich über den neuen der Zeitung The Musical World an die unzureichende Qualität Anstrich des Innenraums und die Ausstattung der Kirche, die der ersten Aufführung: „The execution did not at all satisfy ihn an den Salon Ludwigs XV. oder das Boudoir der Madame Mendelssohn. The locale, a church, was unfavourable, and the de Pompadour erinnerten. Sodann erwartete er die gregoria- anticipatory rehearsals of the choral and instrumental forces nische Melodie des Lauda Sion von den zwölf anwesenden had not been well conducted. […] and [Mendelssohn] left Bischöfen, zahlreichen Priestern und weiteren dreihundert Liege with no very exalted idea of the musical capabilities of Stimmen gesungen zu hören, statt dessen vernahm er the Belgians.“120 Deshalb hätte die Aufführung des Lauda Sion „Violinen, Bässe, Klarinetten, falsche Stimmen, unmenschliche in Lüttich im Gegensatz zu den Konzerten des im gleichen Schreie“ und Pauken eines deutschen Komponisten, der zwar Jahr stattfindenden Festival in Aix-la-Chapelle, des Sänger- groß, jedoch mit den religiösen Gepflogenheiten vor Ort nicht festes in Köln und des Birmingham Musical Festival eine „com- vertraut sei: „Vous croyez peut-être qu’il n’y a dans le chant paratively cold reception“121 erfahren. Ein solcher Vergleich ecclésiastique rien de plus beau au point de vue de l’art, rien de mit den Aufführungen der großen Chorwerke des Jahres 1846 plus respectable et de plus convenable sous le rapport religieux – vor allem mit dem in Birmingham – zeigt, dass man in que la belle prose de saint Thomas d’Aquin: Lauda, Sion, England im Lauda Sion vor allem ein großbesetztes, mit allge- Salvatorem. Vous croyez qu’il est impossible qu’on ait songé à mein geistlichem Text (zumal in der sehr freien Übersetzung supprimer en cette circonstance cette magnifique mélodie dont William Bartholomews für die Londoner Aufführung) ver- le clergé catholique devrait être fier comme il est fier des cathé- sehenes Werk für Chor und Orchester erkannte, weniger ein drales de Reims et de Cologne? Détrompez-vous: c’est là un explizit liturgisches Stück Kirchenmusik. Doch dies genau war produit barbare de ce moyen-âge qu’on méprise. C’est M. es offensichtlich für Mendelssohn. Gerade den Kirchenraum Mendelssohn-Bartholdy, grand musicien de l’Allemagne, und die Wechselwirkung mit der Liturgie hielt Mendelssohn étranger à notre foi, ignorant notre culte, qui a été chargé de für unerlässlich, um dem Stück die volle Wirkung zukommen refaire la musique du Lauda Sion. M. Mendelssohn est un zu lassen. Eben jenem befreundeten John Hullah, dem er eine artiste d’un mérite immense, j’en conviens; s’il veut rendre Abschrift des Stückes bei dessen Anwesenheit zur hommage à la religion catholique par la composition de Uraufführung in Liège oder bei einem späteren quelque pièce musicale, qu’on l’accueille et qu’on admire son Zusammentreffen im August des Jahres in London schenkte, talent, à la bonne heure; mais pour cette fête, pour cet anniver- ließ er nach Anfrage durch Carl Klingemann ausrichten: „P.S. saire, qu’on sacrifie et qu’on jette au rebut un des chefs-d’œu- Hullah kann das Lauda Sion aufführen wenn er will; aber ich vre de l’art religieux, une mélodie qui se rattache comme néces- gebe zu bedenken dass es sich kaum ohne katholische Kirche sairement à tous les souvenirs de la fête dont on solennise l’in- ud. Ceremonie gut ausnehmen kan.“122 stitution, c’est ce qui ne se peut expliquer que par une aberra- Andererseits zeigt ein ausführlicher Bericht im zweiten Band tion d’esprit vraiment condamnable. […] rien n’eût produit der Revue de la musique religieuse, populaire et classique, dass plus d’impression que ce magnifique chant du Lauda Sion Mendelssohn offenbar nicht nur manche Ohrenzeugen ent- éntonné par deux ou trois cents voix. Au lieu de cela, on a eu täuschte, die ein professionelles Chorkonzert – ähnlich derjeni- des violons, des basses, des clarinettes, des voix fausses, des cris gen im Rahmen der großen Festivals – erwarteten, sondern inhumains, des tymbales, et, au milieu de tout ce bruit, une

118 Souvenirs du Jubilé de 1846, Pot-pourri, S. 28–29. Neben der nicht näher bezeichneten Messe Carl Maria von Webers, bei der es sich um eine der beiden gedruckten op. 75 (Nr. 1, Es-Dur) oder op. 76 (Nr. 2, G-Dur) handeln dürfte, erklang als dritte große Figuralmusik während des Jubiläums im Pontifikalamt am Fronleichnamstag um 11 Uhr Luigi Cherubinis Messe solennelle A-Dur (Krönungsmesse Karls X.) von 1825, siehe La Gazette de Liége vom 12. Juni 1846: „C’est M. H. Magis qui a dirigé hier la messe du sacre de Cherubini et le Lauda Sion de M. Mendelssohn; ce dernier se trouvait parmi les fidèles.“ sowie Relation du sixième jubilé séculaire de l’institution de la Fête-Dieu, célébré au mois de juin 1846 à l’église primaire de Saint-Martin à Liége par l’auteur des esquisses historiques sur la Fête-Dieu, Ste-Julienne et l’église St.-Martin, Liège 1846, S. 23: „Un foule immense assistait à ce premier office, pendant lequel cent cinquante musiciens exécutaient avec une verve remarquable la belle messe du sacre de Chérubini.“ 119 Souvenirs du Jubilé de 1846, Pot-pourri, S. 59. 120 Mendelssohn’s Lauda Sion, Etc., in: The Musical World 23 (1848), No. 53 (30. Dezember), S. 833–835 (im Folgenden: Musical World), das Zitat S. 833. 121 Ebd. 122 Brief vom 19. Januar 1847 an Carl Klingemann, D-B, MA Ep. 171, zuerst gedruckt in: Briefwechsel mit Klingemann [Anm. 24], S. 319. 123 In: Revue de la musique religieuse, populaire et classique, Band 2, Paris 1846, S. 185–190. Der Bericht, der auf S. 179 angekündigt wird, ist mit „F. Danjou. Bruxelles, 18. Juin 1846“ unterzeichnet. 124 Ebd., S. 185. XXVI jeune dame chantant des roulades sur les paroles saintes: Ecce me amends for all their bad playing and singing, – and I shall panis angelorum!!! …. Je renonce à caractériser un fait aussi hear the rest better some other time‘“.131 affligeant.“125 Das Plädoyer für die Restauration gipfelt in der Ein weiteres Mal konnte der Komponist sein Lauda Sion nicht Forderung: „[…] il fallait chasser des temples ces musiques hören; die Aufführung am 21. Dezember 1848 in London sensuelles et profanes pour rapprendre au peuple les chants de durch John Hullah in englischer Sprache scheint die zweite l’Église, et ces chants auraient été des liens qui l’auraient Aufführung überhaupt gewesen zu sein.132 In der ausführlichen attaché fortement au sanctuaire catholique.“126 Ähnliche Kritik Besprechung von The Musical World heißt es: „Mr. HULLAH wird von einem anonymen Zuhörer einer Probe vom 7. Juni opened his season on Thursday night, the 21st inst., with geäußert, das Werk sei insgesamt zu lang und weder genug a programme of very great interest. The Lauda Sion of feierlich noch genug geistlich: „Répétition du Lauda Sion de Mendelssohn and Handel’s Alexander’s Feast were both given Mendelssohn composé pour ces fêtes. S’il nous est permis de entire. The principal feature, however, was the former, which dire notre pensée sur cette œuvre, les solos étaient gracieux had never been previously heard in this country. The Lauda mais trop prolongés; la composition n’était ni assez solennelle, Sion is probably the last work of magnitude that Mendelssohn ni assez religieuse, elle était trop longue, et les passages les plus lived to complete.“133 Hullah plante, nachdem er vom Tod des mélodieux et les plus beaux étaient ceux qui se rapprochaient Komponisten gehört hatte, ein Gedenkkonzert mit Werken du plain chant. Quel plain chant aussi que celui du Lauda von ihm. Aber erst zu Beginn der aktuellen Saison kam das mit Sion! C’est ainsi que l’on devrait chanter la prose sublime de Spannung erwartete Lauda Sion zu Gehör. Es erklang nicht S. Thomas!“127 der lateinische Originaltext, denn „their strong papal tendency, In einem detaillierten Bericht bedauerte auch Henry Chorley128 however, unfitted them for the English public, and more espe- die ausdrucks- und lieblose „execution” von Mendelssohns cially for the audiences who are accustomed to patronise the Musik: „It was a pity that those who had commissioned such a sacred performances in Exeter Hall. It was with a view to composer to write such a work, had so entirely miscalculated obviate this difficulty that Mr. Bartholomew, at Mendelssohn’s their means of presenting it, even respectably. […] the chorus suggestion, wrote a new poem in English, and adapted it to was toneless, and out of tune […].“129 Jedoch entdeckte Chorley the music of the Lauda Sion.“134 den besonderen Moment während des liturgischen Mendelssohns Ansichten zur Verwendung seines Lauda Sion Höhepunktes, der dem Werk genau die Funktion und Geltung als Konzertstück mit einer freien englischen Übersetzung verschaffte, welche Mendelssohn bei seiner Komposition im scheinen ambivalent gewesen zu sein; hatte er noch im Januar Sinn hatte: „But in the last verse, alle breve – ‚Ecce panis angelo- 1847 seine generelle Skepsis gegenüber einer rein konzertanten rum‘ – there came a surprise of a different quality. It was sceni- Aufführung durch Hullah bekundet135, schrieb er diesem cally accompanied by an unforeseen exposition of the Host, in Anfang Oktober des Jahres: „Having mentioned to Mr. a gorgeous gilt tabernacle, that slowly turned above the altar, so Buxton, the bearer of these lines, that I wished to have English as to reveal the consecrated elements to the congregation. words to my Lauda Sion, (not a translation of the Latin verses, Incense was swung from censers; and the evening sun, breaking but rather if possible something different from their meaning in with a sudden brightness, gave a faery-like effect to the curl- and yet adapted to the music) he wished to see the Score, and ing fumes as they rose; while a very musical bell, that timed the I accordingly write these lines to beg you to lend him the movement twice in a bar, added its charm to the rite.“130 Und Copy, which is in your hands, for that purpose.“136 William weiter beschreibt Chorley Mendelssohns Reaktion, die aus- Bartholomew hatte Mendelssohn seine Übersetzung noch im drückte, dass dem Komponisten diese Wechselwirkung von September 1847 zugesandt, doch dieser konnte nicht mehr liturgischem Zeremoniell, Kirchenraum und Musik besonders reagieren. Weiterhin ist im Bericht die Rede von acht wichtig war: „I felt a quick grasp on my wrist, as Mendelssohn Einzelsätzen. Da jedoch sowohl die Partitur Hullahs als auch whispered to me, eagerly, ‚Listen! how pretty that is! it makes die englische Fassung nicht die Fuge Nr. 6 enthält, handelt es

125 Ebd., S. 186–187. Zur Musik selbst, deren Zeitdauer er auf eine Stunde schätzt, könne der Rezensent freilich nichts sagen, da er nicht zugehört habe. 126 Ebd., S. 188. 127 Sixième jubilé séculaire de l’institution de la Fête Dieu à Liége, [ohne Ort 1846], S. 2. 128 Henry Fothergill Chorley, Modern German Music, London 1854 (Reprint New York 1973), Band 2, S. 320–327. Abgedruckt ist der Bericht aus Lüttich auch in: Ernest David, Les Mendelssohn-Bartholdy et Robert Schumann, Paris 1886, S. 198–199 und in: Lothar Schmidt, Kirchenmusik [Anm. 67], S. 178–180. 129 Ebd., S. 324. 130 Ebd., S. 326–327. 131 Ebd., S. 327. 132 Theodor Müller-Reuter, Lexikon [Anm. 101], S. 111 fehldatiert die bereits oben erwähnte Aufführung: „Die Manuskriptpartitur hatte M. dem englischen Musikpädagogen Dr. John Hullah zum Geschenk gemacht, der denn auch die erste englische Aufführung in London am 22. Mai 1850 veranstaltete.“ 133 Musical World [Anm. 120], S. 833. 134 Ebd. 135 Vgl. Anm. 122. 136 Brief vom 4. Oktober 1847 an John Hullah, Royal College of Music London, Library, MS 6957. XXVII sich entweder um einen Irrtum, oder das Orchestervorspiel Lauda Sion getroffen. Am 18. November des Jahres mahnte ist mit hinzugezählt worden. Es folgen genaue Besprechungen der Verlag: „Indem wir […] die erfreuliche Versicherung nach der Einzelsätze; wobei es zum letzten Satz heißt: „It is not Mainz zurück brachten, daß ihr Werk Lauda Sion für unsern _ too much to say that no composer could have written this Verlag bestimt wäre, so hoften wir diese Composition auch movement but Mendelssohn; it has all the individuality of his schon im Laufe dieses Winters heraus geben zu können, style, without any intrusion of what, with deference, may be und erwarteten zeither vergeblich auf den Empfang des sometimes termed his mannerisms. From the above it will be Manuscripts.“141 Drei Wochen später entschuldigte sich readily concluded that we regard the Lauda Sion as one of Mendelssohn bei Schott: „Durch vielfache Geschäfte bin ich Mendelssohn’s capital productions, […].“137 zeither verhindert worden die Partitur des Lauda Sion für den In Dresden war eine Aufführung avisiert worden, wie aus Druck fertig zu machen. Ich hoffe aber bestimmt, daß dies einer Mitteilung des Geheimrates Wolf Adolf August Freiherr noch im Laufe des Winters geschehen wird und werde alsdann von Lüttichau (1786–1863), Direktor der Hofkapelle und gewiß nicht säumen, Ihnen Anzeige davon zu machen und das Hoftheaterintendant, vom Oktober 1846 hervorgeht, in der Manuscript zu übersenden.“142 Nicht im Laufe des Winters er schrieb, „daß ich am Sonntag [1. November 1846], Sr: Maj. und auch nicht während des Jahres 1847 fand Mendelssohn die dem König [Friedrich August II.] Ihre mir in Leipzig jetzt Zeit, den Druck vorzubereiten. Am 30. Juli 1848 sandte Cécile eingehändigte Kirchen-Musik: Lauda Sion, übergebe“.138 Doch Mendelssohn Bartholdy jeweils eine Abschrift Weissenborns dabei blieb es offenbar. Einer weiteren frühen Aufführung am von Partitur und Klavierauszug des Lauda Sion143 nach Mainz 22. März 1849 im Gewandhaus zu Leipzig139 unter Leitung mit den Worten: „Beifolgend erhalten Sie die Partitur und den von Julius Rietz scheint schon der postume Partiturdruck von Clavierauszug des, Ihnen von meinem seeligen Manne verspro- Schott (als op. 73) zugrunde gelegen zu haben. chenen Lauda Sion. Herr Advocat Schleinitz in Leipzig versi- In allen frühen – sämtlich postumen – Drucken fehlt die Fuge chert mir, daß er alle Verabredungen, die Herausgabe betreffend, „Sub diversi speciebus“ (Nr. 6), und auch die Quellen zu die- mit Ihnen abgeschlossen.“144 Die letzte Korrektur solle Kapell- sem Satz waren bis 1954 unbekannt.140 Zuerst erschien Anfang meister Julius Rietz zur Durchsicht erhalten. Am 24. September 1848 ein zweisprachiger Klavierauszug bei Ewer & Co., mit des Jahres waren die Vorbereitungen und Korrekturen offenbar lateinischem und dem englischen Text von Bartholomew. abgeschlossen, denn an diesem Tag bat die Witwe Mendelssohn Grundlage dafür war offenbar ein handschriftlicher Klavier- um Überweisung des vereinbarten Betrages. auszug von Julius Rietz, dem Bartholomew seinen Text hinzu- setzte. Kurz hintereinander um den Jahreswechsel 1848/49 Salve Regina MWV C 2 und Ave maris stella MWV C 3 kam es im Verlag Schott in Mainz zur Drucklegung eines Klavierauszugs, dem neben dem lateinischen ein deutscher Text Mendelssohns geistliche Kompositionen für eine Solostimme unbekannter Herkunft unterlegt ist, und der Partitur, deren und Orchester bilden nur eine relative kleine Werkgruppe. Das Textunterlegung schließlich in den drei Sprachen lateinisch, Salve Regina MWV C 2 entstand im April 1824; es ist davon deutsch und englisch gehalten ist. Dem folgte die in den 1870er auszugehen, dass Mendelssohns Lehrer Carl Friedrich Zelter Jahren erschienene „Kritisch durchgesehene Ausgabe“ von ihn zur Vertonung dieses Textes anregte. Die Marienantiphon Julius Rietz (sogenannte Alte Gesamtausgabe), wo allerdings Salve Regina gehört zum letzten gemeinsamen Stundengebet der englische Text wieder getilgt wurde. des Tages, wird demnach am Schluss der Komplet (oder aber Obwohl Mendelssohn wohl schon seit Anfang 1846 fest mit der Vesper) gesungen und ist somit im Antiphonale Romanum einer Drucklegung rechnete und auch Schott diese einplante, enthalten. Ihren textlichen Ursprung hat sie um das Jahr 1000, sind die beiden Klavierauszüge wie auch die Partitur als nicht während der letzte Vers ein Zusatz von Bernhard von autorisiert anzusehen. Schon beim Sängerfest in Köln, kurz Clairvaux (ca. 1090–1153) ist. Seit dem frühen 18. Jahrhundert nach der Uraufführung in Lüttich, hatte Mendelssohn mit lässt sich bei Vertonungen des Mariengesangs verstärkt die ita- Schott verbindliche Absprachen zur Drucklegung seines lienische Tradition beobachten, diesen nur solistisch mit hoher

137 Musical World [Anm. 120], S. 834. 138 Brief vom 27. Oktober 1846 von August von Lüttichau an Felix Mendelssohn Bartholdy, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 50, Green Books XXIV-108. 139 Siehe Theodor Müller-Reuter, Lexikon [Anm. 101], S. 110 sowie Alfred Dörffel, Geschichte der Gewandhausconcerte zu Leipzig vom 25. November 1781 bis 25. November 1881, Leipzig 1884, S. 186. 140 Erst Albert van der Linden, Un Fragment [Anm. 71], machte die Aufführungspartitur in Brüssel ausfindig; zu diesem Zeitpunkt wusste man noch nicht, dass auch die autographe Partitur, die sich seit 1945 in Kraków befindet und damals noch nicht zugänglich war, diesen Satz im Anhang enthält. 141 Brief vom 18. November 1846 vom Verlag Schott & Söhne an Felix Mendelssohn Bartholdy, GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn d. 50, Green Books XXIV-142. 142 Brief vom 8. Dezember 1846 an den Verlag Schott & Söhne, Stadtarchiv Mainz, Schottsche Autographen-Sammlung [ohne Signatur], gedruckt in: Hellmut Federhofer, Zwei Mainzer Sammlungen von Musikerbriefen des 19. Jahrhunderts (= Mainzer Zeitschrift. Mittelrheinisches Jahrbuch für Archäologie, Kunst und Geschichte, Jg. 61/62, 1965/66), S. 13. 143 Siehe Kritischer Bericht, Quellenbeschreibung, Quelle G. 144 Brief vom 30. Juli 1848 von Cécile Mendelssohn Bartholdy an den Verlag Schott & Söhne, Stadtarchiv Mainz, Schottsche Autographen-Sammlung [ohne Signatur], teilweise gedruckt in: Hellmut Federhofer, Zwei Mainzer Sammlungen von Musikerbriefen des 19. Jahrhunderts (= Mainzer Zeitschrift. Mittelrheinisches Jahrbuch für Archäologie, Kunst und Geschichte, Jg. 61/62, 1965/66), S. 13. XXVIII

Frauenstimme und Streichern zu besetzen. So tritt in den führung des Stückes am 27. Mai 1829 mehrfach durch die Salve-Regina-Kompositionen von Giovanni Battista Bassani Widmungsträgerin in der Tagespresse angezeigt: „Kirchen- (1692), Georg Friedrich Händel (HWV 241, 1707, bezeichnet musik. | Mit Allerhöchster Genehmigung wird Unterzeichnete, als „Geistliches Konzert“), Giovanni Battista Pergolesi (1736), unterstützt von mehreren ausgezeichneten Künstlern und Johann Adolph Hasse (1744), Domenico Scarlatti (1757) und Dilettanten die Ehre haben, Mittwoch den 27. d. M., noch Franz Schubert (op. 153, 1817) das Wesen einer transpa- Nachmittags um halb 5 Uhr, in der hiesigen Marien=Kirche renten, konzertant-melodischen und empfindsam-lieblichen nachfolgende geistliche Musik=Aufführung, zum Besten der Arie gleichermaßen zutage. Mendelssohn knüpft mit seinem durch die große Ueberschwemmung in Ost= und Salve Regina ganz bewusst an diese Tradition an. Losgelöst West=Preußen Verunglückten zu veranstalten, als: […] 8) Ave von der liturgischen Funktion präsentiert es sich als reizvolles maris Stella von Felix Mendelssohn Bartholdy, vorgetragen Konzertstück mit geistlichem Text und will dabei musikalisch von Anna Milder. […] Billets à 10 Sgr. sind zu haben […] Anna auch die Vorbilder Johann Christian Bach und Wolfgang Milder.“149 Diese Aufführung fand jedoch nur mit Amadé Mozart nicht verleugnen. Orgelbegleitung statt, wie aus den Rezensionen hervorgeht.150 Diesem Charakter ganz ähnlich ist das Ave maris stella MWV Drei Tage nach dem Konzert war in einer Tageszeitung zu C 3. Der Mariengesang, fertiggestellt am 5. Juli 1828,145 ist für lesen: „Geistliche Musik. | Mme. Milder hat sich um die die berühmte Sopranistin Anna Pauline Milder-Hauptmann Tonkunst, wie um die Nothleidenden in Preußen ein gleich (1785–1838)146 bestimmt und ihr durch Widmung auf der auto- ehrenvolles Verdienst durch die am 27sten d. Nachm. in der graphen Partitur und den Stimmen zugeeignet. Die Vermutung, St. Marienkirche veranstaltete, und von mehreren ausgezeich- auch das Salve Regina könnte bereits für sie gedacht gewesen neten Künstlern und Dilettanten unterstützte Musik= sein, ist nicht abwegig, da sich Komponist und Sängerin bereits Aufführung erworben. Die wohl gewählten Gesänge ernster seit spätestens 1822 persönlich kannten.147 Für sie schrieb Gattung wurden nur von der Orgel begleitet. […] Ein schöner Mendelssohn kurz darauf auch das Stück „Tutto è silenzio“ Gesang von F. Mendelssohn=Bartholdy: ‚Ave maris stella‘ MWV H 2. Einige Wochen vor der Komposition des Ave maris sprach durch angenehme Melodie und den empfindungsvollen stella, am 18. April 1828, hatte Milder-Hauptmann die Sopran- Vortrag der Mme. Milder, besonders im Anfangs= und partie in der Uraufführung der Festmusik MWV D 1 zur Schlußsatz, ungemein an.“151 Wenig später berichtete auch die Dürer-Feier gesungen, im März 1829 sang sie bei der Wieder- überregionale Presse: „Am 27. gab auch Mad. Milder […] ein aufführung der Matthäus-Passion von J. S. Bach unter Mendels- Concert in der Marienkirche, in welchem die Orgel mit Recht sohns Leitung. Dass es sich beim Ave maris stella um eine das einzige begleitende und Solo-Instrument war. […] Ein regelrechte Auftragskomposition handelt, wird aus einem Brief Solosopran-Gesang von Felix Mendelssohn-Bartoldy: ‚Ave von Lea Mendelssohn an ihre Cousine Henriette Pereira- maris stella‘ zeigte Erfindungsgeist, frische Melodie und Kunst Arnstein nach Wien deutlich: „Die Milder macht ihre alljährliche des Satzes. Mad. Milder sang diese Composition besonders Reise und hat Felix gebeten, ihr dazu ein Kirchenstück mit innig und schön.“152 In Mendelssohns Ave maris stella sind Orgel und Blasinstrumenten zu schreiben. Gestern früh brachte nur die ersten drei von sieben Strophen des Hymnus, der seit er es ihr; sie war davon so entzückt, daß sie es unter beständigen dem 8. Jahrhundert überliefert ist und in der Vesper an Thränen sang und ihn umarmte. Denk Dir diese kalte Marienfesten seinen liturgischen Platz hat, vertont. Dabei ver- Princeß!“148 Wohin genau die Sängerin die Konzertreise im setzte der Komponist einzelne Textbausteine entsprechend Sommer 1828 führte und ob und wo sie das Ave maris stella dem musikalischen Kontext. Wie beim Salve Regina ist auch sang, ist nicht bekannt. Jedenfalls wurde die Berliner Erstauf- hier nicht in einer kirchlichen, sondern in der personenbezo-

145 Rudolf Werner, Kirchenmusiker [Anm. 8], S. 98 erklärt zum Stück ohne Nachweis: „Eine flüchtig hingeworfene, in einem Tage niedergeschriebene Komposition von untergeordneter Bedeutung.“ 146 Vor ihrer Übersiedlung von Wien nach Berlin hatte sie die Titelrolle bei den Premieren von Beethovens Leonore bzw. Fidelio übernommen; es wurden für sie auch von anderen Komponisten, so von Salieri und Cherubini, Partien geschrieben. 147 Zum Auftritt des jungen Felix Mendelssohn bei einem Konzert der „Prima donna assoluta“ Berlins siehe Allgemeine musikalische Zeitung 25 (1823), Nr. 4 (22. Januar), Sp. 55. Milder-Hauptmann war außerdem Mitglied der Singakademie. Erstmals vermutete Rudolf Werner, Kirchenmusiker [Anm. 8], S. 27 eine Bestimmung für Milder, da einige „Bleistiftvermerke der Partitur […] auf Primadonnen-Allüren schließen“ ließen, ebd., Anm. 23. Das Ave maris stella bilde laut Werner „in jeder Beziehung ein Seitenstück zu der 1824 entstandenen Hymne ‚Salve Regina‘. Sie steht wie jene im Zeichen Mozarts, entfernt sich durch ihre konzertierenden Elemente vom Kirchlichen und ist – als Entgegenkommen für die Sängerin – noch reichlicher mit bravourösen Koloraturen und kleinen Verzierungen ausgestattet.“, ebd. S. 98. 148 Brief vom Juni [1828] von Lea Mendelssohn Bartholdy an Henriette von Pereira-Arnstein, Datum und Standort des Originalbriefes unbekannt, zitiert nach Teilabschrift in: GB-Ob, MS. M. Deneke Mendelssohn c. 29, fol. 60v. Keine Erwähnung des Ave maris stella findet sich in den publizierten Briefen: Ewig die deine. Briefe von Lea Mendelssohn Bartholdy an Henriette von Pereira-Arnstein, hrsg. von Wolfgang Dinglinger und Rudolf Elvers, Hannover 2010. An anderer Stelle tituliert Lea die Sängerin als „eigensinnige Theaterprinzeß“, Brief vom 19. und 20. Januar 1831 von Lea Mendelssohn Bartholdy an Henriette von Pereira-Arnstein, D-B, MA Nachl. 15, Nr. 47, gedruckt in: Ebd., Band 1 Briefe, S. 226–229, das Zitat S. 229. 149 Zuerst in Haude und Spenersche Zeitung [Anm. 63], Nr. 117, 21. Mai 1829, S. 8, dann gleichlautend in Haude und Spenersche Zeitung, Nr. 120, 25. Mai 1829, S. 12, und schließlich mit leicht abweichendem Text auch in: Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats= und gelehrten Sachen, Nr. 117, 21. Mai 1829. Bei diesem Konzert wirkten außerdem die Organisten Eduard Grell, August Wilhelm Bach und K. M. Belke sowie die Sopranistin Auguste Thürrschmidt mit. 150 Ein teilweise erhaltener Stimmensatz (Quelle B) zeugt hingegen auch von einer Aufführung mit Instrumenten, jedoch wohl ohne die Orgel, da dort die ersten zehn Takte (Vorspiel) für die tiefen Streicher (Basso), offenbar die Celli, ergänzt worden sind. Siehe dazu auch: Kritischer Bericht. 151 Haude und Spenersche Zeitung [wie Anm. 63], Nr. 125, 30. Mai 1829, S. 7. 152 Allgemeine musikalische Zeitung 31 (1829), Nr. 27 (8. Juli), Sp. 456. XXIX genen Zweckbestimmung der Hauptgrund für das Schatten- Herzlich gedankt sei den Bibliotheken, die Reproduktionen dasein des hinsichtlich seiner musikalischen Substanz unter- von Seiten der bei ihnen aufbewahrten Originalquellen ermög- schätzten Solowerkes zu sehen; wie jenes blieb auch das Ave licht haben: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kultur- maris stella bis ins 20. Jahrhundert ungedruckt. besitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv (Roland Schmidt-Hensel); Bibliothèque du Conservatoire royal de „The Lord God Almighty“ MWV C 4 Bruxelles (Maroussia Verhoeven und Olivia Wahnon de Oliveira); Biblioteka Jagiellońska, Kraków (Małgorzata Krzos Das elftaktige Accompagnato-Rezitativ entstand, so berichten und Krystyna Pytel); Bodleian Library, University of Oxford es Charlotte Moscheles153 und Frederick Georg Edwards (Martin Holmes und Colin Harris); Wienbibliothek (Thomas (1853–1909),154 innerhalb weniger Minuten am 28. August 1846. Aigner). Außerdem sei folgenden Bibliotheken gedankt, die Zwei Tage zuvor hatte Mendelssohn die Uraufführung seines Einsicht gewährten in handschriftliche Quellen (Musikalien, Elias MWV A 25 beim Vormittagskonzert des Birmingham Briefe und Dokumente) ihrer Bestände: Scripps College, Musical Festival dirigiert. Das letzte Vormittagskonzert des Claremont, CA; Universitätsbibliothek Johann Christian Festivals, das von Ignaz Moscheles geleitet wurde, bestand aus Senckenberg, Abteilung Musik, Theater, Film, Frankfurt am einem gemischten Programm verschiedener, meist geistlicher Main (Ann Kersting-Meuleman); University of Leeds, Leeds Werke; neben einer Ouvertüre von Méhul, dem 23. Psalm von University Library, Brotherton Collection; Leipzig, Stadtge- Moscheles, Teilen aus Beethovens Missa solemnis und dem schichtliches Museum (Kerstin Sieblist); Stadtarchiv Leipzig; Schlusschor von „ am Ölberg“ sowie der Hymne Archives de l’Evêché de Liège (Christian Dury); Archives „Gott, du bist groß“ von Louis Spohr erklang auch der zweite paroissiales de l’église St.-Martin à Liège (André de L’Arbre SJ); Chor aus dem Coronation-Anthem Zadok the Priest HWV 258 Liège, Bibliothèque Ulysse Capitaine (Monique Smal); Archives von Georg Friedrich Händel. Charlotte Moscheles zitiert bei de l’État à Liège (Anne Jacquemin); British Library, London der Schilderung dieses Konzertes den Tagebucheintrag ihres (Nicolas Bell); Royal College of Music London, Library (Peter Mannes: „Dabei ereignete sich folgende Episode. Die Stimmen Horton); Musikverlag Schott Music, Verlagsarchiv, Mainz eines kleinen, in den Textbüchern gedruckten Recitativs waren (Monika Motzko-Dollmann); Music Division, New York Public nicht bei der Hand. Eine grosse Verlegenheit. Mendelssohn half Library for the Performing Arts, Astor, Lenox and Tilden aus, indem er in einem Nebensaale, während die vorhergehen- Foundations; The Morgan Library & Museum, New York, den Stücke des Concerts gemacht wurden, das Recitativ compo- Morgan Collection, Musicians Letters; Gesellschaft der Musik- nirte, instrumentierte und die Stimmen copirte; diese wurden freunde Wien, Bibliothek (Otto Biba und Ingrid Fuchs). dann – die Dinte nur halb getrocknet – ohne Probe von dem Die Werke „Herr Gott, dich loben wir“ MWV A 20 und Ave Orchester vortrefflich gespielt und das Publikum merkte maris stella MWV C 2 erschienen als Erstausgaben 1996 bzw. Nichts. So macht’s ein Mendelssohn.“155 Diesen recht kuriosen 1993 im Carus-Verlag Stuttgart (Verwendung mit freundlicher Kompositionsprozess schilderte 50 Jahre nach der Uraufführung Genehmigung des Verlages). etwas ausführlicher auch Edwards. Ihm zufolge stammt der im Sophie Michel danke ich vielmals für Ihre Hilfe beim Umgang Textbuch gedruckte Rezitativ-Text offenbar von Reverend John mit französischsprachigen Dokumenten. Wertvolle Hilfe und viel- Webb und wurde bereits bei den Festivals 1837 (kurz nach der fältige Anregungen, die maßgeblich zum Gelingen des Bandes Amtseinführung der Königin Viktoria) und 1840 gesungen. Der beitrugen, gaben der Editionsleiter Christian Martin Schmidt Text geht auf die Dichtung „When King David was old“ zurück, sowie die Mitarbeiter der Forschungsstelle „Leipziger Ausgabe die bei den vorangehenden Festivals seit 1820 gesungen der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy“ Ralf Wehner, wurde.156 Zwar schrieb laut Edwards nicht Mendelssohn selbst Birgit Müller und Camille Richez. Ihnen sei herzlich gedankt. die Stimmen aus, sondern der erfahrene Kopist William Goodwin, im Übrigen aber deckt sich der etwas detailliertere Bericht mit dem Tagebucheintrag von Moscheles.157 * Leipzig, 3. Februar 2014 Clemens Harasim

153 Aus Moscheles’ Leben. Nach Briefen und Tagebüchern, hrsg. von Charlotte Moscheles, Leipzig 1873, Band 2, S. 157 (im Folgenden: Aus Moscheles’ Leben). 154 F. G. Edwards, The History of Mendelssohn’s Oratorio ‚Elijah‘, London 1896 (im Folgenden: F. G. Edwards, Elijah), S. 93. 155 Aus Moscheles’ Leben [Anm. 153]. 156 Vgl. F. G. Edwards, Elijah [Anm. 154], ebd. Fußnote. 157 Vollständig lautet der Bericht von Edwards: „At the […] concert, on Friday morning, the final chorus of Handel’s ‘Zadok the Priest’ was set down for performance. Almost at the last minute it was found that there was no music for the preceding Recitative printed in the wordbook. The Committee were in a fix, and then they suddenly thought that Mendelssohn might be able to help them in their hour of need. He was sitting in the Vice-President’s gallery, enjoying the performance, when the chairman of the Orchestral Committee, the late Mr. J. F. Ledsam, went to him and stated their difficulty. Mendelssohn at once proceeded to the ante-room, and, in a few minutes, composed a recitative for tenor solo, with accompaniment for strings and two trumpets. The parts were expeditiously copied by the indefatigable Goodwin, and the whole recitative was performed prima vista by Mr. Lockey, a quintet of strings, and the two trumpet players. The audience were entirely ignorant of the circumstance of this impromptu composition, and doubtless thought that they were listening to music by Handel.“, F. G. Edwards, Elijah [Anm. 154], ebd. Vgl. auch den Bericht von William Goodwin in Quelle C, siehe Kritischer Bericht, Quellenbeschreibung.