SON 437 S.XII-XXIX Neu SON

SON 437 S.XII-XXIX Neu SON

XII Einleitung Die geistlichen Vokalwerke Felix Mendelssohn Bartholdys, die frühen Meisterwerk die Eindrücke wider, die der 16-Jährige in diesem Band ediert sind, weisen eine Vielfalt musikalischer von der französischen Kirchenmusik gewann. Bestimmt wurde Charakteristika auf, die vor allem durch den jeweiligen diese maßgeblich von Luigi Cherubini, dem Mendelssohn auch Entstehungshintergrund begründet sind und die sich in ihrer persönlich begegnete. Aus den Briefen Mendelssohns ist die musikalischen Faktur und Form ausdrücken. Der Band enthält Unzufriedenheit mit der vor allem „unernsten“ Kirchenmusik Werke für gemischten Chor und groß besetztes Orchester, so in Paris herauszulesen, wie ihn dort überhaupt „der Zustand das frühe fünfstimmige Kyrie MWV A 3, das vokalpolyphone der Musik gar nicht zufrieden stellt“1. Auf den 64-jährigen „Tu es Petrus“ MWV A 4, die doppelchörige Choralbear- Cherubini bezogen berichtete er: „Der ist vertrocknet und beitung „Herr Gott, dich loben wir“ MWV A20 und das acht- verraucht. Neulich hörte ich in der königlichen Capelle eine sätzige Auftragswerk Lauda Sion MWV A 24, die schlichten Messe von ihm, die war so lustig, wie er brummig ist, d. h. über Choralharmonisierungen mit Gemeindegesang „Allein Gott alle Maaßen. […] Kurz, ich behaupte, daß Cherubini, der in der Höh sei Ehr“ MWV A 21 und „Vom Himmel hoch, da einzige Mensch ist, auf den Klingemanns Wort mit dem ausge- komm ich her“ MWV A 22 sowie die Stücke für Solostimme brannten Vulcan paßt. Er sprüht noch zuweilen, aber er ist und Instrumente Salve Regina MWV C 2, Ave maris stella ganz mit Asche und Steinen bedeckt.“2 Gleichwohl ließ sich MWV C 3 (beide für Sopran) und das Tenor-Accompagnato Mendelssohn für sein Kyrie von der Kirchenmusik Cherubinis „The Lord God Almighty“ MWV C 4. Keine der neun inspirieren. Das wird vor allem hörbar im markanten, imitie- Kompositionen wurde zu Lebzeiten Mendelssohns publiziert, rend einsetzenden Motiv ab T. 37, welches das Motiv des Kyrie wenngleich Drucklegungen des „Tu es Petrus“ und des Lauda II aus Cherubinis Messe solennelle per il Principe Esterházy in Sion geplant waren. d-Moll aus dem Jahr 1811 zitiert.3 Ebenso deuten tonartliche Dieser heterogene Werkkorpus spiegelt nicht nur in singulärer Übereinstimmung und klangliche Parallelen des Mendelssohn- Weise die Vielfalt der kompositorischen Mittel der Mendels- schen Kyrie mit dieser Messe Cherubinis an, in welche sohnschen Tonsprache wider, sondern ist auch Abbild einer Tradition der junge Komponist dieses offensichtlich einzu- Entwicklung des kirchenmusikalischen Schaffens sowohl des reihen gedachte.4 Komponisten als auch seiner Zeit. Sodann berichtete Felix Mendelssohn Bartholdy am 9. Mai stolz und selbstbewusst seiner Schwester Fanny: „Ich habe dieser Kyrie MWV A 3 Tage ein Kyrie gemacht, a 5 voci und grandissimo Orchester, das an Dickigkeit, alles übertrifft, was ich je zusammengesetzt Bis ins 20. Jahrhundert ungedruckt blieb das Kyrie für ge- (com ponirt) habe. Es kommt auch ziemlich viel Pizzicato drin mischten Chor und Orchester MWV A 3, Mendelssohns dritte vor, und was die Posaunen betrifft, da ist auf eine gute groß besetzte geistliche Komposition nach dem Gloria MWV Luftröhre der Bläser gerechnet.“5 Am selben Tag teilte sein A 1 und dem Magnificat MWV A 2. Die einzige erhaltene Vater mit: „Morgen früh bringt Felix sein hier verfertigtes Niederschrift ist die auf den 6. Mai 1825 datierte autographe Kyrie an Cherubini“6. Tatsächlich hatte dieser für den 12. Mai Partitur. Zu dieser Zeit hielt sich der junge Komponist mit eine Einladung zu Cherubini, um „avoir le plaisir de le voir, et seinem Vater in Paris auf. Zweifellos spiegeln sich in diesem d’achever d’examiner son Kyrie“7. Doch war das Stück nicht 1 Brief vom 6. April 1825 an Lea und Fanny Mendelssohn Bartholdy und Carl Wilhelm Ludwig Heyse, Music Division, New York Public Library for the Performing Arts, Astor, Lenox and Tilden Foundations, *MNY++ Mendelssohn Bartholdy, Felix, family letters (im Folgenden: US-NYp, Familienbriefe), Nr. 23, gedruckt in: Rudolf Elvers (Hrsg.), Felix Mendelssohn Bartholdy. Briefe, Frankfurt am Main 1984, S. 42–47, das Zitat S. 42. 2 Ebd. Bei der gehörten Messe handelt es sich, wie bereits Susanna Großmann-Vendrey, Felix Mendelssohn Bartholdy und die Musik der Vergangenheit, Regensburg 1969 (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, Band 17), S. 21, erwähnt, um die polystilistische, vor allem im Kyrie dem zeitgemäßen Opernstil folgende Messe de Chimay in F-Dur aus dem Jahr 1809. Zum Eindruck, den wiederum der junge Mendelssohn auf Cherubini machte, siehe vor allem Ralf Wehner, Studien zum geistlichen Chorschaffen des jungen Felix Mendelssohn Bartholdy, Sinzig 1996 (= Musik und Musikanschauung im 19. Jahrhundert. Studien und Quellen, Band 4) (im Folgenden: Ralf Wehner, Chorschaffen), S. 162. 3 Die Messe d-Moll resultierte aus dem – wohl aus finanziellen Gründen letztlich gescheiterten – Vorhaben Nikolaus II. Fürst Esterházys, Cherubini zu seinem Kapellmeister zu ernennen. Diese Messe steht demnach nicht nur hinsichtlich ihrer musikalischen Form in der Tradition der sechs letzten Messen Joseph Haydns sowie der C-Dur-Messe Ludwig van Beethovens. 4 Zu berücksichtigen ist dabei, dass allgemeine Aspekte wie Tonart, Klangfarbe, punktierte Figuren auf das Textwort „Kyrie“, aber auch Elemente der Themenbehandlung u. ä. ebenso auf andere bedeutende zeitgenössische Werke der Gattung, aber auch auf Mozarts Requiem und Bachs h-Moll-Messe verweisen und somit kaum als Beweise für eine „Huldigungskomposition“ gelten können, wie dies R. Larry Todd im Vorwort seiner Ausgabe Felix Mendelssohn Bartholdy. Kyrie in d, Stuttgart 1986, S. 3 ausführt. Vgl. dazu auch Ralf Wehner, Chorschaffen [Anm. 2], S. 165–166. Zudem ist freilich – wie bei allen Kompositionen der frühen Jahre – davon auszugehen, dass Carl Friedrich Zelter im Zuge des Unterrichts den eigentlichen Anstoß zur Vertonung dieses Ordinariumsteiles gab. 5 Brief vom 9. Mai 1825 von Abraham und Felix Mendelssohn Bartholdy an Lea, Fanny und Rebecka Mendelssohn Bartholdy, US-NYp, Familienbriefe, Nr. 27, dieser Teil des Briefes zuerst gedruckt in: Karl Mendelssohn Bartholdy, Goethe und Felix Mendelssohn Bartholdy, Leipzig 1871, S. 29. 6 Ebd. 7 Brief vom 11. Mai 1825 von Luigi Cherubini an Felix Mendelssohn Bartholdy, Bodleian Library, University of Oxford (im Folgenden: GB-Ob), MS. Autogr. b. 10, S. 813–814. XIII exklusiv für Cherubini bestimmt oder gar auf Wunsch doch nun seit mehreren Jahrhunderten Musik machen, und in Cherubinis komponiert,8 da Mendelssohn die Partitur wieder ihren Hauptkirchen wo möglich alle Sonntag eine musikali- mit nach Berlin nahm. So entspricht es wohl auch nicht ganz sche Messe singen, bis heute noch nicht eine einzige besitzen, den Tatsachen und muss im Übrigen als stolze Übertreibung von der man sagen könnte, daß sie nur erträglich passend, nur des Lehrers entschuldigt werden, wenn Carl Friedrich Zelter nicht geradezu störend und opernhaft sei. […] Wäre ich am 28. Mai 1825, also etwa eine Woche nach Rückkehr der Katholik, ich setzte mich gleich heute Abend hin und finge an, Mendelssohns aus Paris, an Johann Wolfgang von Goethe und es möchte werden wie es wolle, so würde es die einzige schrieb: „Er hat dem Cherubini ein Kyrie dort angefertigt das Messe, welche wenigstens mit fortdauernder Erinnerung an den sich hören und sehen läßt um so mehr als der brave Junge nach kirchlichen Zweck geschrieben wäre. Aber ich will es vorläufig seinem Gewandten Naturell das Stück fast ironisch in einem nicht thun; – vielleicht einmal später, wenn ich älter bin.“11 Geiste verfaßt hat der, wenn auch nicht der Rechte doch ein 1839 schickte ihm der mit Mendelssohn schon länger in engem solcher ist den Cherub. stets gesucht und, wenn ich nicht sehr Kontakt stehende Appellationsrat Erich Heinrich Wilhelm irre nicht gefunden hat.“9 Gleichwohl irrte Rudolf Werner, Verkenius (1776–1841) aus Köln, Kuratoriumsmitglied der dem die Partitur nicht bekannt war, als er vermutete: „Wenn Niederrheinischen Musikfeste, ein römisches Messbuch zu, auch Zelters Mitteilung von einer gewollten Anlehnung an woraufhin der Komponist verlauten ließ: „An die Messe denke Cherubinische Art mit Vorsicht aufzunehmen ist, so muß ich oft, aber leider ohne daran zu schreiben.“12 dieses Kyrie doch eine rasch hingeworfene Arbeit gewesen sein, Für eine geplante spätere Verwendung dieses frühen Meister- die nicht dem inneren Drang entsprang und der Entfaltung werks spricht auch die Tatsache, dass sich, obwohl sich die eigner Individualität wenig Raum ließ.“10 Das Kyrie ist einer- einzige Niederschrift zeitlebens im Besitz Mendelssohns seits durchaus als stringente Weiterentwicklung des Cherubi- befunden haben muss, keine öffentliche Aufführung des Kyrie nischen Kirchenstils zu verstehen, markiert aber andererseits nachweisen lässt. Einzig eine private Aufführung am Klavier dennoch und trotz der thematischen und klanglichen Reminis- am 13. Oktober 1825 ist belegt durch Sir George Smart zenzen einen wesentlichen Schritt in Richtung eines individu- (1776–1867), der sich zu dieser Zeit im Hause Mendelssohn ellen Kirchenstils Mendelssohns. In seiner orchestralen und aufhielt: „Young Mendelssohn […] played a clever kyrie of his kontrapunktischen Anlage entspricht es dem zeitgemäßen own composition, the voice parts well put together but difficult. Ideal der Erhabenheit und zeugt hinsichtlich der kompositori- He uses two sopranos for the cantos and another soprano for schen Mittel von erstaunlicher handwerklicher Reife. the alto, this being the usage

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