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Weimar International Stummfilm ohne Grenzen aus und Brandenburg, 1918-1929 Eine Filmreihe von Philipp Stiasny und Frederik Lang in Zusammenarbeit mit dem Zeughauskino (Berlin). Gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds. Unterstützt von der Friedrich-Wilhelm- Murnau-Stiftung (Wiesbaden) und CineGraph Babelsberg e.V.

27.11.2018 Am Flügel: Eunice Martins

Laster der Menschheit (Deutschland 1927, Regie: Rudolf Meinert)

Deutsches Filminstitut,

Laster der Menschheit Deutschland 1927 / Regie: Rudolf Meinert / Buch: Leo Birinski / Kamera: Ludwig Lippert / Bauten: Ro- bert A. Dietrich / Kinomusik: Willy Schmidt-Gentner / Darsteller: (Opernsängerin Tamara), (Kokainhändler Mangol), Werner Krauß (Kokainsüchtiger), Elizza La Porta (Tamaras Tochter), , Charles Willy Kayser, Maria Forescu, Carla Meissner, Sybille von Lerchenfeld, Ekkehard Arendt, Eberhard Leithoff / Produktion und Verleih: Internationale Film-AG (Ifa), Berlin / Produzent: Rudolf Meinert / Atelier: Ifa-Atelier Schloß Schönholz / Zensur: B.14955 v. 12.2.1927, 7 Akte, 2437 m, Jugendverbot / Uraufführung: 5.4.1927, Marmorhaus, Berlin Kopie: Cinémathèque de la Ville de Luxembourg, 35mm, 1985 m Anmerkung: Der Film lief auch unter dem Titel „Laster“.

Vorfilm: Fürst und Volk von Nias. Bilder aus dem holländischen Insel-Indien Deutschland 1927 / Regie: Lola Kreutzberg / Produktion: Ufa, Berlin / Zensur: B.17047 vom 26.10.1927, 238 m, Jugendfrei Kopie: Bundesarchiv, Berlin, 35mm, 225 m

Laster der Menschheit Kokain, Opium, Morphium, lass davon die Fin- androgynen Ausstrahlung und dem fesselnden ger. Für die Opernsängerin Tamara kommt diese Spiel ihrer Augen und ihres Körpers überzeugte Einsicht zu spät: Sie ist kokainsüchtig und sie in den 1910er Jahren eine ganze Generation dadurch fest in der Hand ihres Managers, der sie von Zuschauern davon, dass Film nicht nur Kin- mit Drogen versorgt. Als er auch ihre Tochter in topp, sondern Kunst sein konnte. Diesen die Abhängigkeit treiben will, greift Tamara zur Kunstanspruch verfolgte sie in Deutschland zwi- Waffe. schen 1920 und 1922 auch in den Filmen ihrer ei- genen Produktionsfirma, mit der sie Werke von Shakespeare und Strindberg auf die Leinwand brachte. In den folgenden Jahren verlegte sich Nielsen vor allem aufs Theaterspielen, weil gute Rollenangebote immer seltener wurden. Mit der Hauptrolle in Laster der Menschheit verband sich deshalb für den mittlerweile 45jährigen Star auch die Hoffnung, der eigenen Laufbahn eine neue Wendung zu geben. Die Story wurde von der Presse als Kolportage abgetan, das Spiel von Nielsen an der Seite von Alfred Abel und Werner Krauß dagegen hoch gelobt: „Asta Nielsen, nicht mehr überschlank wie einst, ist die Gleiche geblie- ben, die große Tragödin mit der ausdrucksvollen Gebärdensprache. Virtuos, wie sie die haltlose, zerbrochene Frau spielt, die immer wieder zum Gift ihre Zuflucht nimmt, das Erwachen, die Er- kenntnis des verlorenen Lebens (…), das kann eben nur eine Nielsen menschlich ergreifend dar- stellen. Und es sei Rudolf Meinert, dem umsichti- gen, zielsicheren Regisseur gedankt, daß er Asta Nielsen wieder für den Film gewonnen hat; besit- zen wir doch keinen einzigen Kinostar, der sich Asta Nielsen, Werner Krauß und Alfred Abel in Laster der mit ihr messen kann.“ (Germania, 7.4.1927) Menschheit (Deutsche Kinemathek) Philipp Stiasny Die Diva wird gespielt von der Dänin Asta Niel- sen, dem ersten Weltstar des Kinos. Mit ihrer 2

Historische Rezensionen

Wieder Asta Nielsen Erstaufführung des Films „Laster“ Zwei Jahre lang hat Asta Nielsen, einstmals der dadurch besonders hell leuchten zu lassen, daß er höchstbezahlte Filmstar der ganzen Welt, feiern sie in den Kreis mittelmäßiger Schauspieler ge- müssen. Die Diva behauptete, weil es keine geeig- stellt hätte. Das hat er aber nicht getan. Er läßt sie neten Manuskripte für sie gegeben hätte, die neben zwei Könnern vom Range eines Alfred Filmindustrie sagt, sie wäre für jugendliche Rollen Abel und eines Werner Krauß spielen. Beide in zu alt, für das Rollenfach der Alten zu jung gewe- ungemein fesselnden Rollen, Abel als den gewis- sen. Wie dem auch sei, die gestrige Filmpremiere senlosen Verführer, der die Menschen mit (im Marmorhaus) zeigte, daß die deutschen Film- Rauschgift versorgt, Krauß als eines seiner willen- hersteller eines der stärksten Aktiven ungenutzt los gewordenen Geschöpfe. Drei schauspieleri- brachliegen ließen. Asta Nielsen ist die Film- sche Leistungen, die sich sehen lassen können. schauspielerin, gestaltet wie keine andere, packt in Daneben Elizza La Porta, die jung, hübsch und ihrer Herbheit, in ihrer Selbstverständlichkeit; der begabt genug ist, neben den Arrivierten zu beste- Ausdruck von Leid und Freud ist wirklich erlebt, hen. Sie hat ein Mädchen darzustellen, das in dem das Erlebte Wirklichkeit. Wenn sie alle Phasen ei- Glauben erzogen ist, ihre Mutter sei tot. Die Mut- ner Frau zeichnet, die dem Genusse des Rausch- ter (Asta Nielsen) lebt aber, geschieden von ihrem giftes erliegt, dann weiß man: so ist es, so und Mann, als berühmte Sängerin, die an den Folgen nicht anders. von allzu reichlich genossenen Rauschgiften zu- Rudolf Meinert hat den Mut gehabt, diese Künst- grunde geht. Maria Forescu, Trude Hesterberg, lerin aus der Versenkung hervorzuholen, in der Carla Meißner und Ch. W. Kayser fallen sonst sich durch eine unbegreifliche Verkennung ihres noch in dem guten Ensemble angenehm auf. wahren Wertes zu verkommen drohte. In der Die Regieführung umgeht geschickt die Gefah- Hand dieses Regisseurs ist Asta Nielsen wieder zu ren, die der sehr interessante, aber kolportage- dem geworden, was sie über ein Jahrzehnt hin- hafte Stoff (Manuskript von Birinski) mit sich durch für den deutschen Film war: neben Henny bringt. Das Premierenpublikum war ergriffen und Porten die stärkste schauspielerische Stütze. Der klatschte Beifall. Regisseur hätte es leicht gehabt, ihren Stern

Dr. Kurt Mühsam, B.Z. am Mittag, Nr. 94, 6. April 1927

Laster (Marmorhaus) Ihr gab ein Gott, zu filmen, was sie leidet: dieser, Theater, denn jede Pose durchbräche den natürli- unserer Asta Nielsen. Gefilmt zu sein wie sie, chen Rhythmus, der sie treibt. filmbar zu sei wie sie, bedeutet durch ihr Ins- Ihre Gestalt ist immer im Fluß, jede Geste ent- Filmlicht-Stellen den Menschen zu offenbaren. springt dem Legato ihres Ichs im Film. Hinsehen Wenn die Nielsen filmt, steht dieses Gefilmte ne- und bewundern! ben Breughel, Kokoschka, Barlach, Bruckner. Das Wesentliche der Nielsen deckt sich eben voll- Und sie verhilft durch ihre Besonderheit dem ends mit dem Wesen des Films: sie schafft mit Film, schrecklicher lebendig zu sein als alle tote Gesten, mit Körperdasein, mit Blicksprache eine Kunst. Bildersinfonie vom Menschen. Man könnte ihr Die Nielsen steht heute in einer Reife, die zu Trä- Sichtbares in eine Partitur umschreiben. nen rührt. Lächerlich, von dieser Frau festzustel- Dabei rechnet sie nie – so unerhörte Routine auch len, daß sie nicht „jung“, nicht „schön“ sei. Sie ist neben ihrer Ursprünglichkeit steht. so wahr, sie gibt in jeder Sekunde ein so gültiges Abbild tiefer Leidenschaften, daß man vor ihr mit Ja, man mußte sie mal wieder einmal sehen. Kintoppmaß nicht messen, mit Filmaugen nicht Nicht, als ob man mit ihrer Erkenntnis die lieben, sehen darf. hübschen, amerikanischen Filmgirls oder die Ihr Geheimnis: Das ist immer Pulsschlag inner- deutschen Kitschpuppen hassen müßte – – aber lich, das Herz schlägt innen, das Blut rollt durch man soll an der Niesen wieder einmal lernen, was ihre Filmgestalt, aber es wird nie an die Maske, die wir alle mit unseren verdorbenen Filmaugen ver- Schminke veräußerlicht. Sie meidet jedes große lernt haben: daß auch im Film über alles Kalkül,

über alle Kollektivarbeit, mag sie gut oder min- Kolportage ringsum, gewiß. Courths-Mahler-Si- derwertig sein, das eine Genie triumphiert, wenn tuationen bei jeder Gelegenheit. Aber sein Manu- es eben ein Genie ist. skript gibt sich diesmal unpathetischer, diskreter, unaufdringlicher. Das will bei dieser „Handlung“ etwas sagen. Originell ist ja die Begegnung zwi- schen einer Tochter und ihrer totgeglaubten Mut- ter nicht gerade, und dieser Tochter mutet Birinski noch obendrein reichlich viel zu (bei fremden Leuten schnupft sie, sie trinkt Sekt – und vergißt diese Extratour im Handumdrehen, als sie unvermutet ihren Vater vor sich sieht). Aber die Nielsen kann sich dennoch entfalten, als „Salome“, als Autogramm spendende Weltdame, am Teetisch, im Salon, immer das arme, erster- bende Weib. Unerhört der entschwebende, ver- wesende, erlöschende Zustand ihrer Seele, der aus Blick, aus Schritt, aus Handreichung, aus ihrem Hinsinken seine düstere Melodie sendet. Ein danse funebre. Wenn sie durch eine Tür ins Zimmer müden Sinns, müden Schrittes hineingleitet – dann liegt in einer so nebensächlichen Geste eines Men- schen Schicksal verborgen. Turmhoch ragt sie immer noch. Einzigartig. Ein Naturereignis.

Man dankt dem Regisseur Rudolf Meinert für die- Anzeige aus Film-Kurier, Nr. 284, 4.12.1926 sen Nielsen-Film. Auch wenn um sie herum nur handfest gezimmertes Publikumstheater übrig- bleibt. Sie spielt diesmal eine berühmte Sängerin, die dem Kokain verfallen ist. Sie hält sich nur durch So hat das breitere Publikum wenigstens etwas, das Gift aufrecht, berauscht sich, peitscht sich woran es sich halten kann: etwas „Laster“, viel auf. In diesem Zustand erringt sie ihre Erfolge, Teufelei und eine tüchtige Portion Rührung. So zeigt sich der Welt als die große Künstlerin. wird auch der 3. Platzbesucher, der Barszenen und tausend süße Beinchen vermißt, auf seine Nach dem Rausch tritt die Ernüchterung ein, die Kosten kommen. Und das ist gut so. Er kann sich furchtbare Leere, das Zerstörtsein der Nerven, an die theatralische Aufdringlichkeit Alfred Abels die nach neuem Anreiz lechzen. halten, an die übliche pathologische Studie von Eine solche Morgenstunde der Verzweiflung Werner Krauß, dem kein Mittel grob genug ist, spielt die Nielsen – eine ergreifende Vision der um in Krampf zu machen, an Charles Willy Kay- Zerstörten. Vor dem Spiegel, nach der schlaflosen sers vornehme Zurückhaltung, an die lustige Nacht, alles ist morsch in ihr, aber man spürt, Trude Hesterberg und an Elisa la Porta, die im- welch edler Geist ward hier zerstört. Dieser Reiz mer noch so niedlich aussieht wie in ihrem ersten macht ihre Tamara so unwiderstehlich: daß das Film und noch immer ihr schüchternes Stakkato „Laster“ eine Frau zerfraß, die zu schwach war, mimt, ihre timpelige, abgehakte Art. sich zu wehren, und deren Verlorensein so unver- Man dankt Rudolf Meinert für die Umsicht, mit dient scheint. der er Kameramann und Architekt arbeiten ließ. Leo Birinski hat das ungewöhnlich schwierige Man dankt Rudolf Meinert. Manuskript in auffallend klaren Linien gehalten.

-e-, Film-Kurier, Nr. 86, 6. April 1927

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Laster. Marmorhaus Nach fast zweijähriger Unterbrechung hat man Krauß zeichnet in einer Chargenrolle einen sol- das große Glück, endlich wieder die einzige Film- chen vorkommenden, dem Wahnsinn ausgeliefer- schauspielerin auf der Leinwand zu sehen. Aber ten Kokainsüchtigen, der am Rande äußerster die Begegnung mit Asta Nielsen ist eine gewisse Verzweiflung, halb schon in geistiger Umnach- Enttäuschung, weil man ein Manuskript zusam- tung, seinem „Verführer“ die Kehle zudrückt. mengeschnorrt hat, das in seiner Kolportagehaf- Leider nur eine Episodenrolle. tigkeit allen Vorbildern spottet; ebendrein ist so Und leider ist der Rolle der Nielsen nicht jene viel Geschraubtheit, so viel symbolisches Getue Entfaltungsmöglichkeit geboten, die eine solche selten dagewesen. Menschendarstellerin brauchte, um eine Figur zu Noch schwerer fällt ins Gewicht, daß der Nielsen entwickeln, sie in allen möglichen Situationen zu in Alfred Abel ein Gegenspieler gegenübergestellt zeigen, Steigerungen zu erzielen, Höhepunkte zu wird, der mit den ältesten Vorstadttheatertricks erklimmen. Man sieht dies Opfer immer nur als arbeitet und eine Mischung von einem überge- gehetztes Wild, immer nur im Kampf mit einem schnappten Friseurlehrling und einem Pro- Gefühl – diese Frau wehrt sich nur, sie ist in steter vinztheatermephisto repräsentiert. Man bedauert Defensive und kommt nicht darüber hinaus. Sie diesen Fehlgriff eines so großen Darstellers wie erleidet ihr Schicksal nur. Es bleibt bewunderns- Abel umso mehr, weil man weiß, daß er das Zeug wert, wie die Nielsen bei solchen Voraussetzun- hat, einen solchen fürchterlichen Menschen zu gen eine erschütternde Gestalt schuf – unvergeß- spielen, der sich die Opfer aussucht, um sie durch lich rührend, groß im Blick, im Gang, in der Be- Rauschgift langsam zu ruinieren und sich an ih- wegung. Diese Duse des Films – sagte man nicht rem verzweifelten, ohnmächtigen Rettungsversu- so? Ja – die Duse des Films. chen zu „laben“.

Chr., Welt am Abend, Nr. 82, 7. April 1927

Musik Eunice Martins (Berlin) studierte an der Hochschule der Künste, Berlin und der Musikakademie Wiesbaden. Seit 2000 ist begleitet sie als Hauspianistin Stummfilme im Kino Arsenal. Sie gastierte bei zahlreichen inter- nationalen Festivals, in Theatern und Kinematheken, u.a. in Italien, Brasilien, China und Taiwan. http://www.eunicemartins.eu/

Redaktion des Informationspapiers: Philipp Stiasny ([email protected])

Die Reihe „Weimar International“ wird kuratiert von Philipp Stiasny und Frederik Lang. In Zusammen- arbeit mit dem Zeughauskino (Berlin). Gefördert durch den Hauptstadtkulturfonds. Unterstützt von der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung (Wiesbaden) und CineGraph Babelsberg e.V.

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