Die Protestanten und die Wallfahrt zum Heiligen Rock 1844

Meine Damen und Herren, 1844 erschien im „Rheinischen Kirchenblatt“, einer „katholische(n) Zeitschrift zur Belehrung und Erbauung“, ein namentlich nicht gekennzeichneter Artikel unter der Überschrift „Erinnerungen aus einer Pilgerfahrt nach “. Morgens um halb sechs trafen sich die Reisenden in , um nach einem Schlag der Signalglocke auf ein Dampfschiff zu steigen. „Die aufgehende Sonne zeigte uns die prachtvolle Gegend und verkündete einen prachtvollen Tag.“ Das Moseltal entzückt den Autor: „So mochte einst die Erde gewesen seyn, als Gott sie schuf und sah und gut fand.“ Das Schiff war gut besetzt, viele Frauen und Kinder waren dabei. „Auch diese Unschuldigen sollten den h. Rock sehen, auf dessen Aermeln der Heiland einst die Kindlein gehoben und dem Volke gezeigt hat mit den Worten Lasset die Kindlein zu mir kommen …“ Besonders freut unseren anonymen Autor, dass die Mütter die Zeit auf dem Schiff dazu nutzen, ihren Kindern das Beten beizubringen: „Erbaulich ist es anzusehen, wie sie standen vor den Knien ihrer Mütter mit gefalteten Händchen, die Augen hernieder gesenkt … die Blicke der Mütter ruhten lächelnd auf ihnen wie schützende Engel.“ Als er selbst noch ein Kind war, sagten die Eltern zu ihm: „Kind, halte hübsch deine Händchen auf der Brust und wende deine Augen nicht davon ab; das Jesuskindlein wird sodann vom Himmel herabsteigen zu dir, sich setzen auf die Spitze deines Mittelfingers und die Füße ruhen lassen auf deinem Zeigefinger; du wirst deinen Heiland sehen, wie Er das Kreuz beschaut, welches deine Daumen bilden …“

Nach einem gemeinsamen Abendgebet ging die Schiffsgesellschaft an Land und übernachtete in Traben und Trarbach. Schon um vier Uhr in der Frühe ging es weiter. Mittags ließ man sich das Essen auf dem Verdeck servieren, um ja nichts zu versäumen. 26 Schiffsprozessionen zählte der Autor an diesem Tag, „alle in aneinander geknüpften Barken, aus deren Mitte Kreuz und Fahnen hervorragten. Wir hörten sie meist beten und singen, bevor wir sie sahen. Alle waren von Geistlichen begleitet, alle gaben uns ein Beispiel, wie man vor Gott wallfahren müsse.“ Schließlich erreichte das Dampfschiff Trier, und mit einigen Notizen zu den Trierer Märtyrern, deren Blut die Mosel rot färbte, und zum Heiligen Rock endet der Bericht.

Der Text gibt uns ein anschauliches Stimmungsbild von der Wallfahrt zum Heiligen Rock im Jahre 1844. Bei dem Autor dürfte es sich um einen katholischen, gebildeten und nicht ganz unvermögenden Mann gehandelt haben. Die erst seit 1841 mögliche Fahrt mit einem Dampfschiff war nur für einen Bruchteil der Pilger erschwinglich, zudem waren die Kapazitäten begrenzt. Weiter wirft der Bericht ein Schlaglicht auf die in diesen Jahren entstehende katholische Publizistik, die die kirchliche Auffassung zu politischen, religiösen und gesellschaftlichen Zeitfragen in Lesevereine, Gemeinden und viele Haushalte brachte. Und zum Dritten muss man nicht nur die gelehrten Bücher dieser Zeit zum Heiligen Rock lesen, sondern auch die zahlreiche Kleinliteratur, die Andachtsbücher und Gebetszettel, mit denen die Pilger den Heiligen Rock anrührten und die sie mit nach Hause nahmen. Hier zeigt sich abseits der theologischen und akademischen Grabenkämpfe eine breite Rezeption des Trierer Ereignisses. Zum Vierten spiegeln sich in dem Bericht nicht nur zeitgebundene religiöse Vorstellungen, sondern auch die zentralen Schlagworte von Ruhe und Ordnung wider: Dies war nicht nur erste Bürgerpflicht, sondern auch eine zentrale Vorgabe des preußischen Staates. Hätte eine Gefahr für die öffentliche Ordnung bestanden, dann hätte die Regierung einen Vorwand gehabt, die ohnehin misstrauisch beäugte Wallfahrt zu verbieten. Zum Fünften gibt uns der Bericht einen interessanten Einblick in ein Jahrhundert, in dem Vormoderne und Moderne noch unverbunden nebeneinander standen. Es ist ein Jahrhundert der Naturwissenschaften, Erfindungen und Entdeckungen. Eisenbahnbau und Industrialisierung veränderten die Lebens- und Arbeitswelt nachhaltig.

Meine Damen und Herren, seit letzter Woche wird wieder einmal der Heilige Rock ausgestellt. Zum ersten Mal hat der Bischof die Evangelische Kirche im Rheinland zu einer ökumenischen Wallfahrt eingeladen, worüber die Meinungen recht geteilt sind. Grund genug, in diesem Jahr nicht nur über 500 Jahre Wallfahrt zum Heiligen Rock zu forschen, sondern auch die Frage zu stellen, welche Bedeutung diese Wallfahrt für die evangelischen Gemeinden an der Mosel hatte, eine Frage, die ich zunächst am Beispiel der Gemeinde Winningen, einer evangelischen Enklave an der Untermosel, beantworten will. Zum Vergleich will ich dann einen Blick auf Koblenz, vor allem aber auf Trier werfen, zwei preußische Garnisons- und Verwaltungszentren mit großen Diasporagemeinden, gleichzeitig aber auch zwei Vororte des streitbaren und streitlustigen Katholizismus. Im letzten Teil gebe ich dann einen kurzen Ausblick auf die Rolle der Trierer Protestanten bei den späteren Wallfahrten.

Doch zunächst einige Sätze zur Wallfahrt von 1844: Seit 1815 gehörte das Bistum Trier zur preußischen Rheinprovinz. Zwischen dem von einem evangelischen König regierten, aufgeklärten Staat und der auf die Tradition eines geistlichen Fürstentums zurückblickenden Kirche kam es zu einer ganzen Reihe von Konflikten: Zu nennen sind der Mischehenstreit, die daraus resultierende Inhaftierung des Kölner Erzbischofs Clemens August Droste zu Vischering 1837 und die Auseinandersetzungen um die Besetzung des Trierer Bischofsstuhles (1836-1842). In diesem Kontext sollte und konnte die von Bischof Wilhelm Arnoldi veranstaltete Ausstellung des Heiligen Rocks durchaus als kirchenpolitisches Signal verstanden werden. Die Wallfahrt, die 700.000 Pilger nach Trier führte, rief ein bisher unbekanntes publizistisches Echo hervor. Auf der einen Seite erschienen offizielle Publikationen, die die Geschichte des Heiligen Rocks und den Erfolg der Wallfahrt ins rechte Licht rückten. Auf der anderen Seite gab es eine Flut von theologischen, philologischen, medizinischen und polemischen Schriften, die sich u. a. mit der Frage der Echtheit und den Wunderheilungen befassten. Auch von Teilen des in der Tradition der Aufklärung stehenden katholischen Klerus wurde die Wallfahrt kritisiert. Es gelang den konservativen Kräften, die als Ultramontane, als Römlinge, bezeichnet wurden, aus den Dörfern (Bauern und Winzer) und Kleinstädten (Handwerker, Bergarbeiter) zahlreiche Pilger zu mobilisieren, deren Wallfahrt als „Kreuzzug der Massen“, als „Völkerwanderung zum Heiligen Rock“ gedeutet wurde.

Das ursprünglich sponheimische Winningen ist noch heute eine evangelische Enklave an der Mosel, die wie das bekannte gallische Dorf von katholischen Gemeinden mit spitzen Kirchtürmen belagert wird. Was sagten die Winninger zu der Wallfahrt zum Heiligen Rock? Fast zwei Monate lang – vom 18. August bis zum 6. Oktober 1844 – fuhren Pilgerschiffe und Schiffsprozessionen an Winningen vorbei, die beim Passieren dieses Ketzernestes sicherlich besonders laut sangen. Eine noch größere Pilgerschar durchquerte auf der Landstraße Winninger Territorium: Aus dem Tagebuch der Neuwieder Pilgerin Anna Fröhlich von 1844 wissen wir, dass sie mit einer Prozession der beiden Koblenzer Pfarreien auf der Landstraße über Metternich, die Eiserne Hand, Lonnig usw. nach Karden zog.

Die Passage an der Eisernen Hand hatte den Vorteil, dass sie nicht durch die Gemeinde selbst führte. Insofern kamen die Winninger Bauern und Winzer kaum in unmittelbaren Kontakt mit den Pilgern. Durch Gemünden im Hunsrück zogen 1844 mehrere Prozessionen u. a. aus Kreuznach. Vermutlich standen die Protestanten am Straßenrand und brachten deutlich zum Ausdruck, was sie davon hielten: Zuschauer, die die Mütze aufbehielten, die Pfeife im Mund beließen und die Hände in den Taschen, provozierten natürlich die Pilger. Ein Pfarrer ärgerte sich so, dass er einen Jungen ohrfeigte, was zu einem Tumult führte. Eine sehr anschauliche Vorstellung dieser Konflikte zeigt uns die Geschichte der „Frommen Helene“ von Wilhelm Busch aus dem Jahre 1872 auf, in der er gnadenlos die Welt der Spießbürger aufs Korn nimmt.

Auch wenn solche Szenen für Winningen nicht überliefert sind, haben wir doch zwei Zeugnisse, die deutlich machen, dass sich die Einwohner über die Wallfahrt geärgert haben. Das erste befindet sich in dem Manual-Buch des Winzers und Landwirts Karl Sünner. Dieser notierte zum Jahr 1844: „In dieser Zeit war ein großer Unfug im Lande.“ Tausende eilten nach Trier, „um den Rock zu sehen oder anzubeten.“ „Arme Leute verkauften alles, was sie hatten, und trugen es dahin, um gesund zu werden, sie wurden aber noch kränker; etliche sind auch gestorben auf der Reise.“ Hier greift Sünner zwei Elemente auf, die auch in der zeitgenössischen Publizistik eine große Rolle spielten: Den Vorwurf, die Wallfahrt treibe die armen Leute endgültig ins Elend, hatte auch der schlesische Priester Johannes Ronge in seinem Sendschreiben an Bischof Arnoldi erhoben, ein Sendschreiben, das in einer sechsstelligen Auflage verkauft wurde und dann zur Abspaltung der Altkatholiken führte. Wunderheilungen galten als Beweis für die Echtheit der Reliquie und die Wirkmächtigkeit ihrer Verehrung. Nach der Wallfahrt von 1844 veröffentlichte der Arzt Valentin Hansen im Auftrag Bischof Arnoldis eine umfangreiche Dokumentation, die zu einer erbitterten publizistischen Kontroverse führte. Die wundersame Heilung der Johanna Freifrau Droste zu Vischering fand in einem populären Spottlied ihren Niederschlag.

Weiter berichtet Sünner, der heilige Rock sei an der rechten Schulter, auf der Christus das Kreuz getragen hatte, zerrissen – es dürfte sich hier um ein Gerücht handeln, das in der Wallfahrtsliteratur bisher keinen Niederschlag fand. „Es war ein wahrer Mißbrauch des Namens Gottes in der Welt, denn man hörte nichts als vom Herrgotts-Rock.“ Schließlich endet er: „Der Pfarrer Goebel von hier hielt eine Predigt über diesen Unfug und ließ sie abdrucken.“ Die Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars in Trier hat das Sondersammelgebiet Heilig Rock-Literatur. Dazu gehören auch sämtliche kritischen Schriften, so dass auch diese Predigt in Trier vorhanden ist.

Am 1. September 1844, also noch während der Wallfahrt, hielt Pfarrer Karl Göbel in Winningen eine Predigt, in der er ein evangelisches Zeugnis gegen die Ausstellung des Heiligen Rocks ablegte. Er wies darauf hin, dass die Bibel keine Reliquienverehrung kenne, und predigte dann über Joh 19, 23-24, wo von der Verlosung der Tunika unter dem Kreuz berichtet wird. Die umstrittene Frage der Echtheit, so führt Göbel weiter aus, sei für einen Protestanten vollkommen belanglos, weil dieser Christus und eben keine Gegenstände verehre. Er brauche dies auch nicht, um seine Andacht zu verrichten, da äußere Dinge nur ein Schatten seien. „Zur Stadt Gottes kommt man durch den Glauben, zum heiligen Rock durch leibliche Wallfahrt.“ Die Protestanten seien jedoch besser dran als die Katholiken, da sie den wahren Rock Christi besitzen, es sei der „Rock der Gerechtigkeit“.

Wir haben also zwei Zeugnisse zu der Frage, wie Winningen auf die Wallfahrt zum Heiligen Rock reagierte, ein theologisches Zeugnis von einem Pfarrer und ein autobiographisches von einem Winzer. Nun ist es kein überraschendes Ergebnis, dass die Bewohner einer evangelischen Enklave von einer katholischen „Völkerwanderung zum Heiligen Rock“ nicht eben begeistert waren. Man kann es aber auch positiv sehen und fragen, ob denn nicht gerade diese Wallfahrt einen Beitrag zur Entwicklung bzw. Stärkung der evangelischen Identität geleistet hat. In der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts entstand das sog. „katholische Milieu“, in dem die Dorfbevölkerung ihr Leben von der Wiege bis zur Bahre verbringen konnte, in katholischen Kindergärten und in katholischen Krankenhäusern, in einem vielschichtigen Angebot an Kultur-, Freizeit- und Hilfsvereinen, mit einer eigenen Partei (dem Zentrum) und eigener Presse.

Winningen hatte 1822 1355 Einwohner (darunter 22 Katholiken), 1849 1660 (54) und 1912 1824 (125). Danach hatte sich die Einwohnerzahl um ein Drittel erhöht, die der katholischen Einwohner dagegen verfünffacht. Statt 1,6 betrug sie 1912 6,8 Prozent der Bevölkerung – heute sind es fast ein Drittel. 1852 wurde mit dem Bau einer Kapelle für den katholischen Gottesdienst begonnen. Sünner berichtet, zur der Grundsteinlegung seien ein Bischof (Weihbischof Braun) und „viele Pfaffen“ gekommen. An der mit Maibäumen festlich geschmückten Baustelle hielt Braun eine Rede, in der er, wie man es gewohnt sei, mehrfach seine alleinseligmachende Religion „zum Ärger der hiesigen Bewohner“ – die also zu der Veranstaltung gekommen waren – hervorhob. Trotz dieses „Firlefanzes“ sei die Grundsteinlegung ruhig verlaufen. 1856 wurde die Kapelle geweiht und erhielt – wie es sich gehörte – ein Altarbild mit einer Darstellung der Unbefleckten Empfängnis.

Koblenz war dagegen eine Mittelstadt, die von 10.206 Einwohnern (1814) über 19.475 (1846) bis auf 45.147 (1900) wuchs, die also um das Vier- bis Fünffache zugenommen hatte. Die evangelische Gemeinde wuchs von 600 (1817) über 3 0 0 0 (1 8 4 8 ) a u f 1 0 .0 0 0 Mi tg l i e d e r (1 9 0 0 ). D e r An te i l a n d e r Gesamtbevölkerung wuchs dabei von 6 über 15 auf 22 Prozent.

Koblenz war ein florierendes Oberzentrum, Sitz eines Oberpräsidenten, zahlreicher weiterer Behörden und eines evangelischen Konsistoriums, zeitweise auch Residenzstadt. Das „rheinische Potsdam“ war eine Stadt der Handwerker und Kaufleute, die nur in geringem Maße industriell geprägt war. Dies gilt auch für andere preußische Metropolen im Rheinland wie Trier und Bonn. Eine Zuwanderung von Protestanten erfolgte in allen drei Städten in französischer Zeit, in größerem Ausmaß dann unter preußischer Herrschaft. Viele Zuwanderer waren Beamte, Offiziere und Kaufleute, sie verfügten über Bildung und Vermögen. Die Protestanten wurden somit nicht nur als Fremde und als jahrhundertelang verketzerte Glaubensabtrünnige gesehen, sondern auch als Repräsentanten des wenig geliebten Preußischen Staates.

Ähnlich wie Trier war Koblenz eine „Hochburg des Ultramontanismus“ und ein Zentrum der katholischen Publizistik (Görres, Rhein-Mosel-Zeitung), was man von der weltoffenen Residenzstadt des 18. Jahrhunderts eigentlich nicht erwartet hätte. Hier wurde 1839 die auch innerkirchlich umstrittene Rosenkranzbruderschaft gegründet, die große und farbenprächtige Prozessionen veranstaltete, die Wallfahrt nach Kamp-Bornhofen wurde aktiviert, und natürlich zogen die beiden Koblenzer Pfarreien unter Führung ihrer Pfarrer 1844 zum Heiligen Rock, worüber uns das bereits genannte Tagebuch der Maria Frölich informiert. 1845 begann der Pfarrer Kraus mit dem Bau der Arenberger Wallfahrtsanlagen, einer Art katholischem Disneyland. Ab 1859 siedelten sich eine ganze Reihe neuer Klöster an und verstärkten die Rolle von Koblenz als „Hort des rheinischen Katholizismus“.

Protestanten waren in Koblenz seit 1783 unter strengen Auflagen zugelassen. Unter französischer Herrschaft verstärkte sich die Zuwanderung, 1802 zählte man 72 Lutheraner und 22 Reformierte. 1802 wurde der Gemeinde die Kapelle des kurfürstlichen Schlosses zugewiesen, 1803 dann die Kapelle des St. Georgen-Klosters. Um einen eigenen Pfarrer zu erhalten, stellte der Kaufmann Korn den Theologen Johann Justus Cunz als Hauslehrer ein und ließ diesen Gottesdienste halten. 1806 gelang es, eine Gemeinde zu konstituieren und Cunz zum Pfarrer zu berufen. 1818 schenkte der König der Zivil- und der Militärgemeinde die Florinskirche.

Ein ständiger Streitpunkt war die Frage der Kindeserziehung in gemischten Ehen. Da es in Koblenz zahlreiche Mischehen gab, weil zugewanderte Handwerker und Soldaten Frauen aus der Region heirateten, befürchtete die Evangelische Gemeinde, in kürzester Zeit auszusterben. Sie wandte sich daraufhin an den König, der 1825 eine Kabinettsorder erließ, die eine Erklärung der Brautleute zur katholischen Kindeserziehung verbot. Da in diesen Jahren die Bischöfe von ihrer zunächst moderaten Linie in dieser Frage abwichen und auf Kollisionskurs gingen, kam es zu weitreichenden Konflikten, die zur Inhaftierung des Kölner Erzbischofs Droste zu Vischering führten. Der Mischehenstreit hat auch weiterhin noch die Gemüter bewegt. Häufig wurden die Mütter bei Abwesenheit des Vaters unter Druck gesetzt, oder wenn sie sich in Notsituationen an kirchliche Hilfsvereine wandten. Die Zahl von 436 Mischehe, die es 1863 in Koblenz gab, verdeutlicht das Ausmaß des Problems.

Ein weiteres Konfliktfeld war die seelsorgerische Betreuung evangelischer Patienten im Bürgerspital, in dem Borromäerinnen die Krankenpflege übernommen hatten. Die evangelischen Seelsorger fühlten sich in ihrer Arbeit behindert, und die angeblich ständigen Bekehrungsversuche am Kranken- oder gar Sterbebett waren einer der Anlässe für die Gründung des evangelischen Martinsstifts im Jahre 1844. Damit waren jedoch die Konflikte nicht ausgestanden, 1851 sammelte Pfarrer Schütte Berichte über Bekehrungsversuche, über die Verspottung evangelischer Kranker, über Heilig Rock-Bilder und Weihwasserkessel an den Krankenbetten, über häufige Mariengebete und die Ausleihe katholischer Bücher an kranke Protestanten. Eine paritätische Untersuchungskommission wurde gebildet, nach weiteren Konflikten griff der Regierungspräsident ein, doch die Klagen über Bekehrungsversuche hielten an.

Wie sehr sich die Spannungen gerade in den 40er und 50er Jahren verdichteten, zeigt ein Konflikt um die Fronleichnamsprozession von 1854, die während des Gottesdienstes der evangelischen Gemeinde an St. Florin vorbeizog. Die katholische Seite wies darauf hin, dass die Prozession bei schlechtem Wetter schon immer verschoben worden sei und dass die evangelische Gemeinde ihren Gottesdienst ohne Rücksprache verlegt hätte. Im Gegenzug beschwerte sie sich über die ständige Störung des katholischen Gottesdienstes, weil die Protestanten am Karfreitag demonstrativ die Glocken läuteten.

Koblenz war ein Mittelzentrum, das von 10.000 (1814) über 19.500 (1846) bis auf 45.000 Einwohner (1900) wuchs, also um das Vier- bis Fünffache. Die evangelische Gemeinde vergrößerte sich von 600 (1817) über 3000 (1848) auf 10.000 Mitglieder (1900). Der Anteil an der Gesamtbevölkerung wuchs dabei von 6 über 15 auf 22%. Trier weist in etwa vergleichbare Zahlen auf: Die Stadt wuchs von 9600 (1815) über 17.000 (1847) auf 49.000 Einwohner (1910) an, also ebenfalls um das Fünffache. Die evangelische Gemeinde war kleiner, die Zahl der Mitglieder kletterte von 161 (1817) über 1000 (1849) auf 3000 (1885). Es lässt sich also festhalten, dass die immer wieder geführte Klage über die Benachteiligung und die ungenügende wirtschaftliche Entwicklung der Stadt zwar in Bezug auf die großen preußischen Industriemetropolen zutrifft, nicht aber im Vergleich mit der Verwaltungs- und Garnisonsstadt Koblenz, in der – wie in Trier auch – die Industrialisierung keine zentrale Rolle spielte.

Die evangelische Militär- und Zivilgemeinde in Trier konstituierte sich 1817, der erste Gottesdienst fand im Schwurgerichtsaal statt. Eine Pfarrstelle gab es zunächst nicht, 1817 wurde Johann Abraham Küpper als Regierungs- und Schulrat sowie als Religionslehrer an der Elementarschule bestellt und war Pfarrer im Nebenamt. Ab 1831 übernahm er den Religionsunterricht am Gymnasium, und zudem betreute er eine Reihe von Diasporagemeinden von Prüm bis Hermeskeil. Außerdem gab es einen Divisionspfarrer. Sein Nachfolger war von 1836 bis 1844 Adolf Schiever, ihm folgte Eberhard Rudolf Spieß, in dessen Amtszeit 1846/50 eine Pfarrstelle eingerichtet wurde, auf die man Willibald Beyschlag berief.

Die Suche nach einer Kirche für den evangelischen Gottesdienst gestaltete sich schwierig. Gegen die im Norden vor der Stadt gelegene Maximinkirche gab es Bedenken, weil man der katholischen Bevölkerung nicht jeden Sonntag das Bild eines Auszugs der Gemeinde aus Trier bieten wollte. Ab 1818 konnte die Gemeinde die ehemalige Jesuitenkirche als Simultaneum mit dem Priesterseminar nutzen, nach einigen Zusammenstößen erhielt sie 1819 das alleinige Nutzungsrecht. Allerdings waren die Besitzverhältnisse unklar, in einem längeren Prozess gewannen schließlich das Generalvikariat und das Priesterseminar.

Inzwischen hatte sich eine neue Möglichkeit ergeben. 1835 schenkte die Stadt Trier dem preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm IV. die Überreste der römischen Palastaula, der Basilika. Nach ausführlichen archäologischen Untersuchungen entstand 1839 der Plan einer Wiederherstellung. Eine Kabinettsorder von 1844 setzte das Projekt in Gang, 1846 begannen die Abriss- bzw. Bauarbeiten, 1856 konnte der Bau als „Konstantinische Basilika zum Erlöser“ geweiht werden. Die Einweihung erfolgte in Form eines Staatsaktes, der Berliner Domchor war angereist, und es wirkten das Musikcorps des 29. Infanterieregiments sowie ein Dilettantenorchester mit. Die bemerkenswerte klassizistische Innenausstattung wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Nicht ausgeführt wurden aus finanziellen Gründen die geplante Vorhalle und die Türme.

Es ging Friedrich Wilhelm IV. nicht um den Wiederaufbau eines antiken Monuments, das nebenbei als Pfarrkirche der evangelischen Gemeinde der alten Römerstadt genutzt werden sollte – eine Kirche, die auch heute noch für diesen Zweck wenig geeignet ist. Es ging auch nicht um eine Provokation der katholischen Kirche durch einen „Preußendom“ in Sichtweite des Trierer Domes. Es ging vielmehr um eine Selbstinszenierung des Romantikers auf dem Königsthron, der sich als zweiter Konstantin in Szene setzen wollte. Friedrich Wilhelm wollte wie ein mittelalterlicher Herrscher über die katholischen und evangelischen Bistümer seiner Reichskirche regieren. Der spätantike Bau signalisierte eine Rückbindung an die apostolisch legitimierte Urkirche. Insofern war die Basilika ein Gegenpol zum Weiterbau des Kölner Domes, den das Dombaufest von 1842 in die Wege geleitet hatte und für das der König ebenfalls erhebliche Summen beisteuerte: „Zwei Dome sieht nunmehr dein Rheinland ragen, / die deinen Ruhm zur fernsten Nachwelt tragen.“

1854 wurde das Dogma der Unbefleckten Empfängnis verkündet. Innerhalb kürzester Zeit wurde eine ganze Reihe von Mariensäulen errichtet. 1858 bildete sich in Trier ein Komitee aus Kaufleuten und Handwerkern, das die wohl größte Mariensäule der Welt errichten wollte. Bei der Einweihung unterstrich Bischof Pelldram, das Dogma der Unbefleckten Empfängnis sei „eine rein innere Angelegenheit, eine Familienangelegenheit der Kirche, die Niemanden verletzen kann.“ Freilich muss man diese immer wieder verwendete Formulierung quellenkritisch sehen. In jedem Fall errichtete man bis 1866 eine 30 Meter hohe Säule, auf der eine sieben Meter hohe Marienfigur aufgestellt wurde. Hinzu kommt der Aufstellungsort auf dem Markusberg: Dieser war – egal von welcher Seite man kam – aus der ganzen Trierer Talweite und von vielen Plätzen der Stadt aus zu sehen. In umgekehrter Richtung bot sich von der Säule aus die Stadt mit ihren Kirchen wie auf einem Präsentierteller dar. Kürzlich hat Arthur Fontaine ein Buch und dann noch einen Aufsatz im Neuen Trierischen Jahrbuch veröffentlicht, in dem er Bischof Pelldrams Aussage wortwörtlich genommen hat und die Säule als Werk einer frommen Bürgerinitiative deutete. Er vermisste Versuche der Regierung, das Vorhaben zu unterbinden, bestritt die Existenz von Spannungen zwischen den Konfessionen und kam zu dem Ergebnis: „Die Trierer Mariensäule: kein antipreußisches Projekt“. Er beruft sich dabei auf Gottfried Kentenich und Emil Zenz, der allerdings in seiner Stadtgeschichte das Verhältnis zwischen den Konfessionen ganz anders beurteilt.

Für die fünfziger Jahre haben wir einen aufschlussreichen, bisher kaum befragten Augenzeugen über das Trierer Gemeindeleben. 1823 wurde in Willibald Beyschlag geboren, der in Bonn und Berlin Theologie studierte und dann 1849 für elf Monate Vikar in Koblenz war, bevor er 1850 als Pfarrer nach Trier wechselte. 1856 wurde er Hofprediger in und 1860 Professor in . Hier wurde er zu einem der führenden Köpfe des Protestantismus, gründete 1876 die Deutsch-Evangelischen Blätter und 1886 den Evangelischen Bund, der sich als protestantische Notgemeinschaft gegenüber der aus dem Kulturkampf gestärkt hervorgegangenen katholischen Kirche verstand. Der mitgliederstarke Bund beklagte, dass die preußische Regierung der katholischen Kirche gegenüber viel zu nachgiebig und großzügig sei und die folgsame evangelische Kirche vernachlässige. Bis zu seinem Tod 1900 entfaltete Beyschlag eine reiche literarische und publizistische Tätigkeit, von der seine Streitschriften im Kontext der Wallfahrt von 1891 besonders bekannt geworden sind. Er gilt als radikaler Poltergeist, doch lassen sich seine Aussagen aus anderen Quellen bestätigen, und die darin beschriebenen Zustände finden sich auch in anderen Städten. Im Werfen von Tintenfässern und im Austeilen von Tiefschlägen standen ihm seine Gegner in nichts nach. „Gegen den Aschen- und Schlammregen“ der katholischen Presse, schrieb er, sei er ja abgehärtet. Außerdem muss man Beyschlags gesamtes Werk berücksichtigen: Neben Predigten und theologischen Schriften nenne ich die ergreifende Biographie seines frühverstorbenen Bruders Franz (1857), die scharfsinnige Lebensbeschreibung seines Bonner Lehrers Karl Nitzsch (1872), die einfühlsame Vita seines Studien- und Professorenkollegen Albrecht Wolters (1880) und schließlich seine zweibändige Autobiographie, in der seine Trierer Zeit geschildert wird.

Trier besaß damals zwei Pfarrstellen: Einmal für die Militärgemeinde den Divisionsprediger Höpfner und dann für die Zivilgemeinde den Konsistorialrat Spieß, der diese quasi im Nebenamt betreute. Da er erkrankt war, bastelte man aus verschiedenen Aufgaben eine Stelle für Beyschlag. Man nahm das Religionslehreramt an der Bürgerschule, die Stellung eines Hausgeistlichen im Landarmenhaus, das gleiche Amt im Gefängnis und die Aufgaben eines Pfarrers, darunter der Konfirmandenunterricht und Beerdigungen in den Landgemeinden.

Der junge Pfarrer machte beim Bischof und bei seinen katholischen Amtskollegen einen Antrittsbesuch und wunderte sich, dass dieser nicht erwidert wurde. „Es scheine wirklich, dass sich die Protestanten hier festsetzen wollten“, sagte ihm einer von ihnen. Beyschlag fand eine Gemeinde von 1200 Seelen vor, zu denen noch 200 im Landkreis kamen. Es gab 200 Mischehen, in zwei Dritteln davon wurden die Kinder katholisch erzogen. Die Gemeinde hielt eng zusammen und besuchte regelmäßig den Gottesdienst. Beyschlag bescheinigte ihr einen „evangelischen Patriotismus“. Ein rühriges Presbyterium und ein engagierter Frauenverein unterstützten die Armen und veranstalteten im Rathaussaal eine „Weihnachtsbescheerung“, die „die Bewunderung des katholischen Volkes erregte.“ Ein Jünglingsverein und der Gustav-Adolf-Verein waren weitere Kristallisationspunkte des Gemeindelebens.

Seinen ersten Zusammenstoß mit dem „römischen Pfaffentum“ hatte Beyschlag im Landarmenhaus, wo der Seelsorger einen Jugendlichen zum Übertritt bewegen wollte. Auch an dem „streng confessionellen, fast klerikalen Gymnasium“ der Stadt, an dem neben Beyschlag nur noch ein weiterer Protestant tätig war, gab es Reibungen, weil der katholische Religionslehrer außerhalb der Schulordnung stehen wollte. Von 200 Schülern waren hier 50 evangelisch. Von ihren katholischen Mitschülern wechselte ein großer Teil nach der Reifeprüfung ans Priesterseminar. Die neu zugelassene Jesuitenmission verursachte große Aufregung. „Die Frauen belagerten den Dom von Mitternacht an, um in der Frühe die heiligen Männer hören zu können.“ Besonders ärgerte ihn: „Eine prunkvolle Pfingstmontagsprozession zu Ehren der Jungfrau Maria durfte … unter den Augen der Preußischen Regierung diese Vertreibung der evangelischen ‚Ketzer‘ in einer Weise feiern, die es uns nahezu unmöglich machte, ohne Huldigung vor diesem Hohn auf unser Bekenntnis in unsere Kirche zu gelangen.“ Es handelt sich um die um 1600 entstandene Dankprozession für die Vertreibung der Ketzer und Protestanten im Jahre 1559. Neben den ca. 500 Mitgliedern der Marianischen Bürgersodalität zogen Angehörige aller Pfarreien und der Stadtrat mit. Die Prozession wurde bis 1964 durchgeführt.

Ständigen Ärger gab es insbesondere in den Vororten und Dörfern auf den Friedhöfen. Viele Pfarrer wollten die Kirchhöfe ausschließlich den Katholiken vorbehalten und den Protestanten eine ungeweihte Ecke, den „Selbstmörderwinkel“, zuweisen. Mehrfach musste eine Polizeieskorte den Pfarrer bei Beerdigungen begleiten. Die Schulkinder und die Einwohner störten den Trauerzug, Friedhofstüren wurden verschlossen und die Totenbahre versteckt. Neben Beleidigungen kam es zu tätlichen Auseinandersetzungen, wie sie durchaus auch für andere Gemeinden belegt sind. Ein weiterer Zankapfel waren die Mischehen; evangelisch getaufte Waisenkinder, deren Vater gestorben war, wurden unter Druck gesetzt. Bekehrungsversuche im städtischen Krankenhaus waren ein weiteres Thema. Die hier tätigen Borromäerinnen sollen die Patienten zur Konversion gedrängt, ihnen katholische Bücher gegeben und die Arbeit der evangelischen Seelsorger beeinträchtigt haben. Wie ein Parlamentär mit weißer Fahne in einer feindlichen Festung sei Beyschlag sich vorgekommen. Auch hier lassen sich seine Klagen nicht nur aus den Koblenzer Quellen bestätigen. 1843 erschien in der Bonner Monatsschrift ein Aufsatz des Siegburger Irrenhausseelsorgers und späteren Winninger Pfarrers Karl Göbel, der die Zustände in den Vereinten Hospitien ansprach. Der Artikel zog eine ganze Serie von Entgegnungen und Widersprüchen nach sich. Auch der bekannte Bonner Theologe Karl Nitzsch schrieb einen Aufsatz, in dem er nachwies, dass die Ordensideale der Borromäerinnen und die evangelische Krankenhausseelsorge sich gegenseitig ausschlossen. Schließlich kam es auch über die Bücher in der Gefängnisbibliothek zum Streit, wo sich Beyschlag über eine Schrift ärgerte, in der „über Luther und Calvin die schmutzigsten und gehässigsten Jesuitenmärchen vorgetragen wurden.“ Das Buch bzw. der Konflikt landete schließlich beim Regierungspräsidenten.

Ein Büchlein „Evangelische Beiträge zu den Radowitzschen Gesprächen“, von evangelischer Seite sehr gelobt, brachte Beyschlag eine Anklage nach § 135 StGB w e g e n „H e ra b w ü rd i g u n g vo n L e h re n , Ei n ri ch tu n g e n u n d Verehrungsgegenständen einer Kirche“ ein, ein beliebtes Mittel, Kritiker mundtot zu machen. Es gab in Trier keinen einzigen evangelischen Rechtsanwalt, Beyschlag musste einen liberalen Katholiken als Verteidiger nehmen. Der Staatsanwalt war ebenso katholisch wie die drei Richter. In erster Instanz wurde Beyschlag zu einem Monat Gefängnis verurteilt. Das Urteil erregte gewaltiges Aufsehen, erzeugte eine Welle der Solidarität (das Presbyterium übernahm die Gerichtskosten) und schreckte die Regierung auf. In zweiter Instanz bestand das Gericht aus fünf katholischen Richtern, von denen drei als ultramontan galten. Hier wurde Beyschlag freigesprochen und deutete die ganze Geschichte als „einen moralischen Sieg der evangelischen Sache“, während der Oberpräsident in Koblenz meinte, wer in Trier lebe, sollte solche Bücher besser nicht verfassen.

Leider hat Beyschlag den Heiligen Rock nicht gesehen. 1844 war er Student in Bonn und 1891 Professor in Halle. In einem Rundumschlag über den Siegeszug des „ultramontanen Katholizismus“ in den 1840er Jahren klagte er, die „glücklich abgekommenen Wallfahrten, dieser Krebsschaden der Landbevölkerung“ würden neu angefacht, und wie Pilze würden neue Klöster aus dem Boden schießen. 1844 habe man den Heiligen Rock ausgestellt, obwohl Gildemeister und Sybel seine Unechtheit bewiesen hätten; auch ein sachkundiger und ehrlicher Trierer Domherr (Wilmowsky) habe dies eingestanden. Auf die Freifrau von Droste zu Vischering hätten die Bonner Studenten ein Spottlied gesungen, und trotzdem seien 1.100.000 Pilger nach Trier gekommen, die dem Bischof für einen großen Konviktsbau die Taschen gefüllt hätten. Vor allem hatte man „dem Könige von Preußen gezeigt, wer das Volk hinter sich habe.“ Ähnlich schrieb er bereits in seiner Nitzsch-Biographie von 1872, die Kirche habe „durch die Riesenwallfahrt zum heiligen Rock in Trier es dem preußischen Staate anschaulich [ge]macht, wie sie bei jedem Rückgang in’s Mittelalter die Massen hinter sich habe."

Werfen wir noch einen Blick auf die Wallfahrt von 1891. Im Kulturkampf (1872-1887) gab es weitere massive Konflikte zwischen dem preußischen Staat und der katholischen Kirche, aus denen der Papst und die Bischöfe gestärkt hervorgingen. Der Heilige Rock konnte 1891 fast zwei Millionen Pilger mobilisieren, mehr als doppelt so viele wie 1844. Die Eisenbahn ermöglichte es, Pilgergruppen an einem einzigen Tag nach Trier und zurück zu transportieren. Auch 1891 wurde die Wallfahrt zu einem international beachteten Medienereignis, zu dem viele Druckschriften und zahlreiche Presseartikel erschienen. Wieder wurde erregt über Wallfahrt und Reliquienverehrung, über die Echtheit des Gewandes und über Wunderheilungen debattiert.

Nach der Wallfahrt veröffentlichte der zur Trierer Gemeinde gehörige Theologiestudent Wilhelm Reichard anonym ein Büchlein „Die Rockfahrt nach Trier unter der Ära Korum. Geschichte der Wallfahrt von 1891, kritisch beleuchtet von einem nicht clerikalen Trierer Augenzeugen“, das ihm eine Anzeige wegen Beschimpfung der katholischen Kirche und des Bischofs einbrachte. Von dem Gerichtsverfahren erschien im Trierer Paulinus-Verlag eine stenographische Mitschrift. Reichert wurde zu acht Tagen Festungshaft auf dem Ehrenbreitstein verurteilt, er wurde später Superintendent im Saarland. Wie auch anderen protestantischen Autoren haben ihm ein Prozess oder eine Gefängnishaft nicht geschadet. Zur Wallfahrt veröffentlichte Beyschlag „Vaterländisch-kirchliche Erinnerungen aus Trier. Ein protestantisch- patriotisches Pro-memoria zur Trierer Rockausstellung von 1891“. Aus der Flut der Flugschriften zur Wallfahrt von 1891 sei noch eine Predigt seines Hallenser Kollegen Gerhard Göbel, ein Sohn des genannten Winninger Pfarrers Karl Göbel, genannt.

1893 schrieb Beyschlag einen offenen Brief an Bischof Korum. Er wiederholte die Klage über die Lage der protestantischen Trierer Gemeinde, als deren Anwalt er sich berufen fühlte. Angeblich habe diese sein Porträt für die Sakristei der Basilika angefordert. Einer der Streitpunkte war ein Konflikt zwischen dem Presbyterium und dem Bischof um die Bekehrungsversuche evangelischer Patienten durch in der Krankenpflege tätige katholische Nonnen. Ab 1893 wurde daraufhin das evangelische Elisabethkrankenhaus gebaut. In Koblenz erfolgte dies bereits 1844, in Bonn 1852, zeitgleich mit Trier dann 1898 in Köln- Weyertal und 1904 in Köln-Kalk.

In einem Nachwort nahm Beyschlag zu den Aussagen des Bischofs, der ja ebenfalls Theologe sei, im Prozess um die „Rockfahrt“ Stellung. Er stellte dessen griechische Sprachkenntnisse in Frage und versuchte ihm nachzuweisen, dass er Thomas von Aquins Aussagen über die Reliquienverehrung zwar richtig, in wesentlichen Teilen aber unvollständig zitiert habe. Bischof Korum antwortete auf die in mehreren Auflagen verbreitete Kampfschrift nicht selbst, sondern beauftragte damit den Professor für Dogmatik am Priesterseminar, Peter Einig, der Beyschlag nichts schuldig blieb. Seine Streitschriften machten ihn zwar sehr bekannt, verhinderten aber seine Berufung auf eine Professur für Theologie an der späteren Universität Münster.

Im Zusammenhang mit der Wallfahrt von 1891 scheint sich das Verhältnis von Protestanten und Katholiken erheblich verschlechtert zu haben. Die Wallfahrt versetzte nach Beyschlag die Gemeinde in einen Belagerungszustand; dagegen berichtet Franz Kempel in seinem apologetischen Buch, selbst Protestanten und Juden hätten sich der Aufforderung nicht widersetzt, beim Fest zum Abschluss der Wallfahrt nachts ihre Häuser zu illuminieren. Weiter ist der Prozess um die „Rockfahrt“ zu nennen, der ja ein Mitglied der evangelischen Gemeinde betraf, und ab 1892 der „Fall Stöck“. Stöck war Rektor der Vereinten Hospitien und der Vormund eines aus einer Mischehe stammenden Mädchens, dessen evangelischer Vater gestorben war. Anton Stöck nahm das Kind in das katholische Waisenhaus der Hospitien auf, wogegen die evangelische Gemeinde auf dem Besuch ihrer Schule beharrte. Stöck brachte das Kind ins benachbarte Luxemburg. Nachdem ein Prozess mit einem Freispruch geendet hatte, nahm sich der Evangelische Bund publizistisch und politisch der Affäre an, und nach einem weiteren Prozess wanderte der als Märtyrer gefeierte Stöck 1895 ins Gefängnis, wo ihn allerdings der Kaiser postwendend begnadigte. Im Vorfeld der Gründung des evangelischen Elisabethkrankenhauses 1893 kam es ebenfalls zu Auseinandersetzungen. 1892 bat der evangelische Bürgerverein die Stadt Trier um einen Saal für ein großes Lutherfestspiel, was aber abgelehnt wurde. 1893 wurde im Übrigen auch das Denkmal für Kaiser Wilhelm I. auf dem Domfreihof eingeweiht, das vor allem aus Spenden von Angehörigen der Garnison und der Verwaltung finanziert wurde und das zeigt, wie komplex die Gemengelagen der politischen und konfessionellen Interessen sein konnte.

Meine Damen und Herren, ich denke, dass deutlich geworden ist, dass es in Trier wie in Koblenz richtiggehende Parallelgesellschaften gegeben hat. Von der Kinderbewahranstalt über die Konfessionsschule, den Lese- und den Gesangverein bis hin zum Krankenhaus und zum Friedhof konnte man ein Leben lang im evangelischen bzw. katholischen Milieu bleiben. R e f o r m a t i o n s j u b i l ä e n u n d G u s t a v - A d o l f - F e s t e b z w . Fronleichnamsprozessionen, Mariensäulen und Wallfahrten zum Heiligen Rock stärkten die Identität und dienten der Abgrenzung. Eine große Bedeutung spielten Prozesse. Pfarrer, die man vor Gericht stellte, und Bischöfe, die man verhaftete, gewannen eine ungeheure Popularität, machten die Betroffenen zu Helden, zu Märtyrern. Die gerichtlichen Auseinandersetzungen wurden in der konfessionellen Presse ausführlich dargestellt, in Lesevereinen rezipiert, in Predigten und bei der Katechese aufgegriffen und selbstverständlich auch in der Familie und im Gasthaus ausführlich diskutiert. Vielleicht besaßen diese Prozesse, die in der Regel keine ernsthaften Strafen zur Folge hatten, sowie die Flugschriftenkultur eine gewisse Ventilfunktion, denn gewaltsame Konflikte sind selten. Nach der Schule wurden die Kinder mit der falschen Konfession verprügelt, man kehrte an Fronleichnam bzw. am Karfreitag demonstrativ die Straße, warf ab und zu Fensterscheiben ein oder brachte „Affichen“ an, so 1839 nach der Verhaftung des Erzbischofs an der evangelischen Kirche in Köln: „Brennt den Saustall nieder“ und: „Clemens August der Gerechte, Friedrich Wilhelm der Schlechte“.

Wir dürfen diese Parallelgesellschaften aber nicht auf ihre konfessionelle Dimension beschränken. Die Protestanten in Trier und Koblenz waren außerdem auch noch Fremde, in der Regel sogar Preußen. Viele von ihnen besaßen ein hohes Maß an Bildung, viele gehörten den oberen Einkommensschichten an. Hier kollidierten also das Eigene und das Fremde, das Traditionelle und das Moderne, hier trafen verschiedene Sprachen und Sitten, unterschiedliche Vorstellungen von der Ordnung der Welt aufeinander. Im täglichen Leben existierten Protestanten und Katholiken nebeneinander her, Rücken an Rücken: Man verkehrte in geschlossenen Kreisen, feierte getrennt voneinander und suchte ausdrücklich ein katholisches Dienstmädchen. Es erinnert einem fast an das Verhältnis von christlichen und islamischen Gesellschaften in unseren heutigen Großstädten. Interessanterweise sprengten damals wie heute die Mischehen die Grenzen.

Ich mache einen Sprung bis zum Jahre 1959. In diesem Jahr sollten die Trierer Schulklassen in einer geschlossenen Prozession zum Heiligen Rock ziehen. Daraufhin schrieb Superintendent Cyrus einen feinsinnigen Brief am Bischof Wehr, in dem er gegen eine Teilnahme in Form einer offiziellen Schulveranstaltung protestierte. Er habe grundsätzlich nichts gegen eine Besichtigung des Rocks durch evangelische Kinder, wohl aber gegen die verpflichtende Teilnahme an einer Messfeier mit Beichte und Absolution in einer der Stationskirchen. Weiter schrieb er: „Das Bekenntnis zu unserem Erlöser Jesus Christus und zur Einheit der Kirche glauben wir als evangelische Christen in anderer und gültigerer Weise ablegen zu können als mit einer Teilnahme an der Wallfahrt zum hlg. Rock in Trier, zu der wir unseren katholischen Mitchristen die Berechtigung ausdrücklich konzedieren.“ Den evangelischen Schulkindern wurde geraten, ihr Gewissen zu erforschen. Eine Besichtigung der Tunika aus reiner Neugierde und Sensationslust würde ein ernstes Glaubensanliegen der katholischen Brüder und Schwestern beeinträchtigen. Als gute Christen sollen sie aber der Wallfahrt ihren Glaubensbrüdern gegenüber duldsam und hilfsbereit sein.

1996 spross das zarte Pflänzchen der Ökumene. Die offiziöse Abschlusspublikation aus dem Paulinus-Verlag rückte die Wallfahrt ins rechte Licht. Der Band präsentiert dem Leser mit vielen Farbfotos das Bild einer intakten Trierer Kirche mit engagierten Gläubigen und einer breiten Jugendbewegung im Rahmen einer universalen Weltkirche. Unter der Überschrift „Glauben feiern statt Lehren diskutieren“ wird über den Tag der Ökumene berichtet. Illustriert wurde das mit einem damals vieldiskutierten Foto, das die zahlreichen Teilnehmer am ökumenischen Gottesdienst zeigt, die hinter einem Kreuz und dem Bischof in einer Prozession in den Dom ziehen.

2012 steht die Wallfahrt noch viel stärker unter dem Zeichen der Ökumene. Bischof Ackermann hat die Evangelische Kirche im Rheinland eingeladen, Präses Schneider hat die Einladung angenommen. Es gab im Vorfeld der Wallfahrt ein vielbeachtetes ökumenisches Forum, und es wird am 5. Mai einen Tag der Ökumene geben. Ich habe den Eindruck, dass die Teilnahme der Protestanten an der Wallfahrt im Koblenzer Kirchenkreis wesentlich kontroverser diskutiert wird als in Trier. Ökumene kann also auch spalten. Zunächst einmal stellt sich die Frage, ob Luthers kritische Haltung gegenüber den Wallfahrten heute noch berechtigt ist. Luther wandte sich konkret gegen Missbräuche, Betrug und Geschäftemacherei und allgemein gegen den Ablass, der ja bei einer Wallfahrt erworben werden konnte. Wallfahrten sah er jedenfalls nicht als Weg zu Christus an. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das heute nicht mehr aktuell ist. Zum Zweiten lehnte Luther die Reliquienverehrung ab. Nun weist das Bistum darauf hin, dass die Echtheit des Heiligen Rocks kein Thema mehr sei, wodurch sich die Frage stellt, ob Protestanten zu einer unechten Reliquie pilgern können und sollen, und ob dies ein Weg zum Herrn ist. Außerdem sind die Aussagen der Wallfahrtsleitung nicht ganz präzise: Der Heilige Rock wird als kostbarste Reliquie der Trierer Kirche bezeichnet, wobei eine Reliquie ja per se echt ist. An anderer Stelle wird das Gewand als Ikone – als Referenz an die orthodoxe Kirche – definiert und wiederum woanders als Symbol. Dies verwirrt auch den katholischen Gläubigen, der jetzt nicht mehr weiß, ob er bei der Wallfahrt einen Ablass erwirbt. Zum Dritten stellt sich die Frage nach den Formen und Spielregeln der Ökumene. Ist die Teilnahme an einer Wallfahrt geeignet, die Annäherung zwischen den Konfessionen zu fördern? Mir stellt sich die Frage, was nach dem Event bleibt. Mit einem multikulturellen Sommerfest kann man kaum die Integrationsprobleme von Migranten lösen. Bei der Ökumene kommt es meines Erachtens darauf an, auf gleicher Augenhöhe über die Lösung zentraler Fragen zu diskutieren. Zum Beispiel über das gemeinsame Abendmahl von Ehepaaren unterschiedlicher Konfession. Hier sehe ich im Moment auf der katholischen Seite eher einen Rückzug auf traditionelle Positionen als ein Zugehen auf die andere Seite. Insofern habe ich Bedenken, ob die Teilnahme an einer Wallfahrt die Ökumene voranbringt. Erschwerend kommt hinzu, dass bisher Wallfahrten und Prozessionen als Ausdruck einer von Protestanten oft als militant empfundenen katholischen Frömmigkeit verstanden wurden. Hier sehe ich die Gefahr, dass theologische Positionen aufgegeben werden und ein protestantisches Profil entschärft wird – man möchte fast von einer Rückkehr-Ökumene sprechen und sich fragen, was der nächste Schritt sein wird. Sie sehen, die Wallfahrt zum Heiligen Rock wird auch in Zukunft noch reichlich Diskussionsstoff bieten. PAGE \* MERGEFORMAT19