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Werbeseite MNO DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung Betr.: China

Eine liberale Wirtschaft, meinen Chinas Kommunisten, könne sehr wohl mit dem alten “administrativen Kom- mandosystem“ harmonieren. Wie prächtig letzteres ge- deiht, das erfuhr der Pekinger SPIEGEL-Korrespondent Jürgen Kremb innerhalb von 14 Tagen gleich zweimal. Vorigen Donnerstag erreichte ihn der ultimative An- ruf, er habe sich binnen einer Stunde im Außenmini- sterium einzufinden. Dort wurde ihm, wie erst zwei Wochen zuvor, eine mündliche Verwarnung zuteil: Wenn er sich weiterhin in die Politik Chinas einmische,

Wei Jingsheng, Hsushi und Jürgen Kremb könne das Ministerium keine Verantwortung mehr für ihn übernehmen – eine verklausulierte Drohung mit dem Hinauswurf. Was die Beamten nach eigenem Bekun- den gegen Kremb aufbringt, sind nicht dessen Berich- te über die Geheimnisse der chinesischen Psychiatrie oder Zitate aus Rundschreiben des Zentralkomitees und der Streitkräfte. Es ist vielmehr Krembs Freundschaft mit Wei Jingsheng, 43, dem “Vater der chinesischen Demokratiebewegung“ (SPIEGEL 3/1994). Im September 1993 war Wei nach über 14 Jahren Haft auf Bewährung entlassen worden, seither ist er häufiger Gast im Hause Kremb. Dabei geht es selten um Politik, mitun- ter tauschen Krembs Frau Hsushi, geboren auf Taiwan, und Wei, geboren in Peking, Kindheitserinnerungen aus. Solange Weis Bewährungszeit dauert, lautet die Order der Behörde, habe jeglicher Kontakt zu unter- bleiben. Doch bereits am kommenden Dienstag müßte die Frist abgelaufen sein. Dann ist Wei ein (nach chinesischen Maßstäben) freier Mann – ein unbequemer wird er bleiben.

Die nächste SPIEGEL-Ausgabe wird wegen der Osterfeiertage in weiten Teilen Deutsch- lands bereits am Samstag, 2. April, verkauft und den Abon- nenten zugestellt. Bitte beachten Sie den Aushang bei Ih- rem Zeitschriftenhändler.

DER SPIEGEL 13/1994 3 TITEL INHALT Neue Therapien gegen den Schlaganfall ...... 206 Johann Grolle über Patienten beim Reha-Training ...... 218 „Donnerwetter über die Politiker“ Seite 29 KOMMENTAR Roman Herzog will, falls Rudolf Augstein: Wie man sich Feinde macht ....24 er gewählt wird, ein poli- tischer Bundespräsident DEUTSCHLAND sein: „Das Amt ist reiz- Panorama ...... 16 voll, weil es nicht defi- Ausländer: Kurden-Krawalle – niert ist“, sagt der Uni- Bonns Außenpolitik versagt ...... 18 onskandidat im SPIEGEL- Der Traum der Kurden vom eigenen Staat ...... 22 Gespräch. Seine Stärke Meinungsforschung: Schafft die FDP sei, daß er „Probleme die fünf Prozent? ...... 25 brennglasartig“ zusam- Antisemitismus: Interview mit menfassen könne. Aller- Michel Friedman vom Zentralrat der Juden dings werde er, wie über Gewalt und den Anschlag sein italienisches Vor- bild Sandro Pertini, auch auf die Lübecker Synagoge ...... 26 mal ein „Donnerwetter Bundeswehr: Spar-Report sorgt über die Politiker“ nie- für Aufregung ...... 27 dergehen lassen. Herzog Ein Zivi als Rühe-Ratgeber ...... 28 Bundespräsidenten: SPIEGEL-Gespräch mit Roman Herzog über seine Chancen und die Rolle des Staatsoberhaupts ...... 29 Terrorismus: Wie „Carlos“ in Damaskus lebt .....32 Kronzeuge gegen „Carlos“ Seite 32 Medien: Interview mit dem Hamburger Rechtsprofessor Wolfgang Hoffmann-Riem Mit undurchsichtigen über Gefahren für die Pressefreiheit ...... 34 Tricks und mit Pressio- Atomkraft: Horrorgutachten über nen haben deutsche Ge- den Pannenreaktor von Biblis ...... 35 heimdienstler einen syri- Lotto: Rechentricks von „Mayer-Kujau“ ...... 37 schen Diplomaten in die Bundestag: Regierung blockiert Bundesrepublik gelotst. Treuhand-Untersuchungsausschuß ...... 40 Grund: Der Zeuge soll Parteien: SPIEGEL-Streitgespräch am Sprengstoff-An- zwischen Gregor Gysi und Werner Schulz schlag auf das Kultur- über Ostalgie und Opposition ...... 45 zentrum „Maison de France“ in Berlin betei- Europa: Armutsrabatt für die Deutschen? ...... 52 ligt gewesen sein und Berlin: Protest gegen Plattmacher Genaues über den welt- am Alexanderplatz ...... 58 weit gesuchten Top-Ter- Protestanten: Staatsanwalt prüft „Carlos“, Begleiterin roristen „Carlos“ wissen. fromme Firmen ...... 61 Forum ...... 65 Umwelt: Giftmischer auf dem Rhein ...... 68 Polizei: Profigangster im D-Netz ...... 81 Zeitgeschichte: SS-Massaker an Briten Ohnmacht auf dem Rhein Seite 68 bei Dünkirchen ...... 84 Presse: Bunte Magazine für Arbeitslose ...... 90 Jährlich leiten Binnen- Freizeit: Kanther will Laser-Spiele verbieten ...... 93 schiffer rund 180 Mil- lionen Liter Mineralöle Glaube: Göttinger Theologe bestreitet und Chemikalien aus die leibliche Auferstehung Jesu ...... 126 Ladungsresten in den GESELLSCHAFT Rhein. Es fehlt an lega- len Entsorgungsplätzen, Psychologie: Therapeuten entdecken Wasserschutzpolizisten das Kleinkind ...... 96 klagen über ihre Ohn- Barbara Supp über die Baby-Analytikerin macht: Selten werden Caroline Eliacheff ...... 102 die Täter gefaßt, wirksa- me Gesetze fehlen. Ein WIRTSCHAFT Beamter: „Wir werden Trends ...... 111 ständig gefoppt.“ Schiffskontrolle Banken: Blendende Geschäfte in der Krise ...... 112 Steuern: Absurde Pläne der Bonner Parteien ...... 116 Geldanlage: Interview mit Von Banken ausgenommen Seite 112 Donald H. Straszheim vom Bankhaus Merrill Lynch über steigende US-Zinsen ...... 121 Die Banken machen Rekordgewinne, die Kunden fühlen sich ausge- Telefon: Satelliten sollen weltweites nommen. Immer neue und höhere Gebühren erregen den Zorn von Netz schaffen ...... 122 Kritikern, die „moderne Raubrittermethoden“ erkennen. Doch wer Design: Streit um das Bahn-Logo ...... 124 sich dagegen wehrt, gar einen Anwalt einschaltet, hat häufig Erfolg.

4 DER SPIEGEL 13/1994 AUSLAND Panorama Ausland ...... 142 Atomwaffen: Die Korea-Krise als Auftakt einer globalen nuklearen Kraftprobe ...... 144 Korea: Kontrolle oder Krieg Seiten 144, 146 Interview mit dem nordkoreanischen Nord- und Südkorea in Spitzendiplomaten Yun Ho Jin ...... 146 Alarmbereitschaft, die Mexiko: Politischer Mord erschüttert USA schicken modernste das System ...... 147 Waffen: Droht ein neuer Rußland: Jelzin-Knappen Koreakrieg, oder ist alles als Königsmeuchler? ...... 148 Bluff? Ein Spitzendiplo- Interview mit Unternehmerpartei-Chef mat Nordkoreas behaup- Konstantin Borowoi über die jüngsten tet im SPIEGEL-Inter- Moskauer Putschgerüchte ...... 150 Frankreich: Revolte der Jugend ...... 150 view, es ginge nur um 58 Europäische Union: Briten blockieren Gramm Plutonium. Mit die Einigung ...... 152 der Krise beginnt eine Japan: Stinkender Reis ...... 153 globale Neuorientie- Osteuropa: Walter Mayr über rung: Wer darf in Zukunft postsozialistische Nato-Anwärter und Atomwaffen besitzen, ihre Angst vor Rußland ...... 156 wer sie kontrollieren? US-Soldaten bei Manöver in Südkorea Großbritannien: Invasion reicher Russen ...... 166 Rassismus: Lynchmorde in den USA ...... 168 Italien: Interview mit dem Soziologen Pino Arlacchi über das Netzwerk Lob dem Straflager Seite 228 der Unterwelt ...... 172 SPORT Der Schriftsteller Stefan Heym, demokratisches Aushänge- schild und Kandidat der PDS, hat sich früher als Stalinist profi- Fußball: Die Abhängigkeit der liert: Er lobte die „erzieherische Wirkung“ sowjetischer Strafla- Bundesligaklubs von ihren Stars ...... 175 ger und hetzte gegen aufsässige DDR-Bürger. Werbung: Vermarkter entdecken die Sport-Lolitas ...... 184 TECHNIK Automobile: Erstes serienreifes Lebt Jesus weiter wie Goethe? Seite 126 deutsches Elektroauto ...... 192 Magnetbahn: Neues Nahverkehrskonzept Lebt Jesus nur so wie für Großstädte ...... 202 Goethe und Gandhi wei- ter? „Ja, nur so“, antwor- WISSENSCHAFT tet der Göttinger Theolo- Prisma ...... 190 ge Gerd Lüdemann. Er Biologie: Litt Ötzi an Fußpilz? ...... 197 schrieb das seit langem Sexualität: Vergebliche Liebesmühen kritischste Buch über um den U-Punkt ...... 200 die „Auferstehung Jesu“. Seine Bilanz: Es gab Vi- KULTUR sionen, sonst hat sich Szene ...... 225 nach dem Tode Jesu Schriftsteller: Stefan Heyms Elogen nichts von all dem er- auf Stalin und die Sowjets ...... 228 eignet, was in der Bibel Affären: Deutscher Oscar-Preisträger – berichtet wird. Auferstehung Jesu ein Ideendieb? ...... 230 Film: „Raining Stones“ von Ken Loach ...... 232 „Madadayo“ von Akira Kurosawa ...... 232 Architektur: Das Bauhaus Dessau Begehrte Teenager Seite 184 und dessen Erneuerung ...... 234 Autoren: Dürrenmatt-Witwe verprellt Hoffnung auf lukrative die Schweizer ...... 238 Sponsorenverträge reizt Leon de Winter und sein Spionageroman junge Sportlerinnen wie „Hoffmans Hunger“ ...... 242 etwa die 16jährige Bestseller ...... 244 Eiskunstläuferin Tanja Musik: Interview mit Starsängerin Szewczenko zu verfüh- Montserrat Caballe´ ...... 246 rerischen Posen in Wer- Satire: Wie Politiker Fernseh-Humoristen bekampagnen. Auch an- den Spaß verderben ...... 250 dere Athletinnen im Tee- Pop: „Element of Crime“ – Erfolg nie-Alter setzen mit kes- mit deutscher Tristesse ...... 252 ser Ausstrahlung und Fernseh-Vorausschau ...... 258 wohlgeratenen Propor- tionen auf Lolita-Sex: Briefe ...... 7 Die Summe aus „Erfolg, Impressum ...... 14 Jugend und Schönheit“, Personalien ...... 254 so die Vermarkter, sei Register ...... 256 Szewczenko fast ideal. Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 262

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Werbeseite BRIEFE Dickes Fragezeichen gefehlt. Wer Lean Management als Ko- stensenkungsstrategie versteht, wird (Nr. 11/1994, Titel: Die Industrie wird bald vor denselben Problemen stehen wieder fit – Raus aus der Krise) wie bei den klassischen Einsparungs- Endlich einmal ein Bericht zum Thema maßnahmen. „Wirtschaftsstandort Deutschland“, der Berlin UWE DRZYZGA auf den Punkt kommt. Besonders bloß- stellend ist die Darstellung der (bisheri- Die arroganten „Thron-Manager“ müs- gen) Unternehmensstruktur. Bis auf sen lernen zu begreifen, daß man aus ei- den fehlenden Parteisekretär könnte das nem gewerkschaftlich gedrillten Deut- eine Betriebsbeschreibung der Ex-DDR schen keinen cleveren und anpassungs- gewesen sein. Sollte der „Osten“ nur als fähigen Japaner machen kann. erster zu Boden gegangen sein? Reinfeld (Schlesw.-Holst.) DETLEF SCHULZ Klein Kreutz (Brandenburg) H.-C. FAUTH Ihre Geschichte „Radikalkur in den Be- Die Hauptursache der Misere des größ- trieben“ setzt dem Titelblatt „Raus aus ten Teils der deutschen Fertigungsindu- der Krise“ doch ein dickes Fragezeichen strie liegt in der falschen Besetzung von auf. Ich kann Ihrem Artikel nicht ent- Vorstands- und Geschäftsführerpositio- nehmen, daß die Industrie, geschweige

VW-Arbeiter bei der Produktionsplanung: Überflüssige Hierarchien nen durch Banken und/oder Unterneh- denn die Gesellschaft, „wieder fit wird“ mens- beziehungsweise Personalbera- – zum Beispiel durch Mehrbeschäfti- tungen oder der Großunternehmen gung. selbst. Einfacher, besser und billiger zu Berlin STEFAN RUEGER produzieren kommt keinem in den Sinn. Bad Soden-Salmünster (Hessen) Nachdem der SPIEGEL sich seit Jahren WERNER PROBST bevorzugt damit beschäftigt hat, Hor- rorgemälde zum angeblich unaufhaltsa- Die größte Barriere liegt nicht im Ma- men Niedergang der deutschen Wirt- nagement – das stirbt aus –, sondern in schaft zu malen, ist es immerhin erfreu- der Ausbildung derer, die da beteiligt lich, daß die (keineswegs neuen) Ten- werden sollen. Wo ist denn der Arbei- denzen zur strukturellen Erneuerung ter, der die Möglichkeit hatte zu lernen, und Reorganisation jetzt auch bei Ihnen wie man über das eigene Fließband hin- zur Sprache kommen. ausschaut? Mannheim PROF. K.-J. PESCHGES Köln BEATRIX KELLER Fachhochschule für Technik

Leider sind noch einige Manager (und Mit keinem Wort wird die weltweit stei- im übrigen auch einige Unternehmens- gende Warenüberproduktion erwähnt. berater) der Meinung, es reiche aus, die Selbst unsinnige Discountpreise für Hierarchie-Ebenen im Unternehmen zu hochwertige Güter verhelfen nur zu ei- verringern und „ein wenig umzustruktu- nem zeitlichen Aufschub und können rieren“, und schon habe man Lean Ma- nicht die Lösung sein. Die Marktsätti- nagement/Production eingeführt. Weit gung ist da. Jetzt kommt der Fluch des

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technischen Fortschritts über uns – das Lebensmittel Wasser im Interesse Computer, vollautomatisierte Fertigung weniger zu Lasten aller zu verschmut- sind nicht mehr Helfer, sondern Killer. zen. Heimerdingen (Bad.-Württ.) Kassel HANS-JOACHIM WILMS ERHARD KUNERT Die Rechnung der Chemie-Lobby Manager und Unternehmen sonnten scheint aufzugehen: Zuerst das Trink- sich in den Erträgen der deutschen Wie- wasser nachhaltig zu vergiften verviel- dervereinigungskonjunktur und igno- facht später den Umsatz an Medikamen- rierten, daß veränderte globale Wert- ten. Je mehr Vorsorgedämme eingeris- vorstellungen massiv auf das Konsum- sen werden, desto mehr wird das Volk verhalten ihrer Kunden einwirken, es dann wohl zum Pflegefall. Aber zum kurzfristig ändern. Die jetzt auf die Glück haben wir ja die Pflegeversiche- Wünsche von Kunden ausgerichteten rung. Gruppen machen Hierarchien überflüs- Bonn DIRK PETERSEN sig, da diese Informationsflüsse und Entscheidungsabläufe nur bremsen wür- den. Auf eigene Kosten Köln JOHANNES KIRCHHOFF (Nr. 12/1994, Regierung: Kohls gekaufte Wahlpropaganda) Wer zahlt die Zeche? Es ist richtig, daß Ferenczy Media seit (Nr. 10/1994, Umwelt: Mehr Gift ins einigen Jahren jeweils im Rahmen eines Trinkwasser?) Jahresvertrages Aufträge des Bundes- presseamts übernommen hat. Im allge- Wasser ist Leben – Motto vieler Um- meinen bewegte sich die Vertragssum- weltwettbewerbe an deutschen Schulen. me um 276 000 Mark. Auch ist richtig, „Pestizid-verseuchtes Wasser zerstört daß aufgrund der Aktivitäten von Kohl Leben“ – muß es erst zu dieser Schlag- und seiner Regierung eine PR-Tätigkeit zeile kommen? Vermutlich ja – die Che- auszuüben ist, und zwar speziell zur mie- und Agrarlobby wird aus Profit- Wiedervereinigung. Meine Medienar- gründen sicherlich eine Anhebung der beit kommt nicht im ehemaligen Ost- Grenzwerte für hochgiftige Pestizide im deutschland, sondern in Deutschland Trinkwasser erreichen. und im Ausland zum Tragen. Meine Tä- Baunatal (Hessen) WOLFGANG KRUG tigkeit, die ich schon jahrzehntelang auf eigene Kosten ausübe, wurde zum er- Angestrebt wird nur die politische, öko- sten Mal von einem Amt, in diesem Fall nomische und wissenschaftlich-techni- dem Bundespresseamt, mit diesem Mi- sche Steuerungskunst, um weiterma- nibeitrag unterstützt. Bisher kam leider chen zu können wie bisher. noch niemand auf die Idee, weder eine Barsinghausen (Nieders.) Institution noch eine Persönlichkeit, WOLF-DIETRICH MUSWIECK diese wichtige PR-Arbeit materiell zu Gärtner und Landarbeiter sind es heute unterstützen. leid, sich als Umwelt- und Wasserver- München JOSEF VON FERENCZY schmutzer beschimpfen zu lassen. Des- halb setze ich mich mit den europäi- Der SPIEGEL weiß sehr genau, daß un- schen Agrargewerkschaften aktiv für die sere Zeitungen und Zeitschriften unab- Erhaltung des bestehenden Richtwertes hängig und überparteilich sind. Wir ge- für Pflanzenbehandlungsmittel im Was- statten niemandem, auch nicht Herrn ser ein. Eine Erhöhung hätte zur Folge, von Ferenczy, politischen Einfluß auf unsere Blätter zu nehmen. München DR. ROBERT SCHWEIZER * Vor dem Ministerratsgebäude in Brüssel. Burda-Geschäftsführung

Greenpeace-Demonstranten*: Das Volk wird zum Pflegefall

8 DER SPIEGEL 13/1994 Werbeseite

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Werbeseite BRIEFE

Heftige Reaktionen (Nr. 11/1994, Kirche: Die erste lutheri- sche Bischöfin der Welt irritiert ihre Geg- ner) Wir Evangelischen haben keinen all- wissenden Bischof in Rom nötig, aber auch keine besserwisserische Bischöfin in Hamburg. Unsere Kirche nähert sich dem Kirchengründer nur an, wenn endlich die Wahlquote eingeführt und durchgehalten wird: Jeder zweite Bi- schofsposten wird mit einer Frau be- setzt. Dann hört Maria Jepsen end- lich auf, sich in ihrer Einmaligkeit zu sonnen. Oder ha- ben unsere männli- chen Evangeliums- Verwalter in den Lei- tungspositionen eine Watschen-Frau nötig, Dankgottesdienst in *: D-Day-Fete nachspielen? um zu zeigen, wie un- ersetzlich sie sind? Ziemlich würdelos es, die da zelebriert wird. Indem die derzeitigen Regierungen der ehemali- (Nr. 11/1994, Staatsfeiern: Kohls Ärger Mettmann (Nrdrh.-Westf.) gen Alliierten sich in Siegesposen ver- WILHELM DRÜHE mit der Geschichte) fangen, werden die Deutschen wieder Die heftigen Reaktio- Wenn man zu einer Party nicht eingela- zu Außenseitern gemacht und dabei der nen, welche die Äu- den wird, soll man sich auch nicht auf- Prozeß des europäischen Zusammen- ßerungen von Bischö- drängen. Lasse man doch den Alliierten wachsens als ein ökonomisches Zweck- fin Jepsen bei vielen ihre alberne Kriegspielerei, wenn es bündnis entlarvt. Wird sich denn nie ein Menschen auslösen, denn ihrem Selbstwertgefühl dienlich europäisches Geschichtsbewußtsein ent- die der Kirche eng ist; aber ein deutscher Bundeskanzler wickeln können, das sich von der Nega- Jepsen verbunden sind, hat hat bei diesem anachronistischen Spek- tiv-Definition „Nachkriegsgeschichte“ sie sich selbst zuzu- takel nichts zu suchen. Soviel Takt und lösen und über sie hinauswachsen schreiben. Das Bischofsamt ist be- Stolz sollte man haben! kann? kanntlich ein Hirtenamt. Es gehört zu Braunfels (Hessen) FRED ALTMANN Miltenberg (Bayern) NIKOLAUS WOLF den vornehmsten Aufgaben des Inha- bers dieses Amtes, seine ihm anver- Ziemlich würdelos, wenn der Besiegte Ich schlage vor, die Völkerschlacht bei trauten Gläubigen zusammenzuhalten bei seinen Siegern darum bettelt, beim Leipzig nachzuspielen, mit Platzpatro- und zu versuchen, für alle Meinungen großen Siegertamtam mitmarschieren nen, Pferden und farbenprächtigen Uni- einen Konsens zu finden. Frau Jep- zu dürfen. Apropos: Wie lange sind Sie- formen. Unser Bundeskanzler könnte sen hat durch ihr Verhalten und Tak- ger eigentlich Sieger, und wie lange sind dazu die jetzigen Oberhäupter der da- tieren der feministischen Sache in der Besiegte die Besiegten? mals im Kampf gegen Napoleon ver- Kirche einen schlechten Dienst erwie- Stuttgart ULRICH WOLFGANG bündeten Staaten Rußland, England, sen. Österreich und Schweden einladen. Er Nein, der Kanzler hat wahrlich keinen selbst könnte ja das nicht mehr existen- Oberägeri (Schweiz) HANS GEORG TOBLER Grund zum Feiern, „wenn andere ihren te Preußen vertreten und im Gegenzug Sieg in einer Schlacht begehen, in der zur D-Day-Fete in der Normandie Zehntausende Deut- Frankreichs Mitterrand nicht einladen. Heidi motzt sche elend umgekom- Baltrum (Nieders.) WILHELM KLÜNDER (Nr. 11/1994, Persona- men sind“. Er hätte lien: Heidemarie Wiec- aber die Pflicht, der zorek-Zeuls Protest ge- Millionen zu geden- Zahllose Ausnahmen gen Plakat) ken, die durch deut- (Nr. 11/1994, Panorama: Wehrpflicht – sche Schuld umgekom- 40 000 werden verschont) Ausgerechnet so ein men sind. Dieses Ge- Vamp wie die „rote“ denken darf nicht nur Bundesweit warten Hunderttausende Heidi motzt gegen Sache des Bundesprä- auf das neue Wehrpflichtgesetz, in der das herrlich harmlose sidenten sein. Hoffnung, von diesem von der Wehr- Haitzinger-Plakat. Sie, Heiligenhaus pflichterfüllung befreit zu werden. Viele die doch jeden Presse- (Nrdrh.-Westf.) Meldungen über das neue Gesetz sind PETER BERGER termin sexy-visagiert, Oberstleutnant ungenau, so leider auch die im SPIE- erotisch aufgeladen GEL: Die Senkung der Musterungskri- und optisch ladylike Eine in jeder Hinsicht terien durch Einführung einer neuen angetörnt wahrnimmt, traurige Geschichte ist Tauglichkeitsstufe „Drei minus“ ist stört sich an einem al- nicht zum Ausgleich für fehlende Re- legorischen Mega-Star * Am 31. März 1814, nach kruten gedacht, sondern um Kriegs- der Völkerschlacht bei Leip- des Altertums. zig (zeitgenössischer Kup- dienstverweigerer abzuschrecken. Denn München H. BALEKE Haitzinger-Plakat ferstich). es ist klar, daß alle Drei-minus-Gemu-

12 DER SPIEGEL 13/1994 sterten, die einen KDV-Antrag gestellt haben, auch dienen müssen.

Berlin CHRISTIAN HERZ Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär

Im Prinzip ist das Einberufungsalter auf 25 herabgesetzt – aber eben nur im Prin- zip. Vom Prinzip gibt es zahllose Aus- nahmen – beispielsweise die genannten Wehrpflichtigen, die wegen einer Aus- bildung zurückgestellt waren und des- halb nicht vor ihrem 25. Geburtstag ein- berufen werden konnten. Sie sind weiter bis zum 28. Lebensjahr einberufbar – genauso wie diejenigen, die aus gesund- heitlichen Gründen zurückgestellt wa-

Musterung bei der Bundeswehr Mit Kulanz ist nicht zu rechnen ren. Der Großteil der 40 000 angeblich Verschonten wird also mit einer Einbe- rufung rechnen müssen. Der Bundes- wehr werden aufgrund der zahlrei- chen Kriegsdienstverweigerer die Re- kruten knapp. Mit Kulanz der Wehr- ersatzbehörden ist also nicht zu rech- nen.

Karlsruhe ULI BEER- BERCHER Deutsche Friedensgesellschaft-Vereinigte Kriegsdienstgegnerinnen

Spitzere Halbkugel (Nr. 11/1994, Grafik: Die Entdeckung der dritten Dimension) Ein kleines Trostpflaster für den Jour- nalisten in der zweiten Dimension: Es gibt eine ganze Menge Leute, denen das sogenannte konvergente Sehen deutlich leichter fällt. Hierbei schielt man auf ei- nen vor dem Bild befindlichen Punkt und erreicht auf diesem Weg die dritte Dimension. Diese Technik ist im übri- gen eng verwandt mit einer alten Medi- tationstechnik der Zigeuner. Würzburg FRANK SCHNEIDER Meine anfänglichen Schwierigkeiten beim Verschmelzen von Stereobildpaa-

DER SPIEGEL 13/1994 13 BRIEFE MNO ren konnte ich nach dem Genuß einiger 20457 Hamburg, Brandstwiete 19, Telefon (040) 3007-0, Telefax (040) 3007 2247, Telex 2 162 477 Gläser Bier überwinden und sehr CompuServe: 100064,3164 (Internet: [email protected]) schnell räumlich und scharf sehen. Hält HERAUSGEBER: Rudolf Augstein Chigi 9, 00187 Rom, Tel. 679 7522, Telefax 679 7768 . Stock- man einen Gegenstand in ein solches CHEFREDAKTION: Dr. Wolfgang Kaden, Hans Werner Kilz holm: Hermann Orth, Scheelegatan 4, 11 223 Stockholm, Tel. . pseudo-räumliches Bild, so sieht man REDAKTION: Karen Andresen, Ariane Barth, Dieter Bednarz, 650 82 41, Telefax 652 99 97 Tokio: Wulf Küster, 5-12, Mina- Wolfram Bickerich, Wilhelm Bittorf, Peter Bölke, Jochen Bölsche, mi-Azabu, 3-chome, Minato-Ku, Tokio 106, Tel. 3442 9381, Tele- diesen doppelt, ein Zeichen, daß die fax 3442 8259 . Warschau: Andreas Lorenz, Ul. Polna 44/24, Dr. Hermann Bott, Klaus Brinkbäumer, Stephan Burgdorff, Wer- . ner Dähnhardt, Dr. Thomas Darnstädt, Hans-Dieter Degler, Dr. 00-635 Warschau, Tel. 25 49 96, Telefax 25 49 96 Washing- Augen entkoppelt sind. Martin Doerry, Adel S. Elias, Rüdiger Falksohn, Nikolaus von Fe- ton: Karl-Heinz Büschemann, Siegesmund von Ilsemann, 1202 National Press Building, Washington, D. C. 20 045, Tel. Karlsruhe DR. THOMAS GLEICHMANN stenberg, Jan Fleischhauer, Uly Foerster, Klaus Franke, Gisela . Friedrichsen, Angela Gatterburg, Henry Glass, Rudolf Glismann, 347 5222, Telefax 347 3194 Wien: Dr. Martin Pollack, Johann Grolle, Doja Hacker, Dr. Volker Hage, Dr. Hans Halter, Schönbrunner Straße 26/2, 1050 Wien, Tel. 587 4141, Tele- Eine Gebrauchsidee noch: Hemden da- Werner Harenberg, Dietmar Hawranek, Manfred W. Hentschel, fax 587 4242 Ernst Hess, Hans Hielscher, Heinz Höfl, Clemens Höges, Joachim ILLUSTRATION: Renata Biendarra, Martina Blume, Barbara Bo- mit bedrucken, damit – bei richtiger Hoelzgen, Jürgen Hogrefe, Dr. Jürgen Hohmeyer, Carsten Holm, cian, Ludger Bollen, Katrin Bollmann, Thomas Bonnie, Regine Sichtweise – die eventuell fehlende Hans Hoyng, Thomas Hüetlin, Rainer Hupe, Dr. Olaf Ihlau, Ulrich Braun, Martin Brinker, Manuela Cramer, Josef Csallos, Volker Jaeger, Hans-Jürgen Jakobs, Urs Jenny, Dr. Hellmuth Karasek, Fensky, Ralf Geilhufe, Rüdiger Heinrich, Tiina Hurme, Antje Klein, Oberweite hervorgehoben wird. Sabine Kartte-Pfähler, Klaus-Peter Kerbusk, Ralf Klassen, Petra Eva-Maria von Maydell, Ursula Morschhäuser, Cornelia Pfauter, Berlin THORSTEN GRAEBER Kleinau, Sebastian Knauer, Dr. Walter Knips, Susanne Koelbl, Monika Rick, Chris Riewerts, Julia Saur, Detlev Scheerbarth, Siegfried Kogelfranz, Christiane Kohl, Dr. Joachim Kronsbein, Claus-Dieter Schmidt, Manfred Schniedenharn, Frank Schumann, Karl Heinz Krüger, Bernd Kühnl, Dr. Romain Leick, Heinz P. Rainer Sennewald, Dietmar Suchalla, Karin Weinberg, Matthias Jedes Gemälde in der bildenden Kunst, Lohfeldt, Udo Ludwig, Klaus Madzia, Armin Mahler, Dr. Hans-Pe- Welker, Rainer Wörtmann, Monika Zucht ter Martin, Georg Mascolo, Gerhard Mauz, Walter Mayr, Gerd SCHLUSSREDAKTION: Rudolf Austenfeld, Horst Beckmann, Sa- ob modern oder nicht, hat eben diesen Meißner, Fritjof Meyer, Dr. Werner Meyer-Larsen, Joachim Mohr, bine Bodenhagen, Lutz Diedrichs, Dieter Gellrich, Hermann Effekt. Das liegt aber nicht an der so be- Mathias Müller von Blumencron, Rolf S. Müller, Bettina Musall, Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Karl-Heinz Körner, Inga Hans-Georg Nachtweh, Dr. Jürgen Neffe, Dr. Renate Nimtz-Kö- Lembcke, Christa Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Andreas sonderen und neuen Maltechnik, son- ster, Hans-Joachim Noack, Gunar Ortlepp, Rainer Paul, Christoph M. Peets, Wolfgang Polzin, Gero Richter-Rethwisch, Thomas dern an der anatomischen Stellung der Pauly, Jürgen Petermann, Joachim Preuß, Dr. Rolf Rietzler, Schäfer, Wilhelm Schöttker, Ingrid Seelig, Hans-Eckhard Segner, Dr. Fritz Rumler, Dr. Johannes Saltzwedel, Karl-H. Schaper, Ma- Tapio Sirkka, Hans-Jürgen Vogt, Kirsten Wiedner, Holger Wolters, Augen beim Betrachten. Dies erzeugt rie-Luise Scherer, Heiner Schimmöller, Roland Schleicher, Cordt Peter Zobel Schnibben, Hans Joachim Schöps, Dr. Mathias Schreiber, Bruno VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Pan- Schrep, Helmut Schümann, Matthias Schulz, Hajo Schumacher, orama, Meinungsforschung, Bundeswehr, Herzog-Gespräch, Birgit Schwarz, Ulrich Schwarz, Claudius Seidl, Mareike Spiess- Bundestag, SPIEGEL-Streitgespräch, Europa, Zeitgeschichte: Dr. Hohnholz, Dr. Gerhard Spörl, Olaf Stampf, Hans Gerhard Stepha- Gerhard Spörl; für Ausländer (S. 18), Friedman-Interview, Terroris- ni, Günther Stockinger, Hans-Ulrich Stoldt, Peter Stolle, Barbara mus, Hoffmann-Riem-Interview, Atomkraft, Lotto, Berlin, Prote- Supp, Dr. Rainer Traub, Dieter G. Uentzelmann, Klaus Umbach, stanten, Forum, Umwelt, Presse, Polizei, Schriftsteller: Uly Foer- Hans-Jörg Vehlewald, Dr. Manfred Weber, Susanne Weingarten, ster; für Ausländer (S. 22), Panorama Ausland, Atomwaffen, Yun- Alfred Weinzierl, Marianne Wellershoff, Peter Wensierski, Carlos Interview, Mexiko, Rußland, Borowoi-Interview, Frankreich, Euro- Widmann, Erich Wiedemann, Dr. Dieter Wild, Christian Wüst, Dr. päische Union, Japan, Großbritannien, Rassismus, Arlacchi-Inter- Peter Zolling, Helene Zuber view: Dr. Olaf Ihlau; für Freizeit, Psychologie, Satire, Pop, Fern- REDAKTIONSVERTRETUNG BONN: Winfried Didzoleit, Man- seh-Vorausschau: Hans-Dieter Degler; für Trends, Banken, Steu- fred Ertel, Dirk Koch, Ursula Kosser, Dr. Paul Lersch, Elisabeth ern, Straszheim-Interview, Telefon, Design: Peter Bölke; für Glau- Niejahr, Olaf Petersen, Rainer Pörtner, Hans-Jürgen Schlamp, be: Werner Harenberg; für Fußball, Werbung: Alfred Weinzierl; für Gabor Steingart, Alexander Szandar, Klaus Wirtgen, Dahlmann- Prisma, Automobile, Biologie, Sexualität, Magnetbahn, Titelge- straße 20, 53113 Bonn, Tel. 26 70 3-0, Telefax 21 51 10 schichte: Jürgen Petermann; für Szene, Affären, Film, Architektur, Autoren, Bestseller, Caballe´-Interview: Dr. Mathias Schreiber; für REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND: Berlin: Wolf- namentlich gezeichnete Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Perso- gang Bayer, Petra Bornhöft, Christian Habbe, Dieter Kampe, Uwe nalien, Register, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; Klußmann, Jürgen Leinemann, Claudia Pai, Hartmut Palmer, Nor- für Titelbild: Rainer Wörtmann; für Gestaltung: Dietmar Suchalla; bert F. Pötzl, Michael Schmidt-Klingenberg, Harald Schumann, für Hausmitteilung: Dr. Dieter Wild (sämtlich Brandstwiete 19, Kurfürstenstraße 72 – 74, 10787 Berlin, Tel. 25 40 91-0, Tele- 20457 Hamburg) fax 25 40 91 10; Dresden: Sebastian Borger, Dietmar Pieper, DOKUMENTATION: Jörg-Hinrich Ahrens, Dr. Harro Albrecht, Wer- Detlef Pypke, Königsbrücker Str. 17, 01099 Dresden, Tel. . ner Bartels, Sigrid Behrend, Ulrich Booms, Dr. Jürgen Bruhn, Lisa 567 0271, Telefax 567 0275 Düsseldorf: Ulrich Bieger, Georg Busch, Heinz Egleder, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Dr. Bönisch, Hans Leyendecker, Richard Rickelmann, Rudolf Wallraf, Karen Eriksen, Andre´ Geicke, Ille von Gerstenbergk-Helldorff, Dr. Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. 93 601-01, Telefax Dieter Gessner, Hartmut Heidler, Wolfgang Henkel, Gesa Höpp- 35 83 44 . Erfurt: Felix Kurz, Claus Christian Malzahn, Dalbergs- . ner, Jürgen Holm, Christa von Holtzapfel, Joachim Immisch, Hau- weg 6, 99084 Erfurt, Tel. 642 2696, Telefax 566 7459 Frank- ke Janssen, Günter Johannes, Angela Köllisch, Sonny Krauspe, furt a. M.: Peter Adam, Wolfgang Bittner, Annette Großbongardt, Hannes Lamp, Marie-Odile Jonot-Langheim, Walter Lehmann, Mi- Annette Littmann, Ulrich Manz, Oberlindau 80, 60323 Frankfurt . chael Lindner, Dr. Petra Ludwig, Sigrid Lüttich, Roderich Maurer, a. M., Tel. 71 71 81, Telefax 72 17 02 Hannover: Ansbert Rainer Mehl, Ulrich Meier, Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Kneip, Rathenaustraße 16, 30159 Hannover, Tel. 32 69 39, Te- Musa, Christel Nath, Anneliese Neumann, Werner Nielsen, Paul SPIEGEL-Leserin* lefax 32 85 92 . Karlsruhe: Dr. Rolf Lamprecht, Amalienstraße . Ostrop, Nora Peters, Anna Petersen, Peter Philipp, Axel Pult, Ulrich In die fünfte Dimension vordringen 25, 76133 Karlsruhe, Tel. 225 14, Telefax 276 12 Mainz: Birgit Rambow, Anke Rashatasuvan, Dr. Mechthild Ripke, Hedwig San- Loff, Wilfried Voigt, Weißliliengasse 10, 55116 Mainz, Tel. . der, Constanze Sanders, Rolf G. Schierhorn, Ekkehard Schmidt, 23 24 40, Telefax 23 47 68 München: Dinah Deckstein, Annet- Marianne Schüssler, Andrea Schumann, Claudia Siewert, Margret te Ramelsberger, Dr. Joachim Reimann, Stuntzstraße 16, 81677 eine simple optische Täuschung. Inwie- . Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Stefan Storz, Mo- München, Tel. 41 80 04-0, Telefax 4180 0425 Schwerin: nika Tänzer, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Jutta Temme, weit der Betrachter eines Gemäldes die- Bert Gamerschlag, Spieltordamm 9, 19055 Schwerin, Tel. . Dr. Iris Timpke-Hamel, Carsten Voigt, Horst Wachholz, Ursula ses als Realität empfindet oder nicht, 557 44 42, Telefax 56 99 19 Stuttgart: Dr. Hans-Ulrich Grimm, Wamser, Dieter Wessendorff, Andrea Wilkens, Karl-Henning Win- Sylvia Schreiber, Kriegsbergstraße 11, 70174 Stuttgart, Tel. delbandt bleibt wohl nur ihm selbst überlassen. 22 15 31, Telefax 29 77 65 BÜRO DES HERAUSGEBERS: Irma Nelles 2-D bleibt nun einmal 2-D. REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND: Bangkok: Dr. Tizia- NACHRICHTENDIENSTE: ADN, AP, dpa, Los Angeles Times/Wa- no Terzani, 18 Soi Prommitr, Sukhumvit Soi 39, 10 110 Bangkok, shington Post, Newsweek, New York Times, Reuters, Time Berlin SIRIUS KRENZIEN Tel. 258 8410, Telefax 259 5980 . Basel: Jürg Bürgi, Spalenring . 69, 4055 Basel, Tel. 271 6363, Telefax 271 6344 Belgrad: Re- SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG nate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, Tel. 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14 DER SPIEGEL 13/1994 Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND PANORAMA

Bosnien-Hilfe Lieber Grenze sichern Innenminister Manfred Kanther (CDU) sträubt sich gegen den Wunsch des Aus- wärtigen Amtes, Beamte des Bundesgrenzschutzes (BGS) nach Bosnien-Herzegowina zu entsenden. Die Regierung will rund 40 Deutsche, dar- unter ein gutes Dutzend BGS-Beamte für den Aufbau der Polizei, im Rahmen Zerstörte Stadt Mostar der europäischen Hilfsaktion nach Mostar schicken; die Die Sicherheit der Helfer ist Bundesanwaltschaft Abteilung Terrorismus wer- Stadt ist im Krieg fast völlig nach Ansicht des Auswärti- den soll: Volkhard Wache, zerstört worden. Die Grenz- gen Amtes nicht gefährdet: „Onkellösung“ 54, ein Bundesanwalt mit schützer sollen nicht als Poli- „Die Stadt ist beruhigt.“ SPD-Parteibuch. Die Neube- zisten auftreten, sondern nur Kanther begründet seine Ab- für Karlsruhe setzung ist notwendig, weil beraten und technische Hil- lehnung mit Personalmangel Nach langem Zögern hat der langjährige Terrorismus- fe leisten. Leiter der Mo- an den ostdeutschen Gren- Bundesjustizministerin Sabi- Chef Gerhard Löchner, 65, star-Verwaltung im Auftrag zen. Es werde, so ein Spre- ne Leutheusser-Schnarren- in den Ruhestand geht. Of- der EU soll der frühere cher des Innenministeriums, berger (FDP) entschieden, fen bleibt jedoch, mit wel- Bremer Bürgermeister Hans „aktuell nicht an eine Ent- wer in der Karlsruher Bun- cher Strategie die Bundesan- Koschnick (SPD) werden. sendung gedacht“. desanwaltschaft Leiter der waltschaft künftig dem Ter- ror begegnen will. Gerade im Hinblick auf die Rote Armee Schalck winne. Die Staatsanwalt- Fraktion (RAF) wurde mo- schaft glaubt, Schalck und natelang überlegt, ob ein seine Mitstreiterin Wal- Hardliner oder ein Befürwor- Weitere traud Lisowski hätten auf ter des gemäßigten Kurses diese Weise dem Bonner die Abteilung leiten soll. Der Anklagen Staat über 100 Millionen Streit endete unentschieden: Dem früheren DDR-Devi- Mark entzogen. Am Don- Wache hat kaum Erfahrun- senbeschaffer und Stasi-Of- nerstag letzter Woche hatte gen im Kampf gegen den fizier Alexander Schalck- die Staatsanwaltschaft ge- Terrorismus, er gilt als Spio- Golodkowski, 61, werden gen Schalck wegen verbo- nageexperte, arbeitete bis- in diesen Tagen zwei weite- tener Geschäfte mit Waf- lang in der „Abteilung für re Anklagen zugestellt –we- fen und Nachtsichtgeräten, Strafsachen gegen die äußere gen Steuerhinterziehung die von DDR-Hubschrau- Sicherheit“. Der Kandidat ist und wegen Untreue. Dabei berpiloten bei Sicherungs- ohnedies nicht erste Wahl. geht es um die Versorgung flügen über der Ostsee ein- Der neue Generalbundesan- der Polit-Prominenz in der gesetzt wurden, die erste walt Kay Nehm, 52, favori- damaligen Waldsiedlung Anklage präsentiert. Der- sierte Bundesanwalt Günther Wandlitz, die Schalcks omi- zeit laufen in Berlin noch Bieger, 58, einen Revisions- nöse Einheit „Kommerziel- 25 weitere Ermittlungsver- spezialisten, der aus persönli- le Koordinierung“ (KoKo) fahren gegen Schalck; un- chen Gründen absagte. Mit- nach Auffassung der Staats- ter anderem soll er für arbeiter der Terrorismus-Ab- anwaltschaft am Kammer- Schalck-Golodkowski Staats- und Parteichef teilung wünschten sich den gericht Berlin widerrecht- Erich Honecker zu dessen ehemaligen Bundesanwalt lich mit über 60 Millionen West-Mark fi- privater Erbauung Hollywood-Spielfilme Wolfgang Pfaff, 60, der- nanziert hat. Allein 37 Millionen seien seit im 16-Millimeter-Format für eine Million zeit Verfassungsschutzchef in 1984 für die Mitglieder des SED-Politbüros Mark erworben haben. Brandenburg, als Vorgesetz- und deren Angehörige ausgegeben wor- Seit August 1991 geht die Bundesanwalt- ten. Pfaff gilt als Wegbereiter den. schaft in Karlsruhe überdies dem Verdacht der nach dem früheren Ju- Als KoKo-Chef herrschte Schalck auch nach, Schalcks KoKo-Mitarbeiter hätten stizminister Klaus Kinkel be- über knapp 20 West-Firmen, die für seinen auf seine Weisung Geschäftsverbindungen nannten „Kinkel-Initiative“. Bereich und die SED Devisen erwirtschaf- in der Bundesrepublik genutzt, um nach- Der Plan sah eine vorzeitige teten. Die Gelder wurden jahrelang am richtendienstliche Informationen zu gewin- Entlassung von Langzeitge- westdeutschen Fiskus vorbei über Holdings nen. Das Ermittlungsverfahren soll auch fangenen der RAF vor und in Liechtenstein oder der Schweiz nach klären, ob Schalck „operative Beschaffun- trug dazu bei, daß die RAF- Ost-Berlin verschoben. Nach Auffassung gen von Hochtechnologie“ für den Spiona- Kommandoebene im April des Bundesgerichtshofs sind die Geldtrans- geapparat Hauptverwaltung Aufklärung 1992 öffentlich erklärte, sie fers nicht, wie behauptet, Provisionszah- „gezielt finanziert und kontrolliert hat“ werde vorerst keine Attenta- lungen gewesen, sondern verdeckte Ge- (Bundesanwaltschaft). te auf Personen mehr ver- üben. Pfaff wurde von Nehm

16 DER SPIEGEL 13/1994 nicht gefragt. Die Berufung Waches heißt behördenin- tern „Onkellösung“ – Wache ist mit Ingo Kober (FDP), dem Staatssekretär im Bun- desjustizministerium, eng be- freundet, Kobers Frau ist Pa- tentante eines Wache-Spröß- lings.

Bundeswehr Jungfernflug ohne Feier Der Münchner Konzern Deutsche Aerospace (Dasa) hat eine für den 4. Mai ge- plante Feier für den Erstflug des umstrittenen „Jäger 90“ abgesagt. Grund: Volker Rü- he will sich nicht mit dem Kampfflugzeug filmen lassen und sich auch nicht bei einer Pressekonferenz kritischen Fragen zum Milliardenpro- jekt stellen. An der Präsenta- tion des ersten „Euro- fighter“-Prototypen auf dem Flugplatz Manching bei In- golstadt sollten Abgeordnete und ausländische Gäste teil- nehmen. In Abwesenheit von Rühe will Dasa-Chef Jürgen Schrempp das Flugzeug nun nicht vorführen, weil dies im

Jäger 90 (Modell)

Verteidigungsministerium als Affront gälte. Deshalb wurde krampfhaft ein Vorwand für die Absage gesucht. Sprach- regelung: In einer Zeit, da die Dasa 16 000 Mitarbeiter entlassen müsse, könne die Firma ihrer Belegschaft die Kosten für eine repräsentati- ve Feier nicht zumuten. Der „technische Erstflug“ soll nun unter Ausschluß der Öf- fentlichkeit in dieser Woche in Manching stattfinden. Die medienwirksame Vorführung samt Feier zum Jungfernflug will die Eurofighter-Partner- firma British Aerospace spä- ter im Jäger-freundlichen Großbritannien nachholen.

DER SPIEGEL 13/1994 17 Selbstverbrennung eines kurdischen Demonstranten*: „Die Bundesrepublik ist ein Resonanzboden für die Entwicklungen

Ausländer DIE SAAT DER GEWEHRE Der blutige Bürgerkrieg zwischen Kurden und Türken drängt nach Deutschland: Demonstranten verbrennen sich, Randalierer versuchen, Polizisten zu ermorden. Die Bundesregierung laviert hilflos zwischen den Fronten. Sie verschärft den Konflikt, indem sie der Türkei Waffen liefert und nun kurdische Rebellen abschieben will.

er schwarze Sheriff demonstrierte lich. Deutschland ist Nebenschauplatz Opfer in der Türkei, würden in der Bun- Härte. Bundesinnenminister Man- des blutigen Bürgerkrieges zwischen desrepublik zu Tätern. Dfred Kanther, 54, ließ sechs Hun- Türken und Kurden geworden, und das „Ohne eine Veränderung im Kriegs- dertschaften des Bundesgrenzschutzes nicht ohne eigenes Zutun. Die deutsche gebiet“, prognostiziert Uhrlau, „wird in Bereitschaft versetzen, kündigte den Außenpolitik laviert seit Jahren zwi- sich hier keine friedliche Entwicklung Einsatz der Anti-Terror-Einheit GSG 9 schen den Fronten. einstellen.“ Doch aus Rücksicht auf an und scheuchte sogar die Bahnpolizei Einerseits klagt Bonn in Ankara im- den Handelspartner und Verbündeten auf. mer mal wieder die Einhaltung von scheint die Bundesregierung entschlos- Nach den Kurden-Krawallen der letz- Menschenrechten ein. Andererseits lie- sen, die Türkei weiterhin zu schonen. ten Woche versprach der Christdemo- fert die Regierung Kohl dem Nato-Part- Je länger Bonns Außenpolitik ver- krat, die in Deutschland verbotene kur- ner das passende Gerät für den Krieg, sagt, desto mehr geraten die Innenpoli- dische Arbeiterpartei PKK, mutmaßli- den türkische Militärs im cher Drahtzieher der Unruhen, werde in Südosten ihres Landes ge- der Bundesrepublik keine Ruhe mehr gen die kurdische Minder- Türkei etwa 450 1855 finden. Kanther: „Wir werden sie im- heit führen: Panzer, Ma- mer wieder neu stören.“ schinengewehre, Munition. Jugoslawien 916 davon Während der Minister seine Truppen „Deutschland ist mitverant- Kurden mobilisierte, machte sich der Kanzler wortlich für den Bürger- Italien 558 daran, an den Gesetzen zu fummeln. krieg“, urteilt Tilman 346 Der Terror, verkündete Helmut Kohl Zülch, Vorsitzender der Griechenland am Mittwoch vergangener Woche, habe Gesellschaft für bedrohte 286 nach Dutzenden von Autobahnblocka- Völker. Polen Ausländer in den und Mordanschlägen auf Polizisten Das Kurdenproblem sei Österreich 185 Deutschland „eine neue Dimension erreicht“. Nun wie „ein System kommuni- nach Hauptherkunftsländern, werde sich zeigen, „ob das geltende zierender Röhren“, sagt Rumänien 167 1992; Angaben in tausend Ausländerrecht“ für Abschiebungen im Ernst Uhrlau, Leiter des Expreßtempo tauge. Falls nicht, müsse Hamburger Verfassungs- Spanien 134 die Regierung „baldmöglichst Gesetzes- schutzes. Die Kurden, die Gesamtzahl Anfang 1994: 114 änderungen ins Auge fassen“. Niederlande 6,878 Millionen Ob sich das Problem – wie es die * Am Dienstag voriger Woche auf 104 Bonner suggerierten – allein mit Polizi- der Autobahn beim hessischen USA sten oder Richtern lösen läßt, ist frag- Langen.

18 DER SPIEGEL 13/1994 im Kampfgebiet, ohne eine Veränderung dort wird sich hier kein Friede einstellen“

tiker unter Druck. Denn rund 450 000 Fahnder leiteten insgesamt rund 500 gen wolle, pflichtete die FDP bei, müsse der 500 000 über Europa verstreuten Ermittlungsverfahren ein, unter ande- das Land verlassen. Kurden leben in Deutschland – und ha- rem wegen schweren Landfriedens- Auch den Liberalen war klar, daß ein ben Grund, in der Bundesregierung den bruchs. Rausschmiß der Krawall-Kurden nicht Verbündeten ihrer Feinde zu sehen. Zum kurdischen Neujahrsfest New- so einfach zu bewerkstelligen ist, wie die Die Wut der Kurden entlädt sich in roz am Montag eskalierten die Krawal- großspurige Ankündigung versprach. Krawallen, organisiert von terroristisch le. Vielerorts zündeten Demonstranten Das Ergebnis einer „Prüfung“, die Kohl versierten Kadern der kommunistischen Autoreifen oder gar sich selbst an. Da- in Auftrag gegeben hat, steht schon jetzt PKK. Je mörderischer der Krieg um bei starben in Mannheim zwei kurdi- fest: Die Abschiebung renitenter Kur- Kurdistan tobt, desto gefährlicher wird sche Frauen – grausamer Protest gegen den in ihre Heimat wirft gravierende ju- die Randale in Deutschland. die Unterdrückung in der Heimat. ristische Probleme auf. Am Samstag vor einer Woche besetz- Am Mittwoch abend beschloß eine Anerkannte Asylbewerber beispiels- ten 6000 Kurden die Autobahn Mün- Sonderrunde der Innen-Staatssekretäre weise oder Ausländer, die, wie die mei- chen–Stuttgart für neun Stunden. Bei aus Bund und Ländern, Gewalttäter sten Kurden, seit Jahren in Deutschland Krawallen in Berlin und Augsburg wur- prompt ausweisen zu lassen. Wer frem- leben, dürfen nur bei besonders schwer- den mindestens 85 Polizisten verletzt. de Bürgerkriege in Deutschland austra- wiegenden Verfehlungen abgeschoben werden – ein Sit-in auf der Autobahn wird da kaum reichen. „In den meisten Fällen“, gibt ein Sicherheitsexperte zu bedenken, „dürfte wohl eines der Abschiebehinder- nisse vorliegen, die das Ausländergesetz vorsieht.“ Niemand darf etwa in ein Land abgeschoben werden, in dem ihm Folter oder To- desstrafe drohen. Nach ei- nem Lagebericht des Aus- wärtigen Amtes aber müs- sen Kurden genau damit rechnen: „Um es vornehm zu sagen“, formuliert ein Beamter des Justizministe- riums, gebe es in der Tür- kei „verschärfte Verneh- mungsmethoden“. Sympathisanten der PKK oder Teilnehmer an antitürkischen Demonstra- tionen in Deutschland er-

* Am Dienstag vergangener Wo- che an der Autobahn bei Mörfel- Polizeipolitiker Kanther, festgenommene Kurden*: „Wir werden sie immer wieder stören“ den.

DER SPIEGEL 13/1994 19 DEUTSCHLAND warten in der Türkei Haft und Folter. Um sie gleichwohl abschieben zu kön- nen, will sich Innenminister Kanther nun ein Papier besorgen, an dem er sich die Hände abputzen kann, falls abge- schobene Kurden getötet werden soll- ten. Vergangene Woche forderte er den freidemokratischen Außenminister Klaus Kinkel auf, mit der türkischen Regierung ein Abkommen zu treffen. Darin soll Ankara sich verpflichten, ab- geschobene Kurden nicht hinzurichten. Dann, so Kanther, könne das Auslän- derrecht „viel intensiver“ angewendet werden. „Die Abschiebepläne werden das Problem noch mehr zuspitzen“, warnt Ali Sapan, 32, Sprecher der Nationalen Befreiungsfront Kurdistans in Europa (ERNK) mit Wohnsitz in Paris. Die ERNK gilt als Sprachrohr der militanten PKK. Sapan: „Die Haltung der Bundes- regierung wird unsere Haltung bestim- Kurdische Kriegsflüchtlinge in der Türkei: „Deutschland ist mitverantwortlich“ men.“ Der Kurde mag nicht ausschließen, verschleppt und ermordet, teils durch glomerat von rund 100 Stämmen, mehr daß es zu weiteren Gewalttaten in Uniformierte, teils „durch zivil auftre- Autonomie einzuräumen. „Die Türkei“, Deutschland kommt. „Die Bundesregie- tende Todesschwadronen“. agitierte Öcalan, „versteht nur eine harte rung muß die Gründe für diese Eskalati- Selbst „gewaltlose Unterstützer ver- Sprache.“ on beseitigen“, so der Rebellen-Vertre- botener kurdischer Organisationen“ sei- Während die Regierung in Ankara, ter, „auch in ihrer Haltung zur Türkei.“ en „von Inhaftierung, politischen Straf- ängstlich um die Einheit des Landes be- Immerhin scheint Bundesinnenmini- prozessen und Folter sowie von Ermor- sorgt, auf dem alten Verbot der kurdi- ster Kanther nicht auf die Darstellung dung bedroht“. schen Sprache beharrte und das Volk der Türken hereinzufallen, es gebe in ih- Im Herbst vorigen Jahres verschlepp- weiterhin als „Bergtürken“ wegdefinier- rem Land „weder Folter noch Selbstju- ten türkische Militärs die Dolmetscherin te, hielt der Bürgerkrieg an. Mittlerweile stiz“, wie Yekta Güngör Özden beteu- Nulifer Koc¸, 25, Politikstudentin an der sind der Gewalt rund 11 000 Menschen ert, Präsident des Verfassungsgerichts in Uni Bremen. Die Frau, die eine nieder- zum Opfer gefallen. Ankara. Die Todesstrafe, so Özden wei- sächsische Menschenrechtsdelegation Terror und Gegenterror haben auch ter, sei zwar vorgesehen, werde aber zur nach Kurdistan begleitet hatte, blieb sie- die Beziehungen zwischen Bonn und Zeit praktisch nicht vollstreckt. ben Tage lang in der Gewalt der Solda- Ankara in Mitleidenschaft gezogen. Die Wenn Beamte tatsächlich einmal ten. Koc¸ gab anschließend zu Protokoll: Proteste von Menschenrechtsorganisa- tionen zwingen die Regierenden in Bonn Häftlinge folterten, beteuert Özden, Mir wurde eine Augenbinde umgebun- zu waghalsigen Balanceakten. würden die „unwissenden Verantwortli- den, ich wurde nackt ausgezogen, kal- chen“ bestraft. Auch Onur Öymen, tür- tes Wasser wurde über mich gekippt, Mal appelliert Außenminister Kinkel, kischer Botschafter in Bonn, versicherte an den Haaren wurde ich mit dem Kopf wie etwa Ende Januar in Ankara, an die letzte Woche, sein Land werde gegen gegen die Wand geschlagen und in türkische Regierung, den PKK-Terror abgeschobene Terroristen nur mit Handschellen zwei Stunden lang an ei- nur „mit rechtsstaatlichen Mitteln“ zu rechtsstaatlichen Mitteln vorgehen. nen Haken gehängt. bekämpfen. Mal wiederum muß sich die Schriftlich wird Kanther von den Tür- Bundesregierung von Kurden und Men- ken kaum die Zusage bekommen, auf Mit ihren brutalen Methoden versu- schenrechtlern vorwerfen lassen, sie ha- die Todesstrafe zu verzichten. Denn chen die türkischen Behörden, den blu- be den Nato-Partner Türkei mit Waffen Ankara duldet keinen ausländischen tigen Guerillakrieg zu beenden, den die vollgepumpt, die teilweise gegen Kurden Einfluß auf seine Innenpolitik. Und den kommunistische PKK im kurdischen eingesetzt würden. mündlichen Schwüren türkischer Offi- Südosten des Landes führt (siehe Ka- Die Bundesrepublik verschenkt sogar zieller trauen Experten keineswegs. sten Seite 22). Doch jeder Mord, jede einen Teil ihres Kriegsgeräts. Zwischen Immer wieder komme es, heißt es in „Entvölkerung“ eines Dorfes treibt den 1985 und 1991 spendierte Bonn der tür- dem Lagebericht des Auswärtigen Am- Extremisten neue Anhänger zu – in der kischen Armee Schießbedarf im Wert tes, „zu Übergriffen gegenüber Men- Türkei wie in Deutschland. von 3,6 Milliarden Mark: Allein aus ehe- schen, die sich in Wort, Schrift oder „Eine vernünftige Kurdenpolitik der maligen DDR-Beständen gelangten in Handlungen für eine Abspaltung kurdi- Türkei“, folgert der nordrhein-westfäli- die Türkei 256 125 Kalaschnikows, 5000 scher Gebiete einsetzen“. Insbesondere sche Innenminister Herbert Schnoor Maschinengewehre, 100 000 Panzerfäu- „Eigentumszerstörung, Freiheitsberau- (SPD), wäre die „beste Bekämpfung der ste und etwa 445 Millionen Schuß Muni- bung, Mißhandlung oder Tötung“ seien PKK“. Der Bürgerkrieg verhärtet nicht tion. beliebte Mittel, kurdische Separatisten nur die Fronten, er stärkt auch die Füh- Selbst Kampfpanzer lieferte Deutsch- gefügig zu machen. rungsrolle, die PKK-Chef Abdullah land dem Partner am Bosporus. Obwohl Noch deutlicher zeiht die Gefange- Öcalan, der militanteste Kurdenführer, veraltet, taugt der Leopard 1 allemal für nenhilfsorganisation Amnesty Interna- für sich beansprucht. den Kampf gegen leichtbewaffnete Auf- tional die türkische Regierung der Lüge. Als der langjährige Stalinist Öcalan ständische. Auch Kriegsschiffe, Kampf- Die Menschenrechtslage habe sich unter seine PKK-Kämpfer 1984 in den Krieg flugzeuge vom Typ Phantom, Pionier- Ministerpräsidentin Tansu C¸ iller „wei- hetzte, wollte er die türkische Regie- panzer und Luftabwehrsysteme aus ter verschärft“: Oppositionelle würden rung zwingen, den Kurden, einem Kon- Deutschland gelangten in die Türkei.

20 DER SPIEGEL 13/1994 Mit Skrupeln, so vorhanden, wird die der Seite ihres Feindes sehen. „Wir Kur- kratische Alternative haben die Türken Bundesregierung offenbar fertig. Die den hier fühlen uns benachteiligt“, sagt ja kaputtgemacht.“ Türken hätten zugesagt, versichert Au- Mustafa Kisabacak, 34, Generalsekretär Eine „weitere Eskalation“ des Kamp- ßenminister Kinkel, daß Waffen der frü- des Verbandes der Vereine aus Kurdi- fes, warnt der nordrhein-westfälische heren DDR-Armee nicht gegen Kurden stan (Komkar). Der Kölner Dachver- Verfassungsschutz in einer Prognose, eingesetzt würden. Freilich: „Ich kann band von 35 kurdischen Vereinen in werde die PKK „nutzen, um ihren Ein- es im Einzelfall nicht kontrollieren.“ Deutschland gilt als gemäßigt. fluß auf die Kurden in Deutschland aus- Wichtiger als die Lage der Kurden „Viele Rechte“, klagt Kisabacak über zubauen“. Eine neue „Anschlagswelle“ scheint den Bonnern allemal die strate- die Lage seiner in Deutschland leben- sei „nicht auszuschließen“. gische Bedeutung des Landes zwischen den Landsleute, „werden uns ver- Knapp zwei Wochen nach einem An- Bosporus und Kaukasus. Der südöstli- wehrt.“ Kein Wunder, denn auch in griff türkischer Militärs auf die kurdische che Nato-Vorposten Türkei gilt als Boll- Deutschland gibt es offiziell keine Kur- Stadt Lice, bei dem Dutzende Menschen werk gegen die Moslem-Fundamentali- den. 90 Prozent der Kurden in der Bun- starben, hatten sich PKK-Anhänger bun- sten etwa im Iran, aber auch als Schutz desrepublik besitzen einen türkischen desweit gerächt. In einer offenbar abge- vor den unruhigen Ex-Sowjetrepubliken Paß, die anderen haben vor allem iraki- stimmten Aktion, bei der esein Todesop- Armenien und Aserbaidschan. sche oder syrische Papiere. Die meisten fer gab, demolierten sie Anfang Novem- Auch wirtschaftlich profitieren sind als Gastarbeiter gekommen, ein ber vergangenen Jahres 59 türkische Ein- Deutschland und die Türkei voneinan- kleiner Teil auf der Suche nach Asyl. richtungen in Deutschland, meist Ban- der – für Bonn ein Grund mehr, die Re- Kisabacak fordert für die Kurden die- ken, Reisebüros und Restaurants. gierung in Ankara nicht wegen der Kur- selben Rechte, die Türken in Deutsch- den zu vergrätzen. Die Bundesrepublik land haben. So müsse zum Beispiel ein ist für die Türkei weltweit der wichtigste kurdischer Fernsehsender zugelassen Handelspartner. werden, und kurdische Kinder sollten Das Interesse der Türken an deut- an deutschen Schulen die Sprache ihres schen Produkten konzentriert sich, ne- Volkes lernen können; bislang gehen sie ben Fahrzeugen und Maschinen, vor al- noch meist in den Türkisch-Unterricht. lem auf Rüstungsgüter. Insgesamt kauft Die Zeit arbeitet offenbar gegen die das Land jährlich für rund 6,6 Milliar- gemäßigten Kurden und für die Extre- den Mark in Deutschland ein. Am Ex- misten. „Die Bundesrepublik“, sagt port von Textilien, Lebensmitteln und Hamburgs Verfassungsschutzchef Uhr- anderem in die Bundesrepublik wieder- lau, „ist ein Resonanzboden für die Ent- um verdienten die Türken 1992 bei- wicklungen im kurdischen Kampfge- spielsweise 6,8 Milliarden Mark. biet.“ Je schärfer die türkische Armee Deutsche Konzerne wie Siemens, die PKK-Guerrilleros jagt, desto hefti- Mercedes-Benz und Bosch nutzen das ger reagieren die Kurden in Deutsch- niedrige Lohnniveau und führen eigene land. „Die Saat der Gewehre geht auf“, Fabriken in der Türkei. Sie lassen dort urteilt Menschenrechtler Zülch. Busse, Elektronik oder Autoteile zu- Vom wachsenden kurdischen Natio- sammenbauen. nalismus profitiert vor allem die PKK. Angesichts der engen Beziehungen Die türkische Regierung selbst habe den zwischen beiden Ländern verwundert es totalitären Kommunisten viele Kurden Kommunistenführer Öcalan nicht, daß viele Kurden Deutschland auf zugetrieben, sagt Zülch: „Jede demo- Geheimdienst und Killerkommandos

Nach Protesten der türkischen Regie- rung verbot das Bundesinnenministeri- um daraufhin Ende November die PKK sowie 33 mutmaßliche Tarnorganisatio- nen. Das verübelten viele Kurden der Bonner Regierung als Bückling vor den Türken. Immer wieder protestierten sie auch vergangene Woche gegen das Ver- bot und schwenkten PKK-Flaggen und Öcalan-Porträts vor Fernsehkameras. „Trotz Verbots“, heißt es in einem Be- richt nordrhein-westfälischer Verfas- sungsschützer, „setzt die PKK ihre Akti- vitäten fort.“ In Athen erklärte ein PKK- Sprecher: „Wir können in Deutschland weitgehend ungestört arbeiten.“ Nach wie vor kann Terroristen-Führer Öcalan, der die PKK von Syrien oder von einem irakischen Militärstützpunkt bei Mossul aus diktatorisch lenkt, in Deutschland auf einen harten Kern von etwa 5000 Aktivisten und auf rund 40 000 Sympathisanten zählen. Durch das Ver-

* Im November vorigen Jahres nach einem Brand- anschlag auf ein türkisches Restaurant in Wies- Opfer kurdischer Terroristen*: „Konspirativ und abgeschottet“ baden.

DER SPIEGEL 13/1994 21 DEUTSCHLAND „Die Waisen des Universums“ Das Volk der Kurden träumt seit Jahrhunderten von einem eigenen Staat

eit Beginn des Kurdenaufstandes Polizisten rekrutiert, erschießen unge- Schicksal seiner Landsleute klagte vor zehn Jahren übt sich die Re- hindert Journalisten, Anwälte, Partei- schon der legendäre Kurdenführer S gierung in Ankara in einem selt- funktionäre und andere Intellektuelle, Mustafa Barsani: „Wir sind die Waisen samen Ritual. In jedem Jahr hat sie das die sie für Parteigänger der PKK hal- des Universums.“ Ende der von der Arbeiterpartei Kur- ten. Die Täter werden nie gefaßt. Die Vorfahren der heutigen Kurden distans (PKK) angezettelten Revolte Mittlerweile hat der Generalstab waren im 8. und 7. Jahrhundert vor un- für das jeweils nächste Jahr vorherge- eingesehen, daß er mit dem kurdischen serer Zeitrechnung aus Persien nach sagt. Gegner nicht fertig werden kann, so- Westen gezogen und hatten sich mit Doch das Gegenteil trat ein. Jahr lange die PKK über Ruheräume in den einheimischen Stämmen vermischt. für Jahr nahm die Gefährlichkeit der benachbarten Grenzgebieten verfügt Kurden verdingten sich als Legionäre Guerillas zu, erhöhte sich die Zahl ih- und von dort ungehindert Nachschub und stiegen zu Heerführern auf. Ihr rer Aktionen. Aus wenigen hundert erhalten kann. berühmtester, Sultan Saladin, eroberte Kämpfern der Anfangsjahre ist mitt- Die türkische Diplomatie hat des- 1187 Jerusalem für den Islam von den lerweile eine straff organisierte Unter- halb nun den Auftrag, in Verhandlun- Kreuzfahrern zurück. Die von kurdi- grundarmee geworden, deren Stärke scher Kampfkraft beeindruck- Kaspisches Meer auf bis zu 30 000 Kämpfer geschätzt Schwarzes Meer 0 km 250 ten Osmanen schlossen 1515 ei- wird. nen Vertrag mit den Fürsten Operierte die PKK anfangs nur im ARMENIEN des Nachbarvolkes – Soldaten ca. 200000 Südostzipfel der Türkei, hat unterdes- ca.ca. 1212 MillionenMillionen gegen Autonomie. sen ein Bürgerkrieg fast den gesamten Das Abkommen regelte für Osten des Landes bis an den Küsten- TÜRKEI die nächsten 300 Jahre ein leid- streifen des Schwarzen Meeres erfaßt. Diyarbakir liches Nebeneinander von Tür- PKK-Chef Abdullah Öcalan, kurz Täbris ken und Kurden. Nach dem „Apo“ genannt, gibt sich nun nicht Zusammenbruch des Osmani- mehr mit der anfangs geforderten Au- SYRIEN Mossul schen Reichs, das im Ersten tonomie seiner Landsleute in der türki- ca. 1 Million Weltkrieg an der Seite des IRAK schen Republik zufrieden; er verlangt IRAN deutschen Kaisers verloren hat- einen eigenen, sozialistischen Kurden- ca. 4 Millionen te, versprach der Vertrag von ca. 5 Millionen staat. Bagdad Se`vres 1920 den Kurden zu- Kurz vor seinem Tode im April ver- HauptsiedlungsgebieteHauptsiedlungsgebiete derder KurdenKurden nächst Autonomie „für die Ge- gangenen Jahres hatte Staatspräsident biete, in denen das kurdische Turgut Özal damit begonnen, die Element vorherrscht“. Doch Grundzüge einer politischen Lösung gen mit den Nachbarstaaten der PKK drei Jahre später in Lausanne folgten des Kurdenkonflikts zu skizzieren. die Rückzugswege abzuschneiden. Mit die Siegermächte der Idee des in An- Doch seine politischen Erben, der heu- einer Guerilla, die nur in der Türkei kara an die Macht gekommenen Ke- tige Staatspräsident Süleyman Demirel operieren könne, so glauben die Gene- mal Atatürk: Türken und Kurden bil- und Ministerpräsidentin Tansu C¸ iller, räle, werde die Armee rasch fertig. deten „eine einzige Gesamtheit hin- folgen ihm nicht, sondern überlassen Doch die Diplomaten dürften ihre sichtlich der Rasse, des Glaubens und die Kurdenfrage den Generälen. De- Aufgabe kaum lösen können. Sämtli- der Sitten“. ren erklärtes Ziel ist es, die PKK aus- che Anlieger der Türkei sind daran in- Der Gründer der modernen Türkei zurotten. teressiert, die Unruhen zu schüren und nahm damit den Kurden ihre nationale Dazu verfolgen sie zwei unterschied- so das 60-Millionen-Volk außenpoli- Identität. Atatürk verbot ihre Sprache liche Strategien. Im ländlichen Raum tisch zu schwächen. und erklärte die Kurden zu „Bergtür- des Kurdengebietes wird ein Dorf nach Die 22 Millionen Kurden verteilen ken“. Auch alliierte Mächte betrogen dem anderen gewaltsam geräumt und sich auf fünf Staaten – die Türkei (12 die Kurden. Die Briten schlugen die niedergebrannt, damit die PKK- Millionen), den Iran (5 Millionen), kurdischen Erdölregionen von Kirkuk Kämpfer keinen Unterschlupf mehr den Irak (4 Millionen), Syrien (eine und Mossul ihrem Mandatsgebiet Irak finden. Million) und Armenien (200 000). zu. Die älteren Bewohner der Dörfer „Wo liegt das Land der Kurden, das „Die Kurden haben keine Freunde“ ziehen in die Randgebiete der Städte keine offizielle Landkarte dieser Erde – das alte Sprichwort bewahrheitete oder wandern in den Westen des Lan- verzeichnet?“ fragt der kurdische Au- sich auch nach dem Zweiten Welt- des weiter. Die Jungen flüchten in die tor Namo Aziz. krieg. Unter Stalins Schutz durften die Berge, wo sich die PKK ihrer an- Sein Volk träumt seit Jahrhunderten Kurden 1946 im besetzten Nordwest- nimmt. So sorgt die Armee dafür, daß von einem eigenen Staat. Es wäre der iran die Republik Mahabad ausrufen. die Aufständischen reichlich Nach- einzige der Region mit Wasser und Öl Doch noch im selben Jahr zogen die wuchs bekommen. im Überfluß: Die Quellen von Euphrat Sowjettruppen ab, und der Schah zer- In den größeren Städten wird der und Tigris liegen im Siedlungsgebiet schlug den bislang einzigen Kurden- Terror anders praktiziert. Anonyme der Kurden sowie der größte Teil der staat in der Geschichte. Aufgeteilt auf Todesschwadronen, angeblich aus Ölregion des Nordirak. Über das fünf Länder, wurden die Kurden im-

22 DER SPIEGEL 13/1994 bot, so Verfassungsschützer Uhrlau, sei nover erschoß der PKK-Pistolero Casim es noch schwieriger geworden, die straff Kilic den Komkar-Funktionär Ramazan mer wieder zum Spielball fremder In- geführte Kaderorganisation zu beobach- Adigüzel auf offener Straße; in Ham- teressen: ten. Fest steht: „Die Personen, die vor- burg tötete ein Killer mit dem Deckna- i Der prowestliche Iran inszenierte her aktiv waren, sind das auch geblie- men „Sehmuz“ den Kurdenpolitiker (mit Hilfe von Amerikas CIA) in ben.“ Kürs¸at Timuroglu. Die Entscheidungen den siebziger Jahren den Kampf der Seit dem Verbot arbeite die Partei, in der PKK würden, so Verfassungs- irakischen Kurden unter Mustafa berichtet das baden-württembergische schützer Uhrlau, stets „zentral getroffen Barsani gegen das linke Baath-Re- Innenministerium, „außerordentlich und dezentral ausgeführt“. gime in Bagdad. Doch als der Schah konspirativ und abgeschottet“. Wozu „Der steigende Finanzbedarf der 1975 gegen den Irak die Grenze im die PKK in Deutschland fähig ist, zeigte PKK“ (Verfassungsschutz) treibt die Schatt el-Arab durchsetzen konnte, jüngst der bislang größte Kurdenprozeß: Polit-Kriminellen nun auch immer stär- ließen Teheran und Washington die Vor drei Wochen verurteilte das Ober- ker ins gewöhnliche Verbrechen. So wie Kurden fallen. landesgericht Düsseldorf vier Kurden, die Mafia Schutzgelder eintreibt, nöti- i Mit Hilfe des Irak erhoben sich die zwei von ihnen wegen Mordes, zu le- gen Kurden ihre Landsleute zur Zah- iranischen Kurden 1979 gegen das benslanger Haft. In den viereinhalb Jah- lung sogenannter Spenden. Die Eintrei- Regime des Ajatollah Chomeini. ren, die der Prozeß dauerte, war zutage ber, meldet der Verfassungsschutz, grif- Revolutionswächter metzelten den gekommen, daß die PKK in der Bundes- fen dabei „zu immer schärferen Mitteln Aufstand nieder. republik einen Geheimdienst samt Kil- der Erpressung“: „Bekannt wurden For- i Im ersten Golfkrieg zwischen Iran lerkommandos aufgebaut hat. derungen von 500 Mark bis zu 50 000 und dem Irak 1980 bis 1988 wiegel- Öcalans Agenten hätten, so das Ge- Mark.“ ten beide Staaten die Kurden gegen richt, „Gegner in konkurrierenden kur- In Berlin etwa wurde der Besitzer ei- das jeweilige Nachbarregime auf. dischen Organisationen“, aber auch un- nes Reisebüros von zwei kurdischen Spendensammlern mit Schlagstöcken krankenhausreif geprügelt. Er hatte sei- nen Landsleuten die Spende verweigert, und auch die daraufhin geforderte Straf- zahlung hatte er abgelehnt. Der Schlüssel zu den Ursachen kurdi- scher Gewalt, so Düsseldorfs Innenmi- nister Schnoor, liege freilich „nicht in Deutschland, sondern in der Türkei“. Solange Ankara der Minderheit nicht mehr Rechte zugestehe, sagt Menschen- rechtler Zülch, bleibe „die unheimliche Repression ja nötig“. Zülch empfiehlt der Bundesregie- rung, sich „als Vermittler anzubieten“ und eine „Nationalitätenpolitik einzu- fordern, wie sie etwa in Südtirol oder in Katalonien verwirklicht ist“. Statt Waf- fen zu liefern, solle Bonn lieber „Ent- wicklungshilfeprojekte fördern“. Der Kurdenkampf, so glaubt auch der kurdische Ingenieur Ali Demir, Vorsit- zender der Islamischen Glaubensge- Tote PKK-Kämpfer im Norden des Irak: „Die Kurden haben keine Freunde“ meinschaft in Stuttgart, sei inzwischen „eher ein sozialer als ein nationaler i Im zweiten Golfkrieg ermunterten zuverlässige Leute aus den eigenen Rei- Konflikt“. die USA Iraks Kurden Anfang 1991 hen ausgespäht. Sie schüchterten miß- Im wilden Kurdistan herrscht blanke zum Aufstand. Doch weil ihnen spä- liebige Landsleute ein, straften sie ab Not, die Infrastruktur ist zerstört, Bau- ter ein geschwächter Saddam Hus- und führten eine Todesliste: „Zur Um- ern und Viehzüchter sind vertrieben, sein lieber war als ein Machtvakuum setzung von Tötungsbeschlüssen stan- 874 Dörfer wurden allein im letzten Jahr in der Region, bremsten sie ihre Hil- den Exekutionskommandos bereit.“ zerbombt oder gesprengt. Demir: fe für die Kurden. Einer der Henker, der in Düsseldorf „Diese Armut, viele Kinder, wovon sol- So befreite die Operation Wüsten- verurteilte PKK-Mann Ali Aktas, er- len denn die Menschen leben?“ sturm zwar 680 000 Kuweiter vor Sad- stickte beispielsweise 1984 einen Ab- „Unzufriedene“, sagt Demir, seien dam Husseins Herrschaft. Aber vier weichler in Berlin mit einem Knebel. Er nun einmal „leichter zu mobilisieren: Millionen irakische Kurden müssen warf die Leiche auf einen Müllhaufen. Die nationalistischen Hoffnungen wach- nun die Rache des Despoten von Bag- Zwei Monate später eilte Aktas schon sen doch erst aus der Armut“. dad fürchten. wieder zu einem Einsatz, diesmal auf ei- Der Bürgerkrieg verhindert derzeit Wie grausam die ausfallen kann, er- nem Platz in Rüsselsheim. Befehlsge- jeden Aufschwung. Die Armut rührt vor fuhr am 16. März 1988 das irakische mäß erschoß er dort den Kurden Zülfü allem aber daher, daß die türkische Re- Kurdenstädtchen Halabdscha. Saddam Gök, ein ehemaliges Mitglied des euro- gierung in Kurdistan auch vor den Wir- bestrafte es wegen Zusammenarbeit päischen Zentralkomitees der PKK in ren kaum je investiert hat. mit dem iranischen Feind mit einem Köln. Gök hatte sich aus der Partei zu- Den Kampf gegen die kurdischen Giftgasangriff. Etwa 5000 Einwohner rückziehen wollen. Guerillas dagegen hat sich die Türkei ei- kamen ums Leben. Systematisch versuchte das Zentral- ne gigantische Summe kosten lassen: komitee auch, die Köpfe der gemäßig- laut Ministerpräsidentin C¸ iller bislang ten Konkurrenz auszuschalten. In Han- insgesamt rund 95 Milliarden Mark. Y

DER SPIEGEL 13/1994 23 KOMMENTAR Wie man sich Feinde macht RUDOLF AUGSTEIN

ngeblich existierte zwischen Klugheit unseres Außenministers Frieden. Kontroverse Themen wer- Deutschland und Frankreich Klaus Kinkel verzweifeln. Er be- den, wie die Pressesprecher verkün- Aeine sogenannte „Erbfeind- diente sich des Holzhammers. Er den, „andiskutiert“, nicht aber ver- schaft“. Richtig daran ist, daß tat, was den gewachsenen deutsch- antwortlich besprochen. Beiden Sei- Frankreich 1918 versucht hat, das französischen Beziehungen gewiß ten scheint es dabei um schöne Ge- Bismarck-Reich buchstäblich zu ver- nicht entsprach: Er bestellte, wie es sten zu gehen, um Freundschaftsbe- nichten. Aber eine sehr viel längere die Sprache der Diplomaten nennt, kundungen ohne Inhalt. Zeit gab es diese sogenannte „Erb- den französischen Botschafter ein, Dies war zwar immer so, aber ei- feindschaft“ zwischen England und um ihm die Leviten lesen zu lassen. nem Genscher etwa wäre solch ein Frankreich. England nun wieder war Das ist ein durchaus gebräuchli- sinnloser Kraftakt nicht unterlaufen. der buchstäblich geborene Feind des ches Mittel, wenn man einem frem- Es zeigt sich nun, wie recht der Bun- Wilhelminischen, des vormaligen den Staat Mißfallen ausdrücken will. despräsident hatte, als er Kinkel Bismarck-Reiches. Aber Frankreich ist für uns kein riet, nicht beide Posten, den des Au- Man sieht, mit den Erbfeindschaf- Staat wie jeder andere auch. Ohne ßenministers wie den des Parteivor- ten sollte man vorsichtig umgehen. Frankreich und Deutschland gäbe es sitzenden, zu übernehmen. Sogar Hitler sah sich nicht als den überhaupt keine Bemühungen zu ir- In ruhigeren Zeiten konnte Hans- Erbfeind des von ihm negligierten gendeiner europäischen Einheit hin. Dietrich Genscher beides sein, Au- Frankreich. Umgekehrt hat Frank- Da wirkt die „Einbestellung“ des ßenminister und Parteivorsitzender. reich sich dem zerstückelten französischen Botschafters Franc¸ois Kinkels rüde Haltung gegenüber Deutschland gegenüber gewiß nicht Scheer wie eine kalte Dusche. Es Frankreich, gegen das wir weiß besser aufgeführt als die beiden an- mag wohl sein, daß der Quai d’Or- Gott begründete Interessengegen- gelsächsischen Staaten, sondern un- say den deutschen Botschafter eben- sätze vorbringen können, zeigt nur, bequemer. falls einbestellt hätte, wenn der sich daß Kinkel aus dem Parteiamt nicht Zwischen Paris und Bonn ent- rüde in die inneren Angelegenheiten Stärke, sondern Schwäche bezieht. stand eine eigenartige Achse. Sie des Gastlandes eingemischt hätte. Er sollte aus dem Beamtendenken hatte zur Voraussetzung, daß Aber man bedient sich dort feinerer allmählich herausgewachsen sein Deutschland, Restdeutschland muß Mittel. und nicht dem Irrtum erliegen, man man sagen, kraft sowjetischen Ein- Man hätte ihn einbestellen kön- könne die dahindümpelnde Partei flusses geteilt blieb. Der „französi- nen etwa, wenn er den Bundeskanz- mit Stärke aufpusten, indem man sche Instinkt“, wie Margaret That- ler Helmut Kohl öffentlich einen Stellung gegen den schwierigsten, cher das nannte, reichte von Riche- neuen Hitler genannt hätte. Dann aber auch notwendigsten europäi- lieu und Colbert über Napoleon bis hätte man Grund gehabt, diesen schen Partner Frankreich bezieht. zu Clemenceau und Charles de Botschafter zu einer unerwünschten Wenn aus diesem mittleren Deba- Gaulle. Er entfiel, als Mitterrand Person zu erklären, mit dem erklär- kel eines gelernt werden kann, so ist ihm wegen der Verhältnisse nicht ten Ziel seiner Abberufung. Nur es doch dies: Frankreich hat die bes- mehr folgen konnte. dann hätte die Einbestellung Sinn seren Diplomaten und, wo es nicht Geblieben war die deutsche indu- gemacht. offensichtlich unrecht hat, auch die strielle Tüchtigkeit, geblieben war Franc¸ois Scheer hat aber derglei- besseren Karten. die Volkszahl, die sich durch Zu- chen nicht gesagt, auch nicht im ver- Man darf die deutsche Politik wanderung aus dem Osten Europas trauten Kreise. Es mag wohl sein, nicht an Personen festmachen. nur nähren konnte. Das mußte die daß einige seiner Gesprächsfetzen Kanzler Kohl, der europäische politische Klasse in Paris verwirren, auch in Paris so gedacht und gesagt Windmacher, hat zwar mehr Rück- sie hatte so nicht gerechnet. werden. Nur regelt man solche Miß- halt, ist aber keineswegs besser als Es war also nur natürlich, daß die verständnisse, wenn es denn welche sein Kinkel. führenden Politiker Frankreichs mit sind, unter Freunden auf andere Man hat ihn nicht zur Normandie- erstaunlichen Befürchtungen offen Weise. Man kann unter vier Augen Feier eingeladen. Das hätte er ver- und unterderhand hervortraten. mit dem Außenminister sprechen, schmerzen können, die Franzosen Daß nun der Bonner Botschafter oder mit einflußreichen Mittelsleu- sind aufs Siegefeiern ja ganz ver- Frankreichs, ob aus Temperament ten. Jetzt muß man einsetzen, was rückt. Auch Kohl hätte eingeladen oder auf Anordnung, mit gewissen immer man zur Verfügung hat, nur werden können. Zumutungen hervortrat, konnte un- um zu erklären, warum die Einbe- Er wollte hin, man lud ihn aber ter diesen Umständen kaum überra- stellung überhaupt erfolgt ist. Man nicht. Anstatt die wahrhaft unwichti- schen. Daß er den Umzug der Bun- befindet sich von vornherein in einer ge Sache auf sich beruhen zu lassen, desregierung von Bonn nach Berlin Verteidigungsposition, wo man ob- streute er seine Version, er könne tadelte – oder getadelt haben soll –, jektiv gesehen doch Grund hätte, als deutscher Bundeskanzler nicht mag einer strikten Diplomatie nicht um Aufklärung zu bitten. an einer Gedenkveranstaltung teil- entsprechen, aber man hört so etwas Dies ist nun eben die Crux der nehmen, wo deutsche Soldaten eine auch in Paris. deutsch-französischen Beziehungen, Niederlage erlitten hätten. Der Wagen fährt aber weiter, und daß auf den sogenannten Gipfeltref- Ei, ei. Wäre er Diplomat, gehörte somit möchte man an der politischen fen sowohl Ruhe herrscht als auch er einbestellt.

24 DER SPIEGEL 13/1994 DEUTSCHLAND Partnerwechsel pen als Anhänger einer der großen Meinungsforschung Koalitionswünsche; Angaben in Prozent Parteien vorstellen. Solche Unwägbarkeiten haben bei für eine Koalition mit der FDP Bundestagswahlen immer wieder ei- nen „last-minute-swing“ (Emnid-Chef CDU/CSU- 79 Klaus-Peter Schöppner) für die Libera- Plötzliche Wähler 74 72 len ausgelöst. 1990 schwangen sie sich auf diese Weise zu elf Prozent auf. Eingebung 58 Diesmal sieht es nicht so gut aus. Im 53 Vorwahl-März 1994 ist offenbar die Be- Sind die Liberalen bundesweit 48 reitschaft der Wähler von Union und unter fünf Prozent gesun- SPD, den Liberalen als möglichem Ko- SPD- alitionspartner doch noch ihre Zweit- 31 ken? Die Demoskopen können Wähler 28 28 stimme zu leihen, geringer denn je. Die FDP als Machtbeschaffer und Wunsch- sich nicht einigen. 17 partner erscheint den Wählern der gro- ßen Parteien immer weniger attraktiv ie FDP spart, wo sie kann. Für Sept. Okt. Feb. Okt. März (siehe Grafik). Umfragen bei den Wählern, läßt 1991 1992 1993 1993 1994 Zudem droht die eigene Wählerschaft Ddie Bonner Parteizentrale verbrei- mit Liebesentzug. Auf die Frage „Wel- ten, „haben wir kein Geld“. für eine rot-grüne Koalition che Partei gefällt Ihnen am besten?“ be- Statt dessen sitzt ein Mitarbeiter im kamen Emnid-Demoskopen in der ver- Bünd- 75 Thomas-Dehler-Haus und heftet Zei- gangenen Woche verblüffende Antwor- nis 90/ 69 tungsschnipsel ab: Daten und Progno- Grüne- 63 ten. Nur 48 Prozent der bekennenden Wähler sen über die Zukunft der von schweren 57 56 FDP-Wähler nannten die eigene Partei 57 als Lieblingspartei. Vergleichsweise si- cher können sich da die Sozialdemokra- ten sein: 70 Prozent der SPD-Wähler 36 37 mögen ihre Partei. SPD- 32 32 Wähler Viele der liberalen Wähler, so müssen Kinkel & Co. befürchten, könnten ihre Stimme einer anderen Partei geben, weil sie den eigenen Leuten ohnehin Sept. Okt. Feb. Okt. März kein Comeback in den Bundestag zu- 1991 1992 1993 1993 1994 trauen. Ein Viertel der Liberalen, er- Quelle: Emnid mittelte Emnid, halten nach den Nieder- lagen von Hamburg und Niedersachsen So geht das schon seit Monaten einen Einzug der Partei in den Bundes- (siehe Grafik). Für keine Partei klaffen tag für unwahrscheinlich. die Einschätzungen der Demoskopen Kinkels unsichere Kantonisten haben so weit auseinander wie für die FDP. den alten Streit unter Demoskopen um Deren Chef, ohnehin Liebhaber des die richtige Gewichtung von Umfrageer- FDP-Chef Kinkel Unverbindlichen, findet das Durchein- gebnissen vor Wahlen wieder wachgeru- „Immer gutgegangen“ ander nicht besonders beunruhigend. fen. Und so verschieden wie die Zahlen, Das Totenglöckchen, sagt Kinkel, habe die von den Instituten als Antwort auf Niederlagen in Hamburg (4,2 Prozent) seiner Partei schon so oft geläutet – die „Sonntagsfrage“ gemeldet werden, und Niedersachsen (4,4 Prozent) verun- „und immer danach ist es uns gutge- so groß sind die Meinungsunterschiede sicherten Partei. gangen“. Er hat ja recht. Die Klientel über die richtige Methode der Wähler- Die Zahlen sind verwirrend. der Liberalen ist für Demoskopen au- forschung. Emnid und Allensbach ma- Manche Demoskopen sehen die Libe- ßerordentlich schwer ralen auch bundesweit unterhalb der einzuschätzen. Speku- Wo steht die FDP? Existenzgrenze von fünf Prozent. Vier lationen über das poli- Als Ergebnis der Sonntagsfrage („Welche Partei in Prozent Prozent Zustimmung ermittelte die tische Schicksal der Li- würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag der Wähler- Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen beralen sind beliebig, Bundestagswahl wäre?“) präsentierten die Mei- stimmen im März für die Liberalen, gerade an der weil nungsforschungsinstitute für die FDP folgende Werte: Fünfer-Marke ist die FDP nach Ansicht i die FDP weniger 12 des Dortmunder Forsa Instituts. Wenn als andere Parteien Allensbach es bei solchen Werten bliebe, fiele Klaus über einen festen Emnid Kinkel als Koalitionspartner für Helmut Wählerstamm ver- 10 Kohl oder Rudolf Scharping aus. fügt; Ganz falsch, so das Urteil der anderen i viele Wähler der Forsa 8 Demoskopen-Fraktion: Alles werde gut. Union und der Der Juniorpartner der Bonner Koalition SPD aus taktischen Forschungs- 6 könne einen eindrucksvollen Erfolg er- Gründen im letz- gruppe Wahlen zielen. Neun Prozent der Stimmen er- ten Augenblick ihre 4 rechnete das Bielefelder Emnid-Institut Zweitstimmen der vorige Woche, auch die Zahlen der Al- FDP geben; 2 lensbacher Meinungsforscher vom März i zahlreiche heimliche 1993 1994 (9,1 Prozent) liegen höher als die aktuel- FDP-Wähler sich 0 len Ergebnisse. bei den Demosko- Okt. Nov. Dez. Jan. Feb. März

DER SPIEGEL 13/1994 25 DEUTSCHLAND chen es ähnlich wie der Vorsitzende Kinkel: Sie glauben den demoskopi- Antisemitismus schen Daten nicht, sondern kalkulieren ein, daß die FDP im Ernstfall wenig- stens ein paar Punkte zulegt. Entspre- chend korrigieren die Institute ihre er- „Ein letztes Tabu“ mittelten Zahlen vor der Bekanntgabe nach oben. Michel Friedman vom Zentralrat der Juden über den Anschlag von Lübeck Solche „Gewichtung“ hält Allens- bach-Chefin Elisabeth Noelle-Neumann für unverzichtbar. Mit „Rohzahlen“ zu Friedman, 38, ist Rechtsanwalt in Wir müssen sehen, daß dieantisemitische arbeiten sei „naiv“. Man könne demo- Frankfurt, Stadtverordneter für die CDU Enthemmung, die eins der letzten Tabus skopische Daten nicht behandeln, „als und Mitglied im Präsidium des Zentral- in der Republik war, längst Alltag ist. Ich wären es Wasserstandsmeldungen“. rats der Juden in Deutschland. bekomme täglich mehr Drohungen, und Um den wahren Wasserstand bei den die sind nicht einmal mehr anonym, man Liberalen zu ermitteln, greift beispiels- SPIEGEL: Herr Friedman, über 55 Jahre schämt sich nicht mehr, Antisemit zu weise Emnid auf die Methode des nach der Pogromnacht vom November sein.Das istnichtmehraufdieHinterzim- „Recall“ zurück. Die Rückfrage bei den 1938 brannte in Deutschland wieder ei- mer von Kneipen beschränkt, man hört Befragten nach deren Votum bei der ne Synagoge. War mit einem Anschlag dies in allen gesellschaftlichen Schichten. letzten Bundestagswahl ergibt eine Dif- wie in Lübeck, bei dem auch sechs in SPIEGEL: Die rechtsextreme Gewalt ferenz zum wirklichen Ergebnis: Nur 7,7 dem Gebäude lebende Familien gefähr- komme aus der Mitte der Gesellschaft, Prozent der Emnid-Befragten in den al- det waren, zu rechnen? hat Bundespräsident Richard von Weiz- ten Bundesländern geben an, 1990 FDP Friedman: Die Gewaltspirale und die säcker gesagt. gewählt zu haben – die Liberalen erziel- Enthemmung, aber auch die Teilnahms- Friedman: Es sind eben nicht mehr alleine ten aber dort tatsächlich 2,9 Prozent- losigkeit großer Teile der Bevölkerung die Funktionäre der Rechtsextremisten. punkte mehr. haben befürchten lassen, daß auch jüdi- Es gibt längst ein Niemandsland der Dop- Mit dieser Mogelquote bei den FDP- sche Einrichtungen frü- pelmoral und der Ver- Wählern glaubt Emnid-Schöppner ein her oder späterzumOp- drängung, in dem sich Korrektiv gefunden zu haben. So will er fer von Intoleranz, Ge- Historiker, verantwort- auch die vielen potentiellen Last-mi- walt und Unmensch- liche Politiker und etli- nute-Wähler der FDP erfassen, die ihre lichkeit werden. Denn che Publizisten tum- plötzliche Eingebung in der Wahlkabine nur vordergründig ist meln und indem ständig von 1990 längst vergessen haben und dies ein Anschlag auf beschwichtigt und rela- sich darum heute als Wähler der Union die jüdische Gemein- tiviert wird, in dem man oder der SPD bekennen. schaft, aber tiefer ge- Geschichte mit aktuel- „Alles Quatsch“, findet Dieter Roth dacht, soll er Mensch- ler israelischer Politik von der Mannheimer Forschungsgruppe lichkeit und Demokra- aufrechnet und nach sa- Wahlen, dessen Institut die Liberalen tie treffen, also uns alle, lonfähigen Antworten kaum auf die Hälfte des Schöppner- Juden und Nichtjuden, für den alltäglichen Wertes kommen läßt. Wie viele Bürger in Deutschland. Antisemitismus sucht. bei der Bundestagswahl für Kinkel und SPIEGEL: Wenn Sie von Nur vier Prozent, so die Seinen votieren, entscheide sich einer Spirale sprechen, jubeln jetzt fast alle, „erst sehr spät“. Vorher läßt sich nach erwarten Sie also weite- hätten die Reps in Nie- Roths Überzeugung über solche Bewe- re Verschärfung? dersachsen bekommen. gungen keine seriöse Aussage treffen. Friedman: Die Enthem- Dieser Prozeß der Ge- Allerdings unterziehen auch die mung der Gewalt, so- wöhnung an Menschen- Mannheimer ihre Ergebnisse zusätzlich wohl der verbalen als Zentralratsmitglied Friedman verachter ist doch der einer „Projektion“, in der sie Antworten auch der körperlichen, „Enthemmung der Gewalt“ Anfang der Toleranz mit Informationen über längerfristige beschreibt zutreffend gegen die Intoleranz. Grundüberzeugungen vergleichen. Bei die Gegenwart in der Bundesrepublik. SPIEGEL: Filme wie „Schindlers Liste“ solchen Trendanalysen erreichen die Li- Die Gesellschaft und ihre Repräsentan- scheinen daran nichts zu ändern. beralen immerhin knapp sechs Prozent. ten, seien sie aus Politik, Kultur, Justiz Friedman: Ich bin sehr glücklich, daß Die Mannheimer Forschungsgruppe oder Wissenschaft, begreifen nicht, daß dieser Film von jungen Menschen gese- wie auch Forsa veröffentlichen dennoch das Verhältnis der Menschen zueinander hen wird. Die werden ermutigt, nicht stets die ungewichteten Zahlen. Forsa- zu der entscheidenden gesellschaftspoli- nur nein zu sagen, sondern auch etwas Chef Manfred Güllner: „Das ist redli- tischenFrage avanciertist.Dies nicht auf- zu tun. Ich erwarte nicht Solidarität für cher.“ zunehmen bedeutet eine weitere Gefähr- das Judentum, sondern das Engagement Die wahren Zahlen kennt niemand. dung der Minderheiten. gegen Gewalt an sich. Dazu muß man Ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl SPIEGEL: Wo sehen Sie die Ursachen die- nicht immer etwas Spektakuläres tun. läßt sich ohnehin nicht sagen, welches ser Gewalt? Gewalt beginnt mit dem Wort, oft sogar Ergebnis das richtige ist. Friedman: Der Kern dessen, was wir an mit Witzen. Hinhören und nicht wider- Die demoskopischen Zahlenspiele al- Tragödien mit über 20 Opfern unter den sprechen ist ein Stück Mittäterschaft. lerdings bleiben für den Wahlausgang ausländischen Bürgern zu verzeichnen Und wenn junge Leute nach einem sol- nicht ohne Folge – wenn man den De- haben, liegt in einer Identitäts- und chen Film aufstehen und sich einmi- moskopen glaubt. Allensbach beziffert Ethikkrise, auch und vor allem der jüng- schen, dann sehe ich die Gesellschaft die Quote der Umfaller, die ihre Wahl- sten Generation. Bei einem zu großen sich im guten Sinne entwickeln. entscheidung aufgrund solcher Progno- Teil der Jugend erkenne ich eine grund- SPIEGEL: Helfen schärfere Strafen? sen änderten, auf 11,6 Prozent. sätzliche Veränderung in der Einstellung Friedman: Sie können helfen. Der Staat Das sind mehr Wähler, als die FDP zu dem Verfassungsgrundsatz: „Die muß die Abgrenzung zur Gewalt klar seit Jahrzehnten hatte. Y Würde des Menschen ist unantastbar.“ formulieren. Aber fraglich ist, ob das

26 DER SPIEGEL 13/1994 Mittel lieber für überflüssige Schieß- Bundeswehr übungen oder Materialkäufe aus. Die Abgeordneten im Ausschuß lehnten die Reformidee (Huber: „Sparen muß sich lohnen“) jedoch En- Weitgehend de vorigen Jahres ab. Sie wollten nicht die mühsam erworbene Kontrolle über kleinste Details des Wehretats verlie- erstarrt ren. Im Januar hatte CSU-Finanzminister Wo die Bundeswehr sparen und Theo Waigel zudem noch einmal 1,25 rationalisieren könnte, wenn Milliarden Mark aus Rühes ohnehin von 49,1 Milliarden auf 48,5 Milliarden sie nur wollte, deckt ein von Mini- geschrumpftem Budget gestrichen. Al- ster Rühe bestellter Report auf. le schönen Planungen gerieten über Nacht ins Wanken. Die „Skeptiker“, klagt Huber in sei- er Auftrag des Verteidigungsmini- nem Report, fühlten sich deswegen „in sters kam einem Himmelfahrts- der Auffassung bestätigt, sinnvolles Dkommando gleich. Brigadegene- Sparen sei unmöglich, weil die notwen- ral Lorenz Huber sollte in der Bundes- dige Handlungsfreiheit zum Planen wehr nach Wegen zum Sparen suchen nicht gegeben sei“. und sich, so Volker Rühe forsch, „mit So habe der – vorige Woche zur allen anlegen“. Nato versetzte – Heeresinspekteur Der Sonderbeauftragte Huber, Chef Helge Hansen ihn kurzerhand mit der einer „Arbeitsgruppe für Aufwandsbe- Bemerkung abgefertigt, er sei nach grenzung im Betrieb“ (Agab), nahm dem Durcheinander um den Wehretat die heikle Mission ernst. Fast ein Jahr an einer Einsparung von 200 Millionen lang fahndete der ebenso arbeitswütige Mark „nicht interessiert“, beschwerte Demonstranten in Lübeck* wie hitzköpfige Offizier („Geht nicht – sich Huber bei FDP-Parteifreunden. „Ethik des Miteinander“ gibt’s nicht“) mit privaten Unterneh- Auch in der Rüstungsabteilung des mensberatern in Depots, Kasernen und Ministeriums verhallte Hubers Ruf nutzt, solange die Justiz nicht begreift, Werkstätten nach Möglichkeiten zur nach drastischem Personalabbau. Eine worum es geht. Das Urteil des Bundes- Rationalisierung. Wie befohlen machte vier Jahre alte „Sparstudie“ enthalte gerichtshofs, wonach das Verbreiten der er sich, so Rüstungsabteilungsleiter bereits wertvolle Vorschläge, beschie- Auschwitz-Lüge unter Umständen fol- Gunnar Simon, „herzlich unbeliebt“. den Beamte den General. Der „Rü- genlos bleibt, ermutigt die Falschen und Zuletzt legte er sich mit dem höch- stungsbereich“ werde bis zum Jahr entmutigt die Richtigen. Ich erwarte, sten Vorgesetzten an: Kaum hatte Hu- 2000 ohnehin von 19 000 Zivilbedien- daß der Gesetzgeber klarstellt, was pas- ber, 55, dem Generalinspekteur Klaus steten auf gut 13 000 verringert. Das siert, wenn in diesem Deutschland Men- Naumann seinen gut 1000seitigen Spar- sei schon schwierig genug. schen sagen: „Auschwitz hat es nicht ge- bericht vorgelegt, kam er schriftlich Selbst Luftwaffenkameraden ließen geben.“ Denn damit werden nicht nur um „vorzeitige Zurruhesetzung“ ein. den ehemaligen Vizekommandeur der Juden beleidigt, jeder Mensch wird da- Rühe vorige Woche: „Ich bin über- Hamburger Führungsakademie abblit- mit beleidigt. rascht.“ zen. Hubers Kritik an hohen Über- SPIEGEL: Was tun, um die Richtigen zu Hubers Motiv für die Frühpensionie- schußbeständen in den Depots sei un- ermutigen? rung enthüllt ein knapper handschriftli- gerechtfertigt, weil er, so ein Logistik- Friedman: Solange wir diese Probleme cher Zusatz am Fuß des Antragsformu- in Einzeldiskussionen verhandeln, wer- lars: „Mangelndes Reformvermögen den wir uns entlasten, weil wir sagen, bei zu vielen Generalen/Admiralen“. wir haben ja hier und da was getan. Der engagierte Logistikfachmann Aber die wesentliche Hausaufgabe für war, so meinten Kameraden einfühl- das Ende dieses Jahrzehnts lautet: Wie sam, bei den „Apparatschiks“ im kommen wir aus der Neid- und Ellenbo- schwerfälligen Großbetrieb Bundes- gen-Gesellschaft raus, die zu Abgren- wehr „vor die Wand gelaufen“. Da zung und Ausgrenzung führt, und hin zu half auch nicht die „volle Rückendek- Toleranz und Menschlichkeit, zu einer kung“ (Rühe) des Ministers. Ethik des Miteinander. Rühe hatte im vorigen Jahr mit ei- SPIEGEL: Müssen nach dem Anschlag nem „Strukturvermerk“ im Etat-Ent- von Lübeck jüdische Einrichtungen bes- wurf eine kleine Revolution zum Ziel: ser geschützt werden? Einsparungen, etwa bei den Wartungs- Friedman: Jüdische Einrichtungen ha- kosten, wollte er zugunsten von Inve- ben schon lange Schutz nötig. Ich höre stitionen (Kriegsmaterial oder Kaser- immer von Normalität in Deutschland nenbauten) umschichten – ohne vorhe- und weiß doch, daß unsere Schulen und rige Erlaubnis des peniblen Haushalts- Kindergärten immer unter Polizeischutz ausschusses und des Finanzministers. stehen. Das ist Gegenwart, nicht Ver- Bisher mußten die Militärs Über- gangenheit. Y schüsse am Jahresende an den Finanz- minister zurückerstatten. Aus Sorge, * Am Freitag voriger Woche nach dem Brandan- im nächsten Jahr weniger zu bekom- Spar-Minister Rühe, Ratgeber Naumann schlag auf die Synagoge. men, gaben sie die nicht ausgegebenen „Mit allen anlegen“

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General, den „Kriegsvorrat“ an Ersatz- setzten „Fernschreibstellen“ der Bun- teilen und Munition einrechne. Eigene deswehr auf den heutigen Stand der Rationalisierungsvorschläge gebe es zu- Kommunikationstechnik zu bringen. hauf. Sie scheiterten jedoch am Geld, Der „Macher“ Huber mußte sich etwa für moderne Computer. vertrösten lassen. Die Hardthöhen- Rund zehn Prozent der heutigen Be- Führer versprachen lediglich, seine triebskosten von 38 Milliarden Mark im Vorschläge „sorgfältig zu prüfen“, um Jahr, so der Agab-Bericht, könnte die später anzugehen, „was realistisch ist“ Bundeswehr langfristig einsparen. Al- (Staatssekretär Jörg Schönbohm). lerdings müßte sie „weitgehend erstarr- Für die „Durchsetzung“ (Rühe) sei- te Arbeitsabläufe“ und bürokratische ner Vorschläge wäre Huber, der nach Strukturen straffen, Depots entrüm- der Abgabe des Reports kollabierte peln, in eigenen Reparaturbetrieben et- und sich ins Koblenzer Bundeswehr- liche tausend Dienstposten für Soldaten Hospital zurückziehen mußte, ohnehin und Zivilisten streichen – und zunächst nicht zuständig gewesen. Er sollte sei- kräftig investieren. Huber: „Sparen ko- ne Lehren vom Herbst an lediglich als stet erst einmal Geld.“ Chef des Materialamts der Auch da wartete der umtriebige Ge- erproben. neral mit Vorschlägen auf. Mehr als ei- Die Widerstände in der Bürokratie ne halbe Milliarde Mark müßten in den will der Chef nun selbst brechen: „Daß nächsten Jahren her für leistungsfähige ich bereit bin, mich mit allen mögli- Computer, um endlich Übersicht beim chen Leuten anzulegen“, brüstet sich Nachschub zu schaffen und die hoff- Sächsische Zeitung Rühe, „habe ich wohl oft genug bewie- nungslos veralteten, personell überbe- „Stillhalten, alle müssen Federn lassen!“ sen.“

übrigen wurde in unserer bisheri- gen Personalführungs- und Ein- Kompliment vom Zivi stellungspraxis die Verwendung anerkannter Kriegsdienstverwei- Mit seiner Personalpolitik ärgert Volker Rühe Beamte und Militärs gerer grundsätzlich nicht zugelas- sen.“ olker Rühe ist für seinen rup- Alte Ressentiments brachen auf: Etliche Wehrpolitiker der Alt- pigen Umgang mit Untergebe- Rühes neuer „Persönlicher“, Paul Parteien beschimpften den unge- Vnen berüchtigt. Leiter des Mi- Nachtsheim, gehört gerade mal dienten Wehrminister. Rühe, nör- nisterbüros zu sein gilt als beson- seit eineinhalb Jahren dem Öffent- gelte etwa der Liberale Werner ders hart. Das Kürzel LMB, so lichen Dienst als Rühes Reden- Hoyer, mangele es an „Gespür für der gängige Spott in der Chefeta- schreiber an; der Seiteneinsteiger die Befindlichkeit“ der militäri- ge des Verteidigungsministeriums, ist erst 36. Ende der siebziger Jah- schen Führung. steht für „Leiden im Büro“. re hatte er obendrein das verfas- „Volker Rüpel“ (CDU-Frakti- Alteingesessene Beamte haben sungsmäßige Recht auf Kriegs- onsspott) ließ sich nicht beirren es schwer. Nach weniger als sechs dienstverweigerung in Anspruch und verteidigte seinen Zivi. Monaten mußte jetzt der Ministe- genommen und als Kranken- Nachtsheim habe „die meisten“ rialrat Arnd Hoepffner, 52, den betreuer Zivildienst geleistet. Ei- der Reden geschrieben, die der LMB-Posten räumen. Rühe ne Schandtat, eine Zumutung für Minister bei feierlichen Rekruten- schickte ihn in die dröge Zahlen- Militärs und Wehrbürokraten, gelöbnissen gehalten habe. Der welt der Haushaltsabteilung zu- die sich gar nicht beruhigen konn- bisherige Vorgesetzte, Vizeadmiral rück. ten. Ulrich Weisser, empfehle ihn als Die Beamtenlobby im Personal- „Der Papst stellt doch auch kei- „exzellenten Mann“. „Unmensch- rat, die streng auf Beförderung nen Atheisten ein“, polterte der lich“ sei es da, Nachtsheim eine nach dem Senioritätsprinzip ach- Personalratsvorsitzende Jürgen Entscheidung, „die er mit 18 ge- tet, sah murrend zu, wie Rühe sei- Sauereßig. Per Rundbrief an die troffen hat“, vorzuhalten, „bis er nen persönlichen Referenten Hein- Belegschaft hielt er Rühe Zitate beerdigt wird mit 80“. rich Rentmeister, 31, zum Hoepff- aus dessen neuem Weißbuch vor: Nachtsheim betrachtet inzwi- ner-Nachfolger berief, anstatt im Die Wehrpflicht sei „konstitutives schen als „Fehler“, daß er lieber Reservoir langgedienter Bürokra- Element“ der Bundeswehr, „Teil Zivi als Rekrut sein wollte. Den ten zu fischen. Den Adlatus hatte der in Jahrzehnten gewachsenen Wirbel um seine Person versucht Rühe 1992 beim Wechsel vom Job demokratischen Verteidigungskul- er mit tapferer Gelassenheit zu be- des CDU-Generalsekretärs ins tur“. wältigen: „Ich blicke nach vorne, Verteidigungsministerium aus dem Mit der Berufung des „dienstal- nicht zurück.“ Konrad-Adenauer-Haus mitge- tersjungen“ Ex-Zivis, empörte sich Die Bundeswehr, so Rühes bracht. der Personalrat, werde womöglich Schlußwort, solle „froh sein“ und Einen wahren Aufschrei unter „ein Signal gesetzt, das der im es als „Kompliment“ begreifen, Beamten und Offizieren gab es Weißbuch dargestellten zukünfti- daß Nachtsheim seine Einstellung aber erst wegen der Nachfolge auf gen Entwicklung unserer Bundes- zu den Streitkräften inzwischen ge- dem Rentmeister-Posten. wehr zuwiderläuft“. Und: „Im wandelt habe: „Ich ändere nichts.“

28 DER SPIEGEL 13/1994 SPIEGEL-Gespräch „Den Finger in die Wunden“ Bundespräsidentenkandidat Roman Herzog über seine Chancen und die Rolle des Staatsoberhaupts

Roman Herzog ist Kandidat der Union für die Wahl des Bundespräsidenten am 23. Mai in Berlin. Ob Her- zog, 59, gewinnt, wird sich vermutlich erst im dritten Wahlgang entscheiden, da weder er noch die Mitbewer- ber Johannes Rau (SPD), Hil- degard Hamm-Brücher (FDP) und Jens Reich (parteilos) die in den ersten beiden Wahl- gängen erforderliche absolute Mehrheit erreichen dürften. Den Ausschlag in der Bundes- versammlung (CDU/CSU 621 Sitze, SPD 499, FDP 114, Bündnis 90/Grüne 39, PDS 33, Republikaner 9) könnten im dritten Wahlgang, wenn ei- ne relative Mehrheit genügt, die Freidemokraten geben. Sie haben sich für den Fall, daß ihre Kandidatin nach dem zweiten Wahlgang ausschei- det, noch nicht auf ein Votum für Herzog oder Rau festge- legt.

SPIEGEL: Herr Herzog, sind Sie beunru- men. Das Amt des Bundespräsidenten dicke Zigarre zu rauchen und zu überle- higt? In der FDP wachsen die Zweifel, ist ungeheuer wichtig – und es ist auch gen. ob die Liberalen weiter mit der Union reizvoll, weil es nicht definiert ist. Ich bin auch nicht unberechenbar. In ei- gemeinsame Sache machen und Sie zum Was ein Finanzminister macht, weiß je- ner so beweglichen Gesellschaft wie der Bundespräsidenten wählen sollen. der. Aber es gibt daneben Ämter, die unseren sehe ich gelegentlich neue Fra- Herzog: Ich sehe das Risiko. Die Wahl von ihrem Träger gestaltet werden müs- gen und Entwicklungen früher als ande- am 23. Mai – das habe ich von Anfang sen, bei denen man sich – übertrieben re und bin dann damit etwas früher als an gewußt – ist nicht gewonnen. Nichts gesagt – stets überlegen muß: Was ma- andere auf dem Markt. Deswegen gelte ist sicher, es wird interessant. Die FDP che ich nächste Woche? Das reizt mich, ich als unberechenbar. Das muß ich auf ist eine selbständige Partei. Ihre Wahl- gerade in einer Zeit, in der in der Bevöl- mich nehmen. Ich kann mit Kästchen – männer in der Bundesversammlung kerung und in den Parteien die Flügel liberal, konservativ – relativ wenig an- müssen sich genau überlegen, wen sie im Weltanschaulichen wie bei den wirt- fangen. wählen. Natürlich wäre es mir sehr lieb, schaftlichen Interessen immer mehr aus- SPIEGEL: Der frühere italienische wenn die Liberalen mich wählten. Ich einanderdriften. Ich will das Einende Staatspräsident Sandro Pertini sei für werde aber nicht gewissermaßen unter- betonen. Sie ein Vorbild, haben Sie gesagt. Er schwellig auf Stimmeneinkauf gehen. SPIEGEL: Was befähigt Sie dazu? Hel- ging mit den Politikern nicht zimperlich SPIEGEL: Sie sind als Präsident des Ver- mut Kohl hat über Sie bemerkt: Der ist um. fassungsgerichts ein mächtiger Mann. faul. CSU-Ministerpräsident Edmund Herzog: An Pertini hat mich immer fas- Warum wollen Sie Bundespräsident Stoiber hält Sie für unberechenbar libe- ziniert – das gebe ich zu, und das ist ja werden? ral. Der Sozialdemokrat Günter Ver- auch nichts Schlimmes –, daß er Proble- Herzog: Ich habe mich nicht beworben. heugen sagt, Sie seien ein verkappter me brennglasartig zusammengefaßt hat Ich hätte es aber für Feigheit gehalten, Reaktionär. und dann gelegentlich ein Donnerwetter wegen des Risikos, nicht gewählt zu Herzog: Das mit der Faulheit stimmt über die verantwortlichen Politiker er- werden, die Kandidatur nicht anzuneh- nicht. Ich kann meine Arbeit organisie- gehen ließ. ren, ich bringe einen Aktenberg schnel- SPIEGEL: Pertini war Liebling der Bür- Das Gespräch führten die Redakteure Dirk Koch ler vom Tisch als mancher andere. Das ger und ein Ärgernis für die Parteipoliti- und Rolf Lamprecht. gibt mir die Möglichkeit, auch mal eine ker. So wollen Sie werden?

DER SPIEGEL 13/1994 29 Herzog: Nein, ich will niemandes Lieb- petenz des Bundespräsidenten gezogen ling sein. hat? SPIEGEL: Auch nicht der der Bürger? Herzog: Wenn man Kompetenzen hat – Herzog: Nein. Populismus liegt mir und dazu gehört für mich das materielle fern. Prüfungsrecht des Bundespräsidenten –, SPIEGEL: Ein Kernsatz Pertinis war: dann kann man sich der Wahrnehmung „Ich werde nicht zulassen, daß die Poli- dieser Kompetenzen auch nicht entzie- tiker dem Ansehen des Staates scha- hen. den.“ Könnte der Satz auch von Ihnen SPIEGEL: Sind das jetzt schon Warnun- stammen? gen an eine neue Regierung nach einem Herzog: Er könnte auch von mir stam- Wechsel in Bonn? Wollen Sie konserva- men, wobei ich bezweifle, daß ein ein- tiver Leuchtturm in brausender rot-grü- zelner dieses wirklich verhindern kann. ner See sein? Er kann nur immer wieder den Finger Herzog: Hinsichtlich der verfassungs- in die Wunden legen. Abgeordneten- rechtlichen Fragen gibt es zwischen den und Minister-Besoldung, Konkurrenz großen politischen Lagern keine so be- von verschiedenen Pensions- oder Ge- deutenden Unterschiede. Die Verfas- haltsansprüchen: Da müssen endlich zumindest klare gesetzliche Regelun- gen her. Darum muß sich jeder, auch „Ich will niemandes der Bundespräsident, kümmern. Die Liebling sein – Populismus Diskussionen darüber hängen ja mit den völlig unklaren Regelungen zusam- liegt mir fern“ men. Wobei ich jetzt offenlasse, ob die aus gesetzgeberischem Unvermögen sung läßt dem Gesetzgeber viel Spiel- oder aus der Absicht entstanden sind, raum. Den muß man ihm lassen. Aber irgend etwas zu kaschieren. dort, wo eben die Verfassung aus- SPIEGEL: Vermuten Sie Komplizen- drücklich etwas verbietet, kann auch schaft? der Bundespräsident nichts anderes, Herzog: Nicht unbedingt. Es kann ein- als bei seiner Überzeugung zu bleiben. fach um die Frage gehen, ob sich Be- SPIEGEL: Auch der Bundespräsident amte gegen ihren Minister oder Mini- hat Spielräume. Er darf Täter begnadi- sterpräsidenten stellen. Ich erlebe das gen, die von der Justiz des Bundes ver- hier fast bei jeder Reisekostenabrech- urteilt worden sind. Richard von Weiz- nung. Da muß man aufpassen, daß ei- säcker hat eine Gnaden-Initiative zu- nem nicht aus lauter Entgegenkommen gunsten von RAF-Tätern gestartet. mehr zugesprochen wird, als einem bei Wollen Sie da anknüpfen? vorsichtiger Interpretation der einschlä- Herzog: Ich sehe keine Gründe, hier gigen Vorschriften zusteht. Es muß von vornherein zu sagen: Ich mache so Gesetze geben, die bis auf die letzte etwas nicht. Im übrigen hat Richard Stelle hinter dem Komma klar sind. von Weizsäcker in der Frage, wenn ich SPIEGEL: Klare Aussagen, was der das sagen darf, auch mit mir gespro- Bundespräsident darf, stammen von ei- chen. nem Grundgesetz-Kommentator na- SPIEGEL: Geht es etwas konkreter? mens Roman Herzog. Halten Sie an Herzog: Nein. Es ging um die seiner- Ihrer Auffassung fest, daß der Bundes- zeitigen Fälle. präsident alle Gesetze auf ihre Verfas- SPIEGEL: Die Position des Bundesprä- sungsmäßigkeit zu überprüfen hat und sidenten ist am stärksten, wenn die die Unterschrift verweigern kann? Regierung schwach ist, wenn es etwa Herzog: Daran halte ich fest. Auch des- um einen Minderheitskanzler geht. Sie wegen, weil der Bundespräsident Be- sagen, der Präsident müsse dann vor standteil der exekutiven Gewalt ist. Er die Öffentlichkeit gehen, er brauche darf nach Artikel 20 Absatz 3 Grund- „mit nichts hinter dem Berge zu hal- gesetz nichts tun, was er für verfas- ten“. Was heißt das? sungswidrig hält. Er muß allerdings Herzog: Meine Kritik am Grundgesetz den Verfassungsverstoß für evident hal- ist, daß der Bundespräsident, wenn es ten, wenn er die Unterschrift verwei- keinen Mehrheitskanzler gibt, die Ent- gert, und er darf nicht seine eigenen scheidung hat, ob er den Bundestag verfassungsrechtlichen Neigungen zu auflösen und Neuwahlen ausschreiben Tode reiten. lassen will oder ob er einen Minder- SPIEGEL: Die Regierung muß also stets heitskanzler ernennt. Mich stört dabei, die Risiken bedenken, die einer Unter- daß der Bundespräsident in diesem schriftsverweigerung des Präsidenten Fall immer auf den Kandidaten mit der folgen? relativ größten Mehrheit festgelegt sein Herzog: So ist es. Sie kann den Präsi- soll. Ich denke an die Situation vom denten zwar in Karlsruhe verklagen. Januar 1933. Aber ob ihr das politisch gut bekommt, SPIEGEL: Das klingt dramatisch. ist sehr die Frage. Herzog: Überhaupt nicht! Der damali- SPIEGEL: Sie rütteln jetzt schon am Kä- ge Reichspräsident hätte – wenn wir fig, den das Grundgesetz um die Kom- unser heutiges Grundgesetz zugrunde

30 DER SPIEGEL 13/1994 DEUTSCHLAND legen – den Reichstag tun haben. Was halten auflösen können, was in Sie von Rudolf Schar- der damaligen Situation ping? sicher nicht sehr viel ge- Herzog: Ich halte ihn bracht hätte. Die Alter- für einen interessanten native wäre gewesen, er Mann. Ich kenne ihn hätte Hitler als Reichs- seit über 20 Jahren. Im kanzler zuerst akzeptie- Augenblick habe ich ren und dann vorschla- nicht zu entscheiden, gen müssen. Und dieses wer von den in Frage halte ich für einen Man- kommenden Leuten der gel in den Vorschriften bessere ist. Aber ich ha- des Grundgesetzes über be zu Rudolf Scharping schwierige Regierungs- ein gutes Verhältnis. bildungen. SPIEGEL: Stimmen Sie SPIEGEL: Der Reichs- Günter Verheugen zu, präsident von Hinden- die Bundespräsidenten- burg wäre – vorausge- wahl ’94 sei keine Vor- setzt, daß das Grundge- entscheidung über eine setz gültig gewesen wä- künftige Koalition? re – Ihrer Meinung Herzog: Ja. Es werden nach durchaus in der wahrscheinlich einzel- Lage gewesen, Hitler ne Wahlmänner oder nicht als Kanzler vorzu- Wahlfrauen die Partei- schlagen? Der Bundes- grenzen in beiden Rich- präsident sollte seine tungen überschreiten. Kompetenz so weit aus- Auch deshalb erwarte dehnen? ich von der Präsidenten- Herzog: Wenn es darum wahl kein Signal für die geht, einen extremisti- Regierungsbildung im schen Kanzler zu ver- Herbst. hindern, dann ja. Aller- SPIEGEL: Sie verbitten dings nur in diesem es sich, von Republika- Fall, das ist klar. Das nern und PDS-Abge- Grundgesetz sagt ein- ordneten gewählt zu deutig, daß das Parla- werden. Sie wollen so ment den Kanzler be- Johannes Rau das Le- stimmt, und es verlangt ben schwermachen, der vom Bundespräsiden- Herzog Roman Bunte etwas Ähnliches nicht ten, zuvor einen Kanz- versprechen kann, weil ler vorzuschlagen. Es geht also nicht Präsident das Wahlverfahren nach einer er für seine Wahl wahrscheinlich PDS- darum, ob dem Bundespräsidenten eine ausreichenden Frist in Bewegung set- Stimmen braucht. Koalition angenehm ist oder nicht. zen. Herzog: Ich habe auf Herrn Rau über- SPIEGEL: Wenn es nach einer Bundes- SPIEGEL: Und wenn bei unklaren Ver- haupt nie abgezielt. tagswahl Stimmengleichheit, also ein hältnissen Neuwahlen der beste Ausweg SPIEGEL: Das sollen wir glauben? Patt gibt, darf der Bundespräsident nach wären, sollte sich der Bundestag selbst Herzog: Es ist Ihr gutes Recht, es nicht Ihrer Ansicht von sich aus eine ihm auflösen dürfen? zu glauben. Ich möchte klare Verhält- genehme Persönlichkeit vorschlagen, Herzog: Es sollte mit großen Vorsichts- nisse, meine Wahl weder Rechts- noch wenn die Kontrahenten sich nicht eini- maßregeln – also nicht mit einfacher Linksradikalen zu verdanken haben. gen können – der Bundespräsident als Mehrheit, sondern es müßte schon eine SPIEGEL: Es ist Ihnen egal, falls Rau die Kanzler-Macher? sehr breite Mehrheit geben – eine Wahl annimmt, obwohl die Stimmen Herzog: Nicht als Kanzler-Macher. Wer Selbstauflösung des Bundestags ermög- der PDS für ihn ausschlaggebend wä- Kanzler wird, bestimmt das Parlament. licht werden. ren? SPIEGEL: Sie haben sich trotz Bedenken Herzog: Ich würde das für einen Fehler für die Volkswahl des Bundespräsiden- halten. „Präsidentenwahl ten ausgesprochen – mit der Maßgabe, SPIEGEL: Wenn sich eindeutig heraus- kein Signal dann auch seine Rechte zu erweitern. stellen sollte, daß Sie am 23. Mai im Woran denken Sie? dritten Wahlgang nur mit Stimmen der für Regierungsbildung“ Herzog: Ich habe keine bestimmten Vor- Republikaner zum Bundespräsidenten stellungen. Ich bin sehr skeptisch gegen- gewählt worden sind, wollen Sie die Ich beziehe mich auf eine entsprechende über der Diskussion, den Bundespräsi- Wahl nicht annehmen. Die Bundestags- Situation unter Präsident Heinrich Lüb- denten um jeden Preis vom Volk wählen präsidentin müßte ein zweites Mal die ke. Der hat 1961 bei der Regierungsbil- zu lassen. Da müßte dann schon über Bundesversammlung einberufen. Wür- dung gesagt: Ich werde einen Personal- ein gemischtes parlamentarisch-präsi- den Sie dann erneut als Kandidat antre- vorschlag unterbreiten, falls die Koaliti- diales System – wie es etwa die Franzo- ten? onsverhandlungen noch ewig weiterge- sen oder die Amerikaner haben – ge- Herzog: Ich kann mir nicht vorstellen, hen sollten. Ich halte das, was Lübke sprochen werden. Mit Randverzierun- daß ich dann noch mal zur Verfügung damals angedroht hat, für machbar. gen ginge das nicht. stünde. Wenn die Fraktionen keinen Mehrheits- SPIEGEL: Als Bundespräsident könnten SPIEGEL: Herr Herzog, wir danken Ih- kanzler vorschlagen können, muß der Sie es bald mit einem SPD-Kanzler zu nen für dieses Gespräch. Y

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Marseiller Hauptbahnhof 1983 (vier Der Beistand für Carlos bringt dem Terrorismus Tote) führt, ist auch der Drahtzieher Botschaftsrat Chritah jetzt eine Ankla- eines Anschlags auf das französische ge wegen Beihilfe zum Mord und Her- Kulturzentrum „Maison de France“ in beiführung einer Sprengstoffexplosion Berlin am 25. August 1983. Das Bom- ein. Doch die rechtliche Aufarbeitung Hüftholster benmaterial, 24,38 Kilogramm Plastik- des blutigen Anschlags droht, über sprengstoff Nitropenta, hatte der Deut- zehn Jahre nach der Tat, in einem sche Johannes Weinrich, 46, rechte Wust von Agentenspielchen und diplo- rechtsseitig Hand von Carlos, nach Ost-Berlin ge- matischen Taktierereien unterzugehen. schafft. Syrien, jahrelang als Pate des inter- Ein Attentatsprozeß, gewürzt durch Und auch die grauen Herren der nationalen Terrorismus in Verruf, Agentenspielchen, fördert Neues Stasi waren mit von der Partie. Sie spielt eine Schlüsselrolle bei der ange- nahmen Weinrich die explosive Fracht strebten Friedenslösung im Nahen über den weltweit gesuchten Top- zwar zunächst ab, händigten sie ihm Osten. Vieldeutig äußerte der syrische Terroristen Carlos zutage. aber nach einigem Hin und Her wieder Außenminister Faruk el-Scharaa vor- aus. Verantwortlich: Stasi-Oberstleut- letzte Woche bei einem Besuch in nant Helmut Voigt, heute 51, wegen Bonn, die deutsch-syrischen Beziehun- er Diplomat aus Damaskus legte Beihilfe zum Mord vor einer Großen gen dürften durch den Berliner Prozeß keinen Wert auf Protokoll und Strafkammer des Berliner Landgerichts nicht getrübt werden. Dstandesgemäßen Empfang. Erster angeklagt. Vorige Woche forderte die Bundesaußenminister Klaus Kinkel Sekretär der Botschaft in Prag sei er, Staatsanwaltschaft viereinhalb Jahre (FDP) jedoch ließ den Syrer abblitzen: stapelte der Büroleiter des syrischen Haft, das Urteil wird noch vor Ostern Prozesse seien „im Rechtsstaat Vizepräsidenten beim Ausfüllen der erwartet. Deutschland ausschließlich Sache der Einreisekarte auf dem Budapester Chritah, damals Dritter Sekretär der Gerichte“. Flughafen tief. Als Zweck seiner Reise syrischen Botschaft in Ost-Berlin, half Wie und warum sich Chritah, der gab er an: „Tourismus.“ ebenfalls beim Terroranschlag. Wein- seit Herbst 1993 nur mit deutschem Daß er in Zimmer 215 des Forum- rich lagerte seinen Bombenstoff zu- Haftbefehl gesucht wurde, überhaupt Hotels keine Zeit für den Donaublick nächst in Chritahs Amtszimmer. Dort der Berliner Justiz stellte, ist noch haben würde, war Nabil Chritah, 44, befand sich schon seit Jahren ein De- nicht endgültig geklärt. Viel spricht da- jedoch klar. Dort erwartete ihn ein pot der Carlos-Gruppe – mit italieni- für, daß deutsche Dienste bei der Ak- Abgesandter des deutschen Bundes- schen Maschinenpistolen, elektrischen tion dilettierten und mit fragwürdigen nachrichtendienstes (BND) zum kon- Zündern und 6100 Schuß Parabellum- Fälschungsmanövern aufwarteten. spirativen Treff. Munition, Kaliber neun Millimeter. Ein arabischer BND-Mitarbeiter, so Mit Drohungen, er könne allerlei aus Der Diplomat war von höchster Stel- die plausibelste Version, hatte von dem wechselhaften Lebenslauf des Sy- le angewiesen worden, er solle der Südeuropa aus telefonisch Kontakt mit rers enthüllen, hatte der westdeutsche Carlos-Bande zu Diensten sein. Der Chritah aufgenommen. Vorrangiges In- Agent seinen Gesprächspartner nach syrische Luftwaffen-Geheimdienst hat- teresse des BND war es, das Umfeld Budapest genötigt. Dort unterzog der te auf dem Dienstweg über das Außen- von Carlos und Weinrich auszuspähen. BND-Mann, der auch noch einen Be- ministerium Damaskus angeordnet, Die beiden Terroristen genießen in amten des Wiesbadener Bundeskrimi- den Desperados solle „jede mögliche Damaskus Asyl. Seit Oktober 1992 nalamtes (BKA) mitgebracht hatte, Hilfe“ gewährt werden. fordert Bonn von Syrien mit der Ver- den Araber einem scharfen Verhör. Nach einem Nervenzusam- menbruch unterzeichnete Chri- tah ein Papier: „Ich erkläre, freiwillig nach Deutschland zu fliegen.“ Das Interesse der deutschen Behörden an dem syrischen Diplomaten ist verständlich. Chritah, der im Januar nach der Einreise in Berlin verhaftet wurde, ist Schlüsselfigur in ei- nem spektakulären Berliner Verfahren um internationalen Terrorismus. Und er kennt wie kaum ein anderer die herzli- chen Verbindungen seiner Re- gierung zu einem Mann, der weltweit gejagt wird: Ilich Ra- mı´rez Sa´nchez, genannt „Carlos“. Top-Terrorist Carlos, 44, dessen Blutspur vom Überfall auf die Wiener Opec-Konfe- renz 1975 (drei Tote) bis zum Bombenattentat auf den

* Mit spanischer Wand. Chritah-Zeugenstand im Gerichtssaal Berlin-Moabit*, Chritah-Diplomatenpaß: „Es hat

32 DER SPIEGEL 13/1994 Terrorist „Carlos“ (Kreis)*: In Damaskus bestens bekannt

pressen. Der will allerdings freiwillig, tig“ gestempeltes diplomatisches Visum „aus privaten Gründen“, in die ungari- (15305005) zum Besuch der Bundesre- sche Hauptstadt gereist sein. publik, das am 17. Mai 1993 abgelaufen Die stundenlange Einvernahme des war. „Mit einer Rasierklinge“, so schil- Syrers endete, berichtete ein Fahnder, dert ein Ermittler, sei im Hotelzimmer im Dissens zwischen Polizei und Dienst- die letzte Ziffer entfernt und durch eine „Carlos“-Komplize Weinrich 1986* mann. Der BKA-Beamte wollte den Be- Vier ersetzt worden. „Das ist mein Chef“ schuldigten nach Deutschland transfe- Die Kontrolleure am Budapester rieren, der BND-Agent plädierte für ei- Flughafen seien jedoch mißtrauisch ge- balnote 549 vergebens ihre Ausliefe- ne „professionelle“ Lösung: Chritah worden, deshalb habe das konspirative rung. sollte von Damaskus aus für die Deut- Trio den geplanten Flug nach Berlin zu- Nun sollte etwas branchenüblicher schen spionieren. nächst einmal abgebrochen. Erst jetzt Druck nachhelfen. Die deutschen Si- Erst als Chritah im Verhör schon „ein hätten sie sich, diesmal mit Hilfe des cherheitsbehörden hatten umfangreiche Wrack war“, so der Fahnder, sei eine örtlichen, für Drogenfahndung zustän- Unterlagen ausgewertet, die von der andere Idee gereift: Der Syrer solle digen BKA-Residenten und der Bot- Stasi über Chritah angelegt worden nach Deutschland reisen und sich dort schaft, ein ordentliches Visum besorgt, waren, darunter Details über womög- selber stellen. Ausstellungsdatum: 7. Januar 1994. lich kompromittierende Kontakte. Dafür allerdings fehlten erst mal Das BKA verweigert dazu jegliche Das Material genügte offenbar, die Papiere. Chritah hatte in seinem Auskunft. Das Auswärtige Amt in Bonn Chritah zum Treff nach Budapest zu Paß lediglich ein noch nicht „ungül- hingegen bestätigte am Freitag voriger Woche dem SPIEGEL, dem eine ent- sprechende Visum-Kopie vorliegt, daß der Sichtvermerk tatsächlich 1993 un- gültig geworden war. Den manipulier- ten Diplomatenpaß verwahrt derzeit die Berliner Justiz. Der Berliner Oberstaatsanwalt Det- lev Mehlis („Es hat ihn keiner in der Ki- ste hergeschleppt“) fürchtete, für Chri- tah und seine Familie in Damaskus be- stehe „akute Lebensgefahr“. Deshalb durfte der Kronzeuge im Prozeß zum Anschlag auf das Maison de France vor sieben Wochen nur verdeckt hinter ei- ner spanischen Wand aussagen, der Ge- richtssaal in Moabit glich einer Festung. Während auch Chritah anfangs um sein Leben bangte, ist nun, rätselhafter Orient, ein erstaunlicher Wandel einge- treten. Nach einem Besuch des syri- schen Botschafters in der Zelle will Kronzeuge Chritah über die Terror- Connection der Syrer nichts mehr wis- sen. Nun diktiert er Richtern und Staatsanwälten seine jüngste Einsicht:

* Links: geheimdienstliches Observationsfoto; rechts: mit Begleiterin in einem Ost-Berliner HO- Markt; Stasi-Observationsfoto Anfang der achtzi- ihn keiner in der Kiste hergeschleppt“ ger Jahre.

DER SPIEGEL 13/1994 33 DEUTSCHLAND

„Syrien bekämpft den Terrorismus.“ Carlos und Weinrich habe er jedenfalls Medien in Damaskus nie wiedergesehen. Das fügt sich in die offizielle Version, die der syrische Außenminister seinem Bonner Amtskollegen Kinkel vorletzte „Politik spürt ihre Krise“ Woche auftischte. Danach sollen die beiden Terroristen das Land schon Interview mit Wolfgang Hoffmann-Riem über Pressefreiheit längst verlassen haben – ins jemenitische Aden oder ins libysche Tripolis. Laut Ermittlungsakten des Bundes- Hoffmann-Riem, 54, ist Professor für SPIEGEL: Das Recht, Informanten zu kriminalamtes sind Carlos und sein öffentliches Recht und Verwaltungs- decken und Angaben über Quellen zu deutscher Kumpan in Damaskus jedoch wissenschaft an der Universität Ham- verweigern, ist ein hohes Rechtsgut. nach wie vor bestens bekannt – sogar burg und Leiter des medienwissen- Hoffmann-Riem: Der Schutz der Presse bei der deutschen Botschaft. schaftlichen Hans-Bredow-Instituts. vor Beschlagnahme und das Recht auf Weinrich, in der syrischen Hauptstadt Zeugnisverweigerung sind für eine De- Herr über einen Fuhrpark von acht SPIEGEL: Verstärkt brechen Ermittler mokratie unabweisbar. Dieser Schutz Mercedes-Limousinen, sucht diesen Do- Redaktionsgeheimnisse. Haben Sie darf zwar verfassungsrechtlich be- kumenten zufolge geradezu die Nähe zu Verständnis für das neuerdings ange- schränkt werden, das wäre aber rechts- den Landsleuten. Noch 1991 feierte er schwollene Interesse der Staatsanwälte politisch nicht klug. Sinnvoller wäre es, auf dem Oktoberfest der Lufthansa im am Material von Journalisten? das Privileg eher auszubauen. Sheraton und erschien beinahe täglich Hoffmann-Riem: Staatsanwaltschaft und SPIEGEL: Wie erklären Sie, daß sich im Pub des Hotels. Polizei sind an allem interessiert, was Durchsuchungen von Redaktionen Ein Mercedes-Großkundenbetreuer zur Aufklärung von Straftaten beitragen durch Staatsanwälte und Polizei quer lud Weinrich, der sich damals „Peter durch die Republik in Schmidt“ nannte, auch nach Hause ein – jüngster Zeit häufen? Diplomaten feierten mit. Ein Zeuge: Hoffmann-Riem: Politi- „Ich muß davon ausgehen, daß der ker und Funktions- Schmidt auch den deutschen Botschafts- träger sind nervös. Es angehörigen bestens bekannt ist.“ gab eine Reihe von Er- Lebemann Weinrich, der laut Zeu- mittlungspannen. Die genaussage ständig eine Waffe im Selbstverständlichkeit „Hüftholster rechtsseitig“ trägt, soll bei des Machtanspruchs Mercedes sogar den Kampfgefährten der etablierten Parteien Carlos präsentiert und mit den Worten ist zerbrochen, und es eingeführt haben: „Das ist mein Chef.“ weht uns ein Hauch Auch an der Theke der Sheraton-Bar von Korruption aus sichteten deutsche Geschäftsleute im- Bayern an. In solchen mer wieder die beiden Top-Terroristen. Zeiten muß es zum Im Sommer 1991 reisten zwei BKA- Konflikt zwischen Pres- Beamte nach Damaskus, um sich letzte se und Staatsgewalt Gewißheit zu verschaffen. Ein Merce- kommen. des-Mitarbeiter sollte Weinrichs Finger- SPIEGEL: Handeln die abdrücke besorgen. Staatsanwälte in vor- Der Coup gelang. Der Geschäfts- auseilendem Gehor- mann barg, „um meiner Staatsbürger- sam, um Politiker zu pflicht nachzukommen“, eine leere schützen? Schachtel Lucky Strike, die der Terro- Hoffmann-Riem: Moti- rist in den Papierkorb geworfen hatte. Medienrechtler Hoffmann-Riem ve kenne ich nicht; aber Die Fingerabdrücke von „Peter „Perversion und Aushöhlung“ die Aktionen reihen Schmidt“ beseitigten letzte Zweifel: Es sich ein in die Suche waren die von Johannes Weinrich. kann. Die Demokratie verträgt es aber nach Sündenböcken für Politikverdros- Auch bei der Berliner Polizei stapeln nicht, wenn sie an allem Material interes- senheit. Politiker, die nicht glaubwürdig sich die Zeugenaussagen über das Le- siert sein dürfen. Die Presse ist ein Wäch- wirken, reagieren sensibel auf die, die ben des Herrn Schmidt. Noch im Juli ter und bedarf des Schutzes. Mängel der Glaubwürdigkeit aufdecken vergangenen Jahres wurde Weinrich in SPIEGEL: Erkennen Sie bei Durchsu- oder gar den Zipfel lüften, der den Blick Damaskus gesichtet. Dort ging er unbe- chungen von Redaktionen und bei Be- auf Skandale lenken könnte. helligt seinem Tagewerk nach, obwohl schlagnahme von Archivmaterial eine SPIEGEL: Politiker wollen künftig ein Kinkels Außenamt die Syrer längst über neue Rechtsqualität? Recht zur umfassenden, sofortigen und den Inhalt der BKA-Berichte unterrich- Hoffmann-Riem: Ich kenne die Akten unkommentierten Gegendarstellung. tet hatte. nicht, aber ich habe den Eindruck, daß in Im sozialdemokratisch regierten Saar- Ankläger Mehlis ließ die Erkenntnis- manchen Fällen allzu eilfertig ein Ver- land wird ein entsprechendes Gesetz se dem Landgericht zugehen. In seinem dacht konstruiert wird. Sehr problema- vorbereitet, die CDU hat ähnliches auf Anschreiben kündigte er resigniert an, tisch finde ich den neuerdings vielfach er- ihrem Hamburger Bundesparteitag be- er werde sie zusätzlich, „zwecks Unter- hobenen Vorwurf des Verrats von schlossen. stützung des hiesigen Auslieferungser- Dienstgeheimnissen. Da kann doch jeder Hoffmann-Riem: Für den einfachen Bür- suchens bezüglich Weinrich“, dem Aus- im Grunde selber definieren, was ein Ge- ger ist es bisher zu kompliziert, zu einer wärtigen Amt zugänglich machen – heimnis ist und was nicht. Und der soge- berechtigten Gegendarstellung zu kom- „obwohl mir das Ergebnis vorgezeichnet nannte Verdacht auf falsche Verdächti- men. Das Recht sollte vereinfacht wer- zu sein scheint“. Y gung – na, da dreht sich alles im Kreise. den. Darauf aber zielen die Vorschläge

34 DER SPIEGEL 13/1994 von SPD und CDU eben nicht. Einige Hoffmann-Riem: Man schlägt die Me- Willkürliche Suche möchten ja sogar Gegendarstellungen dien, weil man sich nicht mehr selbst auf Meinungen und Kommentare erwei- wehren kann. Die Medien können doch Noch nie, klagt Wilhelm Sandmann, tern. Also, das führt zu Perversion und im Grunde nur verstärken, was an Un- Präsident des Bundesverbandes Aushöhlung. Sollten Politiker hoffen, zufriedenheit mit der Politik vorhanden Deutscher Zeitungsverleger, sei mit der Veränderung des Rechts auf Ge- ist. Die Politik spürt ihre Krise. Daß die „das Redaktionsgeheimnis in so kur- gendarstellung eine rote Karte gegen die Götter in der Götterdämmerungszeit zer Zeit so häufig und so willkürlich Beschreibung von Rotlicht- und anderen nicht souverän reagieren, das kann man verletzt“ worden wie dieses Jahr. Affären in die Hand zu bekommen, schon in der Oper studieren. Y Jüngster Fall: Am 18. März kreuzten dann wäre dies eine Selbsttäuschung. zwölf Ermittler bei der Ost-Berliner SPIEGEL: CDU- und SPD-Politiker Zeitung Junge Welt auf. Sie fahnde- möchten den Redaktionen das Recht auf Atomkraft ten nach einem 18-Seiten-Papier der die Kommentierung der Gegendarstel- Roten Armee Fraktion (RAF), das die lung nehmen. Junge Welt zuvor in Auszügen veröf- Hoffmann-Riem: Der sogenannte Re- fentlicht hatte. daktionsschwanz muß bleiben. Die re- Im Blindflug Einen Terror-Hintergrund hatte auch daktionelle Erwiderung auf tatsächliche die Durchsuchung des Büros von Angaben dient der besseren Meinungs- Öko-Experten haben beängstigende WDR-Mitarbeiter Wolfgang Land- bildung der Leser. Mängel am Reaktor Biblis graeber am 1. März. Landgraeber SPIEGEL: Die CDU will Betroffenen au- hatte zusammen mit zwei Kollegen ßerdem noch einen umfassenden Zugriff entdeckt. Er wird, weil Bonn es ver- in dem Buch „Das RAF-Phantom“ be- auf die Archive der Medien und die dort langt, trotzdem weiterbetrieben. zweifelt, daß die RAF hinter dem At- gespeicherten Personendaten ermögli- tentat auf den damaligen Chef der chen. er Zufall hätte krasser kaum sein Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, Hoffmann-Riem: Dies deutet auf Nervo- können. Während die hessischen stecke. In einer ARD-Sendung hatte sität bei den Politikern. Eine solche Ner- der TV-Mann den einstigen Kronzeu- DAbgeordneten nach einer hitzigen vosität ist das Problem der Parteien, Sicherheitsdebatte über das Kernkraft- gen Siegfried Nonne mit der Be- nicht der Medien. Die Öffnung der Zei- werk Biblis in die Landtagskantine hauptung präsentiert, er sei von den tungsarchive für jeden Betroffenen wür- strömten, ging Block A des Meilers vom Behörden zu Aussagen gepreßt wor- de die Recherche und damit die Wäch- Netz – automatische Schnellabschaltung. den. terfunktion der Medien im Kern treffen. Der älteste deutsche Reaktor mit mehr Weil sie nach Belegen für Beamten- SPIEGEL: Welche Folgen könnten aus ei- als 1000 Megawatt, seit 1974 in Betrieb, bestechung suchten, filzten am 12. ner fortgesetzten Schnüffelpraxis der produziert Störfälle derzeit in Serie. Mal Januar Ermittler die Redaktion des Staatsanwälte erwachsen? wird durch Kurzschluß in einer Ölpumpe Münchner Magazins Focus. Das Hoffmann-Riem: Die Politikverdrossen- die Wärmeabfuhr blockiert, mal brennt Blatt hatte zuvor über die Polizeiakti- heit würde eher zunehmen. Nicht alle eine der Hauptkühlmittelpumpen im Pri- on von Bad Kleinen berichtet und Medien und Journalisten werden sich märkreislauf, dann wird eine undichte sich auf Ermittlungen des Bundeskri- angesichts des harten Konkurrenzkamp- Stelle an einem Notstrommotor entdeckt minalamts bezogen. fes einschüchtern lassen. Wohl aber ein (siehe Grafik Seite 36). Beim Münchner Regionalstudio des Teil der Informanten, und zwar gerade Seit Mittwoch voriger Woche ist der TV-Senders RTL beschlagnahmten der, der keine zwielichtigen Ziele ver- „Pannenreaktor“ (SPD-Bundestagsab- am 2. März Beamte die Kassette ei- folgt. geordneter Michael Müller), der zuletzt nes Beitrages über den Neonazi Bela SPIEGEL: Manche Politiker meinen doch Ewald Althans. Der Rechtsradikale gerade, die Medien seien schuld an Poli- hatte sich beleidigt gefühlt und An- tikverdrossenheit. * Mit Kraftwerksleiter Klaus Distler. zeige erstattet. Der Gelderner Journalist Hermann- Josef Bianchi, der dem RTL-Magazin „Explosiv“ zuarbeitet, geht dem Ver- dacht nach, die Staatsanwaltschaft habe in einem Raubprozeß einen ehemaligen V-Mann mit einer Falschaussage auftreten lassen. Am 4. Februar wurde seine Wohnung durchsucht. Er soll den Kronzeugen, so der Vorwurf der Fahnder, zur Falschaussage angestiftet haben. Die Ermittlungen wurden ausge- dehnt auf den Verdacht „der fal- schen Verdächtigung“. Am 3. März durchsuchten Beamte die Stuttgarter Zeitung, die über Pan- nen bei der Aufklärung dubioser Be- ziehungen zwischen einem italieni- schen Gastronomen und einem CDU- Landtagspolitiker berichtet und aus einem Untersuchungsbericht zitiert hatte. Vorwurf: Beihilfe zum Geheim- nisverrat. Umweltminister Fischer (l.) am Kraftwerk Biblis*: Schwere Fehler im Handbuch

DER SPIEGEL 13/1994 35 DEUTSCHLAND nur ganze sechs Tage lang Strom lieferte, schon wieder Der Pannen-Meiler abgeschaltet. Diesmal wegen eines Lecks einer Probenah- Die Unfallserie im meleitung im Primärkreislauf, Kernkraftwerk Biblis A aus dem radioaktiv verseuch- (schematische Darstellung) Dampf- tes Wasser tropfte. erzeuger Die Pannenserie bringt Bun- desumweltminister Klaus Töp- fer (CDU) in Erklärungsnot. Steuerstäbe Nur weil er Druck gemacht Turbinen Sekundär- hatte, durfte der Reaktor nach kreislauf Druck- mehrmonatiger Revision, ob- halter wohl Sicherheitsauflagen nicht 3 3 Primär- erfüllt waren, Mitte März wie- 4 der angefahren werden. kreislauf Damit wischt Töpfer ein Kontrollraum Gutachten des Darmstädter Öko-Instituts vom Tisch, das beängstigende Sicherheitsmän- 1 Notstrom- gel schildert. Bei Störfällen diesel sind obendrein, so die bisher 2 unveröffentlichte Studie vom Reaktordruck- Februar, schwere Bedienungs- Rangierverteiler behälter (Kabelzentrum) Probe- fehler zu erwarten – die Be- nahmebox triebshandbücher sind mangel- haft. 1 4. März: Eine der vier Hauptkühlmittelpumpen energie nicht mehr abgeleitet werden. Die Der Zustand der Anlage des Primärkreislaufs hat Feuer gefangen. Erst Reaktorschnellabschaltung muß, um eine un- verstoße gegen grundlegende nach 42 Minuten kann der Brand gelöscht kontrollierte Überhitzung zu verhindern, die Anforderungen, meinen die werden. Steuerstäbe in den Reaktordruckbehälter versenken. Atomexperten in ihrer Analy- 2 12. März: Beim Probelauf eines Notstrom- se, die der hessische Umwelt- motors wird ein undichtes Kurbelgehäuse 4 23. März: Ein Störfall im Druckhaltesystem, minister Joschka Fischer entdeckt. das unmittelbar an den Primärkreislauf an- (Bündnis 90/Grüne) geordert schließt, zwingt erneut zur Stillegung: In einer 3 16. März: Nach dem Ausfall einer Ölpumpe nach außen führenden Probenahmeleitung ist hatte. Schwere Störfälle wür- im Turbinenbereich kann die erzeugte Wärme- ein Leck aufgetreten. den „teilweise nicht be- herrscht“. Danach ist der Re- aktor derzeit nicht gegen Erdbeben, ei- en. So soll bei einem Ausfall der Haupt- fährdung Dritter auf Dauer nicht mehr ne Wasserstoffexplosion nach einem und der Notspeisewasserversorgung ausgeschlossen“ werden. Kühlmittelverlust und einen folgenrei- Kühlwasser aus Ersatztanks zufließen, Die Frist lief Anfang März ab, die chen Brand im Rangierverteiler gesi- die im Freien stehen. Im Handbuch für meisten Auflagen wurden bisher nicht chert. Am Ende der Szenarien steht der dieses System aber, bemängelt das Öko- erfüllt. Heute wiegelt Töpfer ab, es gehe Super-GAU – die Kernschmelze. Institut, seien Bezeichnungen für die lediglich darum, die „Risikovorsorge“ Ein besonders heikler Schwachpunkt Schaltknöpfe vertauscht. Dies bedeute, noch zu verbessern. ist nach Feststellung der Darmstädter sagt ein hessischer Aufsichtsbeamter, Damit läuft Biblis bislang ohne we- Experten der Rangierverteiler unter daß die Reaktorfahrer im Notfall „nach sentliche Mängelreparaturen und oben- dem Kontrollraum, wo Tausende von einem Knopf suchen, den es dort gar drein mit fauler Genehmigung. Schon Drähten und Kabeln zusammenlaufen. nicht gibt“. 1981 hatte ein hessischer Atomaufseher Da es dort ungeachtet moderner Sicher- entdeckt, daß der Reaktorbetrieb er- heitsregeln keine getrennten Stränge laubt wurde, obwohl die vorgeschriebe- gibt, könnte bei einem Feuer alles „Gefährdung Dritter nen Nachweise zur Sicherheit vor Erd- gleichzeitig durchschmoren – das Kraft- auf Dauer nicht beben nicht vorlagen. Die fehlen, trotz werk wäre nicht mehr steuerbar. Der Anmahnung durch den TÜV, größten- Reaktor befände sich, so Minister Fi- mehr ausgeschlossen“ teils bis heute. scher, „plötzlich im Blindflug“. Mit seinen Weisungen, Biblis trotz Zu fürchten ist, daß die Piloten im Töpfer hält jedoch daran fest, daß für der Bedenken am Netz zu halten, hat Cockpit des Kraftwerks dann auch noch Biblis A noch nicht einmal ein „Gefah- Töpfer die atomrechtliche Verantwor- falsch reagieren würden: Das Betriebs- renverdacht“ bestehe. Eine Stillegung, tung für den Pannenreaktor übernom- handbuch, nach dem sich das Personal die Fischer bis zur Beseitigung der gröb- men. Der jüngste Störfall beschert ihm strengstens richten muß, enthält schwer- sten Sicherheitsmängel anstrebt, hält er ein neues Problem: Die undichte Rohr- wiegende Fehler. für „unzulässig“. leitung im radioaktiven Primärkreislauf Bei einem Ausfall der automatischen Dabei will der hessische Grüne nur ist aus Austenit-Stahl gefertigt, der an- Kühlsysteme, etwa nach einem Brand, ein Paket von Sicherheitsauflagen um- geblich gegen Versprödung gefeit ist. müßten die Reaktorfahrer die Pumpen setzen, das sein christdemokratischer Doch der früher hochgelobte Werk- per Hand wieder in Betrieb nehmen. Amtsvorgänger Karlheinz Weimar 1991 stoff, dem Material von Nirosta-Spülen Doch dies, stellten die Gutachter fest, geschnürt hatte – mit Töpfers Billigung. ähnlich, ist in Verruf geraten. Seit Au- sei im Betriebshandbuch überhaupt Die Beseitigung der Mängel, so Wei- gust 1992 liegt der Reaktor Brunsbüttel, „nicht vorgesehen“. mar damals, sei „Voraussetzung für den seit August 1993 auch der Meiler in Auch sonst kann die Mannschaft of- Weiterbetrieb der Anlage“. Bei Über- Krümmel still – wegen zahlreicher Risse fenbar nicht auf die Anleitung vertrau- schreitung der Frist könne „eine Ge- in Rohren aus Austenit. Y

36 DER SPIEGEL 13/1994 geordneten Peter Wetter und weitere ger. Dafür kostete eine Baseballmütze Lotto Mitarbeiter in der Glückszentrale. Das anstatt 10 Mark plötzlich 11,50 Mark. Gutachten der Wirtschaftsprüfer hatte Auch eine Vergleichsvereinbarung mit die Vorwürfe gegen die Wetter-Ge- der Designerin wurde verschwiegen. schäftsführung weitgehend bestätigt. Als „Inventurdifferenzen und Mehr- Mistgabel Für Mayer-Vorfelder ist dies alles ei- wertsteuer-Korrekturen“ erklärten die ne „Kampagne der Medien“, Kritiker Gutachter die Ungereimtheiten. Andere nennt er „Denunzianten“. Unstimmigkeiten entschuldigten sie als borgen Die beiden Versionen des Prüferbe- „Tippfehler“. richts unterscheiden sich an insgesamt Die Arroganz, mit der Mayer-Vorfel- Die Rechentricks des Finanzmini- elf Stellen bei Zahlen und im Text. Nach der immer wieder Vorwürfe gegen seine sters Gerhard Mayer-Vorfelder in einer Durchsicht des Gutachtens im Amtsführung abblockt, vergrätzt seit lan- Lotto-Aufsichtsrat am 8. März hatten gem auch viele Christdemokraten. der Lotto-Affäre gefährden die die Autoren der Expertise auf Betreiben Als etwa Anfang 1993 publik wurde, Stuttgarter schwarz-rote Koalition. des Aufsichtsratschefs Mayer-Vorfelder daß der Minister mit kostenlosen Leihwa- und der Lotto-Verantwortlichen den gen von Daimler-Benz mehrmals in Ur- Bericht abgeändert, ohne daß dies dezi- laub gefahren war, konterte er die Kritik urch Heftigkeit, so wußte schon diert im Aufsichtsratsprotokoll ver- hochfahrend: „Da war ich immer für den Goethe, ersetzt der Irrende, was merkt worden war. Mayer-Vorfelder Fußball unterwegs.“ Dihm an Wahrheit und an Kräften hatte den veränderten Bericht dann eine Und als Stuttgarter Steuerbeamte im fehlt. Woche später veröffentlicht. vergangenen Frühjahr prüften, ob der Heftig polterte der baden-württem- bergische Finanzminister, Fußballfunk- tionär und Lotto-Aufsichtsratsvorsit- zende Gerhard Mayer-Vorfelder, 61, am Montag voriger Woche im schwarz- roten Stuttgarter Kabinett. „Das ist doch Ehrabschneidung“, erregte sich der Christdemokrat über die Vorwürfe, die gegen ihn wegen des Lotto-Skan- dals erhoben werden. Wie der tief verwundete Held Tor- quato Tasso in Goethes Seelendrama sah er ringsum nur Feinde lauern: Sozi- aldemokraten hätten ihn verraten. Sie steckten hinter der seit Wochen schwe- lenden Affäre um Postenschacher, Prunk und Protz in der baden-württem- bergischen Toto-Lotto GmbH (SPIE- GEL 5 und 6/1994). Im Kabinett verlangte der Minister, die beiden SPD-Kolleginnen Helga So- linger (Sozial-Ressort) und Brigitte Unger-Soyka (Kunst-Ressort) sollten von ihren Beamten „dienstliche Erklä- rungen“ zum angeblichen Verrat von Parteifreunde Mayer-Vorfelder, Wetter: „Das ist doch Ehrabschneidung“ Dienstgeheimnissen einfordern. Der Grund: Der SPIEGEL hatte Die Buchprüfer haben nicht nur Lotto- Minister wegen einer spendierten Reise vergangene Woche berichtet, daß May- Werbegelder an den Bundesligisten VfB zu einer Geburtstagsparty nach Florida er-Vorfelder die Öffentlichkeit mit ei- Stuttgart (Präsident: Mayer-Vorfelder) (Wert: 5000 Mark) zur Schenkungssteu- nem frisierten Wirtschaftsprüferbericht nachträglich aus ihrem Werk entfernt, er herangezogen werden müsse, kanzel- über das Geschäftsgebaren der staatli- während sie den vergleichbaren Posten ten Mayer-Vorfelder ergebene Chefs chen Toto-Lotto GmbH massiv ge- beim Bundesligakonkurrenten Karlsru- die Beamten rüde ab. Als der Fall pu- täuscht hatte. Der Minister vermutete her SC unverändert stehenließen. Auch blik wurde, stellte der Präsident der die undichten Stellen in den Häusern bei den für Lotto-Chef Peter Wetter be- Stuttgarter Oberfinanzdirektion Straf- der beiden SPD-Frauen. sonders heiklen Vorwürfen besserten sie anzeige wegen „Verletzung des Dienst- Die Lotto-Affäre bringt die Koaliti- nach. geheimnisses“. on um den CDU-Regierungschef Er- Etwa bei dem Flop mit der Sportkol- Nun, so meinen selbst Parteifreunde win Teufel immer mehr in die Bre- lektion der Designerin Nicole Dürr, einer des erzkonservativen Christdemokra- douille. Das Koalitionsklima ist ge- Tochter des Bundesbahnchefs Heinz ten, sei es genug. Sie verhöhnen Mayer- spannt. Die Sozialdemokraten befürch- Dürr. Wetter hatte für die Lotto-Zentra- Vorfelder wegen des umgeschriebenen ten, mit in den Sumpf hineinzugeraten, le bei Nicole Dürr T-Shirts, Jogging- Gutachtens bereits als Mayer-Kujau – in wenn Teufel nicht bald politische und anzüge und Baseballmützen für rund 1,5 Anspielung auf den Stuttgarter Fälscher personelle Konsequenzen aus der Affä- Millionen Mark geordert. Die Lotto- der Hitler-Tagebücher, Konrad Kujau. re zieht. „Die Uhr tickt“, sagt der Verkaufsstellen blieben größtenteils auf Fürsorglich riet Landessprecher Mar- SPD-Fraktionsvorsitzende Ulrich Mau- der Ware sitzen. kus Schubert von der Jungen Union rer. Nach Beratungen mit Wetter korri- dem Ministerpräsidenten: „Teufel Seit Wochen ermitteln Staatsanwälte gierten die Gutachter das Desaster. Mal sollte sich von Stoiber eine Mistgabel schon gegen den Stuttgarter Lotto- verschwanden 200Jogginganzüge aus der borgen und in die Stuttgarter Blase ste- Chef und früheren CDU-Landtagsab- Tabelle, mal waren es 260 T-Shirts weni- chen.“ Y

DER SPIEGEL 13/1994 37 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Bundestag Höchster Rang Die Bundesregierung verweigert einem Parlamentsausschuß Hilfe und Akten.

er gemeinhin friedensbewegte Rechtsanwalt und SPD-MdB Otto DSchily sprach markige Worte: Es sei eine „Kriegserklärung der Regierung an das Parlament“, wenn der Finanzmi- nister einem Parlamentsgremium wei- terhin wichtige Akten vorenthalte. Theo Waigel weigert sich beharrlich, dem Un-

Finanzminister Waigel Akten unter Verschluß

tersuchungsausschuß, der die Arbeit der Treuhand überprüfen will, das angefor- derte Material auszuhändigen. Am Mittwoch vergangener Woche nahmen die Sozialdemokraten die Kriegserklärung an. Sie reichten in Karlsruhe Verfassungsklage gegen Bun- desregierung und Treuhand ein. Die Richter sollen Bonn zwingen, Vor- stands- und Verwaltungsratsprotokolle der Privatisierungsagentur herauszurük- ken. So soll endlich offengelegt werden, welche politischen Überlegungen zum Aufbau Ost hinter den oft undurchsich- tigen Anstaltsentscheidungen steckten. Schily: „Wir wollen wissen, wer welche Entscheidungen wie beeinflußt hat.“ Treuhand in Not: Ein Schuldenberg von 275 Milliarden Mark belastet die Bi- lanz der Berliner Anstalt, dazu hat sie allein durch kriminelle Machenschaften mindestens 300 Millionen Mark verlo- ren. Und die Opposition will partout un- tersuchen, ob Mitarbeiter der Treuhand dazu Beihilfe geleistet haben oder die

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Treuhand-Kontrolleure Friedrich, Schily: „Unhaltbare Position“

Bundesregierung Aufsicht und Kontrol- politisch unverdächtige Schily-Stellver- le vernachlässigte. treter Gerhard Friedrich (CSU) interve- Um unliebsame Fragen und Nachfor- nierte. In einem Schreiben an Kanzler- schungen im Untersuchungsausschuß amtsminister Friedrich Bohl (CDU) des Bundestages abzuwehren, bildeten drängte Friedrich Anfang Februar „auf die Berliner Privatisierer der DDR- eine baldige Änderung des Beschlusses Altlasten eigens einen „Task Force Un- der Bundesregierung“ und auf Heraus- tersuchungsausschuß“. Deren interne gabe der Verwaltungsratsprotokolle. „Chronologie“ belegt: Geblockt wird Er habe, begründet der CSU-Politi- auch wider besseres Wissen. ker, „noch keinen Juristen als Ge- Schon Anfang November urteilte eine sprächspartner im zuständigen Ressort Regierungsrunde, an der Spitze die und in der Treuhand gefunden, der per- Staatssekretäre Gert Haller und Joa- sönlich davon überzeugt ist, daß die Be- chim Grünewald aus Waigels Ministeri- gründung (Schutz der internen Willens- um, daß die Berliner Treuhandanstalt bildung, wie bei der Regierung) beim keine Sonderbehandlung verdiene: Sie Verfassungsgericht eine Chance hat“. sei keinesfalls, wie gewünscht, der Bun- Zudem habe er „wie andere Kollegen desregierung gleichzusetzen. Die hat als unserer Arbeitsgruppe“ in der CSU, Verfassungsorgan Anspruch auf beson- auch angesichts der SPD-Verfassungs- dere Vertraulichkeit. klage, „keine große Neigung, eine un- Die Treuhand sei Bundesanstalt öf- haltbare Position zu verteidigen“. fentlichen Rechts und könne „keinen Friedrich schrieb ausdrücklich „in Kernbereich exekutiver Eigenverant- meiner Eigenschaft als Stellvertretender wortung“ reklamieren, wie es juristisch Vorsitzender“ des Ausschusses – ohne heißt, der sich parlamentarischer Kon- darüber den Vorsitzenden Schily (SPD) trolle entziehe. Die „Pflicht zur Heraus- oder zumindest das Ausschußsekretariat gabe der Akten des Verwaltungsrates an in Kenntnis zu setzen. den Untersuchungsausschuß“ bestätig- Die konspirative CSU-Initiative hat te, neun Tage später, auch das Bonner guten Grund. Denn der scheinbar ein- Innenministerium. sichtige CSU-Parlamentarier schlägt der Die Treuhand jedoch beauftragte den Regierung, rechtzeitig vor den nächsten Berliner Rechtsprofessor Gunnar Folke Wahlen, unverhohlen ein anderes Ent- Schuppert als Gutachter, der ihr prompt lastungsmanöver vor. „Da die Zeit „genuine Regierungsaufgaben“ und ein schnell vergeht“, so Friedrich, „sollte Recht auf „Gewährleistung der Vertrau- die Bundesregierung schon heute über- lichkeit“ bescheinigte. legen, wann die ,prominenten Zeugen‘ Die Anstaltsleitung reklamierte flugs im Ausschuß auftreten sollen.“ „Aufgaben von höchstem staatspoliti- „Nach meinen Erfahrungen können schen Rang mit einzigartigem Maß völ- wir wegen dem Minderheitenrecht keine kerrechtlich und gesetzlich gesicherter Vernehmung verhindern“, schreibt Autonomie“ für sich und vertraute auf Friedrich, „wir haben lediglich die Rückendeckung in Bonn. Möglichkeit, die gleichzeitige Verneh- Die Bundesregierung behinderte den mung von Prominenz der SPD zu er- Ausschuß selbst dann noch, als der ihr zwingen.“ Y

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SPIEGEL-Streitgespräch „Die Kader regieren mit“ Gregor Gysi (PDS) und Werner Schulz (Bündnis 90/Die Grünen) über Ostalgie und Opposition

SPIEGEL: Die PDS hofft, daß sie im Ok- fünfte kommunistische Aufguß mit ei- tober wieder in den Bundestag einrük- Linke Opposition ner sozialdemokratischen Sättigungsbei- ken wird, als Erbe der DDR. Sind die lage und Ökodressing obendrauf. Die Bürgerrechtler abgehängt, Herr Schulz? und Anwalt der Schwachen will die Maus, euer Wahlmaskottchen, steht da- Schulz: Abgehängt sind wir nicht. Aber PDS im vereinten Deutschland sein, für, was ihr an Ideen gemaust habt. Sag die PDS nutzt die Enttäuschung nach meint Gregor Gysi, 46. Der Bürger- mir einen einzigen originären Gedanken den leeren Versprechungen des Kanz- rechtler Werner Schulz, 44, wirft der – außer der Selbsterhaltung – der aus lers skrupellos aus. Sie holt etliche Leu- SED-Nachfolgepartei Heuchelei vor: eurer Partei kommt. te dort ab, wo sie im Herbst 1990 ste- „Ihr spaltet Ostund West, wenn ihr nur Gysi: Den gibt’s natürlich. Aber es ist hengeblieben sind, nämlich bei der Illu- den berechtigten Ärger verstärkt.“An- auch keine Schande, gute Gedanken an- sion, daß man so üppig wie im Westen walt Gysi und Ingenieur Schulz wur- derer aufzugreifen. Wir halten eine konsumieren und im sozialistischen den 1990 in die DDR-Volkskammer weltweite ökologische Umgestaltung für Schlendrian weiterarbeiten kann. gewählt, beide sitzen jetzt im Bun- erforderlich. Wir meinen aber, daß wir Gysi: Die Illusion vom sozialistischen destag. Gysi ist Vorsitzender der PDS- diese Umgestaltung nur dann hinbe- Schlendrian stimmt schon deshalb nicht, Bundestagsgruppe, Schulz Parla- kommen, wenn weltweit auch die sozia- weil die meisten gar keine Arbeit haben. mentarischer Geschäftsführer von le Frage gelöst wird. Wir wenden uns Schulz: Man glaubt, daß die Arbeit ir- Bündnis 90/Die Grünen. gegen die führenden Industriestaaten, gendwie von oben gebracht wird. Diese die den Nord-Süd-Konflikt militärisch Versorgungsmentalität bedient ihr. beherrschen wollen. Und es geht uns um Gysi: Wir sprechen reale Benachteili- cher Anwalt. Du müßtest doch eigent- die Frage: Wie kann die Integration der gungen an. Und wir sind nicht bereit, lich hier im Bundestag mitbekommen: Ostdeutschen in diese gesamtdeutsche die Regierung aus ihrer Verantwortung Was ihr den Leuten einredet, könnt ihr Gesellschaft erfolgen? zu entlassen, etwas gegen die Massenar- überhaupt nicht erfüllen. Schulz: Jetzt tritt der Retter der Partei- beitslosigkeit zu tun. Die meisten Ar- Gysi: Dir müßte wenigstens auffallen, kasse und Mitgliederkartei als Retter beitslosen können sich nicht selbst Ar- daß du Argumente ins Feld führst, die der Menschheit auf. In Wirklichkeit beit organisieren. die SPD vor Jahren gegen die Grünen spaltet ihr Ost und West, wenn ihr nur Schulz: Ihr wollt ein Anwalt der Schwa- benutzt hat. Du erteilst dem Sinn von den berechtigten Ärger verstärkt. Für chen sein, aber die PDS ist ein schwa- Opposition eine generelle Absage. eure Mitglieder organisiert ihr kollekti- Schulz: Im Gegenteil, die PDS hat nicht ven Freispruch. Die Schuld wird einem Das Streitgespräch moderierten die Redakteure als Opposition, sondern nur als Traditi- System zugeschoben, dem Zentralkomi- Petra Bornhöft und Paul Lersch. onsklub eine Perspektive. Sie ist der tee, dem Politbüro, Honecker und sei-

Gysi: „Ich bin als Retter der Menschheit ungeeignet“

Schulz: „Die PDS hat nur als Traditionsklub eine Perspektive“

DER SPIEGEL 13/1994 45 Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND ner Clique. Diese „Ostalgysi“ ist ein Be- Gysi: Durchaus möglich. Immerhin sind ne Nomenklatur-Kader angesehen. Er leg, daß ihr mit eurer eigenen Vergan- nur etwa fünf Prozent der früheren hat die Treuhand vom Keller bis zum genheit nicht fertig geworden seid. SED-Mitglieder in der PDS geblieben. Boden mit Leuten vollgestopft, die Gysi: Falsch, Nostalgie organisieren die, Aber für dich gelten offenbar nur dieje- nicht in der Lage waren, Betriebe in die die die DDR schwarz in schwarz malen. nigen als glaubhaft, die den Bürger- Marktwirtschaft überzuführen. Und Ostalgie spricht positiv für wach- rechtsgruppen beigetreten sind. Gysi: Aber diejenigen, die dann drange- sendes Selbstbewußtsein der Ostdeut- Schulz: 5 Prozent SED- sind immerhin kommen sind, waren dazu in der Lage? schen. Aber mir ist weder gelungen, die gleich 90 Prozent PDS-Mitglieder. Dar- Schulz: Mit denen haben die Wende- Parteikasse noch die Mitgliederkartei zu um versteht ihr euch nach wie vor als Funktionäre schnell gemeinsame Sache retten. Ich bin auch als Retter der Staatspartei. Euer Verfassungsentwurf gemacht. Ich finde ja wie du, daß dieses Menschheit ungeeignet. beginnt mit der Definition des Staates. Experiment der Wirtschaftsanpassung Schulz: Ihr bedient doch das Schwarz- Erst dann kommen die Bürgerrechte. schiefgelaufen ist. Ihr aber macht glau- maler-Klischee, daß der Osten kolonia- Gysi: Deine Kritik ist beliebig: Mal sind ben, daß dieser Staat wie die DDR-Be- lisiert, plattgemacht und entindustriali- wir sinnlose Opposition, mal Staatspar- schäftigungsgesellschaft ausreichend vie- siert worden ist. tei. Der programmatische Ansatz der leArbeitsplätze nach Belieben zur Verfü- Gysi: Ist das alles falsch? PDS heißt Emanzipation des einzelnen gung stellen kann. Schulz: Es ist nur die halbe Wahrheit. und Dezentralisierung der Macht. Inso- Gysi: Er kann wesentlich mehr tun, und Viele waren im ersten Freudentaumel fern nehmen wir einen wichtigen Ge- durch angeblich verdeckte Arbeitslosig- gar nicht ansprechbar, als wir sagten: So auf die schnelle geht das Schulz: „Akzeptierst nicht mit der Wirt- schafts- und Währungs- du überhaupt union. diese Gesellschaft?“ Gysi: Wir waren noch deutlicher, nur sind wir die letzten, die den Leuten vorwerfen dür- fen, sie hätten sich irre- führen lassen. Wir wis- sen, daß wir aufgrund der Politik der SED ei- ne Mitverantwortung tragen. Für die Mitglie- der unserer Partei aber istes ein großes psycho- Gysi: „Es gibt für mich logisches Problem, daß viele von ihnen keine nach wie vor gute Gründe, Chance bekommen, in antikapitalistisch zu sein“ dieser Gesellschaft an- zukommen. Schulz: Vielleicht ermuntert ihreure Mit- danken aus dem Kommunistischen Ma- keit in der DDR wurde viel Arbeit erle- glieder auch, sich nicht auf die neue Lage nifest auf: Die Freiheit des einzelnen soll digt, die heute brachliegt. einzulassen. Akzeptierst du überhaupt Voraussetzung der Freiheit aller sein – SPIEGEL: Der Sozialismus ist eigentlich diese Gesellschaft? nicht umgekehrt, wie es die SED ver- ganz gut, wurde in der DDR nur misera- Gysi: Ich akzeptiere das Mehr an politi- fälscht hatte. Diese Grundzüge finden bel umgesetzt, Herr Gysi? scher Freiheit, an Rechtsstaatlichkeit sich auch in unserem Ingolstädter Mani- Gysi: Der Sozialismus ist an strukturellen und an demokratischen Möglichkeiten, fest. Fehlern gescheitert: Mangel an Demo- zum Beispiel für die Opposition, und Schulz: Da führt ihr eine Art DDR- kratie, Mangel an Ökologie und Mangel auch die höhere Effektivität. Gleichzeitig Volkskammer als Clou der Erneuerung an Effizienz. sage ich: Ostdeutsche haben auch wichti- ein. Schulz: Der Sozialismus a` laDDR istvor ge Rechte verloren, und es gibt in dieser Gysi: Eine ostdeutsche Kammer würde allem an seinem Menschenbild geschei- Gesellschaft noch vieles grundsätzlich zu helfen, Interessen originär zu artikulie- tert, weil er Selbstbestimmung, Kritik verändern. Sie produziert grobe soziale ren. Die Mechanismen der Marktwirt- und Freiheit unterdrückt. Ihr reitet jetzt Ungerechtigkeit. Sie ist den weltweiten schaft lehnen wir keineswegs ab, wohl auf der Masche: Es gab niedrige Mieten, sozialen, ökologischen und kulturellen aber die radikale Durchsetzung. Es gibt jeder hatte Arbeit, die Straßen waren si- Herausforderungen nicht gewachsen. Es fünf Bereiche, die sich marktwirtschaft- cher, es gab den Kulturgroschen und vie- gibt für mich also nach wie vor gute Grün- lich gar nicht sozial gerecht und ökolo- les andere. Doch viele waren bevormun- de, antikapitalistisch zu sein. gisch organisieren lassen: Kunst und det, tragen noch heute an den Nachteilen Schulz: Offenbar seid ihr 1989 im antika- Kultur, Bildung, Gesundheitswesen, und finden sich schwer zurecht. pitalistischen Kampf nur unterbrochen Wohnen und Nahverkehr. Es ist ein star- Gysi: Die DDR-Gesellschaft hatte auch worden. Seitdem sehe ich weniger eine kes Stück zu sagen, der Staat organisiert einiges hervorgebracht, worüber es Entwicklung, es formiert sich vielmehr nur das marktwirtschaftlich Mögliche. sich gelohnt hätte, länger nachzuden- eine neue postkommunistische Partei. Und wenn es dabei sechs Millionen Ar- ken. Gysi: Ich finde es unerträglich, wie du ei- beitslose gibt: Pech gehabt! SPIEGEL: Der Kapitalismus hat nicht ge- ner riesigen Gruppe von Menschen die Schulz: Das sagen wir doch gar nicht. siegt, meint Gysi, er ist nur übriggeblie- Änderungsfähigkeit absprichst. Wie das allerdings aussieht, wenn ihr or- ben. Ist da was dran, Herr Schulz? Schulz: Die sind plötzlich alle große Pazi- ganisiert, haben wir erlebt: Euer Ehren- Schulz: Der Kapitalismus hat sich zumin- fisten, Ökologen und emanzipatorische vorsitzender Modrow hat die Treuhand dest als überlebensfähig erwiesen. Und Kämpfer? als eine Art Auffanggesellschaft für sei- der Sozialismus ist nicht besiegt worden,

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er ist wie eine Neubauplattensiedlung, in Gruppe im Bundestag hat sich als erste der die Armierung durchgerostet ist, in überprüfen lassen. sich zusammengebrochen. Schulz: Ich würde euch den Willen zur Gysi: Du steckst wirklich voller Kli- Erneuerung abnehmen, wenn ihr die schees. Aber wahr ist: Der Sozialismus SED aufgelöst oder euch wenigstens dar- hat die Emanzipation des Menschen an versucht hättet. nicht erreicht. Gysi: Die SED – auch ich – hätte späte- Schulz: Das ist euch aufgefallen, als das stens seit 1985 mehr tun müssen. Da wur- ganze System weg war. Bis dahin habt ihr den wir von Gorbatschow sozusagen frei- es gestützt und fleißig mitgemacht. gegeben. Bis dahin aber hätte die Sowjet- Gysi: Wir haben uns unterschiedlich ver- union eine eigenständige Entwicklung halten. Wir haben uns angepaßt und auch der DDR nicht zugelassen. Wenn wir Kritik geübt. Die hat zugegebenermaßen 1985 mit Reformen begonnen hätten, wenig bewirkt. Ich kenne Bürgerbeweg- hätte es vielleicht sogar die Chance für ei- te, deren Biographie sich davon gar nicht nen dritten Weg gegeben. so sehr unterscheidet. SPIEGEL: Gibt es links von SPD und Grü- SPIEGEL: Auch die Zeit der selbstgerech- nen noch einen Platz für die PDS? ten Bürgerrechtler sei inzwischen vorbei, Schulz: Die PDS ist sowenig eine linke meint Peter-Michael Diestel, einst CDU- Partei wie die SED. Innenminister der DDR. Gysi: Ich meine, daß es gesellschaftspoli- Schulz: Sicher sind einige von uns zu sehr tisch für die Bundesrepublik wichtig ist, darauf fixiert aufzudecken, was in der das Spektrum zu erweitern. Wir sollten Vergangenheit war. Aber ich möchte, endlich so europäisch wie andere Staaten daß wirherausfinden, warum wirsolange werden, etwa Italien, Spanien oder stillgehalten haben. Warum so viele zu- Frankreich, wo links von der Sozialde- schauten, wie alles zu Bruch ging, wie ih- mokratie eine alternative Kraft existiert. re Kinder das Land verließen. Denunzi- Schulz: In der Bundesrepublik besteht anten wie euer Wahlkampfleiter Andre´ kein Mangel an Alternativen, sondern Brie sollten sich schon ihre Mitschuld vor ein Reformstau. Im Endeffekt haltet ihr Augen führen, statt ihre Unschuld zu be- die Union an der Macht. Wenn über- haupten: nichts gewußt, nichts genom- haupt die Chance für eine neue Politik men, niemandem geschadet. besteht, dann geht die von Rot-Grün aus. Gysi: Du verachtest offenbar die große Gysi: Du denkst offenbar, die Wähler der Mehrheit der Ostdeutschen. PDS würden alle SPD oder euch wählen, Schulz: Die SED hat die Menschen ver- wenn wir nicht anträten. Das halte ich für achtet. eine Illusion. Das eigentlich Tragische Gysi: Ich kenne im übrigen nur wenige, ist: Es gibt nicht das gesellschaftliche Kli- die sich öfter als Andre´ Brie Diskussio- ma für Rot-Grün, mit oder ohne PDS. nen über seine Biographie und Akte ge- Schulz: So redest du dich raus. Wenn stellt haben, und er arbeitete imsensiblen dann die Große Koalition kommt, habt Bereich der Verteidigungspolitik. ihr wieder mal keine Schuld. Schulz: Auch du bist für mich ein sympto- Gysi: Haben wirauch nicht. Es istdoch lo- matischer Fall. Man darf ja nicht behaup- gisch, daß eine rosa-grüne Koalition an ten, du seist IM gewesen. Du hast alle uns nicht scheitern würde. Selbstver- Verfahren gewonnen. Aber im Grunde ständlich würden wir keinen CDU-Kanz- genommen bleibt alles ungeklärt. Es in- ler wählen. Aber wir könnten den Kanz- teressiert dich offenbar auch gar nicht, lerkandidaten der SPD wählen, egal ob daß aus deiner Anwaltskanzlei Informa- er uns gefällt oder nicht, und auch den tionen brühwarm an die Staatssicherheit Haushalt bestätigen, damit ihr regieren gegangen sind. könnt. Bei Gesetzen müßtet ihr euch die Gysi: Woher weißt du eigentlich, daß ich Mehrheiten suchen. mich für die Stasi-Quelle in meinem Büro Schulz: Ein rot-grünes Bündnis, abhän- nicht interessiere? Es tut mir ja leid für gig von der PDS, wird es nicht geben. dich, daß ich dein Vorurteil nicht bestäti- SPIEGEL: Und wenn die Alternative nur gen kann. Aber ich war nun mal kein IM. die Große Koalition ist? Schulz: Dann erzähl doch mal, wasdu un- Schulz: Rot-Rot-Grün, da würden man- ternimmst, um aufzuklären, wer denn che nur noch Rot sehen. Fünf Jahre nach dieser IM „Notar“ in deiner Kanzlei war. dem Zusammenbruch der DDR hätten Gysi: Ich bin nicht die Gauck-Behörde. die Kader, die dieses System mitgetragen Und solange aus einem schweren Ver- haben, plötzlich eine Verantwortung für dacht nicht Gewißheit geworden ist, wer- Gesamtdeutschland, das sie im Kern be- de ich niemanden öffentlich beschuldi- kämpfen. Das wäre absurd. gen, obwohl es jeglichen Verdacht von Gysi: Die Kader, die in der DDR Verant- mir nehmen würde. wortung getragen haben, regieren schon Schulz: Bis genügend Gras darüber ge- jetzt mit – über die Mitglieder aus frühe- wachsen ist. ren Blockparteien. Gysi: Das wirst du schon verhindern. Vie- Schulz: Gerade deswegen sind Unbela- le PDS-Mitglieder gehen offener und stete aus Ost und West gefragt. ehrlicher mit ihrer Biographie um, als das SPIEGEL: Herr Gysi, Herr Schulz, wir in anderen Parteien üblich ist. Unsere danken Ihnen für dieses Gespräch. Y

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Europa Geld zurück Den reichen Deutschen wird die EU zu teuer – Finanzexperten hoffen auf einen Armutsrabatt.

er Anlaß für den Besuch deutscher Länderchefs Mitte März in Brüssel Dwar bedeutsam genug. Immerhin konstituierte sich der „Ausschuß der Re- gionen der Europäischen Union“, jenes Gremium, das als dritte Kammer in Eu- ropa einmal eine ähnliche Rolle spielen soll wie der Bundesrat in Deutschland. Doch das Gründungsmitglied auf Platz 348 des Plenarsaals im neuen Brüs- seler Parlamentsgebäude Espace Le´o- pold hörte sich nicht einmal die Eröff- nungsrede bis zum Schluß an. Der Mini- sterpräsident von Bayern hatte Wichti- geres vor. Europapolitiker Stoiber: Beschwerde vom Zahlmeister Während der Luxemburger Stadtrat Le´on Bollendorff über die einmalige Wahlkampf der CSU paßt, beschwert tragsrabatt abhängig machte, wurden ihr Chance des EU-Regionalausschusses sich über die Belastungen der Deut- zwei Drittel der eigentlich fälligen Netto- philosophierte, Europa den Bürgern nä- schen. Er bekommt Unterstützung von Belastung erlassen. Der Betrag – immer- herzubringen, debattierte Edmund Stoi- SPD und FDP. hin inzwischen rund sechs Milliarden ber (CSU) lieber über sein Lieblingsthe- Helmut Kohl habe es in seiner Euro- Mark – wurde anderen Netto-Zahlern pabegeisterung versäumt, das nach der aufgebürdet. Den größten Teil, knapp Wiedervereinigung auf einen Mittel- ein Drittel, zahlt seither Bonn. Weite Spanne platz zurückgefallene Deutschland zu Ähnlich ging es in den achtziger Jah- Bruttoinlandsprodukt pro Kopf 1993 entlasten, wirft die SPD-Finanzexpertin ren, als die Gemeinschaft im Streit über Index: Durchschnitt in der EU=100 Ingrid Matthäus-Maier dem Bundes- die Finanzen auseinanderzubrechen kanzler vor. Der wirtschaftspolitische drohte. Kanzler Kohl stimmte großzügig 1 Luxemburg 129,8 Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, einer Verdopplung der deutschen Zah- Otto Graf Lambsdorff, entdeckte gar lungen in den sogenannten Strukturfonds 2 Frankreich 111,9 seine soziale Seite. Es sei nicht hin- zu – Gelder, die zum größten Teil in die 3 Dänemark 107,5 nehmbar, in Deutschland Arbeitslosen- ärmeren Mitgliedsländer fließen. geld zu kürzen, meint der Graf, wäh- Die jüngste Umverteilung zu Lasten 4 Belgien 106,2 rend die Zahlungen an die EU ständig des Netto-Zahlers Deutschland fand auf 5 Italien 104,0 stiegen. dem EU-Gipfel 1992 in Edinburgh statt. Die Deutschen als tumbe, ausgebeu- Wieder einmal galt es, Europa zu retten. 6 Niederlande 102,6 tete Zahlmeister Europas – das Thema Angeführt von den Spaniern, machten 7 Deutschland 101,7 ist seit langem bei deutschen Politikern die Ärmsten der Gemeinschaft ihre Zu- 8 Großbritannien 96,2 zu Hause im Wahlkampf beliebt. Doch stimmung zum Maastricht-Vertrag und diesmal haben die Klagen einen realen zur Erweiterung von der großzügigen 9 Spanien 77,2 Hintergrund. Dotierung eines Kohäsionsfonds abhän- 10 Irland 71,6 Seit Bestehen der Europäischen Ge- gig, eines Topfes, aus dem ausschließlich meinschaft trägt die Bundesrepublik bei sie bedient werden. 11 Portugal 58,1 weitem den größten Anteil der Kosten. Doch spätestens in Edinburgh hatte 12 Griechenland 47,8 Das ließ sich vertreten. Immerhin führ- die Umverteilung auf Kosten der Deut- ten die Deutschen – vom Sonderfall des schen den Bezug zur Leistungsfähigkeit Bankenkleinstaates Luxemburg einmal verloren. Denn die Skala von Arm und ma: die seiner Ansicht nach überhöhten abgesehen – die Wohlstandsskala an. Ih- Reich hat sich deutlich verschoben. deutschen Zahlungen in die Brüsseler ren Reichtum verdankten sie nicht zu- Noch 1989 rangierten die Westdeut- EU-Kasse. letzt den Gewinnen, die sie im Handel schen mit einem Brutto-Inlandsprodukt Allein Bayern berappe inzwischen 6,3 mit den anderen Europäern einstrichen. pro Kopf von 117,6 Prozent des Durch- Milliarden Mark jährlich, klagte Stoiber Wenn es darum ging, wieder einmal schnitts nach Luxemburg an der Spitze. laut, und das bei sinkenden Einnahmen. eine Krise der Gemeinschaft zu über- 1993, als Gesamtdeutsche, waren sie mit „Dieses Thema“, so der Bayer in Brüs- winden, dann waren stets die reichen 101,7 Prozent auf den siebten Platz zu- sel, „steht 1994 auf der europäischen Deutschen mit großzügigen Geldsprit- rückgefallen – hinter Frankreich und Dä- Tagesordnung und bleibt dort stehen, zen zur Stelle. nemark, Belgien, Italien und den Nieder- bis es gelöst ist.“ Als etwa 1984 die damalige Premier- landen (siehe Grafik). Nicht nur Stoiber, dem die Zahlmei- ministerin Margaret Thatcher den Bei- Aber der relative Verlust an Wohl- ster-Klage gut in den europakritischen tritt Großbritanniens von einem Bei- stand, Folge der Vereinigung mit dem ar-

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Werbeseite DEUTSCHLAND men Ostdeutschland, schlägt sich nicht Politische Vernunft und sein Bundes- glieder Österreich, Schweden, Finnland im Beitrag an die EU nieder. Diese kanzler verbieten es Waigel, nach dem und Norwegen werden – wenn sie denn Zahlung richtet sich nach der absoluten Thatcher-Vorbild in den siebziger Jah- beitreten – nach einer Übergangsfrist Leistung der deutschen Volkswirt- ren („I want my money back“) in Brüs- von einigen Jahren netto insgesamt rund schaft, und die hat sich nach der Wie- sel Geld zurückzufordern. Immerhin hat drei Milliarden Mark jährlich beisteu- dervereinigung sogar vergrößert. sein Kanzler erst vor eineinhalb Jahren ern. So verdoppelte sich die Bruttolei- der jetzigen Lastenverteilung zuge- Das Geld wird nun nach der üblichen stung an Europa von rund 22 Milliar- stimmt, die bis zum Jahr 1999 gilt, ein- Methode auf alle verteilt. den (1990) auf etwa 44 Milliarden schließlich des britischen Beitragsra- Auch Stoiber hat inzwischen eingese- Mark in diesem Jahr – ein Anstieg, der batts. hen, daß er mit seinen großen Worten durchaus gerechtfertigt ist. Die Deut- Wenn Bonn die Übereinkunft jetzt nicht weit kommen wird. Das deutsche schen produzieren etwa 27 Prozent der aufkündige, so ein Kanzlerberater, kä- Mitglied des Europäischen Rechnungs- EU-Gesamtleistung und zahlen knapp me das „einer Verabschiedung der hofes, Bernhard Friedmann, hat den 30 Prozent in die gemeinsame Kasse. Deutschen aus der europäischen Inte- Bayern aber auf einen Trick aufmerk- Das Problem liegt auf der Einnah- gration gleich“ – einer Wende seiner sam gemacht, die deutschen Belastun- menseite. Die Last wird gemindert Europapolitik, die Kohl auf keinen Fall gen vielleicht doch noch zu reduzieren. durch Zahlungen, die aus der EU-Kas- zulassen könnte. Vor zehn Jahren hat der Europäische se in die Mitgliedsländer zurückfließen Eine faire Lastenverteilung, in der die Rat in Fontainebleau beschlossen, daß – etwa für Strukturhilfen in den neuen politischen Veränderungen der letzten Bundesländern. Jahre in Europa berücksichtigt würden, Doch die zusätzlichen Gelder für den setzte eine völlige Umverteilung in der Deutschlands Beiträge zum Haushalt armen Osten sind vergleichsweise ge- EU voraus. Es würde sich erweisen, daß der EU in Milliarden Mark ring. Den Löwenanteil ihrer Haushalte, 40 Zahlungen über die Hälfte, gibt die EU für den 35 gemeinsamen Agrarmarkt aus. Davon Geben und Nehmen profitieren vor allem Agrarländer wie Nettoposition der EU-Mitgliedstaaten 1992 30 Nettoleistungen Irland, Frankreich oder auch Däne- 25 mark, ohne Ansehen ihres Wohlstan- Angaben in Milliarden Mark 11,6 19,1 22,0 23,5 25,2 des. Das skurrile Ergebnis: Die reichen 20 20 Dänen holen mehr aus der Kasse, als 15 sie einzahlen (siehe Grafik). 15 10 Auch beim zweitgrößten Verteilungs- Rückflüsse etat, dem Strukturfonds für Regiona- ZAHLER 5 les, Soziales und Agrar, sowie dem aus- 10 schließlich für Spanien, Portugal, Grie- 1990 91 92 93 94 chenland und Irland eingerichteten Ko- häsionsfonds schneidet Deutschland be- 5 scheiden ab. Das Bonner Finanzmini- Griechen- sterium stellte fest, daß allein das Volu- LuxemburgBelgien DänemarkPortugal Irland Spanien land men der Strukturfonds in der kurzen 0 Zeit von 1988 bis 1993 den gesamten Marshallplan, das große Aufbaupro- Deutsch-Groß- Nieder- Italien gramm der Nachkriegszeit für Europa, 5 land britannienFrankreich lande bei weitem übertroffen habe. EMPFÄNGER Der in Edinburgh auch von Kohl un- Quelle: Europäischer Rechnungshof terzeichnete jüngste Finanzplan bis 10 1999 sieht einen weiteren kräftigen An- stieg vor. Bis dahin sollen die Struktur- die Franzosen viel zu gut wegkommen. jeder Mitgliedstaat, der gemessen an fonds insgesamt über 280 Milliarden Sie sind allein deshalb Netto-Zahler, seinem relativen Wohlstand eine zu gro- Mark (in Preisen von 1992) ausgeben, weil sie auch einen Teil des Britenra- ße Beitragslast trägt, um Rabatt ersu- für die Kohäsion sind rund 30 Milliar- batts finanzieren. chen kann – sozusagen die nachträgliche den Mark eingeplant. Die Briten müßten, da in Finanzsa- Rechtfertigung für den zweifelhaften Die Konsequenz: Die Schere zwi- chen Einstimmigkeit erforderlich ist, britischen Nachlaß. schen Be- und Entlastung des ärmer freiwillig auf ihren Rabatt verzichten. Diese Situation sei im Falle Deutsch- gewordenen Mitglieds Deutschland Länder wie Belgien, Luxemburg oder land nach der Wiedervereinigung da, klafft immer weiter auseinander. Es Dänemark müßten kräftig zulegen, die meint Rechnungsprüfer Friedmann: Die setzt sich fort, was seit langem läuft: Südländer, deren Wohlstand zum Teil Deutschen sind in der Wohlstandsskala Von 1986 bis 1992 verdoppelten sich größer ist als der in den neuen Bundes- abgesackt, sie tragen zudem den größ- die Zahlungen, während die Rückflüsse ländern, auf vieles verzichten. ten Teil der auch im europäischen lediglich um 25 Prozent zunahmen. „Das hielte die EU auf keinen Fall Interesse liegenden Aufbauleistung im Vorsichtig läßt denn auch Finanzmini- aus“, resignierte ein Finanzexperte im Osten. Damit, so ebenfalls Bundes- ster Theo Waigel (CSU) bei jeder Ge- Waigel-Ministerium. So geben sich die bankpräsident Hans Tietmeyer, überhe- legenheit in den EU-Gremien andeu- Bonner einstweilen mit kleinen guten be sich Deutschland. ten, daß er die Lastenverteilung in der Taten zufrieden. Sie versuchen, eine Die deutschen Europapraktiker sehen Gemeinschaft nicht mehr für gerecht Verschlechterung zu verhindern. diese Möglichkeit wohl, indes fehlt ih- halte. Verdorben haben die Deutschen ei- nen der Glaube an einen schnellen Er- Doch der CSU-Vorsitzende auf dem nen profitablen Plan der Südländer: Die folg. Ein Waigel-Experte: „Die Briten Sessel des Finanzministers tut sich wollten den zu erwartenden Gewinn der haben dafür vier Jahre gebraucht. schwerer mit dem Thema als sein Par- Erweiterung ausschließlich auf ihre Schneller geht’s bei uns bestimmt teifreund Stoiber. Konten lenken. Die reichen neuen Mit- nicht.“ Y

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Palast der Republik, das zweite architek- Berlin tonische Symbol im Osten der Haupt- stadt, das es gegen einen übermächtigen Westen zu verteidigen gilt. Von dort aus drängen Investoren auf Krone den weiträumigen und windigen Platz. Architekt Hans Kollhoff, der den Wett- bewerb zur Alex-Neugestaltung gewann, im Osten kommt aus dem Westteil der Stadt. Auch die verantwortlichen Politiker, Stadtent- Den Umbau des symbolträchtigen wicklungssenator Volker Hassemer Alexanderplatzes in Ost-Berlin (CDU) und sein Bau-Kollege, Wolfgang Nagel (SPD), stammen von dort. will eine nostalgische „Bürgerver- Die Wucht, mit der die „Kapitalkräf- tretung“ verhindern. te“, so ein Anwohner, den Platz mit 150 Meter hochstrebenden Wolkenkratzern umzingeln wollen, hat die Ostler ver- ngeübt spricht Joachim Schmidt in schreckt. „Der Architekturentwurf“, das Mikrofon. „Ich habe keine Ar- sagt Schmidt, „kam als total überraschen- Uchitekturausbildung“, sagt der der Angriff auf die Bevölkerung, die hier weißhaarige Mann zornig: „Aber ich ha- wohnt.“ Panorama-Darstellung der Neugestaltung be ’ne Datsche gebaut.“ Schmidt und Genossen gründen an die- Gut 200 meist ältere Zuhörer klat- sem Abend die „Bürgervertretung Alex- men“, fragt der Seelsorger der alten klei- schen. Schmidt gehört zu einer Gemein- anderplatz“. Mit ihr sympathisieren Leu- nen Kirche, die neben dem Fernsehturm schaft, die sich spätabends in der Aula te aus allen Schichten, Grüne und die auf dem weitläufigen Gebiet südwestlich des Ost-Berliner Max-Planck-Gymnasi- PDS, Pfarrer und Hausfrauen. vom Alex liegt, „oder wollen wir einen ums eingefunden hat. Ulf Lunow, der erkrankte Pastor von Platz in der Mitte unserer Stadt, wo ganz Sie alle wollen die Umgestaltung des Sankt Marien, hat eineGrußbotschaft ge- verschiedene Menschen sich begegnen?“ Alexanderplatzes im Bezirk Mitte ver- schickt: „Werden die Kathedralen des Um Stadtplanung geht es bei der De- hindern. Für sie ist der Alex, nach dem Geldes und der Macht den Platz bestim- batte über Kollhoffs „Hochhausgewit- ter“ (Tageszeitung) nur am Rande. Der Widerstand speist sich vielmehr vor al- lem aus ebenso diffusen wie tiefsitzenden ostdeut- schen Ängsten. Kollhoff, sagt der Ost-Berliner Ar- chitekt Wolfgang Kil, wol- le am Alex eine „syntheti- sche Mega-City“ errichten; das Zentrum der Haupt- stadt werde profitgierigen Investoren überlassen. Die Vision von Manhat- tan erschreckt vor allem Ost-Berliner, die im engen SED-Sozialismus groß ge- worden sind. Er wolle kein New York auf dem Alex, Preisgekröntes Alex-Modell, Preisträger Kollhoff: Angriff auf die Bevölkerung sagt Rentner Gerd Schen- del, 61, der seit einem knappen Vierteljahrhundert am Platz wohnt: „Ich will ein Zentrum, wo man lebt, wo die Kinder spielen können, so wie es vorher war.“ War es vorher so? Im nostalgischen Rückblick wird die zugige Betonwüste verklärt. Selbst viele Ost-Berliner, die den Alex heute gegen die „Überwälti- gung“ (Kil) aus dem Westen verteidi- gen, hielten ihn zu DDR-Zeiten für ei- nen toten Platz. Einzig zu den Jubelta- gen der Republik wurde er so aufwendig wie mühsam für ein paar Stunden zum Volksfest-Rund umfunktioniert. Der Ost-Berliner Schriftsteller Rolf Schneider beschrieb den Platz als „diffu- se Freifläche, die den Menschen das Frösteln beibringt“. Der Ort hat eine Ost-Berliner Zentrum Alexanderplatz: „Diffuse Freifläche“ wechselhafte Geschichte. Bis Ende des

58 DER SPIEGEL 13/1994 des Alexanderplatzes: „Werden die Kathedralen des Geldes und der Macht den Platz bestimmen?“

vergangenen Jahrhunderts war der Alex Stadtentwickler Hassemer erhofft sich Näthers berühmter Ost-Kollege, der ein Viehmarkt vor den Toren der Stadt, von der Umgestaltung des Alex genau Architekt Hermann Henselmann, 89, den Berlinern als Ochsenmarkt geläufig. das, was die „Bürgervertretung“ einfor- hält den Widerstand gegen den neuen Seinen heutigen Namen erhielt er 1805, dert: einen lebendigen Platz, gesäumt Alex für „DDR-Hysterie“. als der russische Zar Alexander I. den von Arbeitsplätzen und Wohnungen. „Eine Menge wird abgerissen, na Preußenkönig besuchte. „Die Stadtkrone der Paläste“, schwärmt und?“ sagt Corbusier-Schüler Hensel- Anfang des Jahrhunderts wuchs der der Christdemokrat über den Kollhoff- mann, der in den fünfziger Jahren die Alex zum Milieu, so wie es der Arzt Al- Entwurf, „wird im Osten liegen.“ Zuckerbäckerbauten der Ost-Berliner fred Döblin, der in der Nähe des Platzes Kollhoff hat in seinem Entwurf Knei- Stalinallee entworfen und den Fernseh- seine Praxis hatte, 1929 in seinem welt- pen und Kinos, Galerien und Läden, turm hinterm Alex maßgeblich projek- berühmten Roman „Berlin Alexander- Restaurants und ein Sportcenter vorge- tiert hat. Ihm gefällt der Entwurf. platz“ beschrieb. Im Krieg wurde der sehen. Auch die Straßenbahn, die in „Ich will bauen, das heißt immer, ich Platz, den die SS noch im April 1945 aus den zwanziger Jahren über den Platz will Hoffnung vermitteln“, sagt Hensel- den U-Bahn-Schächten heraus vertei- rumpelte, soll wieder fahren. Geplant mann. Von „dieser aufgeblasenen Dis- digte, fast völlig zerstört. ist, sie um eine riesenhafte Glaskup- kussion übers Plattmachen, über BRD Den Rest demolierten die DDR- pel kurven zu lassen, durch die Fußgän- und DDR“ hält er nichts. „Ost und Machthaber. Sie errichteten einen Platz ger in den U-Bahnhof hinabsehen kön- West“, so sein salomonisches Urteil, mit wenig Grün, dafür Beton und Plat- nen. „sind doch nur Himmelsrichtungen.“ Y te, nach Norden hin weit geöffnet zu einer giganti- schen Straßenkreuzung. Joachim Näther, 69, der als Ost-Berliner Chef-Architekt vor ei- nem Vierteljahrhundert mit seinem Kollektiv den Platz wieder aufbaute, wohnt in einem Platten- bau, unweit vom Alex. „Normalität ist in Deutschland doch nicht erreichbar, indem man die gesamte DDR-Ar- chitektur abreißt“, klagt er. Es könne doch nicht sein, „daß man 40 Jah- re Geschichte nieder- walzt“. Der Architekt gehört zu den Organisatoren des Widerstandes gegen die Umgestaltung. Die „Schlacht um den Alex“, prophezeit er, werde eskalieren, denn die Ab- lehnung des Kollhoff- Projekts habe „eine Mas- senbasis“. Alexanderplatz 1989, Anfang der dreißiger Jahre: Beton und Platte

DER SPIEGEL 13/1994 59 Werbeseite

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Krelinger Glaubenshalle, Studienleiter Cochlovius*: „Notbund als künftige Untergrundkirche“

Protestanten Wahre Wunder Steuerfahnder ermitteln gegen das Rüstzentrum Krelingen, eine Hochburg des ultrakonservativen Pietismus.

einrich Kemner war der unge- krönte König des Klingelbeutels. HWenn der alte Heidepastor pre- digte, erfaßten seine Schafe das Aus- maß ihrer Sünden – und öffneten die Brieftaschen. „Wer nichts einzahlt auf die Wech- selbank Gottes“, verkündete Gottes Kassierer Kemner, „der erfährt auch Glaubensbrüder Kemner (3. v. r.), Albrecht (4. v. r.): „Wechselbank Gottes“ nicht, wie hoch die Verzinsung ist.“ Oft mehr als eine Million Mark spendeten wird in Amerika und selbst im fernen Die Schande ist da. Ende vergangenen die Gläubigen der Gemeinde Krelingen Asien studiert. Jahres rückten auf dem Krelinger Glau- bei Walsrode pro Kirchenjahr. Offenbar liegt Segen auf der Kemner- benshof die Staatsanwaltschaft Verden Als der protestantische Pfarrer ver- schen Sammlungsbewegung: Mit allerlei und Finanzbeamte aus Lüneburg mit gangenen Sommer im gesegneten Alter guten Taten macht das GRZ einen Um- sechs Mann hoch ein. Die Angestellten von 89 Jahren starb, hinterließ er ein satz von gut 20 Millionen Mark im Jahr. der Wechselbank Gottes, so der Vor- imposantes Glaubenswerk: Das Geistli- Industrielle fördern die Firmen ebenso wurf,hättenesbeimUmgang mitden Op- che Rüstzentrum Krelingen (GRZ), wie Würdenträger aus der Politik. fergroschen nicht so genau genommen. von Kemner vor 25 Jahren als bibelfe- Damit könnte es bald vorbei sein. Au- Das Sündenregister scheintlang: In der stes Bollwerk gegen die sündhafte Welt genscheinlich schon von dunklen Ah- zentralen Buchhaltung des GRZ, wo die und eine verlotterte Amtskirche ge- nungen geplagt, hatte Kemner kurz vor Millionen zusammenlaufen, existiere ei- gründet, gilt heute als ein Zentrum des seinem Tod in einer Kollektenrede ge- ne schwarze Kasse. In den Kirchenbü- deutschen Pietismus. barmt: „Welch eine Schande für Krelin- chern würden Einnahmen als Ausgaben Alljährlich strömen Zehntausende zu gen, wenn auch nur ein Pfennig falsch gebucht, Quittungen nach Gutdünken Glaubens- und Erweckungstagen in die gebucht wäre.“ ausgestellt, und Mitarbeiter bekämen of- Heide. Die Erweckliche Stimme, Zen- fenbar zur Aufbesserung ihres kargen tralorgan der „Ahldener Bruderschaft“, * Auf einem Plakat des Geistlichen Rüstzen- Lohnes Bares über den Tisch – ohne Be- die das Unternehmen Gottes lenkt, trums. leg. „Wir haben beim Blick in die Bü-

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Werbeseite DEUTSCHLAND cher“, sagt Steuerfahnder Rolf Gerecht, diger, „daß der Heilige Geist mächtig „wahre Wunder erlebt.“ und unter uns ist“. Auf die Heide-Kanzel Selbst an den Kollekten sollen sich die stieg auch der Bonner Innenstaatssekre- GRZ-Manager vergriffen haben. Nach tär Horst Waffenschmidt, Helmut Kohls Aussagen von Mitarbeitern des Zen- Kirchenbeauftragter. trums wurden Fehlbestände in den Bü- Als die „Übel unserer Zeit“ sehen die chern mit Spendengeldern ausgeglichen, Krelinger, so heißt es in einem Traktat, an der Steuer vorbei. Zudem hätten sich „Sex, Hasch und Homosexualität“. GRZ-Leute an Kollektengeldern per- „Sünde muß wieder Sünde genannt wer- sönlich bereichert. Eine Buchhalterin den können“, predigte Pfarrer Kemner sagte vor den Steuerfahndern aus, in nur und meinte vor allem die Homosexuali- drei Monaten seien nach ihrer Beobach- tät. Wenn, wetterte der Pastor, „homose- tung allein 25 000 Mark „nicht spenden- xuelle Männer und lesbische Frauen die konform“ verwendet worden. Kanzeln der Kirchen besteigen, dann ist „Erschütternd“ fand eine neu einge- die Gottesfinsternis in ihr vollendet“. stellte Buchhalterin die Aufforderung Kemners Chefideologe Joachim Coch- ihrer erfahrenen Kollegen, „3263,60 lovius hat Hoffnung: Im Rüstzentrum sei Mark Kollekte vom Erweckungstag ab- es schon gelungen, den einen oder ande- zuzweigen“. Als sie sich weigerte, habe ren schwulen Sünder „umzupolen“. Die sie zu hören bekommen: „Das wird hier Rolle der Frau in der Kirche findet Coch- doch immer so gemacht.“ lovius hinreichend beim Apostel Paulus „Man darf annehmen“, meint Steuer- beschrieben: „Das Weib soll schweigen.“ fahnder Gerecht, daß der Rollgriff in Glaubensübervater Kemner, dem den Klingelbeutel auch in den Jahren „emanzipiertes Frauentum immer ein zuvor „gängige Praxis“ gewesen sei. Greuel gewesen“ ist, sah die „Krone der Der Prediger Wilfried Reuter, der fraulichen Entfaltung in geschenkter Anfang des Jahres als Kemner-Nachfol- Mütterlichkeit“. ger die Leitung des Krelinger Rüstzen- Cochlovius, der sein Gehalt als Krelin- trums übernommen hat, mag einen Sün- ger Studienleiter von der evangelischen denfall beim Umgang mit dem Mam- Landeskirche Hannover bezieht, rüstet mon nicht erkennen. Er räumt lediglich sich und die Seinen inzwischen für ein, in der Buchhaltung müßten „archai- schlechtere Zeiten. Der Prediger baut ei- nen „Notbund“ gegen „Glaubens- schwund“ auf, der als „künftige Unter- „Sünde muß grundkirche arbeiten“ soll. Denn in der wieder Sünde genannt Amtskirche herrsche „theologischer Notstand“. werden können“ Demnächst soll ein „hauptamtlicher Reisesekretär“ durch Deutschlands Ge- sche Zustände geherrscht“ haben. Es meinden ziehen, um den „schlimmsten habe „graue Kassen“ gegeben, gefüllt Kulturverfall des Abendlandes“ aufzu- „mit Verfügungsmitteln, an der Haupt- halten. „Wir haben es“, warnt Cochlovi- kasse vorbei“. Zudem habe „der Zeit- us, „letztlich mit Satan persönlich zu tun, punkt zwischen Eingabe und Entnahme der die Gemeinden kaputtzumachen ver- oft unschön auseinandergelegen“. Sonst sucht in dieser Endzeit.“ aber sei nichts gewesen. Finanziert wird der Kreuzzug gegen Die Schuld an der „Hemdsärmelig- den Teufel außer durch Spenden auch keit“ beim Umgang mit den milden Ga- aus eigenen Werken: Das GRZ betreibt ben, schiebt Reuter, „der Herr möge es eine Putenzucht mit 30 000 Stück Feder- verzeihen“, auf den toten Vorgänger. vieh, eine Baumschule, eine Tischlerei Kemner habe seinen biblischen Rüstbe- und einen Medienbetrieb, der die frohe trieb „über die Brieftasche regiert“ und Botschaft per Buch, Kassette und Video die leidigen Gelddinge „so nebenbei aus unters Volk bringt. der Aschkiepe geregelt“. Ein Wohnheim für Senioren gleich ne- Gegenwärtig prüft der Fiskus, ob dem ben dem Krelinger Glaubenshof bringt GRZ, das seine Geschäfte als eingetra- außer den Miet- und Pflegegeldern gener Verein abwickelt, die Gemeinnüt- manch schöne Hinterlassenschaft: Aus zigkeit entzogen werden muß. Die dann Erbschaften kommt schon mal rund eine fälligen Steuernachzahlungen würden Million Mark im Jahr zusammen. die Bruderschaft wohl in den Bankrott Einen ordentlichen Zuschuß bekom- treiben. Das wäre das Ende einer from- men die Krelinger zudem seit vielen Jah- men Festung, die weit über den Heide- ren aus dem Landeshaushalt: 100 000 rand hinaus Fürsprecher in höchsten Po- Mark per annum. Das Sozialministerium sitionen hat. in Hannover prüft derzeit, wieweit bei Marianne von Weizsäcker, die Ehe- der Vergabe der Apanage ein ehemaliger frau des Bundespräsidenten, hat den bi- Abteilungsdirektor des Landessozialam- belfesten Rüstplatz besucht. Ernst Al- tes beteiligt war. brecht, ehemals Regierungschef in Nie- Der Christdemokrat ist Mitglied im dersachsen, pries Krelingen als „Licht- Führungszirkel des Rüstzentrums in Kre- blick“ und spürte daselbst als Laienpre- lingen. Y

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Polizei verbot sowie den sofortigen Stopp unserer Stasi im Entwicklung von Tellerminen. Unter die- sen Waffen leiden besonders Frauen und Staatsdienst Kinder in den Kriegsgebieten. Das finde Sachsens Innenminister und ich schlimm, dagegen muß man kräftig op- CDU-Bundesvize Heinz Eg- ponieren. gert gerät wegen der Weiter- SPIEGEL: Wie soll das geschehen? beschäftigung Stasi-belaste- Forck: Die Parteien, die den Waffenexport ter und DDR-regimetreuer erleichtern wollen, kann man nicht wählen. Polizisten in der eigenen Re- Das ist eine angemessene Möglichkeit, die gierung unter Druck. In Ab- jeder in diesem Jahr nutzen sollte. wesenheit von Ministerpräsi- Forck SPIEGEL: Ist das Ihre Privatmeinung, oder dent Kurt Biedenkopf ver- wollen die Kirchen sich wieder stärker poli- weigerte das Kabinett ver- Waffenexporte tisch einmischen? gangene Woche seine Zu- Forck: Ich stehe damit keineswegs allein. stimmung zu einer Antwort, Man kann nicht erst Waffen verkaufen, et- die Eggerts Haus auf eine Kräftig opponieren wa nach Jugoslawien, und wenn es dann Große Anfrage der SPD ver- kracht, nach dem bewaffneten Eingreifen faßt hatte. Die Kritiker be- Der ehemalige Berlin-Brandenburgische der Uno rufen. Diese Mentalität halte mängelten vor allem die Bischof Gottfried Forck, 70, plädiert für nicht nur ich für verbrecherisch. Die Vor- kommentarlose Aufzählung einen Wahlboykott gegen Parteien, die sitzenden der evangelischen wie der katho- früherer Funktionsträger: Rüstungsexporte erleichtern wollen lischen Kirche haben sich ebenfalls deut- Danach waren zum Stichtag lich gegen deutsche Waffenexporte ausge- SPIEGEL: Als DDR-Bischof waren Sie in sprochen. In den Kirchen gibt es starke Bonn hoch angesehen. Jetzt wollen Kanz- Gegeninitiativen, erfreulicherweise glei- leramt und Regierungskoalition von Ihnen chermaßen in Ost und West. Die Kirche nichts mehr wissen. muß sich um gesellschaftliche Belange Forck: Es gibt da starke Kräfte, die den Ex- kümmern, dazu gehören auch die Flücht- port von Waffen freizügiger regeln wollen. lings- und Arbeitsmarktpolitik. Denn das Das deutsche Unicef-Komitee, dem ich an- Evangelium umfaßt den Menschen in all gehöre, fordert ein totales Waffenexport- seinen Bezügen.

die Bundesländer übereinka- möglichst erhalten. Statt des- Ideen men, zur Finanzierung der sen könne ein gesetzlicher in Pflegeversicherung einen einen „geschützten“ Feiertag Kassel bremst Feiertag zu streichen, will der umgewandelt werden, an Südstaat, in dem die Bürger dem Arbeitnehmer selbst Brummis ohnehin die höchste Anzahl entscheiden, ob sie unbezahlt Mit einem bundesweit einzig- Eggert, Polizisten an Festtagen haben, keinen freinehmen oder arbeiten artigen Modellversuch soll „Feiertag opfern“, sondern wollen. Glück-Alternative: der umweltschädigende Last- 1. Januar letzten Jahres 161 die „religiöse und weltliche „flexible Mehrarbeit im glei- wagenverkehr in der Kasse- hauptamtliche sowie 362 In- Brauchtumsfreizeit“ (Sozial- chen Umfang“ oder kürzerer ler Innenstadt reduziert wer- offizielle Stasi-Mitarbeiter im minister Gebhard Glück) Urlaub. den. Zwölf örtliche Spediteu- sächsischen Polizei-Dienst. re haben vereinbart, daß von 1626 Eggert-Gehilfen zählten Feierfreudiger Süden Mai an eine Firma morgens einst zu den besonders zuver- Anzahl der Feiertage in den einzelnen Bundesländern sämtliche Ladungen sam- lässigen Kadern; 30 hatten melt, nach Adressen sortiert hauptamtlich für SED und Schleswig-Holstein, und möglichst mit einer einzi- FDJ gearbeitet. Eggert ver- Berlin, Niedersachsen, 10 gen Tour zustellt. Mit dem teidigt sich, Erkenntnisse Hamburg, Bremen neuen „City-Logistik-Kon- über die Funktionsträger sei- Bayern 10 +5 11 12 13 14 15* zept“ soll verhindert werden, en „in erheblichem Umfang“ daß eine Vielzahl von Last- Baden-Württemberg 10 +3 erst nach dem Stichtag be- wagen – zum Teil wegen nur kanntgeworden. Saarland 10 +3 weniger Kisten und Pakete – die Innenstadt ansteuern. Ei- Nordrhein-Westfalen 10 +2 Feiertage Bundesweite ner Untersuchung der Ge- Rheinland-Pfalz 10 +2 Feiertage samthochschule Kassel zufol- Landesweite Freizeit für Sachsen-Anhalt 10 +2 ge werden einzelne Innen- Feiertage stadtstraßen täglich von bis das Brauchtum Sachsen 10 +2 Feiertage in Regionen mit zu elf verschiedenen Spedi- Die bayerische CSU-Regie- Mecklenburg-Vorpommern 10 +1 überwiegend teuren beliefert; viele Laster rung, durch Amigo-Affären katholischer oder parken in der zweiten Reihe Brandenburg 10 +1 überwiegend angeschlagen und ihrer abso- evangelischer und blockieren den Verkehr. luten Mehrheit bei kommen- Hessen 10 +1 Bevölkerung Die Spediteure erwarten von den Wahlen nicht mehr si- dem Modell ökologische cher, streitet gegen den Thüringen 10 +3 Vorteile und erhebliche Ein- Rest der Republik. Während *15. Feiertag nur in Augsburg sparungen.

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Umwelt Schlauch über Bord Tausende von Chemietankern leiten Jahr für Jahr giftige Frachtreste, Mineralöle und Säuren in den Rhein, um die teure Entsorgung zu sparen. Wasserschutzpolizei und Behörden klagen über mangelnde Kontrollmöglichkeiten. Europäischer Schlendrian verhindert wirksame Gesetze gegen die Verseuchung.

m Mittwoch vergangener Woche wenn die Polizeiboote im Hafen liegen ganz andere Dimensionen – und sie hat feierten die Wasserschutzpolizisten und kein Kontroll-Hubschrauber auf- System. Ain Mainz-Kastel ein seltenes Ereig- steigt, schlügen die Rheinverschmutzer Wohl hat es in jüngerer Zeit beruhi- nis: Ein Binnenschiffer packte aus. zu. Bembenek: „Dann kriegen die uns gende Nachrichten über die verbesserte Der ehemalige Matrose Detlef Bem- nicht an die Hammelbeine.“ Qualität des Rheinwassers gegeben. So benek, 38, der seinen Beruf nach eige- Jürgen Tiedtke, Geschäftsführer beim werden etwa im Ruhrgebiet mittlerweile nen Angaben aufgegeben hat, weil er „Hamburger Lloyd“, bestreitet rundweg wieder zufriedenstellende Sauerstoff- die „ständigen Schweinereien mit der alle Angaben seines ehemaligen Matro- werte gemessen. Auch scheint die Indu- Wasserverschmutzung nicht länger mit- sen. Seine Reederei arbeite geradezu strie das „Aktionsprogramm Rhein“ machen“ wollte, ermöglichte mit einem vorbildlich: „Wir dürfen keine Reste einzuhalten, das nach einem Groß-Un- detailreichen Geständnis den Beamten über Bord pumpen und haben das auch fall beim Schweizer Chemiegiganten einen tiefen Einblick in eine Branche, nicht getan.“ Nun wird sich die Staats- Sandoz 1987 verabschiedet wurde. in der kaum eine Straftat aufgeklärt anwaltschaft mit dem Fall beschäftigen Ein Grund zur Entwarnung ist das je- wird. müssen. doch nicht. Es finden sich, wie jüngste Ein Fall, erfuhren die Beamten, habe Daß die Binnenschiffahrt den Rhein Messungen zeigen, immer noch zu viele sich ganz in der Nähe ihres Reviers ab- verschmutzt, ist den Behörden bekannt. Nährstoffe und Pflanzengifte im Rhein- gespielt. In einer lauen Maiennacht des Doch die Täter zu fassen ist nicht ein- wasser, auch leitet die Chemieindustrie vergangenen Jahres, gab Bembenek zu fach. „Wir wissen, daß wir ständig ge- nach Meinung der Umweltorganisation Protokoll, hätten er und seine Kollegen foppt werden“, gesteht Joachim Thume, Greenpeace noch „unmäßig viel“ Gift- hinter einer Rheinbiegung in der Nähe 37, von der Wasserschutzpolizei in fracht ein. Gefunden wird im Wasser eines kleinen Yachthafens bei Wiesba- Mainz-Kastel. Seit 15 Jahren versucht ohnehin nur das, wonach gezielt gesucht den einen 120-Millimeter-Schlauch über Thume, den Rheinvergiftern beizukom- wird. die Reling des Chemie-Tankschiffes men. Ohne großen Erfolg. Bei der Binnenschiffahrt ist lediglich „Alchimist Duisburg“ gehängt und Da wird mal einer erwischt, der eine die Entsorgung der sogenannten Bilgen- rund 1500 Liter Chemiebrühe in den Ölspur hinter sich herzieht. Oder es wässer geregelt. Das Gemisch aus Ma-

Ex-Matrose Bembenek: „Ständige Schweinereien“

Rhein gepumpt – den kompletten Inhalt kommt mal einer dran, eines Tanks mit Ladungsresten, Mine- weil er seine Giftfracht ralöle und Säuren vor allem. allzu dreist im Hafen- Die illegale Beseitigung von giftigen becken abläßt. Doch Frachtresten habe zu seinen „alltägli- das sind Kinkerlitz- chen Aufgaben“ gehört, gestand Bem- chen. Die Vergiftung benek, der – mit Pausen – von 1984 bis des Rheins durch die Mitte 1993 auf Tankschiffen der Reede- Binnenschiffahrt hat rei „Hamburger Lloyd“ gefahren ist. Rhein-Verschmutzung durch Altöl* Vorzugsweise nachts oder bei Nebel, * Im Duisburger Hafen. Abpumpen bei Nacht und Nebel

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Schiffskontrolle auf dem Rhein: „Wir brauchen den Zwang“

schinenöl, Wasser, Rost und sonstigem Gesetze zu verabschieden, die eine Dreck, der sich im Rumpf der Schiffe Überwachung und eine legale Entsor- sammelt, wird mittlerweile von öffentli- gung der Giftfracht wirksam regeln. Wie chen Stellen kostenlos angenommen – zahnlose Wachhunde fühlen sich biswei- rund zehn Millionen Liter im Jahr. len die Ordnungshüter. Es sei „fast un- Weitaus mehr Problemstoff fällt jedoch möglich, die Übeltäter zu packen“, beim Frachtbetrieb an. klagt Norbert Eschweiler von der Duis- Gut 1500 Frachter schippern rund 40 burger Wasserschutzpolizei. Millionen Tonnen Mineralöle und Gase Die Täter gehen mit erheblicher Raf- pro Jahr zwischen Rotterdam und Basel finesse zu Werk. Wenn sie Öl ablassen, über den Rhein. Hinzu kommen noch schützen sie sich vor Entdeckung, indem knapp 15 Millionen Tonnen giftiger sie den verräterischen Ölschleier, den Chemikalien – Schwefelsäure, Natron- ein Schiff hinter sich herzieht, „mit Ten- lauge, Acrylate, Chlorverbindungen. siden retuschieren“ (Branchen-Jargon). Vieles davon Gefahrgut, Dadurch wird das Was- zum Teil krebserregend. ser zwar noch mehr ver- Wenn die Schiffer ihre schmutzt, aber die ölige Ladung gelöscht haben, Spur ist erst mal ver- bleiben stets Reste in wischt. den Tanks, den Pumpen Dabei ist illegal abge- und im komplizierten lassenes Öl noch ver- Rohrleitungssystem zu- gleichsweise einfach auf- rück – je nach Schiffstyp zuspüren. Bei Chemika- bis zu 500 Liter. Gefähr- lien, die in der Regel licher Abfall zumeist, farblos sind und auch der speziell entsorgt sonst kaum sichtbare werden muß, wenn das Spuren hinterlassen, Schiff die Ladung wech- „haben wir im Prinzip selt, was häufig vor- keine Möglichkeit, die kommt. Tat nachzuweisen“, sagt 180 Millionen Liter Wasserpolizist Thume der Duisburger Wasser- giftiger Ladungsreste, „Ständig gefoppt“ schutzpolizist Josef Bu- schätzen Experten, fal- rokas. len jährlich auf Deutschlands Wasser- Der Erfindungsreichtum der krimi- straßen an. Die genaue Zahl ist nicht be- nellen Kapitäne ist grenzenlos: Da wer- kannt. Niemand führt eine Statistik, und den Tanks angebohrt und Rohrleitun- die Schiffseigner lassen sich nicht in die gen unauffällig durch die Bordwand Bücher gucken. Doch nur ein Bruchteil nach außen geführt. Rückschlagventile, wird ordentlich entsorgt. Den weitaus die den Abgang in das Flußwasser ver- größten Teil pumpen Binnenschiffer, da hindern sollen, werden einfach ausge- sind sich die Experten einig, einfach in baut, Schläuche mit Ladungsresten in Flüsse und Kanäle. das Heckwasser gehängt, damit die Politiker und Parlamente haben sich Schiffschraube das Gift wie ein Riesen- bisher nicht dazu durchringen können, quirl mit dem Wasser vermengt. Kom-

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Werbeseite men die Kontrolleure mal aufs Schiff, entdecken sie meist nichts Verdächtiges. „Da steigt die Polizei doch gar nicht da- hinter. Wir kennen an Bord jeden Qua- dratmillimeter“, höhnt Binnenschiffer Bembenek: „Es gibt Tausende von Mög- lichkeiten, die Chemie in den Fluß zu las- sen.“ Kläglich scheiterte Wasserschutzpoli- zist Thume mit dem Versuch, bei Mainz einen Binnenschiffer zu belangen, nach- dem ein Meßgerät im Rhein stark über- höhte Chemiewerte angezeigt hatte. Wohl fanden sich die giftigen Stoffe im Abwasserschlauch eines verdächtigen Schiffes ganz in der Nähe. Doch der Schiffsführer behauptete schlankweg, die Chemie in den Restetank eines Schwesterschiffes gepumpt zu haben, das zufällig vorbeigekommen sei. Weitere Ermittlungen hielt Thume für „aussichts- los“, unter anderem, weil er „keinen kon- kreten Tatort nachweisen konnte“. Das rechtliche Manko verweist auf ei- nen Umstand, der den Ermittlern oft noch mehr zu schaffen macht als die kri- minelle Energie der Binnenschiffer: Die Wassergesetze sind äußerst löchrig. Zwar ist die Wasserverschmutzung grundsätzlich verboten. Doch schon das Schiffahrtsrecht bietet Ausnahmerege- lungen, die erheblichen Ermessensspiel- raum lassen. „Da ist eine Grauzone, der einzelne Schiffer steht mit einem Bein im- mer im Gefängnis“, erläutert Binnen- schiff-Experte Dieter Haendel von der Wasser-Schiffahrts-Direktion Münster. Die Rheinschiffahrts-Polizeiverord- nung, die in allen Anliegerstaaten gilt, untersagt lediglich die Einleitung öliger Stoffe. Bereits die Wässerung von Che- miefracht ist nur vage geregelt. Örtliche Hafenverordnungen sind zwar oft stren- ger. Sie greifen jedoch schon allein des- halb nicht, weil sie jenseits der Hafen- grenzen nicht mehr gelten. So schreiben viele Hafenverordnun- gen vor, daß die belieferten Unterneh- men – etwa Raffinerien und Chemiefir- men – die Ladungsreste nach dem Lö- schen in gesonderten Tanks aufnehmen müssen. Doch das ist nichts als graue Theorie. „Im harten Tagesgeschäft“, hat Haendel mitbekommen, „verscheucht der Hafenmeister die Schiffe vom Kai, weil der Platz schnell wieder für das näch- ste Schiff verfügbar sein muß.“ Den Mißstand bestätigt Erwin Spitzer vom Binnenschifferverband in Duisburg. Wohl seien die „Häfen gehalten, die Re- ste zu behalten. Aber wir wissen, daß das kaum geschieht“. Seine Sicht der Dinge schildertBinnen- schiffer Bembenek an einem Beispiel:

Wir haben am 27. März 1993 in Rotter- dam mit der „Alchimist Duisburg“ rund 1900 Tonnen Naphta aufgenommen. Die haben wir tags darauf bei der Dea in Wesseling bei Köln gelöscht. Unmittel-

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bar danach sind wir rheinab gefahren und haben zwischen Köln und Leverku- sen im Grüngürtel an einer Stelle gehal- ten, an der wir 300 bis 400 Meter Sicht hatten. Einer von uns hat im Steuerhaus mit einem Fernglas Ausschau nach der Wasserschutzpolizei gehalten. Wir ha- ben die Chemiereste mit Eimer, Schippe und Aufnehmer aus den Tanks geholt, so etwa 20 bis 30 Liter aus jedem der 14 Tanks. Dabei haben wir uns Gasmasken aufgesetzt. Die Reste kamen in die Re- stetanks an Bord.

Bembenek: „Da bekommt man schon mal die Order: ,Hör mal, mach mal den Schlauch ’n bißchen über Bord.‘ Dann muß man den Dreck aus den Restetanks in den Rhein lassen. Das wird nur nachts gemacht. Da ist ja alles duster.“ Da geht dann laut Bembenek auch schon mal gleich das Motorenöl mit über Bord, das sich in einer Wanne unter den mächtigen Dieselmotoren sammelt. Der Ex-Matrose erinnert sich anhand seines Schifferdienstbuches noch an Ort und Stunde der Übeltaten. Beispiel: „Am 9. 6. 1993 habe ich zwischen 21.30 und 22 Uhr kurz hinter Wesel Motorenöl in den Rhein abpumpen müssen.“ Geschäftsführer Tiedtke vom „Ham- burger Lloyd“ hält Bembeneks Bericht „Die meisten Kapitäne brechen die Gesetze“

„für großen Unsinn“. Das Motorenöl könne kostenlos entsorgt werden, da ge- be es „gar keinen Anlaß“ zur illegalen Beseitigung. Im übrigen gebe sein Un- ternehmen 1,5 Millionen Mark im Jahr für die Reinigung von Schiffen aus, sei- ne Frachtkunden legten „Wert auf gere- gelte Entsorgung“. Die illegalen Praktiken, von denen auch Tiedtke weiß, siedelt er bei „den unordentlichen Firmen“ an, die „mit uralten Schiffen mit einer Technik wie zu Großmutters Zeiten“ gefährliche Fracht auf dem Rhein befördern. Gefördert wird die kriminelle Energie durch einen eklatanten Mangel: Auf 622 Kilometern deutscher Rheinstrecke zwi- schen der Schweiz und den Niederlan- den gibt es lediglich eine öffentliche Schiffsreinigungsanlage in Duisburg. Doch dort fehlt die Kundschaft. Weil kaum ein Binnenschiffer den legalen Dienst in Anspruch nimmt, kämpft das Unternehmen nach Angaben von Ge- schäftsführer Michael Gagzow „mit Verlusten in Millionenhöhe“. Illegale Entsorgung ist billiger. Bis zu 35 000 Mark kostet die Grundreinigung eines Schiffes von 2000 Tonnen Tragfä- higkeit, der heimliche Schlauch in den Rhein allenfalls ein schlechtes Gewis-

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sen. Die Nachfolgelasten tragen andere. zwei Jahren werde womöglich ein Re- „Es klafft für die Tankschiffahrt ein gelwerk vorliegen. Vakuum zwischen Einleiteverbot und Auch dann erwarten Experten keine Entsorgungsmöglichkeit“, räumt eine rasche Einigung. Allzusehr laufen die Denkschrift der Internationalen Ar- nationalen Interessen auseinander. beitsgemeinschaft der Rheinschiffahrt Mehr noch als die komplizierte ein. Sie fordert mehr Entsorgungsein- Rechtslage verhindert die extrem ange- richtungen, eine vernünftige Kostenre- spannte wirtschaftliche Situation der eu- gelung und mehr Kontrolle. ropäischen Binnenschiffahrt ein Durch- Die beste Kontrollmöglichkeit wäre greifen. nach Auffassung aller Experten ein La- Seit Jahren tobt in der Branche ein dungskontrollbuch. Ihm wäre lückenlos unbarmherziger internationaler Kon- zu entnehmen, mit welcher Ladung ein kurrenzkampf. „Die deutsche Binnen- Schiff gefahren ist und wie es seine Ab- schiffahrt ist am Boden“, sagt Tank- fälle beseitigt hat. frachtexperte Spitzer. Hohe Überkapa- Ein solcher Nachweis, der längst für zitäten haben die Preise verdorben. We- jeden Gefahrtransport an Land gilt, ist niger als fünf Mark pro Tonne Fracht bei der Binnenschiffahrt immer noch werden für eine Fahrt von Rotterdam nicht eingeführt. Die Polizei kann ledig- ins Ruhrgebiet gezahlt – vor Jahren gab lich überprüfen, ob die Ladung eines es dafür noch das Dreifache. Schiffes korrekt deklariert ist. Keine Kein Wunder, daß die Reeder vor al- Rechtsvorschrift verpflichtet einen lem beim teuren Umweltschutz sparen. Schiffsführer, Nachweise über Entsor- Schiffsentsorger Gagzow: „Wir können

Reeder Tiedtke: 1,5 Millionen Mark für die Reinigung von Schiffen

gung von Ladungsresten und Waschwäs- die Schiffe doch nicht mit dem Lasso zur sern zu sammeln und auf Verlangen vor- Zwangsentsorgung einfangen.“ zulegen. Mittlerweile sind die großen Reede- „Wir brauchen den Zwang zu Testa- reien dazu übergegangen, ihren Schiffs- ten für Reste und Reinigung“, fordert führern die Schiffe als Subunternehmer der Mainzer Ministerialdirigent Hans- zu überlassen – um das Risiko loszuwer- Bernd Ellwart, bis vor kurzem Vorsit- den. Folge: Immer mehr Partikuliers – zender der Arbeitsgemeinschaft der Einzeleigner – befahren den Rhein. Die Bundesländer zur Reinhaltung des können sich noch weniger als die großen Rheins. „Sonst bleibt alles wie bisher: Reedereien die zeitraubende und kost- Es wird bei Nacht und Nebel abge- spielige Entsorgung leisten. pumpt.“ Um dem Problem möglichst rasch bei- Seit Jahren liegen entsprechende For- zukommen, fordert Gagzow die Anwen- derungen der Zentralen Kommission für dung des Verursacherprinzips: Nicht die die Rheinschiffahrt (ZKR) in Straßburg überforderten Binnenschiffer sollen für vor. Die Kommission „prüft“, beteuert den Dreck bezahlen, sondern die Her- ZKR-Funktionär Volker Orlovius, steller – Mineralölfirmen und Che- „doch wir sind noch nicht soweit“. In mieunternehmen. Y

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Polizei Drahtlos kriminell Mafiosi verständigen sich zuneh- mend per Funktelefon. Denn die Polizei kann im D-Netz bislang nicht mithören.

er Leserbrief ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Auf- Dgrund „schwerer Versäumnisse“ der „ignoranten Ministerialbürokratie“ in Bonn, schrieb ein Martin Tuffner aus Hemsbach, sei die Polizei im Kampf ge- gen Dealer, Geldwäscher und Auto- schieber „schlechter als je zuvor“ ge- D-Netz-Nutzer (in Hamburg): „Sozusagen polizeifrei“ stellt. Es gebe nämlich „fast keinen Profi- Kriminaldirektor Josef Geisdörfer. Der können; manchmal, wenn schon eine gangster mehr“, teilte Briefschreiber Funktelefon-Boom bedeute einen konkrete Vermutung bestand, erinnert Tuffner den Lesern der Frankfurter All- „echten Rückschritt“ im Kampf gegen sich Tuffner, „genügte sogar ein Blick ins gemeinen mit, der seine Straftaten nicht Kriminelle. Telefonbuch“. über ein D-Netz-Telefon, ein sogenann- Noch deutlicher wird Hamburgs Kri- Weil die wenigsten Handy-Benutzer tes Handy, organisiere. Grund: Gesprä- po-Chef Wolfgang Sielaff: Bei der Ein- im Telefonbuch stehen, sind die Ermitt- che, die über die gerade noch 230 führung des D-Netzes hätten „Profitin- ler ausschließlich auf die Betreiberfirmen Gramm schweren Apparate geführt teressen Vorrang vor Sicherheitsinteres- angewiesen, wenn sie herausfinden wol- werden, lassen sich nicht gezielt sen“ gehabt. len, wem ein bestimmter Anschluß ge- abhören; der Polizei fehlt die nötige Dabei ist es technisch kein großes hört. Doch Mannesmann und Telekom Technik, entsprechende richterliche Problem, sogenannte Anschaltgeräte verschanzen sich hinter Datenschutzbe- Anordnungen auszuführen. zum Abhören des digitalen D-Netzes stimmungen: Sie verlangen von der Kri- Zudem weigern sich einzurichten. Nur zah- po den Nachweis, daß ein staatsanwaltli- die D-Netz-Betreiber, len will keiner dafür: ches Ermittlungsverfahren gegen einen der Kripo uneinge- Einem halben Dut- bestimmten Tatverdächtigen eingeleitet schränkt Auskunft zend Bonner Ministe- ist. über Handy-Besitzer rien ist es bisher nicht Daß damit der Datenschutz überstra- zu geben. Tuffners bit- gelungen, sich darüber paziert wird, glaubt sogar dessen oberster teres Resümee: „Wer zu einigen, wer die Ko- Hüter, der Bundesbeauftragte Joachim ein D-Netz-Telefon sten von mehr als 40 Jacob: Er hält die Auskunft an die Polizei hat, ist sozusagen poli- Millionen Mark tragen auch ohne förmliches Ermittlungsverfah- zeifrei.“ Das gilt inzwi- soll. ren „für nicht problematisch“. schen für immerhin gut Die Betreiberfirmen „Fatal“ findet Ermittler Geisdörfer die eine Million Bundes- könnten ihre Vermitt- Verweigerungshaltung der Betreiberfir- bürger. lungsstellen bis Ende men. Oft gehe es ja gerade darum, her- Tuffners Brief ist ein 1995 entsprechend um- auszufinden, „ob die Anhaltspunkte für Indiz dafür, wieviel rüsten, sagt Barbara ein konkretes Ermittlungsverfahren rei- Frust über die Bonner Kögler, Sprecherin chen“. Bevor sich die Politiker für den Sicherheitspolitik sich von Mannesmann-Mo- Großen Lauschangriff stark machten, im Bundeskriminalamt bilfunk. „Aber wir fordert Tuffner, sollten sie lieber „die angesammelt hat. Dort wollen die Kosten früheren Ermittlungsmöglichkeiten der nämlich arbeitet Tuff- Kriminalist Geisdörfer nicht an unsere Kun- Polizei wiederherstellen“. ner als Spezialist in der „Echter Rückschritt“ den weitergeben“ – Außerdem fehlt es an europäischen Abteilung Rauschgift- der Staat soll zahlen. Regelungen. Denn seit neuestem decken bekämpfung – in der FAZ hatte er sich „Geradezu eine Unterstützung von sich Ganoven bei sogenannten Service- als Privatmann geäußert. Kriminellen“ stellt laut Tuffner ein zwei- Providern in Holland oder der Schweiz Tuffner spricht seinen Ermittler-Kol- tes Versäumnis des Gesetzgebers dar. mit den Chipkarten für ihre Handys ein legen bundesweit aus der Seele: Das D- Bei ihren Ermittlungen stoßen die Kri- und telefonieren damit unbehelligt in Netz dient als Dealer-Netz, die Polizei po-Leute immer wieder auf Telefonnum- Deutschland. empfindet sich als ohnmächtig – wo mern, ohne die Namen der dazugehöri- In solchen Fällen nütze auch größe- drahtlos telefoniert wird, gibt es keine gen Anschlußinhaber zu kennen. Früher res Entgegenkommen der deutschen Leitung, die angezapft werden kann. reichte ein Anruf bei der Post, um etwa D-Netz-Betreiber nichts, weiß Geisdör- Im Milieu habe „praktisch jeder ein zwischen dem Augenarzt und dem Kom- fer: „Da kommt man nicht dahinter, wer Mobiltelefon“, bestätigt der Münchner plizen des Ganoven unterscheiden zu der Inhaber ist.“ Y

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SS-Hauptsturmführer Mohnke, Pensionär Mohnke (1988): „Ich weiß nichts von einem solchen Massaker“

Zeitgeschichte „Es war ein Alptraum“ Im Mai 1940 metzelte ein SS-Trupp bei Dünkirchen über 80 wehrlose englische Soldaten nieder – eines der schwersten NS-Kriegsverbrechen an der Westfront. Kein Verantwortlicher stand je vor Gericht. Jetzt glauben die Briten, den Schuldigen zu kennen: SS-Hauptsturmführer Mohnke, der heute bei Hamburg lebt.

it Flugblättern versuchten die stierte, pöbelte ein SS-Mann zurück: „Ihr schwersten NS-Kriegsverbrechen an al- deutschen Angreifer, die Moral feigen Engländer, wo ihr hingehen wer- liierten Soldaten der Westfront, began- Mdes Feindes zu zermürben: „Bri- det, ist genug Platz für alle.“ gen von Mitgliedern der „Leibstandar- tische Soldaten. Ihr seid umzingelt! Richard Parry, damals Soldat, erinnert te“, Hitlers persönlicher Schutz- und Warum kämpft Ihr weiter? Glaubt Ihr sich: „Dann flogen plötzlich Handgrana- Eliteeinheit. wirklich den Unsinn, daß die Deutschen ten in die Scheune, fünf insgesamt. Ich Was sich damals in Wormhoudt ab- ihre Gefangenen töten? Ein fairer Geg- wurde durch einen Spalt der Hütte nach spielte, ist Berichten aus amtlichen briti- ner wird fair behandelt.“ draußen geschleudert.“ schen Akten zu entnehmen, die jetzt Bis zuletzt leisteten die Engländer Noch heute wacht Joe Humphreys erstmals zugänglich wurden. Die Briten den Deutschen erbittert Widerstand. schweißgebadet auf, wenn ihn nachts das brachen mit der Tradition staatlicher Bei Wormhoudt, einem nordfranzösi- Inferno einholt. „Ich hörte das Stöhnen Geheimniskrämerei, um die Aufklärung schen Dorf in der Nähe von Dünkir- und Schreien der Verwundeten, aber wir des Massakers fast 50 Jahre nach Kriegs- chen, versuchten sie, den Rückzug des konnten nichts für sie tun.“ ende endlich voranzutreiben. britischen Expeditionsheeres über den „Raus, raus“, brüllten die SS-Wächter. Im Unterschied zu anderen SS-Mord- Kanal nach England zu decken. In Fünferreihen mußten sich die Überle- aktionen, wie etwa im tschechischen Li- Am Nachmittag des 28. Mai 1940 ga- benden zur Exekution vor der Scheune dice oder im französischen Oradour, ist ben die ersten auf. Zwölf Angehörige aufbauen. Gewehrsalven streckten sie die Greueltat von Wormhoudt nahezu vom 2. Bataillon der „verstärkten Leib- nieder. Als einige sich weigerten, die unbekannt. Keiner der Verantwortli- standarte SS Adolf Hitler“ trieben fast Scheune zu verlassen, und andere zu flie- chen wurde je zur Rechenschaft gezo- 100 Gefangene des „Royal Warwick- hen versuchten, eröffneten die Deut- gen. Erst jetzt sorgt der Fall in England shire“ und „Cheshire“-Regiments in ei- schen das Feuer auf den Rest der Gefan- für erhebliches Aufsehen und ist zu ei- ne Scheune am Rande von Wormhoudt. genen, bis sich keiner mehr regte. nem Politikum in den deutsch-britischen Als Captain John F. Lynn-Allen, ver- Nur 16 Soldaten entgingen dem Tod. Beziehungen geworden. mutlich einziger Offizier der Gruppe, „Es war ein Alptraum“, sagt Charlie Da- Parlament und Regierung in London gegen die Behandlung der Verwunde- ley über die Ermordung seiner Regi- sind damit befaßt und, wie so oft, wenn ten, die fast erdrückt wurden, prote- mentskameraden. Es war eines der es um die deutsche NS-Vergangenheit

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Werbeseite DEUTSCHLAND geht, die Medien. Die Presse hält den Tä- ter von damals für überführt: den Kom- mandeur des 2. Bataillons der „Leibstan- darte“, SS-Hauptsturmführer Wilhelm Mohnke. Er soll, so lauten britische Vor- würfe, den Befehl zur Liquidierung der Kriegsgefangenen gegeben haben. Schon taucht hinter dem Bild des gera- de entdeckten guten Deutschen in Steven Spielbergs Holocaust-Drama „Schind- lers Liste“ wieder die böse Nazi-Fratze auf, verbreitet die englische Massenpres- se Entsetzen über den „Schlächter von Dünkirchen“ (Daily Mirror). Aufgeschreckt vermerkte kürzlich die deutsche Botschaft in London, daß die Presseveröffentlichungen die deutschen Behörden in eine schwierige Lage ge- bracht hätten. Es müsse, so die Reaktion in der Bonner diplomatischen Vertre- tung, die eigene Sicht des Falls klarge- macht werden, um „Mißverständnisse“ auszuräumen. Mohnke, 83, einst Hitlers ergebener Haudegen, der als Verteidiger des Berli- ner Regierungsviertels Ende April 1945 Führers Ende inder Reichskanzlei miter- „Ich war Soldat – immer dort, wo vorne war“ lebte – Hitler: „Mohnke, wie lange kön- nen Sie noch halten?“, Antwort: „24 Stunden, mein Führer“ –, machte aus seiner militärischen Karriere im Dritten Reich nie ein Hehl: „Ich war Soldat – und zwar immer dort, wo vorne war.“ Doch daß der Generalmajor der Waf- fen-SS, nach dem Krieg zehn Jahre in sowjetischer Haft, Kriegsverbrechen an- geordnet haben soll, konnte nie nachge- wiesen werden. Verdachtsmomente allerdings gab es zur Genüge. Nach Hinweisen britischer Überlebender des Wormhoudt-Massa- kers begann die Lübecker Staatsanwalt- schaft 1973 zu ermitteln, mußte die Ak- ten aber mangels Beweisen drei Jahre später schließen. Erst 1988, als der Labour-Abgeordne- te Jeff Rooker im Londoner Unterhaus von der Regierung Thatcher Einsicht in die bis zum Jahr 2021 gesperrten Akten über den Fall Wormhoudt verlangte, wurden die deutschen Strafverfolger er- neut aktiv. Fehlanzeige auch diesmal. Aus den Zeugenbefragungen und dem Studium der Unterlagen gewann die Lü- becker Staatsanwaltschaft keine neuen Erkenntnisse. Ein „hinreichender Tatverdacht“, so der Leitende Oberstaatsanwalt Heinrich Wille, habe sich nicht ergeben, es fehle an „gerichtsverwertbaren Beweisen“. Ende vergangenen Jahres wurden die Ermittlungen gegen Mohnke erneut ein- gestellt. Restlos überzeugt von diesem Ergebnis scheint freilich auch Wille nicht zu sein. Er räumt freimütig ein „starkes Bedauern“ ein, daß eine „Aufklärung nicht möglich war“. In London löste die Entscheidung Unverständnis und Verärgerung aus. Die deutschen Behörden, faßt Ian Say- er*, Weltkriegsspezialist und Mitautor eines Buchs über Mohnke, die Vorwür- fe zusammen, hätten ihre Untersuchung jahrzehntelang „lasch“ und „inkompe- tent“ betrieben. Nun kann, wer will, sich selbst ein Bild machen. Die 22 Ordner mit über 2000 Dokumenten mögen zwar für ein Verfahren nach deutschem Strafrecht keine ausreichenden Belege liefern. Daß sie Mohnke aber insgesamt entla- sten, wie die Staatsanwaltschaft urteilte, muß bezweifelt werden. Die Akten zeigen zugleich, wie schwer es ist und war, die Verantwortli- chen der Nazi-Greuel zu ermitteln und zu verfolgen. Mutmaßliche Tatzeugen des Wormhoudt-Massakers schwiegen, bestritten, erinnerten sich nur ungenau oder sind inzwischen verstorben. Von 1944 bis 1948 recherchierten die Briten energisch – sie gründeten sogar eine eigene Untersuchungskommission. Doch den wichtigsten Mann konnten die Ermittler nicht befragen: den Hauptver- dächtigen Mohnke, seit Kriegsende in sowjetischem Gewahrsam. Darüber hinaus, so das Fazit der Wormhoudt-Kommission, war bereits damals „keiner der britischen Augen- zeugen fähig, einen der beteiligten Deutschen zu identifizieren“. Bei einem Tatortbesuch 1947 fielen den Verneh- mern „beträchtliche Schwierigkeiten“ der überlebenden Opfer auf, „präzis zu sein“. Es sei zu befürchten, daß ihre Aussagen für ein Gerichtsverfahren nicht ausreichten. Dennoch kam so viel zusammen, daß die Alliierten Mohnke auf eine Liste in- ternational gesuchter, mutmaßlicher Kriegsverbrecher setzten. Obwohl sich die meisten SS-Soldaten bei den Verhö- ren über die Vorgänge in Wormhoudt in Schweigen hüllten, räumten einige ein, von den Erschießungen der Soldaten ge- hört zu haben. Es habe sich, so die mei- sten, um einen Vergeltungsakt gehan- delt, nachdem aus den Reihen der Bri- ten auf den SS-Rottenführer Werner Rüger geschossen worden sei. Daß es grundloser Mord war, bezeug- ten immerhin fünf SS-Häftlinge. So gab der ehemalige SS-Obersturmführer Carl Kummert zu Protokoll, der Komman- deur des 2. Bataillons der „Leibstandar- te“ habe seinen Adjutanten angewiesen, die britischen Soldaten erschießen zu lassen. Ob Mohnke den Befehl dazu gab

* Ian Sayer, Douglas Botting: „Hitler’s Last Gene- ral. The case against Wilhelm Mohnke“. London 1989. Werbeseite

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Presse Bunt wie Boxer-Shorts Lücke auf dem Pressemarkt: Gleich zwei Magazine für Jobsucher umwerben vier Millionen Arbeits- lose in Deutschland.

it einem lebensprallen Sortiment aus seinem Delta Verlag lockt Mder Gaggenauer Robert Gabor, 34, „Leser aus allen Schichten und Al- tersklassen“. St. Pauli – Dickerchen Total etwa zeigt laut Verlagswerbung „schöne Frauen mit üppigen Formen“. Auch Kerls, die „junge, hochwertig foto- Massaker-Gräber in Wormhoudt: „Ein fairer Gegner wird fair behandelt“ grafierte Mädchen“ bevorzugen, be- dient Gabors Gabentisch – für alle, „die oder dessen Vorgänger, Sturmbannfüh- jüngsten Vorwürfe aus Großbritannien Action lieben“, liegt Action am Kiosk rer Ernst Schützeck, konnte Kummert tut der Greis als „Schlammschlacht“ ab. bereit. allerdings nicht beantworten. Mohnke bleibt auch gegenüber dem Seit Montag voriger Woche wirbt Ga- Schützeck hatte das Bataillon beim SPIEGEL dabei: „Es hat keinen Er- bor um mehr als vier Millionen Frauen Angriff auf Wormhoudt zunächst ge- schießungsbefehl von mir gegeben. Ich und Männer mit ganz anderen Interes- führt, wurde aber, nachdem er von einer weiß auch nichts von einem solchen sen – Leser, die gern mehr Aktion hät- Granate verletzt worden war, am Nach- Massaker.“ ten, wenn sie denn einen Arbeitsplatz mittag des 28. Mai 1940 gegen 16 Uhr An alles, was sich in jenen verhäng- fänden: Mit Job aktuell bietet der von Mohnke abgelöst. Das Massaker, nisvollen Nachmittagsstunden des 28. Robert Gabor Verlag „das erste daran bestehen kaum Zweifel, ereignete Mai 1940 zutrug, vermag sich der herz- bundesweite Magazin speziell für Ar- sich danach, so daß Mohnke zum Zeit- kranke Pensionär auch nicht mehr zu beitslose“ an. Der Preis der Illustrier- punkt der Tat die Kommandogewalt entsinnen. „Es ging drunter und drü- ten, die einmal monatlich in einer Auf- hatte und insofern verantwortlich war. ber“, so Mohnke, „denn meine Kompa- Direkt belastet wurde Mohnke nie befand sich ja im Angriff.“ schließlich durch die Aussage des SS- Nach London zu reisen, um die Akten Rottenführers Oskar Senf, der das Mas- zu studieren, liegt dem früheren SS-Of- saker mit eigenen Augen verfolgt hatte: fizier fern, obwohl ihm in Großbritan- nien kein Verfahren droht: „Ich werd’ Kurz vor dem Bataillonsgefechtsstand den Teufel tun und mich in die Fänge trat der Hauptsturmführer Mohnke, dieser Leute begeben.“ Chef der 5. Kompanie, der gerade eben die Führung des Bataillons übernom- In England beginnen die Nachfahren men hatte, zu uns und machte in unse- der Opfer von Wormhoudt mit Hilfe der rem Beisein dem Untersturmführer publizierten Dokumente jetzt nach dem Heinrichs Vorwürfe . . . Er sagte wört- Schicksal ihrer Angehörigen zu for- lich: „Wie kommen Sie dazu, entgegen schen. Eine von ihnen ist Pamela Jen- dem Befehl Gefangene einzubringen.“ nings. Sie war sieben Jahre alt, als eine Handgranate ihren Vater, Sergeant-Ma- Anschließend, so Senf, seien die Eng- jor Augustus Jennings, in der Scheune länder zu einer Scheune geführt wor- zerriß. Er hatte sich auf den Sprengkör- den. Auf seine Frage, was mit ihnen ge- per geworfen, um seine Kameraden vor schehen solle, habe die Wachmann- der Explosion zu schützen. schaft geantwortet, Mohnkes Befehl Erst durch die Akten erfuhr Pamela laute, die Gefangenen zu erschießen. Jennings von der heroischen Tat ihres Doch Senf kann vor einem deutschen Vaters. Fast täglich geht sie ins Public Gericht nicht mehr befragt werden. Er Record Office, das britische Nationalar- starb schon vor über 40 Jahren an Tu- chiv im Londoner Stadtteil Kew, wo das berkulose. Alle übrigen SS-Zeugen Material lagert, und macht sich Bleistift- machten ihre Aussagen nur vom Hören- notizen. sagen. Und keiner der Überlebenden Wenn schon die Gerechtigkeit auf der konnte je einen der Täter identifizieren. Strecke bleibe, sagt sie, wolle sie wenig- Der ehemalige SS-Brigadeführer be- stens festhalten, wie es eigentlich gewe- Pro Job-Projektleiter Andresen teuert bis heute seine Unschuld. Die sen sei. Y „Gesellschaftlich relevante Gruppe“

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„in einer deprimieren- den Lage helfen“, sagt Freizeit Kretschmer-Rische´. Die Rubrik „Überle- ben“ in Job aktuell will Betroffenen Tips in Ewiger Streit Rechts- und Lebensfra- gen geben, Anfängern Bundesinnenminister Kanther beim „Berufsstart mit will ein Spiel verbieten: Cowboy Hindernissen“ helfen und beschreiben, „wo und Indianer im Laserdrome. sich auf dem Arbeits- markt Möglichkeiten er Feind naht. Schnell in Dek- und Lösungen anbie- kung. Hinter den Felsen. Pech ge- ten“. Dhabt. Ein roter Laserblitz. Zwei Optisch spreizt sich Piepser („djung, djung“) – Treffer. das Blatt, das sich als Überall huschen die Kämpfer durchs „das Magazin mit Halbdunkel, überall Blitze, überall Durchblick“ anpreist, Piepser. Nebelschwaden, Techno-Mu- so bunt wie die Boxer- sik. Wer getroffen ist, setzt aus. Die Pi- Shorts eines Art-Direc- stole jault kurz auf („wuäng, wuäng“) tors. Vieles, nörgelte und streikt für ein paar Sekunden. Job aktuell-Verleger Gabor: „Magazin mit Durchblick“ die Süddeutsche Zei- High-Tech-Häuserkampf auf 500 tung, erinnere „an das Quadratmetern. Zwischen schwarzen lage von 300 000 erscheinen soll: buntgemischte Programm von Frauen- Wänden mit Neon-Graffiti jagen sich 3,90 Mark. oder Jugendzeitschriften“. sechs Spieler, jeder gegen jeden, hasten Jungverleger Gabor ist überzeugt, ei- Auch Konkurrent Pro Job sieht sich durch Labyrinthe, ducken sich in Ni- ne lukrative Marktlücke entdeckt zu ha- als ein „Forum, das über alle Aspekte schen, zielen zwischen Schießscharten ben. Doch in der tummelt er sich nicht der Arbeits- und Berufswelt Auskunft und Atomfässern. allein: Am selben Tag wie Job aktuell gibt“. Im Hochglanzheft finden Ratsu- Jeder hat sein Laser-Paket umge- erschien in Hannover ein zweites Maga- chende, lobt Chefredakteur Klaus Krau- schnallt, ein blinkendes Kästchen auf zin „für Arbeitssuche und Beruf“: Pro se sein Produkt, Hintergrundinforma- der Brust, eins auf dem Rücken, in der Job aus der Schlüterschen Verlagsan- tionen und „wertvolle Tips kompetenter Hand die Laserpistole: Schüler und stalt druckte zum Start gleich 415 000 Experten“: etwa über mögliche Tücken junge Werktätige, die für 18 Mark pro Exemplare. Wie Konkurrent Job aktuell der Fort- und Weiterbildung oder die halbe Stunde Rambo mimen. soll auch Pro Job monatlich erscheinen, Rechtsansprüche Arbeitsloser. Ins einzige deutsche „Laserdrome“, zum Preis von 4,50 Mark. Ob die Pro Job-Macher indes selbst das im Industriegebiet des 18 000-Ein- Die Konkurrenz schreckt Pro Job- so genau wissen, worüber sie schreiben, wohner-Städtchens Gerlingen bei Stutt- Projektleiter Uwe Andresen, 38, nicht. ist nicht ganz klar. Versicherungen, so gart Kriegsspieler anlockt, kommen sie Weil „die Printmedien“ für eine „gesell- verbreitet das Blatt in den „Reise-In- von weither: aus Karlsruhe, aus Han- schaftlich so relevante Gruppe wie die fos“, kommen auch für im Urlaub ge- nover, aus der Schweiz, bis zu 120 täg- Arbeitslosen bislang nichts getan ha- stohlene Armbanduhren im Wert von lich. Heiko Müller, 22, tagsüber Tür- ben“, glaubt Andresen fest an sein Pro- „insgesamt gut 45 000 Mark“ auf. steher bei Kaufhof und aus Tarnungs- dukt. Schon in der ersten Woche, Arbeitslose Rolex-Träger werden es gründen abends schwarz gekleidet wie schwärmte er, hätten „sich viele Leser gern lesen. Y die meisten Hobby-Kämpfer, kommt gemeldet und Anregungen gegeben“. Auch Ute Kretschmer-Rische´, 30, setzt auf den Medienfrust ihrer Klientel. Arbeitslose, so die Chefredakteurin von Job aktuell, seien es leid, „als Zahlen zu erscheinen“ – die wollen wissen, „wie andere damit umgehen, die, mit Ver- laub, selber in der Scheiße sitzen“. Fraglich bleibt, ob die da unten auch Kunden aus der Wirtschaft locken. Ver- leger Gabor ist da wenig zuversichtlich. Die Werbewirtschaft, sagt er, sehe „Arbeitslose und Jobsucher offenbar nicht als Käufer an“. Andresen hofft auf „Markenartikler, die zu vertretbaren Preisen Qualität anbieten“. Abgeguckt haben die beiden deut- schen Job-Postillen ihr Konzept bei den Franzosen. In Frankreich ist seit mehr als einem Jahr die Zeitschrift Rebondir – zu deutsch: Wieder aufspringen – erfolg- reich auf dem Markt. Der Grundton der Blattmacher ist op- timistisch rosa. Wir wollen keine „Schwarzmalerei“, sondern Menschen Vorbereitung zum Laser-Schießen: Für 18 Mark pro halbe Stunde Rambo mimen

DER SPIEGEL 13/1994 93 Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND fast jeden Tag. Bis zu 100 Mark läßt er „nicht zur Verfügung und können auch Amoklauf und Bürgerkrieg nicht als pro Woche am Stahlblech-Tresen. La- nicht geschaffen werden“. eindeutig sittenwidrig definiert, darf ser-Schießen zu Techno-Musik – das Wiederholt hat der Deutsche Städte- weiter geschossen werden. hat für ihn „so das gewisse Etwas“. tag versucht, die Auswüchse der Frei- Dennoch rückte vorvergangenes Wo- Moralisch verwerflich findet er das Kil- zeitindustrie zu beschneiden. Stets sei chenende die Stadt München mit der lerspiel nicht: „Bei ,Mensch ärgere man, so die Referentin für Ordnungs- stumpfen Waffe des OWiG der örtli- dich nicht‘ geht’s auch ums Töten: und Gewerberecht, Birgitt Collisi, chen „Laserdrome GmbH“ zu Leibe, Man versucht, den anderen rauszuwer- „beim Wirtschaftsminister vor ver- die ein Schlachtfeld im Keller eines La- fen.“ schlossene Türen gelaufen“. gerhauses eröffnen wollte. Der Betrieb „Endlich“, sagt der Hamburger An- So scheiterte etwa der Versuch, mit wurde mit sofortiger Wirkung unter- dreas Fischer, 23, „kann man Cowboy Hilfe der Gewerbeordnung die Aus- sagt. und Indianer spielen ohne den ewigen breitung der Spielhallen in den Innen- „Der qualitative Sprung zwischen Streit darüber, ob nun jemand getrof- städten einzudämmen. Ebenso mißlang dem Laserspiel und dem wirklichen fen ist oder nicht.“ es, die Erhöhung des Mindesteinsatzes Töten in Jugoslawien ist minimal“, ver- Wen es im Laserdrome erwischt, der bei Geldspielautomaten zu verhindern. sucht Kreisverwaltungsreferent Hans- ist für Sekunden kampfunfähig, seine Der Einsatz an den Groschengräbern Peter Uhl das Verbot zu rechtferti- Lichtkanone hat Ladehemmung. Ein wurde 1993 mit Duldung des Wirt- gen. Computer registriert die Treffer, spei- schaftsministers von 30 auf 40 Pfennig Er ahnt jedoch, daß seine Behörde chert Täter und Opfer. Am Ende angehoben. mit dem gewagten Vergleich vor den spuckt er akkurat für jeden Mitspieler die Abschüsse und die erlittenen tödlichen Tref- fer aus. Die Freizeitindustrie rüstet auf. Nach der erfolgreichen Einführung in den USA, in England und der Schweiz lie- gen nun auch in zahlreichen deutschen Städten, unter an- deren in Essen, Augsburg, Bonn und Stuttgart, Bauan- träge für ähnliche Spielstätten vor. Und vielerorts regt sich der Unmut von Bürgern, die pädagogische Bedenken ge- gen das Schießspiel anmel- den, weil es zur Verrohung von Jugendlichen beitrage. Vorvergangenes Wochen- ende stellte sich Innenmini- Schützen im Gerlinger Laserdrome: „Djung, djung, wuäng, wuäng“ ster Manfred Kanther (CDU) an die Spitze der Bewegung. Er wolle Hinter der Toleranz gegenüber der Verwaltungsgerichten „möglicherweise „alles in meiner Möglichkeit Stehende Spielautomatenbranche vermuten Ein- nicht obsiegen“ wird. tun“, gelobte der kühle Hesse, um die geweihte den Einfluß der grauen Emi- In Deutschlands einzigem real existie- Baller-Hallen zu verbieten, und forderte nenz der Wirtschaftspolitik, Otto Graf renden Laserdrome in Gerlingen zeich- Schützenhilfe gegen die „Killerspiele“ Lambsdorff, der unter anderem der net sich indes eine Art biologische Lö- an. Denkbar seien insbesondere „Ände- NSM KG als Aufsichtsratsvorsitzen- sung des Konflikts ab: Vergangenes rungen der Gewerbeordnung oder des der dient. Die Firma mit Sitz in Bin- Jahr hatten Richter des Landgerichts Ordnungswidrigkeitengesetzes“, schrieb gen zählt zu den drei größten Her- Stuttgart ein Testgefecht ausgetragen er an die freidemokratischen Kabinetts- stellern von Spielautomaten in und anschließend dem Betreiber aufer- kollegen Günter Rexrodt und Sabine Deutschland. legt, Minderjährige von den Laserge- Leutheusser-Schnarrenberger. Die Automatenindustrie, selbst we- wehren fernzuhalten. Da wird der Bonner Sheriff, der nun gen allerlei Killer-, Baller- und Bom- Entgegen dessen Behauptung, Laser- mit hartem Durchgreifen gegen PKK- berspielen im Schußfeld der Kritik, di- krieg sei ein kämpferischer Sport, „ähn- Kurden und auf der Spieleebene jenes stanziert sich scheinheilig von der Men- lich wie Fechten oder Völkerball“, stell- Profil zu gewinnen sucht, das Partei- schenjagd in den Laserdromes: „Sozial ten die Richter fest, das Laserdrome sei freunde in der Innenpolitik bislang ver- unwertig, verabscheuungswürdig“ sei eine Spielhalle. Und dort haben Kinder missen, wohl vorbeischießen. Zwar lie- es, wenn Spieler mit Laserwaffen auf- und Jugendliche laut Gesetz keinen Zu- gen die Kompetenzen beim Wirtschafts- einander zielen und das Töten ihrer tritt. minister (Gewerbeordnung) und bei der Gegner als Spielerfolg werten. Für Erwachsene sei das Spiel „ziem- Justizministerin (Ordnungswidrigkei- Gesetze gegen Killerspiele fordert lich langweilig“, fand der Gerlinger Bür- tengesetz). Doch die beiden Liberalen die Münzautomaten-Lobby indes nie. germeister Albrecht Sellner, und da hat mögen nicht mitspielen. Denn in beinahe jedem Daddel-Eta- er wohl recht. „Wir tendieren nicht dazu, bundes- blissement stehen Apparate, an denen Neulich bekam er Besuch vom Laser- rechtlich was zu machen“, ließ das Ju- imaginäre Gegner auf überdimensiona- drome-Betreiber: Der Laserkriegsherr stizministerium verlauten. Und Rexrodt len Bildschirmen realitätsgetreu nieder- bat um Stundung seiner Vergnügungs- blockte schon im Januar ein Hilfeersu- gemäht, abgeknallt und weggebombt steuerschuld, das Geschäft mit den Er- chen des Deutschen Städtetags ab: werden. Und solange das Ordnungs- wachsenen reiche nicht einmal aus, um „Gewerberechtliche Handhaben“ gegen widrigkeitengesetz (OWiG) nicht geän- Pacht und Lizenzen zu bezahlen. die High-Tech-Spielplätze stünden dert wird, das die Simulation von Game over? Y

DER SPIEGEL 13/1994 95 GESELLSCHAFT

Psychologie GESPENST IM KINDERZIMMER Lassen sich schwere psychische Störungen verhindern, wenn Menschen schon als Babys therapiert werden? Kann ein potentieller Gewalttäter vor seiner kriminellen Karriere bewahrt werden, indem er früh genug behandelt wird? Forscher und Therapeuten haben die Prävention entdeckt: Seelenheilkunde für Kleinkinder.

s waren die Schreie, die er nicht er- nen, das wohl den letz- tragen konnte. Er blickte auf das ten Impuls auslöste. EBaby, das da leise zu weinen be- Auch sie hielten die gann. „Hör auf, hör auf“, brüllte Martin Schreie des Kindes, die Kleine an, versuchte sie dabei unbe- das sie gemartert hat- holfen zu tätscheln, und als sie zurück- ten, nicht aus. Sie schreckte, ging das Tätscheln in Schläge schlugen zu, bis es über. Schließlich drosch der Dreijährige schwieg. hemmungslos auf das Baby ein, das da Was denkt Martin, vor ihm lag und vor Schmerzen schrie. was fühlt das klei- Thomas, gerade ein Jahr alt, wurde ne Mädchen, das er starr, als er in der Ferne ein Kind wei- schlägt? Was ge- nen hörte. Sein Blick drückte Angst und schieht, wenn Thomas Erschrecken aus, seine Hände hielt er später ein Kind hat, steif in der Luft. Er saß sehr gerade, mit das schreit? Kann es durchgedrücktem Kreuz, und lauschte, sein, daß er zum Mör- rührte sich nicht, bis das Weinen vorbei der wird? war. Erst dann spielte Thomas wieder Die Psychoanalyse ruhig im Sand. hat schon lange ein Mitleid zeigten die Kleinen nicht. Wort dafür, was da ge- Akribisch hatten Forscher in einem schehen ist: „Frühe amerikanischen Heim für mißhandelte Störung“ heißt so ein Kinder das Verhalten einer Gruppe auf- Vorgang im Jargon. Er gezeichnet. Wenn Spielgefährten wein- wird meist erst the- ten, berichtet die Psychologin Mary rapiert, wenn der Babyforscher, Babys im Labor*: Kein Triebbündel, sondern Main, dann reagierten sie abwehrend Mensch erwachsen ist oder aggressiv – ganz anders als eine und sich zurückerinnert – um Jahre zu alter Symptome“. Jetzt betreibt sie im Kontrollgruppe von Babys und Klein- spät. Nordwesten ihre „Parent Infant kindern, die nicht mißbraucht worden „Manche Gewalttat“, glaubt der Kin- Clinic“, wo sie Säuglinge und deren El- waren. Die Gesichter der unversehrten derpsychiater Peter Riedesser, „viel- tern therapeutisch betreut. Kinder drückten Mitgefühl aus, oft ver- leicht sogar mancher Mord hätte verhin- Auch Dieter Bürgin, Chefarzt der Kin- suchten sie zu trösten. Die anderen nie. dert werden können, indem man sol- der- und Jugendpsychiatrischen Unikli- Als im vergangenen Jahr zwei Liver- chen Kindern rechtzeitig hilft.“ So ist es nik in Basel, glaubt, daß „in der frühen pooler Kinder den zweijährigen James denn „allerhöchste Zeit“, findet der Intervention die Zukunft liegt“. Am An- Bulger umbrachten, da war es sein Wei- Chef der Kinder- und Jugendpsychiatrie fang eines Menschenlebens, da die des Hamburger Univer- „emotionale Grammatik“, das System sitätskrankenhauses Ep- des Fühlens und Mitfühlens, entsteht, pendorf, daß sich die „kann man so gut helfen wie später nie Seelenheilkunde auf ein mehr: Die Chancen sind einfach größer, Grundprinzip der Medi- wenn man die ersten Weichen richtig zin besinnt: „die Bedeu- stellt“. tung der Prävention“. Bedarf besteht. Eine „wachsende Zahl Es sieht so aus, als vonenorm verunsicherten Eltern“hat die wache der Berufsstand Münchner Säuglingsforscherin Mecht- auf. Die Londoner Kin- hild Papousˇek festgestellt, die regelmä- dertherapeutin Stella ßig Sprechstunden für „Schreibabys“ ab- Acquarone hat jahre- hält. Die Nachfrage sei „enorm“, meldet lang mit Kindern gear- auch Stella Acquarone in London, und beitet „und dann festge- stellt: Die meisten, die * Ein 23 Tage altes Kind imitiert den Gesichts- mit einer Störung zu mir ausdruck des Forschers; ein etwa acht Monate al- tes Kind identifiziert komplizierte Muster; ein Mißhandeltes Kind kamen, hatten schon im zwei Monate altes Kind erkennt Geräusche wie- Kein Mitleid, wenn ein Spielgefährte weint Baby- oder Kleinkind- der.

96 DER SPIEGEL 13/1994 das wundere sie nicht: In einer Zeit, da Therapeuten geben es zu. Sorgenkinder Erst ab Mitte dieses Jahrhunderts, als es so „unglaublich viele gestörte Kinder im Säuglingsalter hat es immer gegeben. moderne Technik wie Tonband und spä- und Jugendliche“ gebe, gehe sicherlich Nur hieß es früher: Das wächst sich aus. ter auch Video die Wahrnehmung der „ziemlich früh ziemlich viel schief“. Doch jetzt, sagt Cramer, „haben wir Wissenschaftler schärfte, fingen sie an, Wo es solche Hilfe schon gibt, da schließlich verstanden, daß dieses Lei- sich für das Innenleben dieser Wesen zu drängen sich die Menschen in den War- den behoben werden kann – daß das interessieren – und langsam tasteten sie tezimmern. In der Genfer Clinique de Symptome sein können für seelischen sich an die Seele des Säuglings heran. Psychiatrie Enfantine, dem führenden Schmerz“. Sie lernten, „Fragen zu stellen“, so Behandlungszentrum für Säuglinge und Möglich wurden solche Hoffnungen formuliert es der amerikanische Säug- deren Eltern, empfangen der Psycho- erst, als sich das Bild des Säuglings in lingsspezialist Daniel Stern, „die Babys analytiker Bertrand Cramer und seine den Köpfen der Seelenforscher zu än- tatsächlich beantworten konnten“. Fin- Kollegen rund 600 neue kleine Patien- dern begann. dige Forscher entwickelten Versuchs- ten pro Jahr – gut die Hälfte ist jünger Jahrzehntelang waren Psychoanalyti- methoden, die den Fähigkeiten der als drei Jahre. ker mit der verpfuschten Vergangen- Winzlinge angemessen waren: Durch Babys auf die Couch – eine neue Mo- heit, mit dem „rekonstruierten Kind“ heftiges Strampeln, Köpfchen abwen- de? Psychotherapie für kleine Prinzen beschäftigt, das der erwachsene Patient den oder hektisches Saugen am Schnul-

ein kompetenter Säugling, der von Anfang an mit der Welt kommunizieren kann

und Prinzessinnen, weil es die neuroti- auf der Couch in sich suchte. Für das ler konnte der Säugling signalisieren, sche Mama oder der Papa so will? real existierende Kleinkind und dessen was er von den dargebotenen Reizen Nein, sagt Cramer, es seien „keine Leiden interessierten sie sich wenig. hielt. überdrehten Mittelschichteltern, die ih- Und den Säugling, berichtet der Frank- Plötzlich war nicht mehr von einem re Klein- und Kleinstkinder zum Seelen- furter Gruppenanalytiker Martin Dor- dumpfen „Triebbündel“, von einem arzt schleppen, weil man das jetzt tut“. nes, „hat die Psychoanalyse lange unter- „hirnrindenlosen Reflexwesen“ oder Wer sich bei ihm in der Sprechstunde schätzt“. einem „dummen Vierteljahr“ die Rede einfindet, der werde meist „regelrecht Zwar hatte Freud schon das Klein- – die Wissenschaft hatte den „kompe- von der Verzweiflung getrieben“. kind mit Trieben, Wünschen, Phanta- tenten Säugling“ entdeckt. Das Kind ißt nicht und magert ab. Es sien ausgestattet. Doch dem Baby billig- Spätestens im zweiten bis dritten erbricht sich ständig. Es schläft nicht, es te er nur Lust oder Unlust, keine ande- Monat, so die revolutionäre Diagnose schreit Tag für Tag und Nacht für Sterns, nimmt sich das Baby als Wesen Nacht. Es wächst nicht, oder es rührt wahr: Es entdeckt „sein Selbst – in sich kaum, liegt apathisch im Arm der Der Forscher fragt, Abgrenzung zu anderen“. Kommuni- Mutter oder im Kinderwagen oder wen- der Säugling strampelt zieren, Gefühle mitteilen und Reaktio- det jedesmal den Blick ab, wenn sich je- nen empfangen kann es von Anfang mand mit ihm befaßt. seine Antwort an. Es sammelt Eindrücke von der „Ein unglaublicher Druck, eine Hoff- Welt und wird geprägt durch das, was nungslosigkeit lastet auf den Leuten“, ren Gefühle zu. Und in der allerersten es erlebt. hat Cramer beobachtet. Die Mütter – Zeit, glaubte er, schotte sich der Säug- Babys, vermeldet nun die experi- meist sind sie es, die kommen – sind er- ling gern gegen Reize ab – er sei „im mentelle Psychologie, sind geborene schöpft und fühlen sich überfordert, sie Autoerotismus gefangen“. Die Psycho- Experten. Neugeborene können sehen, sind deprimiert, weil sie glauben, daß analytikerin Margaret Mahler erklärte hören, Gesichter und Laute erkennen. sie versagt haben. Viele haben Angst, in den fünfziger Jahren, bis zum fünften Sie unterscheiden klar zwischen Stim- sie könnten sich an ihrem Kind vergrei- Monat existiere der Säugling nur in men vom Tonband und echten Tönen, fen – manche haben es schon getan. Neu Symbiose mit der Mutter, nicht als eige- die ein Mensch neben ihnen spricht. sind solche Probleme sicher nicht, die nes Subjekt. Schon 45 Stunden alte Kinder ahmen

DER SPIEGEL 13/1994 97 Werbeseite

Werbeseite GESELLSCHAFT die Mimik Erwachsener nach: Trauer, Die Entdeckung des Selbst Kind einen Schokoriegel aus Mutters Freude, Überraschung. Tasche. Und jedesmal, wenn die Kleine Als wollten Forscher Versäumtes Welt der Gefühle in das Naschwerk beißen will, greift die nachholen, stürzen sie sich seit einigen bis 2./3. Monat Mutter zu und nimmt es ihr weg. Der Jahren auf alles, was strampelt und lallt. Grund wird in der Therapie klar: Die Das Kind nimmt Objekte und Ereignisse In der experimentellen Psychologie, no- durch die Gefühle und Stimmungen Frau ißt selbst sehr gern, hat deswegen tiert der Frankfurter Dornes, herrscht wahr, die sie in ihm auslösen. ein schlechtes Gewissen und fürchtet, derzeit ein „regelrechter Säuglings- daß die Tochter ein fettes, häßliches, boom“. Auftauchendes Selbst triebhaftes Wesen wird. Mitunter nimmt die Neugierde merk- Wenn der Grundkonflikt der Großen würdige Züge an. So hat eine britische verstanden worden sei, versichert Cra- Welt der direkten Kontakte Psychologin herausgefunden, daß es ei- mer, könne auch das Kind gesunden – nem Kind guttut, wenn es innerhalb von 2./3. bis 7./9. Monat „viel schneller als ein erwachsener drei Wochen 1072 Mal gestreichelt wird Das Kind stellt intensive Beziehungen her. Es Mensch. Bei der Mutter-Kind-Therapie – es gedeiht besser als ein seltener ge- lernt, daß es etwas bewirken kann: sind meistens fünf oder sechs Sitzungen streicheltes Kind. Beispielsweise lächelt es und genug“. Zwar kommt heute kein Säuglingsfor- bringt damit die Mutter „Am Anfang“, berichtet Guedeney, scher mehr auf die Idee, wie Anderson zum Lächeln. Chef der Kleinkindabteilung des Pariser Aldrich im Jahr 1928, einem Baby im- Institut de Pue´riculture, „versteht man Kern-Selbst mer wieder eine Nadel in den Fuß zu gar nichts: große Konfusion.“ Da bringt stechen, um zu sehen, wie es reagiert. beispielsweise eine erschöpfte junge Doch von Zeit zu Zeit werden die Klei- Welt der Gedanken Frau ihr Kind in die Therapie, „und sie nen durchaus drangsaliert. erzählt mir von diesem Monster, das sie 7./9. bis 15./18. Monat Als richtig quälend empfanden die zu Hause terrorisiert. Ein Horrorbaby, Erwachsenen – und vor allem die Kin- Das Kind entdeckt, daß es das dauernd brüllt, das nie zufrieden ist, der – eine mittlerweile berühmte Test- Gefühle und Gedanken mit das den ganzen Haushalt beherrscht. reihe: das „Still face“-Experiment. Drei anderen teilen kann, daß Und was sehe ich? Einen netten Säug- Minuten lang sollten Mütter, von einer es andere versteht und von ling, dem es gutgeht und der völlig in Videokamera überwacht, nicht auf Lä- ihnen verstanden wird. Ordnung ist“. cheln, Berührung oder sonstige Reize Subjektives Selbst Die Mutter, folgert er, „erzählt mir ihrer zwei Monate alten Kleinen reagie- nicht von diesem Baby. Sie erzählt mir ren. Welt der Wörter von jemand anderem, einer Gestalt in Anfangs versuchten die Babys erst ihrer Vergangenheit, vor der sie selbst einladend, dann zunehmend verzweifelt 15./18. Monat bis 3. Lebensjahr Angst hatte als Kind. Und wenn diese und aufgeregt, das versteinerte Gesicht Das Kind spricht Wörter und Verbindung bewußt geworden ist, dann der Mutter wieder zum Leben zu brin- ganze Sätze und lernt, daß es ist der Knoten geplatzt“. gen. Schließlich wandten sie sich er- Gedanken über abstrakte, „Gespenst im Kinderzimmer“ hat die schöpft und apathisch ab, sie gaben auf. nicht präsente Dinge amerikanische Psychoanalytikerin Sel- Es dauerte eine Weile nach dem Ende mitteilen kann. ma Fraiberg diese Konstellation ein- des Experiments, bis sie wieder über- Verbales Selbst prägsam getauft – alte Geschichten, wel- zeugt waren, daß die Welt nicht völlig che die Eltern mit sich herumschleppen aus den Fugen geraten war. Nach dem Modell des amerikanischen und die bewältigt werden müssen, bevor Dennoch: Kinderquäler, glaubt Dor- Säuglingsforschers Daniel Stern die Beziehung zum Säugling funktionie- nes, können die Forscher nicht sein: ren kann. Dieser Therapieansatz ist weit „Wer gute Ergebnisse will, muß sensibel die man ihm gibt.“ Aufgabe des Thera- verbreitet, manche glauben gar, wie sein, muß in dieses Kerlchen reinkrie- peuten sei es, herauszufinden, bestätigt Guedeney, daß es „immer ein Phantom chen können, versuchen nachzuvollzie- der Genfer Cramer, „in welches Dreh- ist“, das die Leute zu ihm in die Sprech- hen, was es fühlt.“ Und das tun die See- buch das Kind hineingeboren wurde“. stunde treibt. lenforscher in der Tat: Nicht nur als Die Seelen der Eltern sollen den Stella Acquarone bezweifelt das. Wissenschaftler, sondern vor allem als Schlüssel liefern zur Seele des Kindes: Auch die Londonerin teilt die Ansicht, Therapeuten. Welche Angst, welche Erwartung, wel- Nicht ganz einfach, gibt der Basler che Enttäuschung wird von den Großen Bürgin zu, „weil man ja nie sicher sein auf das Baby projiziert? Blickt die Mutter kann, was ein Säugling wirklich denkt. Der Säugling schläft nicht? Vielleicht, ängstlich drein, fürchtet Das ist immer ein Konstrukt“. sagt Cramer, „will die Mutter gar nicht, Deshalb bezieht die Mehrheit der daß er schläft“. Vielleicht fürchtet sie, sich das Kind Helfer stets die Eltern in die Behand- daß das Kind im Schlaf sterben wird – lung ein. „Ein Baby allein kann nicht le- weil sie so etwas schon einmal erlebt daß das Leiden der Kleinen meist auf ben, denn es ist vor allem Teil einer Be- hat. Leiden der Großen zurückzuführen ist, ziehung“, hatte der Engländer Donald Der Säugling ißt nicht? Vielleicht er- und sie will den Erwachsenen helfen, ih- Winnicott Anfang der sechziger Jahre füllt er der Mutter einen unbewußten re Gefühle zu erkennen. Doch manch- postuliert. Seither ist Säuglingstherapie Wunsch. Cramer hat therapeutische Sit- mal, glaubt sie, seien es die Therapeu- meist Mutter-Kind- oder Vater-Kind- zungen auf Video aufgenommen, um ten, welche Gespenster sehen: „Wenn Therapie – wer den Eltern hilft, lautet Eltern – und jungen Therapeuten – vor- beispielsweise eine Mutter ein behinder- das Credo, der hilft dem Kind. zuführen, wie Erwachsene Wünsche tes Kind zur Welt bringt und Schwierig- Die Ursache für die Störung der Klei- mitteilen, von denen sie selbst nichts keiten hat, es anzunehmen – wo ist da nen, so will es dieser Ansatz, liegt in der wissen. das Phantom?“ Psyche der Eltern. „Der Säugling“, sagt Da klagt eine Mutter darüber, daß die Sie hält es für einen Fehler, das Kind der Pariser Kinderanalytiker Antoine Tochter nichts zu sich nehmen wolle. auf eine Projektion der Eltern zu redu- Guedeney, „kann nur die Rolle spielen, Während sie das erzählt, kramt das zieren – „die Psyche der Mutter ist nicht

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Werbeseite GESELLSCHAFT immer an allem schuld“. Die Geburt ist Einige Untersuchungen allerdings zei- nen, in deren Umfeld die Sprache zu für sie der Beginn „einer Begegnung gen, daß Babys früh und sehr stark auf kurz kam. Andere konnten nachweisen, zweier Wesen, zweier Persönlichkeiten: Sprache reagieren. Ein französisches daß schon Neugeborene ein Wort vom wie zwei Menschen, die sich auf einer Experiment belegt, daß es einen großen anderen unterscheiden können: Selbst Party kennenlernen. Man weiß, daß das Unterschied macht, ob in der Umge- komplizierte Wörter wie „zärtlich“ oder ein Mensch ist. Aber man weiß noch bung eines Säuglings viel gesprochen „betrügen“ hatten die Babys wiederer- nicht, wie er sich benimmt“. wird: Bei solchen Kindern klingen die kannt. Daß andererseits die Eltern über ihre Schreie bereits in der ersten Woche me- Sollten Säuglinge noch kompetenter Botschaften, ihre Projektionen die In- lodischer und strukturierter als bei de- sein, als man glaubt? nenwelt des Säuglings mit formen, dar- an besteht kein Zweifel. Der Mensch teilt seinem Kind mit, was von der Welt und ihren Phänomenen zu halten ist – meistens, berichten die Kommunikati- „Dich gibt es, du mußt onsforscher Mechthild und Hanuzˇ Pa- pousˇek, wissen die Eltern intuitiv, wie sie sich verhalten sollen. Aber eben nicht immer. Wenn Er- lernen, daß du existierst“ wachsene Eltern werden, sagt die The- rapeutin Juliet Hopkins von der Londo- Barbara Supp über die Baby-Analytikerin Caroline Eliacheff ner Tavistock Clinic, dann kommen Er- innerungen an die eigene Kindheit m Anfang bestand die Welt aus bracht, ins Säuglingsheim. Dort schlägt hoch, an Lieder, Wörter, Situationen – Hunger, Schlafen, Warten und ihn niemand mehr. Aber immer noch lä- und an unbewußte Erfahrungen. Etwa ASchmerz. Da waren ein Gesicht chelt er so still, ins Nichts. daran, wie die Mutter einen selbst auf und zwei Arme, die manchmal das Ende Manchmal hebt er seine Hände und dem Arm hielt. „Wer selbst eine Mutter des Hungers bedeuteten, Sättigung und betrachtet sie mit abwesendem Blick, mit gutem Körpergefühl hatte“, weiß manchmal Angst und Qual. Dieselbe wie fremde Objekte, unerklärlich, die Hopkins, „wer bequem und sicher ge- Quelle ließ ihn überleben und bedrohte nicht zu ihm gehören, sondern zu irgend halten wurde, der hat gute Chancen, es sein Leben, von ihr kam alle Hoffnung etwas, das er nicht kennt. richtig zu machen.“ und aller Schmerz. Er sieht niemanden an, als ihn die Die Vorgeschichte, die Phantasien, Sonst gab es nichts. Jonathan ist jetzt Säuglingsschwester ins Zimmer trägt, er die Erwartungen der Eltern strukturie- siebeneinhalb Monate alt, und er hat schaut auf die gelbgestrichene Wand. ren das Leben der Kleinen. Was interes- nicht gelernt, daß es Menschen gibt, mit Er hat dieses Zimmer schon ein paar- sant sein kann, wovor man Angst haben denen man Zwiesprache halten kann. mal gesehen, auch diese Frau mit den muß – all das lernt das Baby, indem es Die einem in die Augen blicken oder dunklen, sprechenden Augen, die die Eltern studiert. den Körper berühren, nur so, zum da am Schreibtisch sitzt und immer Forscher haben es ausprobiert: Läßt Spaß. Von der Mutter hat er gerade so wieder versucht, seinen Blick zu fan- man etwa einen piependen und blinken- viel Fürsorge erlebt, daß es zum Überle- gen. den Roboter auf ein neun Monate altes ben reicht. Und Mißhandlungen, seit Das ist diese Stimme, die mit ihm Kind zufahren, so blickt es zunächst fra- seiner Geburt. Vor ein paar Wochen ha- spricht. Diese Hand, die nach seinen gend auf die Mutter. Lächelt sie zustim- ben sie ihn von der Familie wegge- Fingern tastet, die spüren will, daß er mend, dann findet es das Ding interes- sich bewegt. „Das bist sant und beginnt, es neugierig zu unter- du“, sagt die Frau. suchen. Blickt die Mutter ängstlich „Du weißt nicht, daß drein, dann fürchtet sich das Kind und du einen Körper hast. sucht Schutz. Das ist er. Die Hände Mimik, Gestik, Körperhaltung, Ton- gehören zu dir.“ fall, Rhythmus, Artikulation – das Kind Alle zwei Wochen empfängt die Mitteilungen über die bringen ihn die Säug- Welt, so wie sie die Großen sehen. Und lingsschwestern von an die Stelle der alten, verkorksten Ge- Antony, einer Provinz- schichten, das ist die Logik der Thera- stadt 20 Kilometer peuten, können neue, heilsame Bot- südlich von Paris, ein schaften treten. paar Orte weiter zur Auch durch Wörter? Durch Ge- Praxis von Caroline schichten? Eliacheff. Sie ist Psy- In Frankreich hat sich eine Schule der choanalytikerin, in Babytherapie etabliert, die vor allem Frankreich so etwas auf Sprache vertraut. Die Psychoanaly- wie eine Berühmtheit, tikerin Caroline Eliacheff, die meist auf und sie tut etwas, das eine Behandlung der Eltern verzichtet konventionelle Kolle- und sich ausschließlich auf die Säuglinge gen absonderlich fin- konzentriert, redet mit den Kleinen von den: Sie redet mit den Anfang an. Kleinen, als wären sie Ganze Sätze, verkünden Psycholo- erwachsen. Und sie gen, verstehe ein Kind frühestens vom vertraut darauf, daß zehnten Monat an. Und die Mehrzahl die ihre Botschaften der Therapeuten will erst dann mit Wör- verstehen. tern heilen, wenn auch das Kind welche Psychoanalytikerin Eliacheff Sie kann nicht Mut- produzieren kann. Mit Babys reden, als ob sie erwachsen wären ter und Kind gemein-

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Werbeseite GESELLSCHAFT sam in die Praxis bitten, wie das anders- ist und der von Menschen nichts mehr wo üblich ist. Die Eltern der Kinder aus erwartet, der aufgegeben hat. Der sich Antony sitzen, wie Jonathans Mutter, eine Welt aus Dingen zusammengeba- im Knast. Oder sie sind auf der Flucht stelt hat – auch sein Körper ist so ein vor der Polizei. Oder wahnsinnig. Oder Ding. drogensüchtig. Oder vielleicht haben sie Sie berührt seine Hände und spricht schon vor der Geburt beschlossen, daß dabei. „Du mußt lernen“, sagt sie, „was sie mit dem Kind nichts zu tun haben deine Glieder sind. Du mußt zwischen wollen. dir und der Welt unterscheiden. Dich Aber das Kind nur als Fortsetzung der gibt es. Du existierst.“ Mutter mit anderen Mitteln zu betrach- Und der Junge blickt an die Wand ten, das widerstrebt Eliacheff sowieso. und lächelt still. Aber dann tastet er Für sie ist es der Säugling selbst, der doch nach diesen großen Fingern, und zählt: ein menschliches Wesen, das man plötzlich brabbelt er los in die Richtung, wichtig nehmen muß. Sicher, es hat aus der die Töne kamen. Der Junge noch keine Wörter. Doch das Kind hat strampelt und zappelt auf der Schwester seinen Körper, mit dem es Botschaften herum. Als die Therapeutin ihn verab- vermitteln kann. Es spricht die „Sprache schiedet, schaut er wieder ins Nichts. der Organe“: Es wächst nicht oder kann Die Schwester trägt ihn hinaus. Was hat er verstanden? Keine Ahnung. Auch Madame Re´- Das Baby Me´ lina sah zu, thore´ weiß es nicht. Aber sie weiß, daß als der Vater die das richtig ist, was da geschieht. Madame Re´thore´ sitzt in Antony in Schwester ermordete ihrem Direktorinnenzimmer voller Ak- tenvermerke und Verwaltungserlasse, nicht atmen, es leidet an Hautausschlä- sie hat für 130 verlassene und mißhan- gen oder am starren, in sich gekehrten delte Kinder wie Jonathan zu sorgen, Blick. und sie hat beschlossen, daß manche Eliacheff, 46, hat als Medizinerin be- Kinder die Hilfe von Psychoanalytikern gonnen und dann, sehr früh, die Psy- brauchen. Und daß es den Kindern choanalyse entdeckt. Der Strukturalist dann bessergeht. Das genügt. Jacques Lacan hat sie fasziniert und des- Madame ist keine Träumerin, sie ist sen Ideen: daß der Körper Sprache und Direktorin, und sie hält nichts von die Sprache Körper sei. Sie ließ sich zur Phantastereien. Aber Madame Re´- Analytikerin ausbilden, fing an, sich mit thore´, die Mittfünfzigerin mit dem sehr Kindern zu befassen, und als ihr 1987 entschiedenen Blick, muß eine sanfte ein Team vom Säuglingsheim Paul-Man- Seite haben. Madeleine Re´thore´ hat chon in Antony anbot, mit Babys zu ar- einst nicht nur Verwaltung und Jura stu- beiten, sagte sie zu. diert, sondern auch eine Dosis Psycho- In ihrem Buch, das jetzt auf deutsch logie. Und als sie vor gut 20 Jahren ih- erscheint, erzählt sie die Geschichten ren Job im Säuglingsheim Paul-Man- dieser Kinder und wie sie reagiert haben chon antrat, da hat sie sofort festge- auf ihre Therapie*: Fleur, das Baby, das stellt, daß da alles anders werden muß. man wenige Tage nach der Geburt in ei- Daß man sich bestens um die Körper nem Müllsack fand und das sich ent- der Kinder gekümmert hat, aber um die scheiden mußte, ob es leben wollte oder Seelen nie. nicht. Mathias, knapp drei, der kein Also hat sie nicht nur die alten Schlaf- Mensch sein wollte, der sich auf dem säle entrümpelt und neue Spielsachen Boden rollte und schnurrte wie eine angeschafft und liebevolle Schwestern Katze, weil seine Eltern ihm zu verste- eingestellt. Sie hat festgestellt, daß das hen gaben, daß sie mit Tieren besser funktioniert, wenn Eliacheff, wie immer klarkamen als mit ihm. Oder Me´lina, 18 sie das anstellen mag, „das Leiden der Monate alt, die dabei war, als der Vater Kinder in Sprache übersetzt“. Deshalb die dreijährige Schwester mißbraucht schickt sie die Kinder dorthin. und getötet hat. Sie hat den geschände- Philippe zum Beispiel, ein blasses Ba- ten Körper gesehen. by, 13 Monate alt, das als Notfall ins Eliacheff will mit ihnen gesprochen, Heim kam. Ein starres Paket auf dem das Leiden in Sprache übersetzt haben, Arm der Säuglingsschwester, er zuckt sie hat die „Untertitel“ gefunden: So kurz, als man ihn in die Praxis bringt, nennt sie das. Und das, sagt sie, habe ih- steif rollt er vom Arm des Mädchens, nen geholfen, jedem einzelnen, von dem liegt auf dem Boden wie ein Brett und sie erzählt. schreit. Wie soll das gehen? Da sitzt Jona- Im Heim schreit er fast ständig, und than, der noch nicht einmal ein Jahr alt immer wieder, jeden Tag, schlägt er sei- nen Kopf auf Tische oder Stühle oder an * Caroline Eliacheff: „Das Kind, das eine Katze die Wand, er schlägt und schreit. sein wollte, Psychoanalytische Arbeit mit Säuglin- Manchmal so lange, bis er blutet. Das gen und Kleinkindern“. Aus dem Französischen von Susanne Farin. Verlag Antje Kunstmann, tat er auch in der letzten Sitzung bei München; 196 Seiten; 29,80 Mark. Eliacheff, schlug den Kopf auf den Tisch

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Mädchen, das Angst hatte. Panik. Immer, vor allem, was sich tat. Wenn sie etwas gelernt hatte, dann sollte das keiner wissen. Sie wollte nicht laufen, nicht sprechen. Nicht wachsen. Sie hatte Angst vor dem Leben. Angst. Jetzt ist sie vier, ein klei- nes, braunhäutiges Mäd- chen, für den Besuch bei der Therapeutin hat sie sich schwarze Zöpfchen ins Kraushaar flechten lassen und das hübsche rote Karo- kleid angezogen, und sie ist liebenswürdig, meistens je- denfalls. Lange Zeit istsiezu lieb gewesen. Sie lächelte, aber sie traute niemanden. Sie war ein paar Tage alt, als sie ins Säuglingsheim kam. Ihre Mutter gab sie zur Kinder, Kinderschwestern im Säuglingsheim von Antony: Jeder soll seine Geschichte haben Adoption frei, gleich nach der Geburt. Aber dann hat und schrie und blickte immer wieder auf ein Kind eine Persönlichkeit ist und daß sie es sich anders überlegt. Immer wie- die Frau und schlug den Kopf auf den es die Wahrheit verdient, von Anfang der, drei Jahre lang, sagte sie nein zur Tisch und schrie. an. Adoption, sie wolle das Kind, aber sie Was tun mit so einem Kind? Jeder im Heim soll ein Recht auf hat nie versucht, mit ihm zu leben. So- Verstört sitzt der Kleine auf dem seine Geschichte haben. Wer hierher phie hatte eine Mutter und hatte sie Schoß der Schwester, im Augenblick kommt, drei Jahre oder drei Monate nicht, und es fiel ihr sehr schwer zu glau- schreit er mal gerade nicht und haut oder drei Tage alt, der hat Grund genug ben, daß irgend jemand meinen könnte, bloß einen Stift auf den Schreibtisch, zu zweifeln, daß es sich in dieser Welt zu was er sagt. nicht seinen Kopf. „Das ist ein Objekt. leben lohnt. Fast immer sind es die El- Es geht ihr viel besser, und wahr- Das tut nicht weh. Deine Mutter, die ist tern, welche die Qualen verursacht ha- scheinlich kommt sie zum letztenmal. In ein Mensch. Wenn man sie schlägt, das ben – die Menschen, die Schutz sein diesem Monat soll sie adoptiert werden. tut weh. Man darf sie nicht schlagen. Sie weiß, was das ist. In Antony haben Dein Vater hat das getan, und du hast sie oft darüber gesprochen. Jedes Kind das gespürt.“ Sie war lieb erfährt, daß es das Heim irgendwann Philippes Vater hat regelmäßig die und lächelte, aber sie verlassen wird und daß das etwas Gutes Mutter verprügelt, und meistens hielt ist, wenn es geschieht. Wenn jemand sie dabei den Kleinen im Arm. Und die traute niemandem geht, um adoptiert zu werden oder bei Analytikerin glaubt, daß sie endlich ver- einer Pflegefamilie zu leben oder viel- standen hat, was der Körper des Jungen sollten und die zur Bedrohung gewor- leicht sogar zu den Eltern zurück, dann sagt, wenn er sich verletzt. Da war die den sind. An wen soll man da noch glau- ist das jedesmal ein Fest. Mutter, die er nicht schützen konnte, ben? Sie hat das schon oft erlebt. Das ist wie jedes Kind es will. Da war der Va- Die Schreie kommen sowieso immer dann so wie gestern bei dem Kleinen im ter, der schlug und der doch der Vater wieder, die Bilder und der Schmerz, da zweiten Stock, der seinen Ausstand gab. war, der vertraut ist, den er lieben will. muß es doch besser sein, damit leben zu Dann sitzen die sechs Kinder aus einer Er hat den Vater imitiert. lernen, anstatt so zu tun, als wäre nichts. Gruppe um ihren Kindertisch, dann hat „Hör auf damit“, sagt sie. „Du mußt Jeder erfährt, wer seine Eltern sind und jeder sein Tellerchen mit Kuchen und darauf verzichten, dir wehzutun. Dein was sie getan haben und daß sie Men- Kakao oder Saft dazu, und zum Ab- Vater bleibt dein Vater, du brauchst schen und nicht Monster sind, die man schied kriegt man so ein Heft mit Fotos nicht dasselbe zu tun wie er. Man muß lieben darf, wenn man will. Er hört und den Namen der vier Schwestern, die nicht schlagen, damit einen jemand ver- Wörter wie „Gefängnis“ oder „Tren- sich um einen gekümmert haben. steht.“ nung“ oder „Pflegefamilie“. Macht So wird das sein, sie ist darauf vorbe- Der Junge sitzt da, mit aufgerissenen nichts, wenn er die Vokabeln nicht ver- reitet, sie kann allmählich glauben, daß Augen, er schreit nicht, er schlägt nicht, steht: daß man ihn ernst nimmt, das ver- das auch geschehen wird, was man ihr er blickt dieser Frau ins Gesicht. „Ich steht er schon. sagt. sage dir Auf Wiedersehen, Philippe. Bis Und wenn es nur das sein sollte, was Sie spielt mit den Malstiften, die auf zum nächsten Mal. Paß gut auf dich Eliacheff den Babys gibt – vielleicht ist dem Schreibtisch liegen, aber Bilder auf.“ Als die Schwester das Kind hin- es genug: diese Haltung, daß es eine Zu- malen, so wie sonst, will sie heute nicht, austrägt, kurz vor der Tür, dreht er sich kunft gibt und daß es den Versuch wert und sie hat auch keine Lust auf viel Ge- noch einmal um und schaut Eliacheff ins ist, sich diese Welt näher anzuschauen. rede. Sie nimmt ein Blatt Papier vom Gesicht. Daß es jemanden gibt, der einen verste- Tisch und greift zur Schere. „Ich zer- Hat er verstanden? hen will und einen Sinn in all diesen schneide das jetzt“, sagt sie wichtig, und Sie sagen oft Wörter zu ihm, im Säug- Dingen sieht. die Therapeutin nickt. Sophie schneidet lingsheim. Irgendwann, im Lauf der Sophie war knapp zwei, als sie das er- das Blatt entzwei. Dann geht sie zur Jahre, haben sie dort beschlossen, daß stemal in die Sprechstunde kam, ein Tür. Y

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Werbeseite WIRTSCHAFT TRENDS

Werbung troffen, obwohl die Benet- ton-Reklame vom Konzern 89,6 Teure Kultur Burda selbst, ohne Einschaltung ei- Kostendeckung durch Gebühren ner Agentur, gestaltet wird. und Eintrittspreise leistet Abbitte Nach Protesten des Gesamt- Angaben in Prozent Die umstrittene Werbekam- verbands Werbeagenturen pagne des italienischen Tex- (GWA) – so das Werbefach- 63,4 Sogar die ständig steigenden Müll- tilkonzerns Benetton hat die blatt Horizont – hat sich Ver- gebühren decken im Schnitt nur zu Illustrierte Bunte zu unge- leger Hubert Burda persön- knapp 90 Prozent die Kosten der wohnt kritischen Anmerkun- lich wegen dieser Einschät- Abfallbeseitigung. Nach einer Erhe- gen über die Werbebranche zung der Branche beim Ver- bung des Deutschen Städtetages inspiriert. Die Kreativen, so band entschuldigt. Burdas müssen die Kommunen sämtliche Bunte leidet seit Jahren Dienstleistungen oder Einrichtungen an drastischem Anzeigen- aus Steuergeldern subventionieren. schwund. 11,3 10,2 2,5 Reifenindustrie 8,5 Contis Fehlschlag Abfallbe- Friedhöfe Theater Kinder- Museen Büchereien Eine aufwendige Entwick- seitigung gärten lung des Reifenkonzerns Conti erweist sich als Flop: Der CTS-Pneu, mit dem ein Neuwagen lieber mit her- Anlagen Auto trotz Reifenpanne noch kömmlichen Reifen aus, da mehr als 100 Kilometer – mit sie ihre Montagebänder für Mißverständnis vermindertem Tempo – wei- das Conti-Produkt extra um- terfahren kann, findet nur rüsten müßten. Der schwere um Millionen wenig Kunden. Conti hatte Reifen wird deshalb fast aus- Zwei britische Geschäftsleu- große Hoffnungen in „Conti- schließlich in gepanzerten Si- te wollen die Schweizerische Hubert Burda nental Tire Systems“ gesetzt, cherheitsfahrzeugen einge- Bankgesellschaft (SBG) we- doch CTS geriet zu schwer setzt. Der Fehlschlag kommt gen einer mißverständlichen die Münchner Illustrierte, und zu teuer. Vor fünf Jah- Conti teuer zu stehen: Der Bankauskunft auf Schadens- seien „bekanntlich ohne Mo- ren stoppte Mercedes den Konzern hat in den vergange- ersatz verklagen. Die Briten ral, sonst hätten sie einen an- Versuch, den neuen SL mit nen Jahren mehr als 200 Mil- hatten bei einer SBG-Filiale deren Job“, sie seien „wie dem neuen Conti-Reifen aus- lionen Mark in die Entwick- in Glarus anfragen lassen, ob Söldner“. Das hat die emp- zurüsten. Die großen Auto- lung dieses Reifentyps inve- der griechische Geschäfts- findsamen Werber hart ge- mobilkonzerne statten ihre stiert. mann George Lagoudontis Gelder in Höhe von „18 m Pfund Sterling“ mobilisieren könne. Lagoudontis hatte sich bereit erklärt, einer In- vestorengruppe 18 Millionen Pfund zu borgen, damit diese den beiden Briten ein Golf- und Tourismus-Areal bei Va- lencia abkaufen könnten. Ein Manager der SBG-Filiale be- stätigte den Briten, daß der griechische Finanzier für „18 m Pfund Sterling gut“ sei. Als die Lagoudontis-Millio- nen ausblieben, fragten die Airbus A 320 Interne Dasa-Berechnungen Briten erneut bei der SBG an. Die Schweizer antworte- Flugzeuge Jahr etwa 215 Flugzeuge ausliefert. Vor ei- ten, sie hätten „m“, das von nem Jahr mußten sie ihre Prognosen auf den Briten gebrauchte Kür- knapp 180 pro Jahr korrigieren – nach den zel für Million, für eine Ab- Düstere Prognosen neuesten internen Berechnungen kann kürzung von „mille“ (tau- Airbus in diesem und im nächsten Jahr nur send) gehalten. Sie hätten für den Airbus noch 120 Maschinen absetzen. Deshalb sol- daher nur versichert, daß die Der Daimler-Benz-Tochter Deutsche Ae- len knapp 3000 Stellen bis Ende nächsten Bonität von Lagoudontis für rospace (Dasa) geht es schlechter als bis- Jahres gestrichen werden. Von 1996 an 18 000 Pfund reiche. Wegen lang bekannt. Vor zwei Jahren hatten die rechnen die Dasa-Manager mit deutlich der Bankauskunft, so klagen Dasa-Manager in ihrer mittelfristigen Fi- besseren Airbus-Verkäufen: Haben sie die Briten, hätten sie zu lan- nanzplanung damit gerechnet, daß ihre wieder falsch kalkuliert, droht der Abbau ge mit den Griechen verhan- Tochterfirma Deutsche Airbus ab 1994 pro weiterer Arbeitsplätze. delt, inzwischen sei ihre Im- mobilie weniger wert.

DER SPIEGEL 13/1994 111 WIRTSCHAFT

Banken WAHNSINN MIT METHODE Das Geldgewerbe kennt keine Krise. Die Banken haben ein Rekordjahr hinter sich. Doch mit den Gewinnen wächst auch die Zahl der Kritiker. Allzu knickerig geben die Kreditinstitute Zinssenkungen an ihre Kunden weiter, allzu großzügig kalkulieren sie ihre Gebühren. Viele Kunden fühlen sich ausgenommen.

uf Banken ist Michael Raymann und kosten viel Geld, die Ersparnisse Zwischenergebnisse für zehn Monate derzeit gar nicht gut zu sprechen. sind aufgebraucht. waren hervorragend (siehe Grafik). AWas die betreiben, meint der Um von den derzeit günstigen Zin- Während es den Industriebetrieben Schlosser aus Düsseldorf, das grenze sen zu profitieren, bat er die Banken immer schlechter ging, verdienten die an Wucher. Von Kulanz keine Spur, Ende vergangenen Jahres, einer Um- Banken besser denn je. Und weil sie sich so seine Erfahrung, nicht einmal Rück- schuldung zuzustimmen. Beide sind be- trotz blendender Geschäfte auch noch sicht auf Kunden in Not. reit, allerdings verlangen sie happige sehr knickerig gaben, verärgerten sie Vor drei Jahren hatte er sich eine Gebühren. Die Allgemeine Hypothe- selbst Kanzler Helmut Kohl. Dem hat- Eigentumswohnung als Kapitalanlage ken Bank möchte sich den Dienst am ten die Banker versprochen, eine Milli- gekauft und mit einem Darlehen der Kunden mit mehr als 30 000 Mark be- arde Mark in den neuen Bundesländern Bayerischen Vereinsbank über 161 000 zahlen lassen, die BfG nannte ihm zu investieren. Bis heute haben sie die Mark finanziert. Seine Raten für den mündlich gut 16 000 Mark. Zusage nicht eingelöst. Kredit zahlte er immer pünktlich, bis Zu einer Reduzierung sind sie bisher Zurückhaltend sind die Banken je- heute ist er der Bank keinen Pfennig nicht bereit. Auch Schanz erinnert das doch nicht nur bei der Kreditvergabe an schuldig geblieben. an „Wucher“ und „ungerechtfertigte die marode Ost-Wirtschaft. „Die Ban- Doch nun kann er die Belastung Bereicherung“. Verhandlungen mit an- ken riskieren fast nichts mehr“, kritisiert nicht länger tragen, weil er arbeitslos deren Banken erweckten bei ihm den Hans Martin Bury, Mitglied des Wirt- wurde und sich umschulen läßt. Das Eindruck „kartellartiger Einigkeit“. schaftsausschusses des Deutschen Bun- Arbeitslosengeld reicht gerade zum Le- Der Zorn der Kunden wird noch destages. ben. Schon im Januar teilte Raymann, steigen, weil die Banken blendende Und Karl Heinz Flöther, Geschäfts- 33, deshalb seiner Bank mit, er müsse Jahresabschlüsse für 1993 vorlegen. führer der Frankfurter Beratungsfirma die Wohnung verkaufen. Selbst die angeschlagene BfG Bank Andersen Consulting, schreibt in einer Mit dem Erlös könnte Raymann den verdient wieder Geld. Rekordergebnis- Studie: „Die Banken empfinden beson- Kredit zurückzahlen. Aber so einfach se präsentierten schon vergangene Wo- ders Kredite an kleine und mittlere Un- ist das nicht. Ein Darlehen kann der che die bayerischen Großbanken, die ternehmen häufig als zu risikoreich.“ Kunde nicht ohne weiteres vorzeitig Deutsche Bank folgt am Donnerstag Deshalb, so Flöther, rechne niemand tilgen. Schließlich wurde eine Laufzeit dieser Woche, Dresdner und Com- „in den nächsten Jahren mit einem vertraglich vereinbart, in diesem Fall merzbank kurz nach Ostern. Schon die Rückgang der Bankengewinne.“ bis Januar 1996. Und so lange will die Bank verdienen. Wenn Raymann jetzt tilge, müsse er eine sogenannte Vorfälligkeitsentschä- digung von rund 15 000 Mark zahlen, schrieb ihm die Bank am Jahresanfang. Alle Versuche, den Betrag wenigstens zu reduzieren, blieben bislang erfolg- los. Raymann: „Bleibt die Bank bei ih- rer Forderung, beginne ich meine Um- schulung mit immensen Schulden.“ Unbeeindruckt von wirtschaftlichen Schwierigkeiten zeigten sich die Ban- ken auch bei Georg Schanz, 54. Der Familienvater hat noch Belastungen von rund 365 000 Mark auf seinem Haus, 280 000 Mark bei der Allgemei- nen Hypotheken Bank, den Rest bei der BfG Bank, beide in Frankfurt. Obwohl Schanz, wie er ironisch an- merkt, zu „den Besserverdienern“ ge- hört, kann er die Belastung für die Kredite, die noch vier Jahre lang ver- traglich festgeschrieben sind, nicht mehr tragen. Beide Kinder studieren Frankfurter Bankenviertel: „Fast jeder Handschlag kostet Geld“

112 DER SPIEGEL 13/1994 „Wir sind keine Krisengewinnler“, eine Änderung des Diskontsatzes, gar zügig berechnet. : „Bei Vorfällig- beschwichtigen Eberhard Martini, bis nicht merken“. keit wird im Moment satt abgesahnt.“ vor kurzem Präsident des Bankenver- Ähnlich willkürlich kalkulieren die Die Erfahrung des Verbraucherschüt- bandes, und Jürgen Sarrazin, Chef der Banken auch ihre Gebühren: Berechnet zers wird von der Berliner Stiftung Wa- Dresdner Bank. Hilmar Kopper von wird, was gefällt; die wahren Kosten rentest bestätigt. Die Banken greifen der Deutschen Bank reagierte gar ver- werden vertuscht. „Daran sieht man“, „dem Kreditnehmer nach Laune in die ärgert auf Kritik an den guten Gewin- meint Rainer Metz, Finanzexperte Tasche“, stellten die Tester fest. Da nen: „Medien und teilweise auch die der Düsseldorfer Verbraucherzentrale, wird mit falschen Zinssätzen gerechnet Politik basteln daran, die Banken zum „daß sich im Verhalten der Banken trotz oder ein Disagio schlicht übersehen. Prügelknaben der neunziger Jahre aller Kritik nichts verändert hat.“ Gelegentlich ignoriert die Bank auch, hochzustilisieren.“ Gegenwärtig beschäftigen Metz vor daß ihr Schaden erst in Zukunft anfällt Doch treuherzige Beteuerungen, et- allem die Entschädigungen für die vor- und deswegen auf den heutigen Wert wa von Sarrazin („Wir profitieren von zeitige Ablösung von Darlehen. Men- abgezinst werden muß. unseren eigenen Anstrengungen“), schen werden arbeitslos, wie Michael Einem münsterschen Ehepaar, das glauben nicht einmal die seriösen Raymann, oder sie können die Raten sein Haus wegen Scheidung verkaufen Volkswirte der Bundesbank. Solche Er- nicht mehr tragen, wie Georg Schanz, mußte, berechnete die Deutsche Genos- klärungen stimmen höchstens für die und versuchen, bei sinkenden Zinsen, senschafts-Hypothekenbank eine Vor- 1993 erheblich gestiegenen Gewinne ihre Last zu erleichtern. fälligkeitsgebühr, daß Metz nur noch aus dem Handel mit Wertpapieren. Grundsätzlich hat Metz nichts dage- der Kommentar blieb, „da grassiert fast Die Bundesbanker würden zwar nie- gen, daß die Banken in solchen Fällen der Wahnsinn“. mals das Wort Krisengewinnler benut- eine Gebühr fordern, da ihnen tatsäch- Doch der hat Methode. Die Banken zen, doch ihre Kritik beschreibt nichts lich Kosten entstehen. Doch häufig, so kassieren immer neue Gebühren bei ih- anderes. Ein Grund für den erheblich seine Erfahrung, wird diese allzu groß- ren Kunden, häufig genug auch rückwir- gestiegenen Zinsüberschuß, die wich- tigste Gewinnquelle der Banken, so schrieben sie schon im vergangenen Jahr, sei, „daß die Kreditinstitute die Senkung der Notenbanksätze ab Herbst bei den Einlagenzinsen rasch weiterga- ben, während sie die Kredite nur zö- gerlich und abgeschwächt verbilligten“. Mehrfach kritisierten Bundesbank- chef Hans Tietmeyer und sein Vorgän- ger Helmut Schlesinger die Verzöge- rungstaktik der Banken. Viel Erfolg hatten sie damit nicht: Die Geldinstitu- te lassen sich immer neue Tricks einfal- len. Die Senkung der Mindestreserve zum 1. März, sagt ein Düsseldorfer Landesbanker, mache einen halben Prozentpunkt weniger Refinanzierungs- kosten für die Banken aus. Doch diese Erleichterung werde nicht weitergege- Bankier Sarrazin ben, „weil die Kunden das, anders als „Wir sind keine Krisengewinnler“

Selbstbedienung Wirtschaftsdaten deutscher Großbanken 1993 (Januar bis Oktober) Veränderung gegenüber dem Vorjahr Bilanzsumme Kreditvolumen Provisionsüberschuß Zinsüberschuß Kunde Raymann in Milliarden Mark in Milliarden Mark in Millionen Mark in Millionen Mark Von Kulanz keine Spur

DEUTSCHE 540 343 4540 9710 kend für Verträge, die ursprünglich ge- BANK +8% +3% +18% +7% bührenfrei abgeschlossen waren. Ende vergangenen Jahres etwa buch- DRESDNER 368 253 2368 5111 te die Volksbank Neuss einem Kunden zehn Mark für die Bearbeitung eines BANK +11% +5% +16% +7% Freistellungsauftrages ab. Der ist nötig, um die Zinssteuer, die Finanzminister BAYERISCHE 279 222 859 3070 Theo Waigel Anfang 1993 einführte, zu +11% +7% +13% +12% vermeiden. Als der Kunde sich über die eigen- COMMERZ- 255 170 1551 3893 mächtige Handlung beschwerte, erklär- te die Bank, sie habe mit den Formula- BANK +10% +2% +16% +8% ren mehr Arbeit gehabt als ursprünglich vermutet. Die lasse sie sich nachträglich 253 191 731 2960 HYPO-BANK bezahlen. +15% +12% +26% +14% Immer wieder werden Gebühren auch ohne Zustimmung des Kunden erhöht

DER SPIEGEL 13/1994 113 Werbeseite

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Werbeseite WIRTSCHAFT

Godschalk, als selbständiger Berater im Finanzwesen etwas vorsichtiger, Steuern meint: „Die These vom defizitären Zahlungsverkehr ist noch von nieman- dem bewiesen worden.“ Will sagen: Die Banken haben bisher wohl mit Wenig Absicht nicht viel getan, um ihre Be- hauptung zu belegen. All die kleinen Beträge, mal hier zu holen fünf Mark, mal da zehn Mark mehr, summieren sich zu stattlichen Milliar- Wer gut verdient, soll mehr Steuern denerträgen, behaupten Kritiker. Fazit zahlen. Aber in Bonn weiß nie- der Berliner Finanztester: „Fast jeder Handschlag kostet Geld.“ Vor allem mand so recht, wie das gehen soll. im vergangenen Jahr ist alles sehr viel teurer geworden. erdächtig ruhig hatte sich das Su- Doch die Preisunterschiede sind er- perwahljahr ’94 angelassen. Weder heblich. Der Kunde bei einer teuren Vder Wahlsieg des Sozialdemokraten Bank zahlt bis zu 350 Mark mehr im Gerhard Schröder in Niedersachsen Jahr für sein Konto. Dennoch wech- noch die Verluste der großen Parteien in seln nur etwa zwei Prozent das Institut. Schleswig-Holstein regten die Bürger Kaum ein Kunde durchschaut den sonderlich auf. Bankenkritiker Metz Wirrwarr; die Konditionen sind so un- Vergangene Woche war plötzlich alles „Im Moment wird abgesahnt“ übersichtlich, daß die tatsächlichen Ko- anders. Regierungskoalition und Oppo- sten eines Kontos fast nicht zu verglei- sition führten die erste echte Wahl- wie etwa bei einer Sparkasse in Nord- chen sind. Zudem ist der Wechsel oft kampf-Show des Jahres auf. Das zug- rhein-Westfalen, die eine vereinbarte teuer und beschwerlich. kräftige Thema: Wer schröpft wen? Pauschale für das Führen eines Darle- Aber die Kunden beschweren sich Als sich der Bühnennebel verzogen henskontos einfach verdoppelte. auch selten bei ihrer Bank über zu ho- hatte, bot sich das ungewohnte Bild er- Und häufig genug haben Geldhäuser he Zinsen und drastische Gebührener- rechenbarer Unterschiede zwischen auch noch einen Obolus für bare Ein- höhungen. Dabei zeigt das häufig Wir- Konservativen und Sozialdemokraten. und Auszahlungen genommen, als der kung, hat Rainer Metz festgestellt. Et- Aus Tabellen konnte der Wähler able- Bundesgerichtshof dies im vergangenen wa bei der Umschuldung von Kredi- sen, was ihm vom 1. Januar 1995 an zur Jahr längst untersagt hatte. Erklärung ten: „Wenn ein Anwalt eingeschaltet Finanzierung der deutschen Einheit zu- einer Volksbank: Das Urteil beträfe nur wird, geht die Forderung drastisch run- sätzlich abverlangt werden soll. die Deutsche Bank. Tatsächlich ging es ter.“ Die Koalition hat bereits einen „Soli- um einen Fall bei Deutschlands größtem Das erlebte gerade wieder ein Kun- daritätszuschlag“ auf die Steuerschuld Geldhaus, doch das sei noch kein de der Deutschen Bank. Um einen von 7,5 Prozent ab einem jährlichen Grund, meint Metz, daß „wieder jede Kredit vorzeitig tilgen zu können, soll- Bruttoeinkommen von rund 18 000 Bank ein Sonderrecht“ will. te er eine Entschädigung von 49 000 Mark (Verheiratete: 36 000) beschlos- Besonders dreist greifen die Banken Mark zahlen. Als er einen Anwalt ein- sen. Die Sozialdemokraten möchten ei- ihren Kunden bei Auslandsüberweisun- schaltete, lenkte das Geldhaus sehr ne „Ergänzungsabgabe“ von 10 Prozent gen in die Tasche. Willi Jehn aus Köln schnell ein und verringerte die Forde- auf alle Einkommen über 60 000 mußte für 125 Mark Transferbetrag von rung um ein Viertel. Y (120 000) Mark erheben. Belgien in seine Heimatstadt fast 50 Mark Gebühren bezahlen. Jehn: „Ein besonders krasses Beispiel moderner Raubrittermethoden.“ Trickreich lockt manche Sparkasse ih- re Kunden an, indem sie ein halbes Pro- zent Zinsen für Guthaben auf Girokon- ten anbietet. Doch gutgeschrieben wer- den die nur, so steht es in der Fußnote, wenn der Betrag mehr als acht Mark vierteljährlich ausmacht. Um die Zinsen tatsächlich zu erhal- ten, müssen also im Durchschnitt min- destens 6400 Mark auf dem Konto sein. „Zinsenteignung auf stille Weise“ nennt Rainer Metz diese Methode. Auf Kritik an ihrer Gebührenpolitik reagieren die Banken stets mit einem Argument: Die Kosten für Überweisun- gen und Konten, für alles, was der klei- ne Kunde verlange, seien sehr hoch. Noch immer, so behaupten die Banker, machten sie im sogenannten Massenge- schäft Verluste. „Alles Humbug“, kontert der Kieler Professor Horst Slevogt. Und Hugo SPD-Chef Scharping: Wichtiges Wort vergessen

116 DER SPIEGEL 13/1994 Alle Angaben für Wer soll das bezahlen? Alleinverdiener 60 Varianten zur Korrektur des Steuertarifs

50 Der derzeit gültige Einkommensteuertarif 1990 40 besteht aus vier Tarifzonen:

30 a Nullzone bis zum Grundfreibetrag von 5616 Mark b untere Proportionalzone bis 8153 Mark mit dem 20 gleichbleibenden Steuersatz von 19 Prozent

Grenzsteuerbelastung in Prozent c Progressionszone mit geradlinig ansteigendem Steuersatz 10 d obere Proportionalzone, beginnt bei 120 000 Mark, jede mehr verdiente Mark wird mit gleichbleibend 53 Prozent versteuert 0 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 120 130 140 zu versteuerndes Einkommen in tausend Mark

Ab 1996 darf der Staat nach dem Urteil des Verfassungsgerichts erst über dem neu 60 festgelegten Existenzminimum von 13 000 Mark Steuern erheben. Die daraus resultierenden Mindereinnahmen von rund 50 Milliarden Mark sollen vor allem 1 50 durch eine Erhöhung der Steuer- sätze ausgeglichen werden. 40 2 Nullzone wird bis 13 000 Mark ausgedehnt; 30 sie gilt dann für alle Steuerzahler. Dadurch entstehen die Verluste für den Staat. Mögliche Ausgleichsmaßnahmen: 20 1 Die Progressionszone beginnt direkt nach dem Überschreiten des Existenzminimums, bei etwa 20 Prozent, aber steilerer Anstieg: Der Höchstsatz von 53 Prozent wird schon bei etwa 95 000 Mark erreicht. 10 2 Die Progressionszone beginnt gleich mit etwa 30 Prozent, danach flacherer Anstieg bis zum Höchstsatz bei – wie bisher – 120 000 Mark. 0 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 120 130 140

Doch wer glaubte, nun könne er seine der Lohn- und Einkommensteuer Wahlentscheidung im Herbst erstmals grundlegend ändern müssen. an klaren Fakten ausrichten, sieht sich So scheint der aktuelle Streit um die getäuscht. Die Bonner Aufführung war Steuern absurd. Diese Erkenntnis hin- Illusionstheater, die Reality-Show steht derte die Parteiprofis jedoch nicht, um noch bevor. so erbitterter aufeinander loszugehen. Gewiß ist vorerst dies: Auch bei ei- Zu groß war die Versuchung, am kon- nem Wahlsieg der SPD am 16. Oktober kreten Beispiel mal wieder die alten tritt die 7,5-Prozent-Abgabe der Christ- Feindbilder zu beleben: Die Sozialde- liberalen pünktlich Anfang nächsten mokraten können nicht mit Geld umge- Jahres in Kraft. Termine wie Regie- hen, die Konservativen schröpfen stets rungsbildung und Beginn der Gesetzge- den kleinen Mann. bungsarbeit des neuen Bundestages lie- Auslöser des Theaterdonners war ei- ßen eine rechtzeitige Korrektur gar ne Nachlässigkeit des SPD-Chefs Ru- nicht zu. dolf Scharping. Bei der Präsentation sei- Auch danach wird das aus Sicht der nes Regierungsprogramms rutschten SPD sozial gerechtere 10-Prozent-Mo- Scharping zwei Zahlen heraus: 50 000 dell mit Einkommensgrenzen nicht zum Mark Jahresverdienst für Ledige und Zuge kommen. Im nächsten Jahr wer- 100 000 für Verheiratete seien die unte- den sich Regierung und Parlament mit ren Einkommensgrenzen der sozialde- ganz anderen Problemen plagen müs- mokratischen Ergänzungsabgabe. sen. Der Ärger, den sich die Sozialdemo- Von 1996 an, so hat das Bundesver- kraten damit einhandelten, war unver- fassungsgericht dekretiert, muß das Exi- meidlich. „SPD-Steuerhammer“ titelte stenzminimum für alle Bürger endgültig das Boulevardblatt Bild, FDP-Frakti- steuerfrei gestellt sein. Wer auch immer onschef Hermann Otto Solms sprach vom Herbst an regiert, wird die Tarife von „Neidsteuer“. Und Kanzler Helmut

DER SPIEGEL 13/1994 117 WIRTSCHAFT

Kohl sah „harten Frost auf der Früh- wahrscheinlich 13 000 Mark – verdie- jahrssaat“ der Konjunktur. nen, dürfen nicht durch Steuerabzüge in Die Genossen wurden kalt erwischt. die Sozialhilfe getrieben werden. Hastig mußten sie erst einmal unter die Doch das ist 1993 schon geschehen. Leute bringen, daß die Koalition doch Geringverdiener können beim Arbeit- längst einer weitaus größeren Schar von geber einen Freibetrag von rund 11 000 Steuerzahlern einen 7,5-Prozent-Zu- Mark eintragen lassen. Für alle anderen schlag verordnet hat. Steuerzahler hat sich aber nichts geän- Dann ruderte Scharping unter dem dert. Eindruck innerparteilicher und gewerk- Die Karlsruher Richter haben jedoch schaftlicher Proteste selbst zurück: Er verlangt, die Steuerfreiheit des Exi- habe „das Wort ,steuerpflichtig‘ verges- stenzminimums für alle bis zum 1. Janu- sen“, die Bruttogrenzen betrügen mit- ar 1996 im Steuertarif zu verankern. hin 60 000 und 120 000 Mark. Diese technisch klingende Auflage hat Das wiederum entlockte Finanzmini- es in sich – egal, wer sie im nächsten ster Theo Waigel nicht nur den Spott, Jahr bewältigen muß. der SPD-Vorsitzende könne wohl brutto Im geltenden Steuertarif bleiben nur nicht von netto unterscheiden. Genüß- rund 5600 Mark unbesteuert. Der dar- lich rechnete Waigel auch vor, daß die überliegende Verdienst wird bis zur Hö- vom flächendeckenden Solidarzuschlag erwarteten 28 Milliarden Mark für den Ost-Aufbau beim SPD-Modell nur mit 20 Milliarden Mark Scharpings zuerst genannten Einkom- müssen anderswo mensgrenzen erreicht würden. Die auf brutto korrigierten Beträge brächten hereingeholt werden rund sechs Milliarden zuwenig. Über dieses Manko brauchen sich die he von 8153 Mark gleichbleibend mit 19 Genossen keine Gedanken mehr zu ma- Prozent belastet. Von dieser Summe an chen. Denn wenn sie nach einem Wahl- steigt die Steuerlast kontinuierlich an, sieg erstmals die Chance hätten, ihre So- bis sie bei einem zu versteuernden Jah- zialvariante durchzusetzen, sieht die reseinkommen von 120 000 Mark 53 Steuerwelt schon wieder ganz anders Prozent erreicht (siehe Grafik Seite aus. Alle Rechenwerke der letzten Wo- 117). Dabei bleibt es dann. Für Verhei- che passen dann nicht mehr. ratete verdoppeln sich die Beträge. Im neuen, vom Verfassungsgericht er- Am einfachsten wäre es, von 1996 an zwungenen Abgabensystem macht es den Grundfreibetrag schlicht von 5600 auch aus Scharpings Sicht wenig Sinn, Mark auf das Existenzminimum 13 000 die Steuerbürger noch in Gruppen zu Mark anzuheben und erst dann mit dem teilen – eine ohne Ergänzungsabgabe Abzug von Steuern zu beginnen. Die und eine mit. Progression würde wie bislang bei 53 Die von der SPD immer wieder be- Prozent und 120 000 Mark enden. Das klagte Gerechtigkeitslücke wäre ja Verfahren hat aber einen Nachteil: Weil schon geschlossen, wenn das von Karls- jeder, vom Kleinstverdiener bis zum ruhe angemahnte Existenzminimum im Millionär, davon profitieren würde, Steuertarif verankert und ein Lastenaus- fehlten dem Staat rund 50 Milliarden gleich zugunsten einkommensschwacher Mark. Das wäre nicht zu verkraften. Familien eingeführt wird. Dann wäre es Das Verfassungsgericht hat ausdrück- nur konsequent, die Ergänzungsabgabe lich zwei Wege gezeigt, die aus dem Di- allen Steuerzahlern abzufordern. lemma führen. Die Verluste wegen des Weil also selbst aus sozialdemokrati- höheren Grundfreibetrages dürfen so- scher Sicht eine Einkommensgrenze we- wohl durch einen schärfer ansteigenden der 1995 noch später gezogen werden oder mit einem höheren Steuersatz be- kann oder soll, ist Scharpings Zahlen- ginnenden Tarif als auch dadurch wett- spielerei noch weniger verständlich. Die gemacht werden, daß steuerliche Scheindebatte erlaubte den Wahlkämp- Schlupflöcher geschlossen werden. Ent- fern jedoch, sich um das wirkliche Steu- scheidend sei, daß jedem Bürger nach erproblem der nächsten Legislaturperi- Abzug der Steuern mehr als das Exi- ode herumzudrücken. stenzminimum übrigbleibe. Als Merkposten taucht zwar sowohl Das heißt: Der Finanzminister darf bei Waigel als auch bei Scharping das die Wohltat des höheren Freibetrages Stichwort „Steuerbefreiung des Exi- bei den Gutverdienenden durch eine stenzminimums“ auf. Wohlweislich sagt schärfere Progression oberhalb der aber niemand, was das bedeutet. Grenze des Existenzminimums wieder Das „Regierungsprogramm“ der SPD kassieren. Doch ein Tarif, der die ge- insinuiert, die Sozialdemokraten wür- samten Einnahmeverluste durch den den 1996 endlich regeln, was die Bun- neuen Grundfreibetrag in Höhe von et- desregierung schuldig geblieben ist. wa 50 Milliarden Mark kompensierte, Und das bedeutet vor allem: Bürger, die wäre politisch nicht durchsetzbar. weniger als das Existenzminimum – Entweder geriete die Progression so 1994 etwa 11 000 Mark im Jahr, 1996 scharf, daß schon bei kleinem Einkom-

118 DER SPIEGEL 13/1994 Werbeseite

Werbeseite men jede zusätzlich verdiente Mark mit einem Grenzsteuersatz von 40 oder 50 Prozent belastet würde, oder der Spit- zensteuersatz müßte weit über 53 Pro- zent erhöht werden. Das wollen we- der Regierung noch die jetzige Opposi- tion. Mit politisch akzeptablen Tarifände- rungen aber, darüber sind sich Waigels Experten mit Scharpings Fachleuten ei- nig, sind höchstens 30 Milliarden Mark wettzumachen. 20 Milliarden müssen anderswo hereingeholt werden. Waigel hat zu diesem Zweck eine Kommission berufen, die bis zum Som- mer Vorschläge erarbeiten soll. Was in diesem Kreis diskutiert wird, das wird, wenn Waigel es tatsächlich präsentieren sollte, Widerstände provozieren, gegen die der jetzige Streit über Ergänzungs- abgabe oder Solidaritätszuschlag wie ei- ne Friedenskonferenz wirken wird. Da geht es etwa um das Streichen der Steuervorteile von Feiertags- und Nachtarbeit, ein steuerrechtlich gut be- gründeter Reformvorschlag. Doch für viele Arbeitnehmer, Drucker zum Bei- spiel, würde das bedeuten, jährlich 10 000 Mark mehr versteuern zu müssen als heute. Daran sind auch die Sozialdemokra- ten nicht interessiert. Sie wissen zudem, daß die erforderliche Masse so nicht zu kriegen ist. Vorsichtig regt Finanzexperte Joa- chim Poss deshalb an, „Mittel aus der von uns vorgesehenen Erhöhung der Energiebesteuerung hierfür zu verwen- den“. So steht es auch im Regierungs- programm der SPD. Scharping hat auch schon daran ge- dacht, hohe Einkommen und große Vermögen stärker zu besteuern. Doch das wird kaum glücken: Bei den über- durchschnittlich Verdienenden wird, laut Poss, schon wegen der unumgängli- chen Reform des Steuertarifs kaum noch etwas zu holen sein. Mit einer Ver- mögensabgabe allein aber sind die nöti- gen Summen bei weitem nicht zu erwirt- schaften. Finanzminister Waigel prophezeit deshalb, die Sozialdemokraten würden die Unstimmigkeiten ihres Konzepts nach der Wahl durch eine drastische Er- höhung der Mineralölsteuer bereinigen – trotz anderslautender Bekenntnisse heute. Unter dem Verdacht, nach der Wahl anders zu handeln, als er heute re- det, steht Waigel freilich selbst. Er räumt ein, von 1996 an jährlich sechs Milliarden Mark Einnahmen „aus dem Verkehrsbereich“ eintreiben zu müs- sen. Nur wie? Eine Straßenvignette hat die Koalition schon verworfen. Elektroni- sches Abkassieren ist in diesem Jahrtau- send technisch nicht mehr drin. Da blie- be auch einem Kassenwart Waigel nur die Benzinsteuer. Y

120 DER SPIEGEL 13/1994 WIRTSCHAFT

Geldanlage „Der Dollar wird stärker“ Interview mit Donald H. Straszheim über die Zinsentwicklung in den USA

SPIEGEL: Wann? Straszheim: Wohl kaum noch in der ersten Jahres- hälfte. Notenbankchef Alan Greenspan geht gern lang- sam vor. Die Zinsen wur- den über einen längeren Zeitraum in 13 kleinen Schritten gesenkt. So wird es auch beim Heraufsetzen sein. Greenspan beeinflußt die Wirtschaft lieber mit dem Dimmer als mit einem Ein- und Ausschalter. SPIEGEL: Könnten jetzt auch die Börsenaussichten langsam verdunkelt wer- den? Straszheim: Der Aktien- markt hat sich erstaunlich gut gehalten. Mich hätte es nicht gewundert, wenn die Ökonom Straszheim Börse in den zurückliegen- „Mit Sicherheit steigende Zinsen“ den Wochen schlechter ge- laufen wäre. Die Investoren Straszheim, 52, ist Chefökonom des schätzen offenbar die Vorzüge der Zins- New Yorker Brokerhauses Merrill erhöhung höher ein als ihre Nachteile. Lynch. SPIEGEL: Die Erhöhung von Anfang Fe- bruar hat die Investoren in helle Aufre- SPIEGEL: Die US-Zentralbank, der Fe- gung versetzt, die Kurse stark fallenlas- deral Reserve Board, hat zum zweiten- sen und große Unsicherheit ausgelöst. mal in knapp zwei Monaten die Zinsen Straszheim: Das war die erste Zinserhö- um ein Viertelprozent heraufgesetzt. hung seit 1989, und sie kam zu diesem Will sie die gerade aufblühende Kon- Zeitpunkt unerwartet. Damit wurde end- junktur abwürgen? gültig klargemacht, daß die Zeiten fallen- Straszheim: Nein, ganz im Gegenteil. der Zinsen zu Ende sind. Der jetzige Unsere Wirtschaft ist im vergangenen Schritt aber warüberhaupt keine Überra- Jahr um rund 3 Prozent gewachsen. Im schung mehr. letzten Quartal 1993 waren es sogar SPIEGEL: Wie werden sich steigende Zin- 7,5 Prozent. Das war zuviel. Die jetzi- sen in den USA auf Europa auswirken? ge Zinserhöhung wird das Wachstum Straszheim: Ich glaube kaum, daß die verlangsamen, aber nicht stoppen. Wirkung auf Europa groß sein wird. Die SPIEGEL: Warum muß jetzt schon wie- Zinssätze werden in Europa weiter fal- der gebremst werden? len, und der Dollar wird gegenüber der Straszheim: Der Federal Reserve Mark in den kommenden zwölf Monaten Board ist der Ansicht, zunehmende In- stärker werden. Er könnte in einem Jahr flation sei das Risiko Nummer eins. in der Gegend von 1,80 oder 1,85 Mark SPIEGEL: Ist die Sorge berechtigt? liegen. Straszheim: Durchaus. Ich glaube aber SPIEGEL: Hört mit der Zinswende in den nicht, daß die Geldentwertung spürbar USA die amerikanische Kritik an der zunehmen wird. Wir haben unsere In- Bundesbank auf, die wegen ihrer hohen flationsrate auf unter drei Prozent ge- Zinsen immer wieder angegriffen wurde? bracht. Da nun eher das Risiko be- Straszheim: Ich hoffe es. Die bei uns steht, daß die Geldentwertung wieder ständig wiederholte Kritik war unange- zunimmt, war die Entscheidung der messen, und sie hat niemandem gedient. Zentralbank angemessen. Die Bundesbank hat die Aufgabe, die SPIEGEL: Steigen die Zinsen weiter? Geldpolitik zu machen, die sie für richtig Straszheim: Mit Sicherheit. Aber das hält. Und sie hat die deutschen Interes- wird erst in einigen Monaten passie- sen im Auge. So sollte eine Zentralbank ren. handeln. Y

DER SPIEGEL 13/1994 121 Telefon Blöde Idee Jederzeit und überall erreichbar: Ein globales Satelliten-Netz soll die Welt zum Dorf machen.

er Vater war gestorben, und das Familienunternehmen stand kurz Dvor der Pleite. Kein leichtes Erbe für den Sohn, der mit 24 Jahren die Fir- ma leiten mußte: Viel war von den hochtrabenden Plänen des Patriarchen nicht mehr übrig. Ein globales Medienreich wollte John Elroy McCaw aufbauen. Doch er spielte zeit seines Lebens zu sehr auf Risiko, und so blieb seinem Sohn Craig, nach- dem alle Gläubiger befriedigt waren, nur noch eine kleine Kabel-TV-Firma mit 4000 Kunden. Das ist 25 Jahre her, und heute wäre der Alte auf seinen Sohn sicher stolz: Der hat die geerbte Firma so erfolgreich ausgebaut, daß er sie für viele Millionen Dollar verkaufen konnte. Mit dem Auf- bau eines Mobilfunknetzes wurde er Milliardär – und er hat größere Pläne. Zusammen mit einem anderen schwerreichen Aufsteiger will der schnauzbärtige McCaw jetzt eine Pro- phezeiung des kanadischen Philosophen Herbert Marshall McLuhan einlösen: Die Welt soll ein „globales Dorf“ wer- den. Bis zum Jahre 2001 möchte McCaw mit seiner neuen Firma Teledesic 840 kühlschrankgroße Satelliten in den Or- bit schießen. Ein unglaubliches Vorha-

Unternehmer Craig McCaw „Schweißgebadet aufwachen möchte ich nicht“

122 DER SPIEGEL 13/1994 WIRTSCHAFT

Globales Dorf Teledesic plant, 840 Satelliten ins All zu schicken, um jeden beliebigen Punkt der Welt für den Benutzer erreichbar zu machen Sendeweg Quelle: Wired

Sender Empfänger

Empfangsstation Die Anbieter Teledesic Iridium und ihre Pläne (Gates, McCaw) (Motorola) Sender Anzahl Satelliten 840 66 Kosten 9 3,37 (in Mrd. Dollar) Bodenstation Empfänger Startjahr 2001 1998 Preis pro Telefon noch nicht (geschätzt, bekannt 3000 in Dollar) Gesprächsgebühr ben – schließlich umkreisen zur Zeit pro Minute (ge- noch nicht 3 nicht einmal 500 aktive Satelliten den schätzt, in Dollar) bekannt Planeten. Aus 700 Kilometer Höhe sollen diese nikation“: Über eine elektronische Na- Kommunikationstruhen den Steppenbe- belschnur soll die Warenwelt bis in die wohner in Kenia ebenso wie den Eski- Wohnzimmer der Menschen kommen. mo auf Grönland mit dem Broker in Mit dem Fernseher und dem digitalen London oder New York verbinden. Die Netz sollen die Bewohner des globalen Welt-Gesellschaft wird über ein Kom- Dorfs von zu Hause die Salami-Pizza munikationssystem ohne Draht und Lei- oder den neuesten Hollywood-Film or- tungsmasten verbunden. dern. Sind die Satelliten erst einmal im All, Sie sollen sich aus 500 TV-Kanälen ihr scheint der Rest einfach. Die Menschen eigenes Programm zusammenstellen, brauchen dann für ihre globalen Dorf- per Teledemokratie die Geschicke des trommeln, so verspricht McCaw, nur Landes mitbestimmen und auch die vie- noch eine Antenne im Bierdeckelformat len offenbar lästigen menschlichen Kon- und einen Empfänger, der kaum größer takte keimfrei und gefühlsneutral via als ein Telefonbuch ist. Videokonferenz erledigen können. Rund neun Milliarden Dollar soll Te- Am liebsten würden Medienkonzerne ledesic kosten. Das ist es nach Meinung und Telefongesellschaften die Men- McCaws, der seine Geschäftsidee als schen mit dieser Welt am Draht schon High-Tech-Entwicklungshilfe verkauft, morgen beglücken. Doch noch fehlt der auch wert. „Heutzutage können viele Strang in jede Wohnung. Menschen nicht an unserer globalen Ge- Etwa 16 Milliarden Dollar würde es sellschaft teilnehmen“, so McCaw, kosten, so schätzt Michael Schulhoff, „weil es zu teuer ist, die moderne Kom- Sonys Topmanager in den USA, allein munikation in arme und entlegene Re- den Bundesstaat Kalifornien für die di- gionen zu bringen.“ gitale Warenwelt zu verdrahten. Die Seinen Freund Bill Gates hat er von neun Milliarden Dollar für Teledesic seiner Idee schon überzeugt und als scheinen ihm dagegen vergleichsweise Teilhaber (30 Prozent) gewinnen kön- gering. nen. Gates, mit 38 Jahren einer der Nicht alle, die sich in der Telekommu- reichsten Männer Amerikas, war bis- nikation auskennen, sind so begeistert. lang der Goldjunge der Software-Bran- „Das ist die blödeste Idee, die ich je ge- che. Sein Unternehmen Microsoft hört habe“, sagt John Pike, Raumfahrt- (Umsatz 1993: 3,8 Milliarden Dollar) ist experte des Verbandes der amerikani- der größte Hersteller von Programmen schen Wissenschaftler. für Personalcomputer. Konventionelle Telefondienste, so Der schmächtige Gates mit der Fistel- Pike, seien billiger zu verwirklichen. stimme glaubt, genau wie Craig McCaw, Howard Anderson, Marktforscher bei an die Religion der „digitalen Kommu- der Yankee Group glaubt, daß Gates

DER SPIEGEL 13/1994 123 WIRTSCHAFT und McCaw gerade „ihre Midlife-crisis unter einer einheitlichen Telefonnum- sagt Barry Goodstadt von der Firma durchleben“. Teledesic, so Anderson, mer jederzeit und überall auf dem Glo- EDS. „wird nicht funktionieren“. bus erreichbar sein – für drei Dollar Weil die Teledesic-Satelliten auf einer In der Innovationsdiaspora Deutsch- Gebühr pro Gesprächsminute. niedrigen Umlaufbahn kreisen, sind sie land waren die Experten der Telekom Im Unterschied zu Teledesic be- zwar relativ günstig zu positionieren. von dem Projekt erst mal „ziemlich schränkt sich Motorola mit Iridium zu- Die Gefahr aber, daß sie ihren Orbit überrascht“, wie Klaus Hummel, Ge- nächst nur auf die Vermittlung von verlassen, ist größer. schäftsführer bei der Mobilfunk-Tochter Sprache und Fax mit tragbaren Telefo- Von Nörglern läßt sich McCaw nicht DeTeMobil bestätigt. Trotzdem gibt nen. „Mit Teledesic“, sagt Iridium-Vi- beeindrucken. „Das wichtigste an Träu- Hummel der Idee durchaus Chancen, er zepräsidentin Candace Johnson, „ha- men ist, daß sie wahr werden. Schweiß- denkt dabei aber nicht nur ans Telefo- ben Gates und McCaw eine tolle Idee gebadet aufwachen möchte ich nicht“, nieren. Ohne Angebote wie Filme auf in die Welt gesetzt, egal ob der Plan sagt er. Trotzdem riskieren weder er Abruf oder Videokonferenzen würde auch tatsächlich realisiert wird.“ noch sein Partner Gates viel Geld: Jeder sich der Aufwand nicht lohnen. Ehe McCaw mit seinen 840 Satelliten hat nur ein paar Millionen Dollar in das Ein globales Telefonangebot, aller- Geld verdienen könnte, wären in der Projekt investiert. dings mit nur 66 Satelliten, will in vier Tat noch ernste technische Probleme Der Großteil des nötigen Kapitals Jahren der Konkurrent Motorola ver- zu lösen. „Wenn Teledesic nur zehn soll, so ein Sprecher der Firma, schließ- wirklichen. „Iridium“, so der Name des Prozent seiner Satelliten im Jahr ver- lich von den „Herstellern und Regierun- Projekts, soll etwa 3,4 Milliarden Dollar liert, müssen sie 84 neue positionieren, gen kommen, die das System bauen und kosten. Die Kunden sollen dank Iridium um ihren Dienst am Laufen zu halten“, betreiben wollen.“ Y

Zu viele Busenbogen Designer-Streit um das neue Bahn-Signet

sachlich“. „Von einem ver- gangenen Geist“ zeuge das Logo, findet Spiekermann, „so bieder und rückstän- dig“. Wie die Kesselflicker streiten sich die beiden international bekannten Schrift-Gestalter. Spieker- mann hat, unter anderem, Schriften für die Deutsche Bundespost und AEG ent- Neues, altes Bahn-Logo: „Straffung, Aufrichtung, Schlankung“ wickelt, Weidemann hat die Erscheinungsbilder von Fir- einem Lokführer und keinem der Stuttgarter Designer „Straf- men wie Daimler-Benz oder Zeiss Schlafwagenschaffner war bis- fung, Aufrichtung, Schlankung“ ge- geprägt. Ein neues Schriftbild für Klang aufgefallen, daß er mit schaffen. die Bahn zu entwerfen schmeichelt dem Bahn-Emblem auf der Mütze Diesem „gewissermaßen erigier- dem Ego jedes Grafikers. für eine „hohe feminine Anmu- ten Zeichen“, spottete der Berliner Der Stuttgarter Professor, so ver- tung“ sorgte. Typograph Erik Spiekermann, 46, mutet Spiekermann, habe vor allem Der Stuttgarter Design-Professor in der Fachzeitschrift Form, fehle deshalb den Auftrag erhalten, weil Kurt Weidemann, 71, sah’s auf ei- „jede Emotion, wie Männern, die er mit dem Bahn-Chef Heinz Dürr nen Blick. Insgesamt 28 Rundun- bekanntlich ja auch nicht mit dem gut bekannt sei. Weidemann ist Be- gen zählte er in dem 1952 entwor- Bauch, sondern einem weiter unten rater des Daimler-Benz-Vorstands, fenen Logo – „Busenbogen“, gelegenen Körperteil fühlen“. dem Dürr früher auch angehörte. „Hüftbogen“ und „Schwanger- Selten haben sich zwei Designer Sein Honorar für die Gestaltung schaftsbogen“; ganz miserabel so heftig angegiftet wie die beiden des Bahn-Signets, versichert Wei- schienen ihm die vier „runden Ek- Stars unter Deutschlands Typogra- demann, sei „mit 200 000 oder so“ ken“, die „tiefenpsychologisch Ent- phen. In dieser Woche schlägt nun keineswegs unangemessen. Dafür, scheidungsschwäche“ symbolisier- Weidemann in Form zurück, weil stichelt Spiekermann, habe der ten. ihn Kollegen aufgefordert hätten, Professor „eine Scheiße“ abgelie- Seit Jahresanfang, seit es die „die Revolverschnauze von dem fert. Deutsche Bahn AG gibt, hat der Spiekermann“ nicht zu schonen. Der Kollege, gibt Weidemann Staatsbetrieb ein neues Signet. Selten hat auch ein neues Signet zurück, solle lieber seine eigenen Rund 25 Millionen Mark hat die derartige Kontroversen ausgelöst Entwürfe betrachten: „Spieker- Einführung des Emblems gekostet; wie das Logo der Bahn AG. mann hat selbst einen derartigen statt der weiblichen Rundungen – „Schlicht“ sei die Schrift, lobt Wei- Scheiß wie die Schrift für die BfG: laut Weidemann „zu schlaff“ – hat demann sein Werk, „streng und Bank gemacht.“

124 DER SPIEGEL 13/1994 Werbeseite

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Glaube „Können wir noch Christen sein?“ Ist Jesus auferstanden, wie es in der Bibel steht und seit nahezu zwei Jahrtausenden gelehrt, gepredigt und geglaubt wird? Ein Göttinger Theologe hat das seit langem kritischste Buch über die Auferstehung geschrieben. Demnach blieb Jesus im Grabe, am „dritten Tag“ ist nichts geschehen, die Jünger hatten nur Visionen.

elesen hatte das Buch noch nie- re zu den „historisch am besten belegten Pastor Arne Spießwinkel aus dem mand, aber empört oder erschrok- Ereignissen der Antike“. mecklenburgischen Kirch Baggendorf: Gken waren schon viele. Ansichten wie dieser Professor Lüde- „Ich kann nicht beweisen, daß Jesus auf- Der Wiener Kardinal König sprach mann würden auch „unwissenschaftliche erstanden ist, so wenig wie ich beweisen von „Unsinn“. Auch Theologieprofes- Leute wie Zeugen Jehovas, Mormonen kann, daß meine Frau mich liebt. Aber soren fällten Vorurteile: „Wissenschaft- und islamische Mullahs“ vertreten, em- ich weiß aus meiner Erfahrung und dem lich wertlos“, „pure Phantasie“ und pörte sich die Göttingerin Marlene Ber- täglichen Leben mit ihm, daß er wahr- „durchaus nichts Neues“. kenbusch. haftig auferstanden ist, so wie ich erle- Clara Fulfs aus dem niedersächsi- Zwei Geistliche verschickten postwen- be, daß meine Frau mich liebt.“ schen Cuxhaven „bekam ein tiefes Er- dend ihr eigenes Bekenntnis zum Aufer- Und Andreas Lindemann, Theologie- schrecken, es raubte mir die Nachtru- standenen. professor an der Kirchlichen Hochschu- he“. Denn: „Wenn die AuferstehungJesualser- ledigt zu betrachten ist, bleibt keine Hoffnung mehr zum Glauben, ist das Fundament zum Le- ben genommen.“ Hunderte griffen zur Feder, weil dem Buch „Die Auferstehung Je- su“ des Göttinger Theo- logieprofessors Gerd Lü- demann, 47, Pressemel- dungen seiner Universi- tät und einiger Nachrich- tendienste vorauseilten und in vielen Zeitungen und Kirchenblättern ge- druckt wurden. „Fällt Ostern aus?“ fragte das evangelische Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt, einen „Skandal im göttlichen Sperrbezirk“ meldete die taz. Die Erkenntnisse Lü- demanns, vorab in Stich- worten und Schlagzeilen verbreitet: Das Grab Je- suwar nicht leer. Jesus ist nicht leiblich auferstan- den. Die Jünger hatten lediglich Visionen. Entschieden wider- sprach der Tübinger Pfarrer Rolf Hille, der im Vorstand der Deutschen Evangelischen Allianz sitzt, einer Vereinigung konservativer Christen: Die Auferstehung gehö-

* Flügelbild des Wurzacher Altars von Hans Multscher. Auferstehung Jesu*: „Ein Leichnam kann nicht lebendig werden und aus dem Grabe steigen“

126 DER SPIEGEL 13/1994 le Bethel in Bielefeld: „Ich würde auch Bultmanns berühmt-berüchtigtes dann glauben und bekennen, daß Gott Wort wurde in einer bundesweiten Jesus von den Toten auferweckt hat, Auseinandersetzung um den rechten wenn die Überreste von Jesu Leichnam Glauben viel zitiert, die im Jahre 1966 in Jerusalem ausgegraben und zweifels- ihren Höhepunkt erreichte. Im März frei identifiziert würden.“ jenes Jahres bliesen in der Dortmunder Einige ließen es nicht beim Protest Westfalenhalle 1000 Posaunen zum bewenden. Der e. V. „Freundeskreis Kampf gegen Bultmann und andere Kirche und geistliches Leben“, Sitz Kö- moderne Theologen, und 22 000 Gläu- nigswinter, alarmierte die Leitung der bige sangen und beteten dort unter den rheinischen Landeskirche: Es sei „eine Losungen „Der Herr ist auferstanden“ juristische Frage, was geschehen kann“. und „Er ist wahrhaftig auferstanden“. Die Kirche dürfe nicht „gleichgültig und Zwar glaubt mittlerweile nur noch tatenlos“ hinnehmen, daß ein Theolo- jeder dritte Deutsche an die Auferste- gieprofessor bestreite, was im Apostoli- hung so, wie sie in der Bibel berichtet schen Glaubensbekenntnis stehe. wird, und unter den jüngeren lediglich Schon gehandelt hat Arndt Ruprecht, noch jeder fünfte. Geschäftsführer des Göttinger Verlages Aber die meisten Protestanten haben Vandenhoeck & Ruprecht. Er trennte aus dem Konfirmanden- und Religions- sich von dem Buch, noch bevor es in den unterricht einigermaßen in Erinnerung, Handel kam. Der Verlag verkauft nur worum es geht, und Katholiken sind noch die schon gedruckten Exemplare sogar noch besser im Bilde: und stellte es dem Autor frei, sich für ei- Laut Neuem Testament hat Jesus am ne etwaige zweite Auflage einen ande- Auferstehungs-Forscher Lüdemann dritten Tag sein Grab verlassen und ist ren Verlag zu suchen**. Wie ein Detektiv tätig auferstanden. Er ist Frauen und Jün-

Kritische Theologen Barth, Bultmann, Drewermann*: Über den historischen Kern nicht mehr einig?

Ruprecht brüskierte einen seiner re- Kopenhagen. Soviel Aufregung wie um gern erschienen, zuletzt bei Damaskus nommierten Autoren. Lüdemann hat Lüdemanns Buch schon vor seinem Er- dem Christenverfolger Saulus, der dar- sich in der Fachwelt einen Namen ge- scheinen hat es seit Rudolf Augsteins aufhin zum Christen und zum Apostel macht: mit einem zweibändigen Werk „Jesus Menschensohn“ im Jahre 1972 un- Paulus wurde. Der Auferstandene ist mit über „Paulus, den Heidenapostel“ sowie ter den deutschen Christen um kein Werk zwei Jüngern von Jerusalem nach Em- mit Büchern über „das frühe Christen- gegeben, auch wenn es monatelang auf maus gewandert. Er hat mit weiteren tum“ und über die Schriften des katholi- der Bestsellerliste stand. Jüngern gesprochen und gegessen, ist schen Theologen Eugen Drewermann, Lediglich der Streit um Drewermann durch eine geschlossene Tür gegangen, mit dem er sich kritischer und kundiger tobte heftiger, allerdings vornehmlich in hat dem ungläubigen Jünger Thomas die auseinandersetzte als irgendein anderer der katholischen Kirche. Es blieb auf Wunden der Kreuzigung gezeigt und ist evangelischer Theologe (Titel: „Texte evangelischerSeitesogarrelativruhig,als nach 40 Erdentagen aufgefahren gen und Träume“). der Paderborner Theologe im Dezember Himmel. Einige Jahre hat Lüdemann in Kana- 1991 in einem SPIEGEL-Gespräch dem Kein anderes Wort des Apostels Pau- da und in den USA gelehrt, seit 1983 ist zustimmte, was der evangelische Theolo- lus wird seit nahezu zweitausend Jahren er Professor für Neues Testament in geRudolf Bultmann einst wider die leibli- so oft wiederholt und bekräftigt wie eine Göttingen, 1992/94 nebenher Gastpro- che Auferstehung Jesu gesagt hatte: „Ein Stelle in seinem ersten Brief, den er den fessor an der Vanderbilt University im Leichnam kann nicht wieder lebendig Korinthern schrieb: „Ist aber Christus US-Bundesstaat Tennessee. Dieser Ta- werden und aus dem Grabe steigen.“ nicht auferstanden, so ist unsere Predigt ge hat er einen Ruf an die Universität vergeblich, so ist auch euer Glaube ver- Bonn abgelehnt. * SPIEGEL-Titel 52/1959 mit Barth; SPIEGEL-Titel geblich.“ Während er an dem Auferstehungs- 51/1993 mit Drewermann. Vieles andere, was einst als Glaubens- Buch arbeitete, erörterte er seine Er- ** Gerd Lüdemann: „Die Auferstehung Jesu“. wahrheit galt, ist klammheimlich aufge- Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen; 228 Sei- kenntnisse bei Gastvorlesungen an den ten; 58 Mark. Eine englische Ausgabe erscheint geben worden. Es gibt auch unter Kirch- Universitäten Lausanne, Chicago und im Juli. gängern und Theologen kaum noch Streit

DER SPIEGEL 13/1994 127 Werbeseite

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Werbeseite KIRCHE darüber, ob Jesus von einer Jungfrau ge- Jünger und der auferstandene Jesus Es gibt etliche weitere Stellen in Lüde- boren wurde, ob er Tote auferweckt und („Da nahte sich Jesus selbst und ging manns Buch, wo diejenigen fündig wer- über Wasser gewandelt ist. Und auch mit ihnen“). den, die sich empören wollen. Beispiele: die Himmelfahrt verteidigt im Zeitalter Für den moderaten waren es zwei – „Wo ist er denn geblieben?“ zitiert Lü- der Raketen kaum noch jemand. Nur die beiden Jünger, die eine Vision hat- demann aus einem vor 30 Jahren erschie- der Papst und seine Bischöfe führen die ten. nenen Buch, und die Frage ist aktueller letzten Gefechte um dieses antiquierte Für den modernen ist niemand ge- denn je. Sie richtet sich an jene Theolo- Glaubensgut, und manch Kritiker wandert, weil er den ganzen Bericht für gen, die Jesus weiterhin aus dem Grabe meint, daß etliche Bischöfe dies ledig- eine Legende hält. steigen, ihn aber nicht mehr gen Himmel lich des frommen Scheins wegen tun. Und auch die Frage, ob Jesus das fahren lassen. „Bei der Auferstehung aber“, so stell- Grab verlassen hat, treibt die Theologen Ostern wird laut Lüdemann an einem te der Theologieprofessor Ingo Broer in drei Richtungen auseinander. fiktiven Datum gefeiert: Jesus seiam drit- (Gesamthochschule Siegen) fest, „wird „Es gibt keine Osterbotschaft ohne ten Tage schon deshalb nicht auferstan- der historischen Kritik kein Pardon ge- die Nachricht vom leeren Grab“, be- den und den Jüngern in Galiläa erschie- währt. Die Auferstehung soll, muß und hauptet der Erlanger Theologieprofes- nen, weil diese die etwa 90Kilometer lan- kann – wenigstens nach Meinung vieler sor Walter Künneth, der einst in der ge Strecke von Jerusalem dorthin nicht Theologen – das leisten, was früher die Westfalenhalle wider die Ketzer unter vom Freitag bis Sonntag zurückgelegt ha- Evangelien insgesamt leisteten: dem seinen Kollegen predigte und dessen ben können – zumal „dazwischen der Glauben einen Grund geben.“ „Theologie der Auferstehung“ in 6. Sabbat lag, an dem sie kaum gewandert Nun wird auch das noch durch das seit Auflage erschienen ist. sein dürften“. langem kritischste Buch über die Aufer- „Dieses Grab mag bewiesen werden Wie alle Autoren theologischer Bü- stehung in Frage gestellt. Und es ist als endgültig verschlossen oder als offe- cher kam auch Lüdemann nicht umhin, mehr Altes zu wiederholen als Neues zu schreiben. Anders kann es auch nicht Nur jeder dritte Deutsche: Jesus ist leiblich auferstanden sein. In zwei Jahrtausenden sind über je- Auf die Frage nach der Auferstehung Jesu antworteten von je 100 Deutschen de halbwegs wichtige Bibelstelle Biblio- theken zusammengeschrieben worden, und in den beiden Jahrhunderten seit der 30 34 33 Aufklärung ist jede kritische These dut- zendfach verfochten worden. Das gilt auch für die extremsten: daß „Jesus ist nach drei „Auferstehung darf man „Jesus lebt allenfalls Jesus gar nicht gelebt hat oder daß er Tagen auferstanden, hat nicht wörtlich nehmen. in seinen Werken nicht am Kreuz gestorben ist, wie als bis- sein Grab verlassen und Jesus wird seinen Jüngern weiter, wie man das lang letzter der TV-Journalist Franz Alt ist zu Gott nur als Vision erschienen auch von Goethe in seinem 1989 erschienenen Bestseller zurückgekehrt.“ sein.“ sagen kann.“ „Jesus – der erste neue Mann“ behauptet Quelle: SPIEGEL-Umfrage „Was glauben die Deutschen?“, 1992. hat. Alt berief sich für seine These, Jesus habe die Kreuzigung scheintot überlebt, nicht mal mehr sicher, daß sich alle nes Grab, es bleibt sich Theologen, konservative und moderne, wirklich gleich“, be- wenigstens in einem Punkt einig blei- fand Karl Barth, wie ben: daß es einen „historischen Kern“ Bultmann einer der der Osterereignisse gibt. Großen der evangeli- Oft wird in diesem Zusammenhang schen Theologie. darauf hingewiesen, daß die Jünger Und wie vor ihm nach der Gefangennahme Jesu ihren Bultmann ist nun auch Herrn verlassen hätten und geflüchtet der Göttinger Lüde- seien, daß sich aber gleichwohl bald mann sicher, daß Jesus nach dem Tode Jesu eine Gemeinde von im Grabe geblieben ist. Christen gebildet habe. Der Satz, den seine Populär geworden ist die Argumenta- Gegner herauspicken tion des Neutestamentlers Martin Dibe- und herumzeigen wer- lius: „Es muß also etwas eingetreten den, steht auf Seite 216 sein, was binnen kurzem nicht nur einen des Buches, wo es um völligen Umschlag ihrer Stimmung her- den Leichnam Jesu vorrief, sondern sie auch zu neuer Akti- geht. „Ist er verwest?“ vität und zur Gründung der Gemeinde fragt Lüdemann dort befähigte. Dieses ,Etwas‘ ist der histori- und antwortet: „Ich sche Kern des Osterglaubens.“ halte diesen Schluß für Über dieses „Etwas“ gibt es fast so unumgänglich.“ Das viele Meinungen wie Theologen, die ist das Gegenteil des- sich dazu äußern. Aber immerhin sen, was in der Bibel braucht man nur bis drei zu zählen, um steht: „Sein Leib hat einen konservativen von einem modera- die Verwesung nicht ten Theologen, diesen wiederum von ei- gesehen“ (Apostelge- nem modernen zu unterscheiden. schichte, Kapitel 2, Für den konservativen sind drei Män- Vers 31). ner von Jerusalem nach Emmaus ge- Maria Magdalena, auferstandener Jesus* wandert, wie es in der Bibel steht: zwei * Von Correggio. Vom Frauenfeind Paulus verschwiegen

130 DER SPIEGEL 13/1994 auf einen anderen Autor: Karl Herbst, 77. Der hat in- zwischen weitere Erkenntnis- se gewonnen und in einem 1992 erschienenen Buch („Kriminalfall Golgatha“) Jesus über die Seidenstraße gen China ziehen lassen. 48 Mark verlangt das Gü- tersloher Verlagshaus für einen 1993 erschienenen Schmarren der australischen Theologin Barbara Thiering („Jesus von Qumran“), die Jesus mit über 70 Jahren „in Rom an Altersschwäche“ sterben läßt. Solchen abstrusen Ge- schichten widmet Lüdemann allenfalls Nebensätze in den 715 Fußnoten, mit denen die 222 Textseiten seines Buches übersät sind. Er setzt sich mit zwei Dut- Auferstandener Jesus in Emmaus*: „Historischer Ertrag gleich Null“ zend theologischen Werken auseinander und macht es seinen Lesern nicht leicht. Zwar hofft er im Vorwort, daß auch Nicht-Theologen dazu gehören, aber es ist dann doch ein fachgelehrtes Buch geworden. Es wimmelt von Verwei- sen auf Bibelstellen, die man entweder im Kopf haben oder einzeln nachschlagen muß, und oft wird Wissen vorausgesetzt, das auch dem einen oder anderen Pfarrer fehlt. Aber es lohnt die Mühe, sich durch das Buch zu kämpfen. Lüdemann hat es so geschrieben, wie Theodor Mommsen es von Historikern verlangt hat: „Rück- sichtslos ehrlich, keinem Zweifel ausbie- gend, keine Lücke der Überlieferung oder des eigenen Wissens übertün- chend.“ Der Leser nimmt teil an der Arbeit ei- nes Exegeten, der ähnlich wie ein Detek- tiv tätig ist. Er geht spärlichen Spuren nach, erschließt sich Quellen, bewertet Motive, stellt Aussagen gegenüber und prüft deren Glaubwürdigkeit. Oft hilft ihm nur die Logik, Lücken zu schließen und über Widersprüche der Zeugen und Autoren hinwegzukommen. Bekehrung des Paulus*: „Innerer Stau entlud sich“ Das ist für die meisten Protestanten und Katholiken eine fremde Welt, weil nur ein einziger war ein Apostel – Pau- (des Johannes) sogar erst etwa 70 Jahre sie von der Arbeit moderner Theologen lus, der erst zwei bis drei Jahre nach der nach dem Tode Jesu verfaßt. nichts wissen und oft auch nichts wissen Kreuzigung Christ wurde. Seine Briefe Fast alle Neutestamentler sind sich wollen. sind die ältesten Texte des Neuen Testa- darüber einig, daß Matthäus und Lukas Noch immer herrscht im Kirchenvolk ments, geschrieben hat er sie etwa 20 bis vornehmlich aus zwei Quellen schöpf- die Meinung vor, das Neue Testament – 25 Jahre nach dem Tode Jesu. Aber ten: dem Markus-Evangelium und der 4 Evangelien, 21 Briefe, die Apostelge- nicht alle Briefe, die ihm zugeschrieben sogenannten Quelle „Q“, einer Samm- schichte und die Apokalypse („Offenba- werden, stammen wirklich von ihm. lung von Sprüchen, die nicht erhalten rung des Johannes“) – sei von Aposteln Weitaus die meisten Texte des Neuen geblieben ist. Sie haben Markus und geschrieben worden, also von Zeitgenos- Testaments sind von Christen der zwei- „Q“ redigiert und mit eigenen Texten sen und Wegbegleitern Jesu, oder zumin- ten, der dritten oder sogar erst der vier- ergänzt. In den drei Evangelien stimmt dest von deren Schülern. ten Generation geschrieben worden. deshalb vieles überein, zum Teil sogar Teils steht es so in der Bibel, teils will es Das älteste Evangelium (des Markus) wörtlich, während sich der Autor des eine Überlieferung so, die fast so alt ist wurde etwa 40 Jahre, das zeitlich letzte letzten, des Johannes-Evangeliums, viel wie das Neue Testament. mehr Freiheit nahm. Aber es ist umgekehrt: Kein einziger * Oben: von Giovanni Bellini; unten: von Bartolo- Die vier Evangelien sind ein spätes Autor der Bibel hat Jesus gekannt. Und me´ Esteban Murillo. Stadium der Überlieferung, die schon

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logisch zu deuten, Frauen, die Jesus in Galiläa begleitet ziemlich wenig, um sie hatten, sahen zwar „von Ferne“ die auf ihren geschichtli- Kreuzigung, aber kein Evangelist be- chen Wert zu überprü- hauptet, daß sie Jesus begraben hätten. fen. Nach allen vier Evangelien tat dies ein Lüdemann bedau- Jude namens Joseph aus Arimatäa, ei- ert, daß seine Fachkol- nem Ort nahe Jerusalem. Von Evangeli- legen „in wachsendem um zu Evangelium verschönt sich sein Maße die Auferste- Bild. Bei Markus ist er ein „angesehener hung Jesu der wissen- Ratsherr“, also ein Mitglied jenes Ho- schaftlichen Rückfrage hen Rates, der Jesus der Gottesläste- entziehen wollen“. Als rung für schuldig befunden und dem rö- einen von vielen, die mischen Statthalter Pontius Pilatus dies versuchen, zitiert übergeben hatte. er den Frankfurter Professor Hans Kess- ler; der zählt die Auf- Erst diskret, erstehung zu dem dann deutlich, am „Wirklichen und wirk- lich Geschehenen, das Ende drastisch nicht objektivierbar und historisch verifi- Bei Lukas ist er zwar immer noch zierbar ist“. Ratsherr, aber schon „ein guter und ge- Der Göttinger Ex- rechter Mann“, der an dem Urteil gegen eget hält auch den Ein- Jesus nicht beteiligt war. Bei Matthäus wand für fadenschei- und Johannes ist er ein „Jünger Jesu“. nig, zu den Osterge- Lüdemann: „Aus dem Feind ist ein schichten fänden Hi- Freund geworden.“ Das Motiv: „Den storiker keinen Zu- Christen war es peinlich, daß Gegner Joseph von Arimatäa bei der Grablegung* gang, weil Bericht und und nicht die Ihrigen den Herrn bestat- Erst Feind, dann Freund Bekenntnis, Erzählung tet hatten.“ und Deutung untrenn- Und auch das Grab entspricht immer bald nach dem Tode Jesu begann. Zu- bar miteinander verbunden seien: „Das mehr der Würde des teuren Toten. Bei nächst wurden im wesentlichen nur ein- trifft auf alle Texte zu, mit denen die Markus ist es nur ein „Grab“, bei Mat- zelne Sprüche und Taten Jesu weiterer- Geschichtswissenschaft umgeht.“ thäus ein „neues Grab“, bei Lukas ein zählt. Die Evangelisten haben sie in di- Ganz allgemein gilt für alle biblischen „Grab, in dem noch niemand gelegen verse „Rahmen“ gestellt. Angaben wie Texte über die Ereignisse nach dem Tod hatte“, und bei Johannes überdies ein „Und es begab sich . . .“, „Am Jesu: Je später sie verfaßt wurden, desto Grab „im Garten“, was nach jüdischer Abend . . .“ oder „Auf einem Berg . . .“ anschaulicher und genauer schildern sie Tradition eine besondere Ehre bedeu- sind zumeist redaktionelle Einschübe. das Ostergeschehen. tet. Eine typische Stelle im Alten Testa- Sogar die Bergpredigt, oft verfilmt und Das ist nicht etwa darauf zurückzu- ment: „ . . . und legte sich zu seinen Vä- in Schulbüchern geschildert, hat nicht führen, daß im Laufe der Zeit Berichte tern und wurde begraben im Garten an stattgefunden. Evangelist Matthäus zog von Augen- und Ohrenzeugen entdeckt seinem Hause.“ lediglich Sprüche zusammen und schrieb worden wären. Lüdemann: „Die Berichte werden im- eine Handlung drum herum. Vielmehr wucherte die Legende. Das mer legendärer, weil der Gedanke, Je- Verdienst Lüdemanns ist es, diese Ent- sus sei unehrenhaft verscharrt worden, wicklung so sorgfältig erforscht zu ha- immer mehr verdrängt werden sollte.“ In den Evangelien ben wie vor ihm nur zwei Theologen, Daß sich das Grab dort befindet, wo wuchert deren Bücher ebenfalls bei Vanden- es angeblich im Jahre 326 entdeckt wur- hoeck & Ruprecht erschienen sind: de und noch heute Touristen gezeigt die Legende Der Marburger Bultmann (1884 bis wird, behauptet kein ernstzunehmender 1976), der mit seiner „Geschichte der Theologe. Die Exegeten lösen die einzelnen Stük- synoptischen Tradition“ ein Jahrhun- Lüdemann ist sogar davon überzeugt, ke aus den künstlichen Rahmen und kön- dertwerk schuf. Noch heute wird es in daß die Jünger nicht wußten, wo Jesus nen aufgrund inhaltlicher Merkmale de- der Fassung von 1931 gedruckt, mittler- beigesetzt worden war. Das ist aller- ren Alter oft ziemlich genau feststellen. weile in der 9. Auflage, nur mit Beihef- dings nur ein Schluß aus dem Schweigen Sie sind immer auch auf der Suche nach ten aktualisiert. der Quellen: „Bei einer Kenntnis des dem „Sitz im Leben“ und versuchen zu Und Hans Graß, 85, ebenfalls Theo- Grabes Jesu hätten die frühen Christen klären, aus welchem Grund eine Erzäh- logieprofessor in Marburg, der 1956 ein es verehrt, und darüber wären Traditio- lung entstand und warum sie in das jewei- Standardwerk über „Ostergeschehen nen erhalten geblieben.“ lige Evangelium aufgenommen wurde. und Osterberichte“ schrieb. Der Göttinger Neutestamentler prüf- Denn den Bibel-Autoren ging es nicht Der Verbleib des Leichnams Jesu ist te trotzdem alle Grab-Geschichten auf darum, sozusagen wertfrei das Leben Je- das erste Thema, dessen sich die drei etwaige historische Spuren. Dieser Auf- su zu schildern. Sie wollten den Glauben Spezialisten jeweils im Abstand von ei- gabe haben sich vor ihm relativ wenige wecken und fördern. nigen Jahrzehnten annahmen. unterzogen. Konservative Theologen Kein anderer Teil des Neuen Testa- Die Jünger waren geflüchtet und halten sich aus frommer Scheu zurück, ments stellt die Exegeten vor soviele Pro- konnten Jesus nicht bestattet haben. moderne Theologen sind sich in ihrem bleme wie die „Osterberichte“ über das Maria Magdalena und einige andere negativen Urteil von vornherein sicher, „Ostergeschehen“. Unendlich viel ist ge- und Historiker zieht dieser Stoff nicht schrieben worden, um diese Texte theo- * Von Schiavone. an, weil zu den handelnden Figuren

134 DER SPIEGEL 13/1994 auch Engel und andere überirdische Ge- stalten gehören. Kein Autor kannte Jesus Entstehungszeit und Autoren der Evangelien Überdies sind die Grab-Recherchen und der anderen Teile des Neuen Testaments ein besonders schwieriges Unterfangen, Das älteste Evangelium wurde 40 Jahre, weil kaum ein Text zum anderen paßt. das jüngste Evangelium 70 Jahre nach Aber es sind immerhin auch hier deutli- dem Tode Jesu verfaßt. Entgegen kirch- che Trends auszumachen. licher Lehre und Tradition ist Paulus der Nach den drei älteren Evangelien fin- den Frauen dasGrab leer, und siewerden einzige Apostel, der Texte des Neuen von einem Engel beauftragt, die Jünger Testaments schrieb. Aber auch einige zu benachrichtigen. Aber bei Markus „Paulus“-Briefe stammen nicht von ihm. „sagen sie niemand etwas“, nur bei Mat- „Die vier Evangelisten“, Buchmalerei aus thäus und Lukas überbringen sie die Bot- dem 9. Jahrhundert; Domschatz, Aachen schaft, sie hätten das Grab, aber nicht Je- sus gefunden. Autor nach Ergebnis der Lüdemann: „Markus läßt die Frauen kirchlicher Lehre Bibelkritik schweigen, weil die Geschichte vom lee- und Tradition Trifft zu Trifft ren Grab erst spät aufgekommen war und nicht zu damals noch nicht erzählt wurde, wie sich die Jünger daraufhin verhalten haben.“ Jahr: 30 Jahr: 30 Tod Jesu Markus und Matthäus bringen die Jün- um 50 1. Brief an die Thessalonicher Apostel Paulus ger noch nicht mit dem Grab in Verbin- dung. Lukas bietet zwei Versionen hin- 53 bis 55 Brief an die Galater Apostel Paulus tereinander. Erst glauben die Jünger den Frauen nicht („Und es erschienen ihnen um 55 1. Brief an die Korinther Apostel Paulus diese Worte, als wären’s Märchen“), dann gehen „etliche“ doch zum Grab Brief an die Philipper Apostel Paulus „und fanden’s so, wiedie Frauen sagten“. Brief an Philemon Apostel Paulus Erst im letzten, dem Johannes-Evan- gelium, wird die Geschichte knapp und 2. Brief an die Korinther Apostel Paulus klar erzählt. Maria Magdalena „läuft“, ohne daß esdes Auftrags eines Engels be- Brief an die Römer Apostel Paulus darf, zu den Jüngern, und die beiden um 70 Markus-Evangelium Markus, Begleiter wichtigsten begeben sich zum Grab: Pe- des Apostels Petrus trus und „der Jünger, den Jesus liebhat- te“. Das wird wie ein sportliches Ereignis um 80 Brief an die Kolosser Apostel Paulus geschildert: „Es liefen aber die zwei mit- 80 bis 90 Brief an die Hebräer Apostel Paulus einander, und der andere Jünger lief vor- aus, schneller als Petrus, und kam zuerst um 90 Matthäus-Evangelium Apostel Matthäus zum Grabe.“ Lukas-Evangelium Lukas, Begleiter des Lüdemann: „Er war schneller, nicht Apostels Paulus weil er besser laufen konnte, sondern weil er nach der Theologie des Johannes- vor 100 Apostelgeschichte Lukas, Begleiter des Evangeliums Jesus näher stand als Pe- Apostels Paulus trus.“ Offenbarung des Johannes Apostel Johannes Nicht nur die Jünger, auch Jesus wird (Apokalypse) immer stärker mit dem Grab in Verbin- dunggebracht. BeiMarkus und beiLukas Brief an die Epheser Apostel Paulus melden Engel dieAuferstehung, beiMat- 2. Brief an die Thessalonicher Apostel Paulus thäus und Johannes erscheint Jesus selbst. 1. Brief des Petrus Apostel Petrus Buchautor Lüdemann ist sicher, daß Brief des Jakobus Jakobus, Jesus-Bruder die Erscheinungs-Geschichten älter sind und Apostel als die Grab-Geschichten, daß beide zu- nächst unabhängig voneinander erzählt um 100 Johannes-Evangelium Apostel Johannes und erst relativ spät miteinander verbun- 1. und 2. Brief an Timotheus Apostel Paulus den wurden, „um dieGlaubwürdigkeit zu erhöhen“. Brief an Titus Apostel Paulus Stark geprägt sind die Texte auch von apologetischen Tendenzen. Jüdische Anfang 2. 1., 2. und 3. Brief Apostel Johannes Gegner reagierten auf die Behauptung Jahrhundert des Johannes der Christen, Jesus sei auferstanden und Brief des Judas Judas, Jesus-Bruder habe sein Grab verlassen, mit einem Ge- und Apostel rücht: Die Jünger hätten den Leichnam Mitte 2. 2. Brief des Petrus Apostel Petrus beiseite geschafft. Jahrhundert Diese Version gelangte sogar in die Bi- bel, eingekleidet in eine Erzählung im Quelle: Eduard Lohse, „Die Entstehung des Neuen Testaments“, 5. Auflage 1991. Matthäus-Evangelium: Die Hohenprie- In den wesentlichen Punkten stimmen die meisten evangelischen und viele katholische Neutestamentler überein. ster verlangen von Pilatus die Bewachung des Grabes, „damit nicht seine Jünger

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kommen und ihn stehlen und zum Volk ungläubigen Jünger Thomas sogar auf, sagen: Er ist auferstanden von den To- ihn zu betasten: „Reiche deinen Finger ten“. her und siehe meine Hände und reiche Um diese Behauptung zu entkräften, deine Hand her und lege sie in meine hat Matthäus in seine Grab-Geschichte Seite und sei nicht ungläubig, sondern eine Legende über eine römische Wache gläubig!“ eingefügt, mit der Folge, daß dieses Ka- Nur im Johannes-Evangelium wird pitel „von Ungereimtheiten nur so von einer Begegnung am See Geneza- strotzt“ (Lüdemann). reth berichtet, wo der Auferstandene Damit die heidnischen Römer nicht den erfolglos fischenden und hungrigen Ohrenzeugen eines Gesprächs zwischen Jüngern am Ufer erscheint: „Spricht Je- einem Engel und den frommen Frauen sus zu ihnen: Kinder, habt ihr nichts zu werden, läßt der Evangelist sie beim An- essen?“ Er verschafft ihnen „ein Netz blick des Engels so erschrecken, „als wä- voll großer Fische“, und Petrus verläßt ren sie tot“. Gleichwohl berichten die das Boot, „warf sich ins Wasser“ und Soldaten hernach „alles, was geschehen schwimmt zu seinem Herrn an Land. war“, allerdings nicht etwa ihrem Vorge- Die Legendenbildung ging noch wei- setzten Pilatus, der sie ans Grab kom- ter. In einem „Brief der Apostel“, der mandiert hatte, sondern den jüdischen 50 Jahre nach dem Johannes-Evangeli- Oberen. Die wiederum verlangen von ihnen schier Unmögliches: Sie sollten wider Im ältesten Bericht besseres Wissen behaupten, die Jünger kein Wort hätten Jesus gestohlen. Lüdemann: „Mit dem damit verbundenen Geständnis, am über das leere Grab Grabe geschlafen zu haben, hätten sie sich um Kopf und Kragen gebracht.“ um verfaßt und nicht ins Neue Testament Diese Geschichte „kann historisch nicht aufgenommen wurde, steht eine lange ernst genommen werden“. Geschichte: Die Leiblichkeit des Auferstandenen Als Jesus hört, daß die Jünger seine wird anfangs diskret, später deutlich und körperliche Existenz bezweifeln, schickt schließlich drastisch geschildert. Der er erst eine Jüngerin Martha, dann eine Grund: Siewurde nicht nur von den Geg- Jüngerin Maria zu ihnen, um sie zu über- nern bestritten, sondern auch von Chri- zeugen, und macht sich dann selbst auf sten bezweifelt. Die Zahl der Skeptiker den Weg („Lasset uns zu ihnen gehen“). in den eigenen Reihen wuchs und sollte Aber auch sein Anblick überzeugt sie mit immer krasseren Darstellungen über- nicht („Wir dachten, es wäre ein Ge- zeugt werden. spenst“). Das ändert sich erst, als zwei Im ursprünglichen Text des Markus- Jünger die Wunden der Kreuzigung beta- Evangeliums steht nur „Er ist auferstan- sten und ein dritter feststellt, daß die Fü- den“, mehr wird dort nicht berichtet*. ße Jesu die Erde berühren („Eines Dä- Auch Matthäus äußert sich kaum dar- monengespenstes Fuß pflegt nicht zu haf- über, wie der Auferstandene beschaffen ten auf der Erde“). war. Lüdemann hält die Berichte sowohl im Erst bei Lukas wandert Jesus mit zwei „Brief der Apostel“ als auch im Johan- Jüngern über Land nach Emmaus und nes-Evangelium für das „redaktionelle „saß mit ihnen zu Tisch“. Und als er auch Werk der Verfasser“ – auch die Thomas- anderen Jüngern erscheint, betont er sei- Geschichte, in der Johannes „das weit ne Leiblichkeit: „Sehet meine Hände und verbreitete Motiv des Zweifels personali- meine Füße, ich bin’s selber. Fühlet mich sierte“. an und sehet, denn ein Geist hat nicht Viel ist darüber geschrieben worden, Fleisch und Bein, wie ihr sehet, daß ich daß der ungläubige Thomas von dem An- habe.“ Er fragt: „Habt ihr hier etwas zu gebot Jesu, ihn zu berühren, keinen Ge- essen?“ und „vor ihnen“ (vor ihren Au- brauch macht und Jesus daraufhin zu ihm gen) ißt er „gebratenen Fisch und Honig- sagt: „Selig sind, die nicht sehen und doch seim“. glauben!“ Es ist die Aufforderung an Nach dem Johannes-Evangelium ge- zweifelnde Christen, nicht nach immer schieht noch weit mehr. Jesus betritt ei- neuen Beweisen für die leibliche Aufer- nen Raum, obwohl „die Türen verschlos- stehung zu verlangen. sen waren“, zeigt den Jüngern „seine Wer feststellen will, was sich nach dem Hände und seine Seite“ (mit einer Wun- Tode Jesu wirklich ereignet hat, muß sich de von einem Lanzenstich bei der Kreuzi- nach Meinung Lüdemanns an den älte- gung) und fordert „acht Tage später“ den sten und historisch wichtigsten Text hal- ten. * Von der Leiblichkeit des Auferstandenen ist nur in den Versen 9 bis 20 des letzten Kapitels die Er stammt von Paulus und steht in des- Rede. Sie sind eine spätere Ergänzung des ur- sen erstem Korinther-Brief. Es ist eine sprünglichen Textes, der mit Vers 8 endet oder Liste derer, denen der Auferstandene er- nur bis zu dieser Stelle erhalten blieb. schienen sei: ** Petrus ist der Apostelname des Fischersohns Simon. Er wurde auch Kephas genannt, nach dem Erst dem Kephas (gleich Petrus**), aramäischen Kefas = Fels. dann den Zwölfen, später „mehr als 500

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Brüdern auf einmal“, ferner dem Jesus- Bruder Jakobus, „allen Aposteln“ und „am letzten nach allen ist er auch von mir als einer unzeitigen Geburt gesehen worden“. Der Apostel, der als Frauenfeind gilt („Lasset die Frauen schweigen in der Gemeinde“), erwähnt keine Erschei- nungen Jesu vor Frauen, die ihn in Gali- läa begleitet hatten. Hingegen berichten drei Evangelisten davon. Zwar stimmen bei ihnen die Zahl und die Namen der Frauen nicht überein, aber Maria Mag- dalena ist immer dabei, und laut Johan- nes-Evangelium ist Jesus einmal nur ihr allein erschienen. Paulus erwähnt das leere Grab mit keinem Wort, und er äußert sich auch nicht über Ort, Zeit und Art der Er- scheinungen. Sogar darüber, was ihm selbst widerfuhr, macht er in seinen Briefen nur Andeutungen. Laut Apo- stelgeschichte konnte Paulus danach „drei Tage nicht sehen“. Lüdemann hält dies für eine seinerzeit nicht seltene „ekstatische Blindheit“. Stereotyp schreibt Paulus jedesmal, Jesus sei „gesehen worden“. Lüdemann ist davon überzeugt, daß alle Erschei- nungen gleicher Art waren und es sich Fischende Jünger, auferstandener Jesus*: „Kinder, habt ihr nichts zu essen?“ um Visionen handelte. Das gelte auch für alle Erscheinungen Jesu am Grabe was Übernatürliches zu sehen oder zu Dieser Auffassung ist auch Lüdemann, und andernorts, von denen die Evange- hören, damit die anderen es auch sehen und er steht damit nicht allein. Der listen berichten – soweit sie überhaupt oder hören.“ Frankfurter Theologe Kessler verwahrt stattgefunden haben. Lüdemann hält auch die Erscheinung sich gegen die „in neuerer Zeit populär Lüdemann: „Was die Osterzeugen er- „vor mehr als 500“ für ein „enthusiasti- werdende Auffassung, es handele sich lebten, war ein Sehen im Geist und nicht sches Erlebnis einer großen Menge von bei den Erscheinungen um bloße Produk- das Sehen eines wiederbelebten Leich- Menschen, die als Begegnung mit Chri- te der Einbildungskraft beziehungsweise nams.“ stus aufgefaßt wurde“. des Unterbewußtseins der Jünger“. Die von Paulus an erster Stelle ge- Wie etliche andere Theologen nimmt Und Kessler beschreibt in einem Auf- nannte Vision des Kephas/Petrus hält er an, daß diese Vision der mehr als 500 erstehungs-Buch („Sucht den Lebenden der Göttinger Theologe für das wichtig- identisch ist mit der Pfingstversammlung nicht bei den Toten“) zwar in polemi- ste Ereignis nach dem Tode Jesu: „Aus in Jerusalem, die in der Apostelge- scher Absicht, aber durchaus zutreffend, dieser Erscheinung wurde die Folgerung schichte geschildert wird. wie moderne Theologen über die Visio- gezogen: Gott hat Jesus von den Toten Mit dem Marburger Auferstehungs- nen der Jünger denken: auferweckt.“ Forscher Graß stimmt Lüdemann darin „Der Glaube, Jesus und seine Sache überein, daß von den Visionen „Kamera könnten nicht tot sein, ließ tief in ihnen oder Tonbandgerät nichts aufgenom- das Bild eines Jesus entstehen, der wie- „Kamera und men hätten“. Sie hätten lediglich festge- der bei ihnen war, beziehungsweise Tonband hätten nichts halten, wie erregt die Menschen waren. schlug um in die Gewißheit, daß er lebe, Die meisten Theologen glaubten frü- und diese Gewißheit brach sich Bahn in aufgenommen“ her und glauben heute, daß sich in den psychogenen Visionen, in denen sie das Erscheinungen oder Visionen ein Han- Ersehnte und Erträumte dann auch sa- Die Petrus-Vision habe zu einer deln Gottes zeige, wie mannigfaltig sie hen.“ „Kettenreaktion ohnegleichen“ geführt: dies auch ausdrücken. Ein „Telegramm Den Einwand Kesslers, es gebe „kei- „Die Berichte des Apostels über sein vom Himmel“ sei „notwendig gewe- nerlei Hinweise darauf, daß die frühe Erlebnis und die allgemein vorhandene sen“, schrieb 1872 der Züricher Theolo- Christenheit den Osterglauben auf inne- Erinnerung an Jesus führten zu einem ge Theodor Keim. Und 1956 hielt Graß re, seelische Vorgänge zurückgeführt religiösen Rausch und einer Begeiste- „an der transzendenten Wirklichkeit des hätte“, weist Lüdemann zurück: Es sei rung, die als Gegenwart Jesu erfahren in diesen Visionen Geschauten und Ge- „völlig unwesentlich“, ob die ersten Chri- wurden, und zwar als Präsenz des Auf- glaubten“ fest. sten dies getan haben, „das wäre ohnehin erstandenen, wie ihn bereits Petrus ge- Lüdemann erklärt die Visionen nicht nicht zu erwarten, da Visionäre es immer sehen hatte.“ übernatürlich, sondern psychologisch. anders sehen und an Botschaften ,von Die „Dynamik dieses Neuanfangs“ Als einer der ersten tat dies der Theolo- oben‘ glauben“. könne man sich „nicht explosiv genug ge Carl Holsten, der 1868 schrieb: „Die Die Erscheinung bei Damaskus läßt vorstellen“. visionäre Phantasie ist reproduktiv. Ge- sich allerdings nicht so erklären, denn Lüdemann zitiert zustimmend Ernest schaut wird nur, was vorher schon als Paulus wurde erst durch die Vision zum Renan, der 1866 schrieb: „In einer Ge- Vorstellung oder als Bild der freien Christen. sellschaft von Menschen gleichen Glau- Phantasie im Bewußtsein des Visionärs bens genügt es, daß einer behauptet, et- gelebt hat.“ * Von Konrad Witz (Genfer Petrus-Altar).

138 DER SPIEGEL 13/1994 Lüdemann nimmt an, darin dem Tie- Buches erörtert. Dort stellt er die Frage: Professor nur eine große Kurve gefah- fenpsychologen Carl Gustav Jung fol- „Können wir noch Christen sein?“ ren und zum gleichen Ziel gelangt wie gend, daß den Christengegner Paulus Für ihn selbst stand die Antwort, wie andere, die einen kürzeren Weg wählen. „die Grundelemente der christlichen er versichert, nicht von vornherein fest, Aber auf die Frage, ob Jesus so wei- Predigt und Praxis unbewußt angezogen als er sich des Themas Auferstehung an- terlebt wie Goethe und Gandhi, antwor- haben und daß er Zweifel an seiner eige- nahm: „Hätte ich sie verneinen müssen, tet er: „Ja, nur so. Die Begegnung mit nen Lebensanschauung unterdrückt hat. so wäre ich aus der Kirche ausgetreten Jesus ereignet sich bei der Begegnung Diese innere Stauung entlud sich in ei- und hätte meinen Lehrstuhl aufgeben mit den Texten, oder sie ereignet sich ner Vision Jesu.“ und die Fakultät wechseln müssen.“ nicht. Für die einen lebt er, für die ande- Der Göttinger Neutestamentler ist Doch all seinen Erkenntnissen zum ren ist er tot.“ sich bewußt, daß es unter evangelischen Trotz beantwortet er die Frage „getrost Theologen „ein negatives Vorurteil“ ge- mit Ja“, für sich selbst und für alle, die gen Visionen gebe, und zitiert den Mar- seinen Gedankengängen folgen wollen. „Vor Ostern burger Ernst Benz, der sogar von einem Seine Begründung ist allerdings anders, war bereits alles „antivisionären Komplex“ schrieb. als sie auf Kanzeln und Kathedern ge- Es werde oft nicht bedacht, daß heuti- meinhin gegeben wird. vorhanden“ gen Menschen nicht völlig fremd sei, Mit der Auferstehung hat sie nichts zu was sich vor zwei Jahrtausenden ereig- tun. Zwar bekennt auch Lüdemann, er Nach seiner Überzeugung verlieren net habe. Lüdemann verweist auf Be- glaube, daß Jesus „durch den Tod nicht die Christen dadurch nichts, daß sie an richte von Trauernden, die „gelegent- der Vernichtung anheimgegeben wur- die Auferstehung nicht mehr so glauben lich auch das Element der bildhaften de“ und „als der nun Lebende bei uns können wie bisher: „Vor Ostern war be- Vergegenwärtigung des verlorenen, ge- ist“. Das klingt so, als sei der Göttinger reits all das vorhanden, was nach Ostern liebten Menschen enthal- als endgültig erkannt wurde.“ Und: ten“. Und häufig hätten „Nicht Jesus oder seine Botschaft be- Trauernde sogar „das Ge- durften des Ostereignisses, sondern Pe- fühl, der Verstorbene sei trus und die anderen Jünger.“ präsent“. Christen könnten Christen bleiben, Die Bilanz Lüdemanns in auch wenn sie „nicht an die Wiederbele- seinem Buch: Abgesehen bung eines Leichnams glauben“. Ihr von den Visionen hat sich Glaube habe seinen Grund nicht in der nach dem Tode Jesu nichts Auferstehung, sondern im „historischen von all dem ereignet, was Jesus, wie er uns durch die Texte vorge- die Bibel berichtet. geben ist und durch historische Rekon- „Der historische Ertrag struktion als Person begegnet“. ist gleich Null.“ So urteilt Das ist etwas ganz anderes als das, was der Göttinger Theologe seit Paulus die Theologen unablässig über einen Bericht im Lu- wiederholen, wie zum Beispiel der Hei- kas-Evangelium vom Auf- delberger Theologe Günther Bornkamm treten Jesu vor elf Jüngern. im populärsten deutschen Jesus-Buch, Er hätte dies auch über die das in der 14. Auflage vorliegt und in meisten anderen Berichte in zehn Sprachen übersetzt wurde: „Ohne den Evangelien schreiben die Botschaft von der Auferstehung können, und „der Rest ist Christi“ gäbe es „kein Evangelium, kei- sekundär, hat also besten- nen Glauben, keine Kirche, keinen Got- falls ein überliefertes Wort tesdienst“. oder eine Vision in legendä- Und es ist etwa das Gegenteil dessen, re Handlung umgesetzt“. was Bultmann einst schrieb: „Entschei- Damit sind laut Lüde- dend ist nur das Daß des Gekommen- mann „die traditionellen seins Jesu, nicht das Was, das heißt nicht Vorstellungen von der Auf- die historisch verifizierbaren Daten sei- erstehung als erledigt zu be- nes Lebens und Wirkens.“ trachten“. Und wohl auch Nachdem Lüdemann das wunderrei- die Vorstellungen von einer che Ereignis der Auferstehung auf wun- Auferstehung der Toten am derfreie Visionen reduziert hat, bleibt Jüngsten Tag. Darüber sei die Frage, wie transzendent denn sein nur zu sagen: „Die im Glau- Glaube an den historischen Jesus ist. ben erfahrene Einheit mit Lüdemanns Antwort wird seine Kriti- Gott hat Bestand über den ker nicht besänftigen: Tod hinaus.“ Und Lüde- Das „,extra nos‘, also das Handeln mann stimmt einem ande- Gottes“, könne er „nachdrücklich be- ren Theologen zu: „Dar- kräftigen, weil Jesus nicht eine Erfin- über hinaus nach Ereignis- dung oder eine Projektion ist“. Aber das sen im Jenseits zu fragen, waren Goethe und Gandhi auch nicht. macht keinen Sinn.“ Der Göttinger Theologieprofessor ist Dieser Befund habe überzeugt, daß es dem Christen hilft, „gravierende Konsequen- „wenn er fortan vom Wenigen lebt, was zen“, wie er am Ende seines er wirklich glaubt, nicht vom Vielen, was zu glauben er sich abmühen mußte“. * Von El Greco („Die Ausgießung Pfingst-Ereignis in Jerusalem* Sicher, es war zuviel. des Heiligen Geistes“). „Sie sahen das Ersehnte und Erträumte“ Aber ist es nun nicht zuwenig? Y

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Palästina Gegner umzingelt hat.“ Hohe Verluste 10 000 Regierungssoldaten, unterstützt von schwerer Ar- für Ausgesperrte tillerie und Kampfhubschrau- Die Abschottung der von Is- bern, waren vorletztes Wo- rael besetzten Gebiete seit chenende in Pailin einmar- dem Hebron-Massaker am schiert, in dem nur 200 Re- 25. Februar hat Tausende bellen zurückgeblieben wa- von Palästinensern arbeitslos ren. Doch wegen heftiger gemacht und droht vor allem Regenfälle gelangt Nach- wegen der Ausgangsverbote, schub nur sporadisch über ei- Gewerbe und Handel zu rui- ne Dschungelrollbahn, die nieren: Auf mindestens 100 von Panzern und Bulldozern Millionen Dollar beziffert im Urwald um Pailin geebnet der Wirtschaftswissenschaft- werden mußte. Die Moral ler Samir Abdullah die Ver- der Regierungssoldaten ist luste, die der palästinensi- Regierungssoldaten bei Pailin dementsprechend schwach. schen Volkswirtschaft bisher Es fehlt ihnen an Proviant, entstanden sind. Allein das Kambodscha Trinkwasser und Medizin; viele der Pailin- Ausgehverbot im Gazastrei- Eroberer warten seit sechs Monaten auf ih- fen und dem Westjordanland ren Sold. Im Februar, nach der Einnahme hat Einkommensausfälle von Eine Falle des nördlichen Rebellenstützpunktes An- täglich acht Millionen Dollar long Veng, waren die Einheiten Pnom verursacht. Rund 4500 Ar- der Roten Khmer? Penhs schon einmal vertrieben worden, beitern ist die Einreise in den Ihren bisher größten Erfolg im 15jährigen nachdem Rote Khmer die Nachschublinien Krieg gegen die Roten Khmer – die Beset- unterbrochen hatten und den Eingeschlos- LIBANON zung der Rebellen-Hauptstadt Pailin im senen empfindliche Verluste zufügten. In Mittelmeer Sidon Dschungel Westkambodschas – müssen die der kambodschanischen Reishauptstadt

30 km SYRIEN Regierungstruppen womöglich teuer be- Battambang, 100 Kilometer nordöstlich zahlen. „Wir haben nur das Hauptquartier von Pailin gelegen, erließ die Regierung Israelische der Roten Khmer erobert“, argwöhnt ein vorigen Donnerstag ein Ausgehverbot, Sicherheitszone kambodschanischer Armeegeneral, „und weil sie Gegenangriffe der Rebellen fürch- ISRAEL GOLAN- HÖHEN dabei ist nicht auszuschließen, daß uns der tet. Haifa USA die einen umfangreichen Ar- Frankreich tikel über angebliche Frauen- WEST- geschichten Bill Clintons vor- JORDANLAND Clinton verliert Rechnung mit bereitete. Der jetzt überfalle- Tel Aviv an Popularität ne Reporter L. J. Davis, ein jungen Frauen JERICHO Amman US-Präsident Bill Clinton langjähriger Mitarbeiter des Mit einem politischen Coup Jerusalem hatte einen Befreiungsschlag Magazins Harper’s, war vom will der Chef der französi- geplant, um „unsere Arbeit „Assistenten eines rangho- schen Sozialisten, Michel Ro- Hebron JORDANIEN in Washington darzustellen“. hen Regierungsmitglieds“ card, bei den Europawahlen Aber die Veröffentlichung (Davis) gewarnt worden: die Französinnen erwärmen: GAZA- seiner Steuererklärungen „Tun Sie in Little Rock, was Frauen sollen die Hälfte aller STREIFEN half dem Präsidenten auch immer Sie glauben, tun zu sozialistischen Kandidaten

ÄGYPTEN nicht weiter: Der Kongreß müssen, und verschwinden stellen. Zu den Spitzenbewer- hat öffentliche Anhörungen Sie.“ berinnen der Linken für das Gebiete, die künftig unter zu dem Skandalthema White- Straßburger Parlament gehö- palästinensischer Selbst- water beschlossen, und der ren Elisabeth Mitterrand, ei- verwaltung stehen sollen am Potomac wie in Arkansas ne Schwiegertochter des ermittelnde Sonderankläger Staatspräsidenten, und Straß- jüdischen Kernstaat zwar gräbt immer tiefer. In nur burgs Bürgermeisterin Cathe- wieder erlaubt, doch die vier Wochen ist Clintons Po- rine Trautmann. Rocards Mehrheit der 120 000 Palästi- pularitätsrate um 11 auf un- Rechnung: Wahlkampfthe- nenser, die als Tagelöhner in ter 50 Prozent gefallen. Zu- men wie Arbeitslosigkeit, Ju- Israel arbeiten, soll aus Si- dem wurde vergangene Wo- gend- und Wohnungsproble- cherheitsgründen noch bis che bekannt, daß ein Repor- me würden von Frauen über- zum Ende des jüdischen Pes- ter, der in Little Rock frühe- zeugender vorgetragen als sachfestes am 2. April ausge- re Geschäftsverbindungen von Männern. Bei den Wah- sperrt bleiben. Weil die der Clintons überprüfte, in len 1986 wählten die Franzö- Hilfskräfte der Landwirt- seinem Hotelzimmer ange- sinnennoch zugleichenTeilen schaft und dem Wohnungs- griffen und wichtiger Notizen rechts und links. Seitdem je- bau Israels fehlen, hat die beraubt wurde. Schon im doch entscheiden sich junge, Regierung die Zuwanderung September hatten Einbre- berufstätige und in Städten le- von 8000 Gastarbeitern ge- cher die Zeitschrift The Ame- bende Frauen zunehmend für nehmigt. rican Spectator heimgesucht, US-Präsident Clinton die Sozialistische Partei.

142 DER SPIEGEL 13/1994 Großbritannien Rassisten bekennen sich Die neonazistische Schläger- truppe „Combat 18“, nach Einschätzung von Scotland Yard „die gefährlichste und gewaltbereiteste Zelle“ der britischen Rechtsradikalen- szene, ermuntert ihre An- hänger zu Attacken auf Min- derheiten. Bevorzugte Ziele, so enthüllt die Zeitschrift Searchlight, sind Schwarze und Juden. Alle Nichtwei- ßen, heißt es in einer in Lon- don zirkulierenden Broschü- re, sollen „nach Afrika, Asien oder Arabien ver- schifft werden, lebendig oder in Leichensäcken“. Und:

Titel über „Combat 18“

„Exekutiert Homosexuelle und weiße Rassenmischer.“ Combat 18 – der Zahlencode steht für den ersten und ach- ten Buchstaben des Alphabe- tes, die Initialen Adolf Hit- lers – hat in den vergangenen Monaten im armen Osten der britischen Hauptstadt zahl- reiche Einwanderer überfal- len. Eines der Opfer, ein jun- ger Bengale, lag monatelang im Koma. Öffentlich treten die braunen Kriminellen als Saalschutz bei Veranstaltun- gen der rechtsradikalen Bri- tish National Party auf. Deren Funktionär Derek Beackon („Jawohl, ich bin ein Rassist“), 47, eroberte vorigen September im Lon- doner Slumviertel Tower Hamlets einen Sitz im kom- munalen Parlament.

DER SPIEGEL 13/1994 143 Militärparade in Pjöngjang*: „Die größte Bedrohung der Zukunft ist die Verbreitung der nuklearen Waffentechnologie“

Atomwaffen GIGANTISCHE TÄUSCHUNG Die neue Korea-Krise ist der Auftakt zur ersten Kraftprobe nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Pjöngjang und Seoul versetzten ihre Armeen in Alarmbereitschaft. Wer darf in Zukunft Nuklearwaffen besitzen, wer sie kontrollieren? Etablierte Bombenmächte und nukleare Möchtegerne stehen sich unversöhnlich gegenüber.

m Jahre fünf nach dem Mauerfall fro- Der Weltpolizist schien, ganz der gerech- Situation auf der koreanischen Halbin- stete es plötzlich wie zu den stür- ten Sache verpflichtet, nicht zu zaudern sel nur komplizieren“. Imischsten Zeiten des Kalten Kriegs. oder gar zu bluffen. „Wird Nordkorea Die wiederholten Warnungen des Nordkoreanische Diplomaten drohten, zur kubanischen Raketenkrise für die CIA-Direktors R. James Woolsey, die Seoul in ein „Flammenmeer“ zu ver- Clinton-Regierung?“ fragte die Zeit- koreanischen Kommunisten hätten wandeln. US-Außenminister Warren schrift U.S. News & World Report. Erin- schon genug Plutonium „für ein, viel- Christopher kündigte die Vorbereitung nerungen an John F. Kennedys energi- leicht zwei Bomben“ angehäuft, stoßen von „Handelssanktionen“ gegen das sches Vorgehen 1962 gegen die Stationie- keineswegs nur auf Zustimmung. kommunistische Regime in Pjöngjang rung sowjetischer Atomraketen auf Fidel IAEO-Generaldirektor Hans Blix be- an. Südkoreas Präsident Kim Young Castros Karibikinsel waren geweckt. tonte bei seinem Uno-Besuch am Don- Sam bat seinen amerikanischen Amts- Doch dann begann die Stimmung um- nerstag, seine Organisation habe trotz kollegen, die seit dem Golfkrieg legen- zuschlagen: Wer hatte wen geblufft? aller Schwierigkeiten mit Pjöngjang dären Patriot-Raketen auf die asiatische „Die Nordkoreaner haben die USA in „niemals gesagt, daß Nordkorea eine Halbinsel zu verlegen und bei Manövern der Hand, weil die den Konflikt zu sehr Nuklearwaffe produziert“. bald wieder gemeinsam Panzer rollen zu hochzogen“, spottete ein ranghoher Auch die derzeit strittige Menge, wel- lassen. In Wien verkündete die Inter- IAEO-Beamter in Wien. „Die Amerika- che die aktuelle Korea-Krise auslöste, nationale Atomenergie-Organisation ner befinden sich auf dem geordneten liege „deutlich unter der Signifikanz- (IAEO), sie werde dem Uno-Sicher- Rückzug“, beobachtete ein Uno-Spit- grenze von acht Kilogramm“, verriet heitsrat über „schwere Bedenken“ nach zendiplomat in New York. IAEO-Sprecher Hans-Friedrich Meyer. der jüngsten Kontrolle der nordkoreani- Den außenpolitischen Strategen Wa- Nordkoreas Spitzendiplomat Yun Ho schen Atomanlagen berichten. shingtons waren peinliche Fehleinschät- Jin behauptet gar, lediglich der Verbleib Ein erwartungsvolles Gruseln durch- zungen unterlaufen. China, so glaubte von 58 Gramm Plutonium sei ungeklärt waberte Anfang voriger Woche die Christopher, werde im Sicherheitsrat (siehe Interview Seite 146). Fernsehstuben der Wohlstandsländer. Wirtschaftssanktionen gegen Nordkorea Schon erwägen so US-freundliche „nicht blockieren“. Kaum hatte er dasge- Blätter wie die Londoner Financial * Beim 80. Geburtstag von Diktator Kim Il Sung sagt, konterte Pekings Premier Li Peng, Times, ob die Kommunisten nicht mit im April 1992. jede Anwendung von „Druck würde die einem „gigantischen Täuschungsspiel

144 DER SPIEGEL 13/1994 AUSLAND beschäftigt sind, um sich die diplomati- auf unbegrenzte Zeit verlängern. In Japan zur Atommacht aufsteigen. 1986 sche Anerkennung der USA zu sichern vielen Weltregionen dürfen sie jedoch bemühte sich Nordkorea intensiv um und die Aufsaugung ihres Landes nach kaum mit Unterstützung rechnen. nukleare Hilfe aus Indien, das 1974 ei- deutscher Art zu vereiteln“. Im Fernen Osten sträubt sich Japan, nen atomaren Sprengsatz gezündet hat- Westliche Diplomaten wundern sich bombenfrei zu bleiben, da sich der öko- te. Die Bitte wurde abgeschlagen, ob- offen, wie die USA das angeschlagene nomisch aufstrebende Rivale China auf wohl die indische Regierung den Sperr- Regime als Gefahr für die Welt porträ- ein ansehnliches Nukleararsenal stützen vertrag nie unterschrieb, da er die Welt- tieren können. Ende voriger Woche ver- kann und Nordkoreas verbesserte Scud- gemeinschaft in „atomare Besitzer und schärfte sich die Lage noch, als das Pen- Raketen schon jetzt Osaka erreichen Habenichtse“ aufteile. Mit dem eben- tagon Südkorea zu erhöhter Verteidi- können. Im Gegenzug empfinden alle falls an der Bombe bastelnden Pakistan gungsbereitschaft aufrief und zusätzli- ost- und südostasiatischen Länder seit liegt Indien so sehr im Clinch, daß ein che hochmoderne Waffensysteme ver- dem letzten Weltkrieg gegenüber Japan stufenweiser atomarer Rückzug, wie er sprach. Auch die Nordkoreaner versetz- tiefes Unbehagen, das durch gewaltige in Südamerika zwischen Brasilien und ten ihre Armee demonstrativ in Alarm- Plutoniumlager kräftig genährt wird. Argentinien gelungen scheint, kaum zustand. Südkoreas Präsident Kim be- Vergangenes Jahr mußte die Regie- vorstellbar ist. schwor pathetisch eine Welt ohne „nu- rung in Tokio einräumen, in den zivi- Im Nahen Osten wiederum werden klearen Holocaust“. Sollte der Krieg der len Wiederaufarbeitungsanlagen schon auch eindrucksvolle Erfolge im Frie- Worte in eine bewaffnete Auseinander- 1630 Kilo spaltbares Plutonium zu hor- densprozeß den Zwergstaat Israel nicht setzung münden? ten. Binnen eines Monats, so schätzen davon abhalten, sein Überleben atomar „Es geht ums Prinzip“, wertet IAEO- Nuklearexperten in aller Welt, könnte abzusichern. Während die westliche Sprecher Meyer das amerikanische Sä- belrasseln. Was einer Wiederbelebung Nukleare Nichtmitglieder des Ost-West-Konflikts so ähnlich des Atomwaffen- Etablierte Atommächte Fortgeschrittene Schwellenländer scheint, ist jedoch der Auftakt zur er- Machtgelüste sperrvertrages De facto-Atommächte Potentielle Schwellenländer sten globalen Kraftprobe nach dem Zer- USA GroßbritannienFrankreich Belorußland Ukraine Rußland Kasachstan China fall der alten Weltordnung: „Die größte Bedrohung der Zukunft“, so Bill Clin- ton kurz vor seiner Wahl zum US-Präsi- denten, „ist die Verbreitung der nuklea- ren Waffentechnologie.“ Als die beiden Supermächte Ende der sechziger Jahre den Atomwaffen-Sperr- Israel vertrag ausarbeiteten, wollten sie vor al- lem Japan und die deutsche Bundesre- Taiwan publik am Bombenbesitz hindern. Wenn das Abkommen im April 1995 ausläuft, finden sich die inzwischen 162 Unterzeichnerstaaten, darunter Nord- Pakistan Indien korea, allerdings in einer radikal verän- derten Welt wieder: Neben den traditio- nellen Atommächten haben sich längst zahlreiche De-facto-Nuklearstaaten und atomare Schwellenländer etabliert (siehe Grafik). Zwar wollen Rußland (derzeit) und Argentinien Brasilien Algerien Libyen Syrien Südafrika Irak Iran Nord- und Südkorea die USA den Vertrag unverändert und

Welt Israels Atomstärke tabuisiert, for- dern arabische Staaten die Gleichbe- rechtigung und treiben insgeheim ihre eigenen Nuklearprogramme voran. Die Drohgebärden der USA gegen- über Nordkorea, so vermutet der russi- sche Atomexperte Julij Andrejew, der nunmehr in Wien lehrt, „sollen denn auch in den viel wichtigeren Ländern der moslemischen Welt und in der Ukraine Wirkung erzielen“. Neben politischem Druck bedient sich die einzige verbliebene Supermacht im- mer häufiger des Scheckbuchs, um die Verbreitung spaltbaren Materials einzu- dämmen. Für hochangereichertes Uran aus zerlegten Sprengköpfen soll Ruß- land zwölf Milliarden Dollar erhalten. Auch Südafrikas Vorrat an angereicher- tem Uran will die US-Regierung auf- kaufen und in die Vereinigten Staaten

Manöver von U.S. Marines in Südkorea*: „Es geht ums Prinzip“ * Im März 1993.

DER SPIEGEL 13/1994 145 AUSLAND verschiffen. Argentiniens Zugang zu durch, daß Entscheidungen nicht nur asiatischen Interessen. 1000 Milliarden amerikanischer Hochtechnologie wurde per Konsens zustande kommen können. Dollar, so schätzt das US-Finanzmini- bereits erleichtert, weil es dem großen Die Mehrheit der Länder will sich al- sterium, werde Asien – sogar ohne Ja- Bruder im Norden die Reste seines Con- lenfalls auf eine befristete Verlängerung pan – im kommenden Jahrzehnt in seine dor-2-Raketenprogramms überließ. des Atomabkommens einlassen. Verge- Infrastruktur investieren, mit dicken Dennoch ist ein neuer Atomwaffen- bens warnte der US-Delegierte Thomas Auftragschancen für US-Konzerne. Sperrvertrag mit Geschenken und groß- Aufmerksam wurde da registriert, mächtigem Muskelspiel allein nicht zu daß auf Sanktionsankündigungen gegen haben. Vehement fordern die meisten „Wie kann man Nordkorea nicht nur China harsch rea- Drittweltstaaten als Vorleistung einen die isolierteste Nation gierte. Auch Japan und Südkorea fürch- vollständigen Teststopp für Atomwaffen ten bei einem neuen Koreakrieg wirt- und viel kräftigere Einschnitte in die der Welt isolieren?“ schaftliche Einbrüche und Millionen Bombenarsenale, als sie auch die wei- von Flüchtlingen, die bei ihnen Zuflucht testgehenden Abrüstungsverträge bis- Graham, dies „würde den Vertrag um- suchen würden. lang vorsehen. bringen“. Da Nordkorea lediglich zehn Prozent Bei der jüngsten Vorbereitungssit- Der nächste Rückschlag erwartet die der im Land verbrauchten Güter impor- zung für die große Sperrvertrags-Konfe- Nordamerikaner wohl auf der koreani- tiert, läßt sich am Erfolg einer Blockade renz in New York im kommenden Jahr schen Halbinsel. Nach den markigen ohnehin zweifeln. Denn wie, so fragte setzte der Süden gegen den Widerstand Drohungen gegen Pjöngjang erinnerte die New York Times, „kann man die iso- der Atommächte aus dem Norden sich Washington seiner weitläufigen lierteste Nation der Welt isolieren“?

„Alles ist zerbrochen“ Interview mit dem nordkoreanischen Spitzendiplomaten Yun Ho Jin über den Streit um die Bombe

Yun, 50, vertritt sein Land bei der ten Sie dann nicht einfach die gefor- Internationalen Atomenergie-Orga- derten Inspektionen? nisation (IAEO) in Wien. Yun: Das ist nicht Teil unseres Vertra- ges mit der IAEO und wäre ein Ein- SPIEGEL: Warum verweigerte Ihr griff in die Souveränität unseres Lan- Land den IAEO-Inspektoren An- des. Das ist für uns völlig unannehm- fang März das Recht, in der Wieder- bar. aufarbeitungsanlage in Yongbyon, SPIEGEL: Sie riskieren einen Krieg im radiochemischen Labor, Staub- wegen ein paar Gramm Plutonium? proben zu nehmen? Yun: Bislang sind uns die USA extrem Yun: Derartige Reibeproben in den feindselig gesinnt. Wir fürchten, daß Handschuhfächern haben bereits im sie unser Land zerstören wollen. Sie September 1992 zu Analyseergebnis- bereiten sich Schritt für Schritt auf ei- sen geführt, die von unseren Daten nen neuen Krieg vor. Während des abweichen. Wir wollten, daß zuerst Koreakrieges in den fünfziger Jahren diese alten technischen Fragen ge- brachten sie alle um. Viele meiner klärt werden. Diplomat Yun Verwandten sind damals gestorben, SPIEGEL: Die IAEO wirft Ihnen seit- Nur 58 Gramm Plutonium obwohl sie nur Kinder waren. her vor, mehr Plutonium zu besit- SPIEGEL: Gibt es keine Chance mehr zen, als Sie der Organisation berich- Yun: Sie wurden einmal den Inspek- für einen Kompromiß mit der IAEO? tet haben. toren gezeigt, und da konnten sie Yun: Jetzt istalles zerbrochen. Die Sa- Yun: Dieses technische Problem soll- mit eigenen Augen sehen, daß es mi- che ist außer Kontrolle geraten. Nur te von Technikern gelöst werden. litärische Anlagen sind. noch durch einen direkten Kontakt Wir haben ein internationales Semi- SPIEGEL: Für die Kontrollen ist das zwischen den USA und unserem nar vorgeschlagen und wollten Ex- belanglos. Sind dort die Beweise zu Land kann es eine Lösung geben. perten aus der ganzen Welt, auch finden, daß Ihr Land die Bombe SPIEGEL: Unter welchen Umständen aus Deutschland, einladen, um ein bauen kann? würde Ihre Regierung in den Krieg gemeinsames Experiment durchzu- Yun: Die CIA kann behaupten, was ziehen? führen. So ließe sich die Wahrheit sie will. Es ist nicht wahr. Wir haben Yun: Wenn die USA versuchen, uns ermitteln. Statt dessen benützten die ein reines Gewissen. Unser Land hat umzubringen. Inspektoren bei ihrer Arbeit Satelli- weder die Absicht noch die Möglich- SPIEGEL: Wen meinen Sie mit „uns“? tenaufnahmen, die ihnen eine feind- keiten, eine Atomwaffe herzustel- Die Bewohner Ihres Landes? liche Macht geliefert hat, um uns et- len. Wir brauchen sie auch nicht. Yun: Und das politische System. was nachzuweisen. Das ist verboten. Bei der ganzen Auseinandersetzung SPIEGEL: Welche Konsequenzen hät- SPIEGEL: Die IAEO stützt sich auf mit der IAEO geht es gerade um 58 te ein Wirtschaftsboykott? diese Bilder, um zwei nicht dekla- Gramm Plutonium. Yun: Das ist eine Maßnahme, um die rierte Lager mit radioaktiven Abfäl- SPIEGEL: Wenn wirklich nur eine so Demokratische Volksrepublik Korea len zu prüfen. kleine Menge fehlt: Warum gestat- umzubringen.

146 DER SPIEGEL 13/1994 Mexiko Kranker Krake Nach der Ermordung des Präsident- schaftskandidaten Colosio steht Mexiko vor dem Rückfall in die Diktatur des Parteiapparats.

in Soldat rettete dem Mörder das Leben. Er warf sich auf den Jun- Egen im schwarzen Hemd, entwand ihm die Pistole. „Bringt ihn um“, riefen aufgebrachte Anhänger des Präsident- schaftskandidaten Luis Donaldo Colo- sio, den der Attentäter nach einer Wahlrede in einem Slum nahe dem Erschossener Kandidat Colosio: „Ich will keine gefälschte Stimme“ Flughafen von Tijuana mit zwei Schüs- sen niedergestreckt hatte. In den 65 Jahren ihrer Existenz ist die Hilflos fuchtelten die Leibwächter PRI mit dem Staat quasi verschmolzen. des Politikers mit ihren Waffen: Wie ein Krake herrscht sie über das „Warum, Scheißkerl, warum?“ schrien Land. Wahlmanipulation, Pressezensur sie. „Ich werde nichts sagen, auch wenn und ein riesiger Sicherheitsapparat er- man mich foltert“, brüllte der Junge zu- hielten ihr bislang die Macht. rück. Die wütende Menge schlug auf Gleichzeitig bescherte die Einpartei- ihn ein, bis ihm Blut übers Gesicht lief. enherrschaft Mexiko eine in Lateiname- Soldaten zerrten den Todesschützen zu rika einmalige Stabilität: „Perfekte Dik- einem Auto. tatur“ hat deshalb der peruanische Während sein Opfer in einem Kran- Schriftsteller Mario Vargas Llosa Mexi- kenhaus starb, gab der Täter in aller ko einmal genannt. Doch die tiefe Wirt- Ruhe Auskunft: Er sei „Pazifist“, sagte schaftskrise der achtziger Jahre, bei der Mario Aburto Martı´nez, 23. Er stamme breite Teile der Mittelschicht in die Ar- aus dem armen Bundesstaat Michoaca´n mut abstürzten, schuf sozialen Druck und sei vor acht Jahren auf Arbeitssu- und ließ eine Demokratisierung immer che in den Norden gekommen. Vater nötiger erscheinen. und Bruder arbeiten jenseits der Gren- Präsident Salinas, dessen Wahlsieg ze in Kalifornien. Eine Stelle als Me- 1988 erstmals durch einen Konkurren- chaniker in Tijuana hatte Aburto erst Attentäter Aburto ten, den PRI-Dissidenten Cuauhte´moc vor fünf Wochen angetreten. „Warum, Scheißkerl, warum?“ Ca´rdenas, in Gefahr geraten war, ver- Am Tag nach der Ermordung von suchte mit radikalen Reformen die Colosio, 44, hißten Parteianhänger Doch am Neujahrstag, zum Wahl- kaum wettbewerbsfähige Wirtschaft zu überall im Land riesige Flaggen mit den kampfstart, brach im traditionell von der modernisieren. Das Freihandelsabkom- Parteiinitialen: PRI, Partei der Institu- Hauptstadt vernachlässigten Südstaat men Nafta mit den USA und Kanada tionalisierten Revolution. Trauernde Chiapas ein Indianeraufstand los. Der sollte ihm einen Platz in der Geschichte schwenkten Wahlkampfplakate, die Präsident ernannte ausgerechnet den frü- sichern. Einschneidende politische Er- PRI-Mitglieder rasch verteilt hatten. heren Bürgermeister von Mexiko-Stadt, neuerung schob Salinas dagegen auf. Mit einem pompösen Staatsakt ehrte Manuel Camacho Solı´s, zum Vermittler Erst der Indioaufstand in Chiapas nötig- die Partei ihren Kandidaten für die im Konflikt mit den Rebellen. Der hatte te der Regierung das Zugeständnis ab, Wahlen im August, so als sei er schon seinen Ärger offen gezeigt, nicht selbst Bedingungen für saubere Wahlen zu zum Präsidenten gekürt worden: Bis- zum Präsidentschaftskandidaten be- schaffen: „Ich schwöre bei meinen Kin- lang war noch jeder, den die PRI für stimmt worden zu sein. dern“, hatte Colosio beteuert, „ich will das höchste Amt nominiert hatte, an Camacho, 47, nutzte die Chance, sich keine einzige gefälschte Stimme.“ die Macht gelangt. zu profilieren. Er verdrängte Colosio aus Das Attentat vom vergangenen Mitt- Kühn verglichen die Parteibonzen den Schlagzeilen und ließ geschickt Ge- woch erschüttert das Land während der Colosio mit John F. Kennedy. Dabei rüchte aufkommen, womöglich mit einer „schlimmsten politischen Krise seit den hatten ihn viele noch unlängst als blas- eigenen Partei zur Wahl antreten zu wol- zwanziger Jahren“, so der mexikanische sen Opportunisten kritisiert. Ihm wurde len. Erst am Vortag des Mordanschlags Autor Jorge Castan˜eda: angelastet, sich nicht aus dem Schatten gab der populäre und erfahrene Politiker i Der Indianeraufstand in Chiapas ist seines Gönners, des Staatsoberhauptes seinen Verzicht auf die eigene Bewer- nicht beendet, wie die Regierung Carlos Salinas de Gortari, zu lösen, der bung um die Präsidentschaft bekannt. glauben machen möchte, sondern ihn im November als seinen Nachfolger Noch vor Monaten wäre solch ein Po- könnte sich auf andere Bundesstaaten vorgeschlagen hatte. littheater in Mexiko undenkbar gewesen. ausweiten. In Tabasco und Guerrero

DER SPIEGEL 13/1994 147 AUSLAND

sympathisieren viele Indianer mit den Rebellen; Rußland i Mexikos Wirtschaft driftet in eine schwere Rezession. Im dritten und vierten Quartal 1993 war das Brutto- sozialprodukt geschrumpft; Onkel Borja i der innerparteiliche Zwist zwischen dem offiziellen Kandidaten und dem Verhandlungsführer von Chiapas hat- schwankt te den Finanzmarkt beeinträchtigt. Der politische Mord wird als weiteres Moskaus Klub der Paten: Finster- Anzeichen für starke soziale Span- linge aus dem Jelzin-Lager nungen gewertet und könnte auslän- dische Investoren abschrecken. destabilisieren den Präsidenten. Ob der Anschlag politische Hinter- gründe hatte oder die Aktion eines Ein- ie Geschäftsleiter des Selbstbedie- zelgängers war – für den Weg des Lan- nungsladens Rußland gehen mit des in die Erste Welt bedeutet die Blut- Dder Zeit. Am Alten Platz in Mos- tat einen schweren Rückschlag. Dabei kau, wo bis zum Hirn- und Herzinfarkt wurde gerade vergangene Woche be- der KPdSU deren Hauptquartier unter- kannt, daß Mexiko als erster lateiname- gebracht war, sorgen Automaten der rikanischer Staat in die OECD aufge- „Stolitschny“-Bank (STB) für beque- nommen wird, den Klub der führenden men Zugriff auf Bares. Industrienationen. Regierungsmitglieder und Spitzenbe- Viele PRI-Aktivisten lehnten schon amte des Präsidialapparats legen Wert Colosios Bekenntnis zu mehr Demokra- auf ihre STB-Goldcard, die gegen eine Präsident Jelzin, Premier Tschernomyrdin, tie ab. Sie sehen auch in Camacho einen Einlage von 10 000 Dollar ausgegeben Verräter: Er habe den Forderungen der wird. Pro Operation können 1,7 Millio- übersetzen. „Ihre Tagträume“, spottet Indianer zu sehr nachgegeben. Von Ca- nen Rubel (1700 Mark) abgehoben wer- ein dem inneren Zirkel Entlaufener, machos sozialen Reformplänen fühlt den – das 24fache des gegenwärtigen „heißen Reichwerden und das Vater- sich die alte Oligarchie bedroht. Existenzminimums, mit dem jeder drit- land retten – möglichst in dieser Reihen- So scheint fraglich, ob Salinas es wa- te Russe einen Monat lang auskommen folge.“ gen wird, Camacho jetzt als Nachfolger muß: „Goldrausch unter den Kreml- Im Moskauer Bermuda-Dreieck na- für den Ermordeten zu nominieren: Das Würdenträgern“, kommentierte ein mens Kreml gründen sie zur Versorgung könnte die Partei spalten. Andererseits Hauptstadtblatt. ihres Anhangs um die Wette Komitees, bedarf die PRI gerade diesmal, da Ma- Nur Oberhausvorsteher Wladimir Kommissionen und Verwaltungen, die nipulationen an den Urnen durch ein Schumeiko blieb zunächst ohne höch- zu wenig mehr taugen als der Vergröße- strikteres Wahlgesetz erschwert sind, ei- sten Pin-Code: Jelzins ehemaliger Pres- rung des postsowjetischen Kompetenz- nes Mannes mit Charisma. seminister, vom neuen Föderationsrat wirrwarrs. Gegen die bürokratische Wahrscheinlich jedoch wird der Präsi- erst nach dreimaligem Anlauf zum Prä- Bürgerdrangsalierung in Jelzins Repu- dent einen Kandidaten aus der PRI- siden bestellt, sollte sich mit Massenpla- blik erscheint das untergegangene KP- Führung vorschlagen, der auch bei den stik (STB-Klassik) für die 30 000 einfa- Regime im nostalgischen Rückblick Reaktionären der Partei ankommt: bei- chen Neureichen zufriedengeben. Erst bereits wie ein halbwegs geordnetes spielsweise den ehemaligen Erziehungs- nach geharnischtem Protest durfte der Staatswesen. minister Ernesto Zedillo Ponce de Leo´n beleidigte Machtmensch in die Gold- Die Erbengemeinschaft nennt ihr – einen farblosen Technokraten. Zedillo klasse aufrücken, zu ein paar hundert Oberhaupt familiär „Onkel Borja“ und ist nicht nur ein folgsamer Anhänger Neo-Nomenklaturisten, die meisten spricht über den am Schwarzen Meer von Salinas, er kann bruchlos in die Rol- frischgebackene Antikommunisten mit kurenden Jelzin im vertrauten Kreis wie le des Ermordeten schlüpfen: Er war KPdSU-Vergangenheit, wie Schumei- von einem Pflegefall. „Die heutige Colosios Wahlkampfmanager. Y ko. Machtelite“, urteilte der als General- Dieser „Klub der Paten“, staatsanwalt zurückgetretene Jurapro- wie Untergebene ihn nen- fessor Alexej Kasannik, „hat jede mora- nen, steuert den Moskauer lische Grundlage verloren und wird von Schlingerkurs: Er organisiert egoistischen Interessen beherrscht.“ Jel- für den Westen wie fürs zin selbst sei über das Niveau „eines Ge- eigene Volk regelmäßiges bietsparteichefs nie hinausgelangt“. Putschraunen. Aus seinem Was der enttäuschte Rechtskundige Kreis kommen die Protago- aus dem sibirischen Omsk hinauspolter- nisten der Daueraufführung te, kann Russen kaum noch überra- „Machtkampf im Kreml“, schen. Der Vergleich zwischen dem nur viele seiner Mitglieder tra- noch selten vorgezeigten Jelzin und dem gen öffentliche Korruptions- alternden, Anfang der achtziger Jahre verdächtigungen wie die Ro- begrenzt präsenten Breschnew ist längst sette einer Ehrenlegion. gängiges Konversationskleingeld gewor- Von wissenschaftlichen den. Zuarbeitern lassen sie sich Ob bare Münze oder nicht – zum aus allen Winkeln der Welt schwankenden Zaren gehören unbe- Literatur über Freimaurerei dingt frondierende Finsterlinge, die On- und Geheimgesellschaften kel Borja den Thron streitig machen Rivalen Colosio, Camacho: Alte Oligarchie bedroht besorgen, notfalls auch wollen: Parlamentarier und Zeitungsre-

148 DER SPIEGEL 13/1994 Rentnerin auf Müllkippe: „Jede moralische Grundlage verloren und von egoistischen Interessen beherrscht“

daktionen wurden durch ein anonymes kerngesunden Präsidenten, wolle „die manager läuft im Gründerzeitfieber der Drei-Seiten-Pamphlet („Version Nr. 1“) Lage destabilisieren“. russischen Hauptstadt, wo Spekulation aufgeschreckt. Der Erste Stellvertreten- Vieles deutet darauf hin, daß die In- und Korruption enger miteinander ver- de Ministerpräsident, Moskaus mächti- spiratoren der „Version Nr. 1“ im heil- woben sind als irgendwo sonst, kein grö- ger Oberbürgermeister und der Gene- los zerstrittenen Regierungslager zu su- ßeres Geschäft, keine Firmengründung ralstabschef figurieren darin als nächste chen sind – und kaum bei der mit offe- – und keine politische Intrige. Putschbesetzung, gemeinsam mit Jelzins nem Visier kämpfenden Jelzin-Opposi- Hinter ihm stehen Banken, aktive wie Duz-Freund und ehemaligem Chefpro- tion. Dafür spricht, daß Jelzins Kanz- ehemalige KGB-Profis sowie eine zu- pagandisten Poltoranin sowie Goldkar- leichef Filatow die Coupskizze bereits nehmend schlagkräftigere Stadtpolizei. ten-Spezi Schumeiko. vor Veröffentlichung über Abwehrka- Die begann just zur putschträchtigen Doch der Termin des Urlaubscoups näle erhielt – und sich dennoch nicht Zeit unter der Codebezeichnung „El- mit einem Szenario, nach dem schon brus“ eine großange- Michail Gorbatschow im August 1991 legte Aktion zur Ver- um die Macht und ein Ausnahmeregime brechensbekämpfung in Stellung gebracht werden sollte, ver- – nach Einschätzung strich ohne Turbulenzen. Ein TV-Auf- eines loyalen Jelzin- tritt von Jelzins ehemaligem Sicher- Gehilfen „im Prinzip heitsberater Skokow hatte angeblich keine schlechte Tar- das Stichwort zur Ausrufung des „öko- nung für einen Coup, nomischen Notstands“ liefern sollen. jedenfalls bei einem Aber auch auf den Bildschirmen blieb Mann, der ein so selb- es regierungsfromm wie immer. Dabei ständiges Spiel spielt habe der Verbandschef der „Warenpro- wie Luschkow“. duzenten“, mit mächtigem Rückhalt bei Es liegt in der Logik regionalen Industrie- und Agrarbossen, der Desinformation, schwört ein Skokow-Vertrauter, ohne- daß der Staatsstreich- hin „nur über die katastrophale Lage plan „Version Nr. 1“ der Wirtschaft“ reden wollen und beilei- von jenen lanciert be nicht „über Jelzins politisches oder Bürgermeister Luschkow: Die Rolle eines Paten wurde, die Jelzin die gar gesundheitliches Verfallsdatum“. Treue bis zum letzten Merkwürdig jedoch: Die als poten- zu Präventivmaßnahmen entschließen Atemzug geschworen haben – und wo- tielle Königsmeuchler ins Gerede ge- mochte. möglich auch über bessere Informatio- kommenen Jelzin-Knappen wehrten Die Fakten des vorgeblichen Putsch- nen darüber verfügen, wann der zu er- sich, wenn überhaupt, nur lahm gegen papiers ernst zu nehmen, so beschied Fi- warten ist. die schweren Verdächtigungen. Der latow aufgeregt einen besorgten Ge- „Professionelle Arbeit“ sei das, deu- Abgeordnete Poltoranin verfiel bei heimdienstoffizier, bedeute „Explosion tete der in letzter Zeit zu Jelzin auf Di- Lektüre in „lautes Lachen“, Vizepre- des Landes“, „Panik“ und „Spaltung“. stanz gegangene Nationalitätenminister mier Soskowez qualifizierte die Besonders Moskaus umtriebiger Schachrai dunkel an, eingefädelt von Schmähschrift mal gerade als „Dumm- Schultheiß Jurij Luschkow, mit dem je- Rußlands ziviler und militärischer Stasi. heit“. Jelzins Hofmeier sahen wie stets der Kinoregisseur gern die Rolle eines Die weiß offiziell wieder einmal von dunkle Kräfte am Werk: „Irgendwer“, sizilianischen Paten besetzen würde, gilt nichts – außer, daß an „Version Nr. 2“ so Regierungschef Tschernomyrdin bei Radikaldemokraten als unsicherer bereits gearbeitet werde. Statt dessen nach einem Blitzbesuch beim angeblich Patron: Ohne den derben Kommunal- verlegt sich die Kreml-Administration

DER SPIEGEL 13/1994 149 AUSLAND

aufs fast schon verzweifelte Gesundbe- ten – ihres Präsidenten wie des Lan- des: Die Behauptung des US-Fernseh- senders NBC, Jelzin leide an einer „Politische Senilität“ sein Leben permanent bedrohenden Schrumpfleber, sei „bösartige Propa- Interview mit Konstantin Borowoi über die Moskauer Putschgerüchte ganda“ und „dumm“. Doch für viele seiner früheren Wäh- Borowoi, 45, organisierte 1991 die Borowoi: Ich wage jedenfalls nicht ler ist Jelzin vor allem politisch am En- erste russische Warenbörse. Er ist daran zu denken, was nach ihm de: Studenten wollen seinen Rücktritt Vorsitzender der Partei für ökono- kommen könnte. Die um die Nach- fordern wegen ihrer Hungerstipendien, mische Freiheit. folge wetteifernden Machtgruppen Industriearbeiter wegen seit Monaten werden erbarmungslos aufeinander ausbleibender Löhne. Soldaten murren SPIEGEL: Konstantin Natanowitsch, einprügeln. Waffengebrauch ist da- immer lauter über nicht gezahlten was sind die neuen Moskauer bei nicht auszuschließen. Alle haben Sold. Rentner drohen mit Hungermär- Putschgerüchte: Desinformation über alle kompromittierendes Mate- schen, die Bediensteten von maroden oder Signale für einen Machtwech- rial: Beziehungen zu Banden, Beste- Atomkraftwerken mit Hungerstreiks, sel? chungsskandale, Einflußmißbrauch. die vaterländische Wissenschaft befin- Borowoi: Desinformation. Es geht Wer aus diesem Überlebenskampf det sich nach Parlamentseinschätzung nicht um die Macht als Ganzes, son- als Sieger hervorgeht, wird alle an- „am Rande der Katastrophe“. dern um ein Kontrollpaket. deren vernichten können. Moskaus starker Mann Luschkow, SPIEGEL: Wer setzt aus dessen Metropole der Löwenanteil die Gerüchte in jenes im Westen auf monatlich eine Umlauf? Milliarde Dollar geschätzten russischen Borowoi: Die kon- Fluchtkapitals stammt, beklagt zugleich kurrierenden Grup- immer lauter den drohenden Staats- pen zeichnen sich bankrott: Die russische Führung ver- durch beträchtli- halte sich „wie ein Zigeuner, der sein chen Zynismus aus. Pferd lange Zeit hungern läßt und sich Sie brauchen eine endlich entschließt, es überhaupt nicht Kraftprobe, um das mehr zu füttern“. Boot zum Schau- Ein Gnadenbrot von 1,5 Milliarden keln zu bringen. An Dollar sagte in der vergangenen Wo- der Art, wie die Ge- che der Internationale Währungsfonds rüchte lanciert wer- (IWF) zu. Doch der Hunger des Gauls den, ist deutlich die ist groß. „Bedeutungslos“, spottete Ex- Handschrift der Ge- Finanzminister Fjodorow über den heimdienste zu er- IWF-Kleinkredit: „Wären es 15 Milli- kennen. arden – damit könnten wir was anfan- SPIEGEL: Steht das gen.“ Y Ende der Ära Jelzin bevor? Borowoi: Jelzin war Parteiführer Borowoi Frankreich einmal die Leitfigur Zwei Mordanschlägen entkommen für Demokraten und Reformer. Das war der Jelzin, SPIEGEL: Sie sind gerade zwei Mord- der vor einer rot-braunen Gefahr anschlägen mit knapper Not ent- Rasendes warnte. Jetzt bereitet derselbe kommen. Galten die Ihnen persön- Mann einen Pakt zwischen Pseudo- lich, oder sollen generell die Befür- Demokraten und Kommunisten worter der Marktwirtschaft einge- Feuer vor. Von einer Führerrolle kann schüchtert werden? nicht mehr die Rede sein, nur noch Borowoi: Unmittelbar vor dem er- Eine Jugend ohne Arbeit und ohne von politischer Senilität. sten Attentat habe ich gegen Jelzins Perspektiven geht auf die SPIEGEL: Der kranke Leitwolf, Bündnis mit den Rot-Braunen pro- über den die Rivalen aus dem Ru- testiert. Außerdem kritisiere ich of- Straße – Premier Balladur gerät zu- del herfallen? fen die Mafia-Abhängigkeit der mei- nehmend in Schwierigkeiten. Borowoi: In den letzten drei Jahren sten sogenannten kommerziellen stand Jelzin mindestens viermal mit Strukturen. einem Bein bereits im Grabe. Im- SPIEGEL: Im Westen gilt Jelzin weit- eils Kampfruf, teils Verzweiflungs- mer ganz überraschend. Das hängt hin – wie einst Gorbatschow – als schrei, schwang der Slogan wie mit seiner Leber zusammen. Beim einziger Reformgarant. Sehen Sie ei- TDonnergrollen über den Massen jüngsten Anfall mögen manche ge- ne Alternative? junger Franzosen, die mit Bannern und glaubt haben, es sei der letzte. Borowoi: Natürlich. Es gibt starke Fäuste schwingend durch Paris und Tou- Aber Onkel Borja hat es – Gott sei Politiker, die jung und gesund sind. louse, Marseille und Lyon marschierten: ihm gnädig – noch einmal ge- Schachrai und Jawlinski. Und Boro- „Die Eltern arbeitslos, die Jugend geop- schafft. woi, warum nicht? Nichts ist zu En- fert.“ SPIEGEL: Hoffen Sie, daß er seine de, wenn Jelzin einmal nicht mehr Danach, im Sog der friedlichen De- Amtszeit bis 1996 durchsteht? ist. mos, sorgten jeweils harte Burschen aus den Vorstadtghettos für Zoff: Sie steck- ten Autos an, plünderten Geschäfte und

150 DER SPIEGEL 13/1994 Straßenschlacht zwischen Polizei und Studenten*: „Misere gesät, Sturm geerntet“

lieferten sich in Schwaden von Tränen- der 20 Prozent unter dem gesetzlichen gas Prügeleien mit der Polizei. Mindestlohn für Arbeiter (Smic), etwa In immer neuen Wellen berennen 1400 Mark netto, liegt. Auf die Abituri- Frankreichs Jugendliche zu Hunderttau- enten wirkte die Initiative wie ein Ham- senden seit vier Wochen ein System, in merschlag. dem sie für sich keinen Platz, kein Ver- Obwohl Balladur unter dem Druck der ständnis und keine Perspektiven mehr Straße aus seinem Projekt den Bezug auf sehen. Es ist eine nationale Revolte. den Smic strich, fraß sich der fatale Aus- Selbst in Dutzenden von schläfrigen druck „Jugend-Smic“ fest. Er wurde zum Mittelstädten wie Vichy und Avignon, Synonym für ein neues „gebildetes Sub- in Perpignan, Angers oder Bar-le-Duc, proletariat“, so ein Pariser Demonstrati- wo man derartige „manifestations“ bis- onskomitee. lang nur vom Fernsehen her kannte, zo- In der Tat traf die Aktion Cip den Nerv gen Tausende Gymnasiasten durch die eines Volkes, in dem Diplome überbe- Straßen. „Wenn in diesem Land der wertet werden und stets auch Fahrschei- Wind sich erhebt, rast das Feuer ne für den sozialen Aufstieg waren. Die schnell“, schwant dem Schriftsteller Regierung habe „den Symbolwert der Max Gallo, einst Sprecher der sozialisti- Diplome offen in Frage gestellt“, konsta- schen Regierung. tierte Le Monde. Und zum erstenmal seit Angefacht hatte das Buschfeuer 30 Jahren schlossen sich den Jung-De- Gaullistenpremier Edouard Balladur. monstranten linke wie rechte Gewerk- Um die dramatische Arbeitslosigkeit schaften an. Sie fürchten, daß die Indu- der Jugend zu bekämpfen – an die strie Erwachsene entläßt, um sie durch 800 000 der Schul- und Universitätsab- Cip-Jugendliche zu ersetzen. gänger, fast 24 Prozent der Altersgrup- Balladur, der Präsidentschaftskandi- pe bis 25 Jahre sind ohne Job –, ließ der dat der Rechten werden möchte, steckt in Premier einen „Kontrakt zur berufli- der Klemme. Selbst Parteifreunde wer- chen Eingliederung“ (Cip) vom Stapel. fen ihm vor, daß er bisher in allen Sozial- Dieses Dekret ist als Test gar nicht konflikten nachgegeben hat wie eine unvernünftig, ließ aber – typisch für Gummiwand. Ein Streik bei Air France Frankreichs in Eliteakademien ge- gegen einen Sanierungsplan genügte, schmiedete höchste Staatstechnokraten schon zog der Premier das Papier zurück. a` la Balladur – jedes Gespür für eine von Bretonische Fischer, die Geschäftsvier- Lebensangst geplagte „deklassierte Ge- tel in Trümmer legten, stellte er mit dem neration“ (Le Monde) vermissen. Cip Scheckheft ruhig. Und vorigen Januar wurde der Tropfen, der das Faß jugend- ging der Gaullist vor Hunderttausenden lichen Frusts zum Überlaufen brachte. Demonstranten in die Knie, die gegen Unter dem Motto „Lieber kurzfristig staatliche Zuschüsse für katholische schlecht bezahlt als langfristig gar nicht Schulen protestierten. bezahlt“ sieht das Arbeitsprojekt vor, Der salbungsvolle Konservative hat an daß junge Leute mit Abitur sowie Fach- Popularität eingebüßt, erhielt aber an hochschuldiplom von Unternehmen zu einem Tarif eingestellt werden sollen, * Vergangenen Mittwoch in Lyon.

DER SPIEGEL 13/1994 151 AUSLAND den vergangenen beiden Sonntagen wie- dafür künftig 27 Stimmen von 90 erfor- der Auftrieb: Obwohl die Sozialisten bei Europäische Union derlich – also eine Allianz von zwei gro- den Departement-Wahlen Boden ge- ßen und zwei kleinen Ländern. wannen, lag Balladurs Truppe vorn. Doch Briten und Spanier haben eine Mit derart gestärktem Selbstgefühl andere Rechnung aufgemacht. Sie wol- entschloß sich der Regierungschef, der Exklusiver len an der bisherigen Sperrminorität fest- während der Mai-Revolte von 1968 als halten, um in der vergrößerten Union ihr Sozialreferent des damaligen Premiers nationales Gewicht zu verstärken und das und späteren Präsidenten Georges Pom- Klub Risiko von Abstimmungsniederlagen zu pidou Erfahrungen mit jungen Rebellen verringern. „Dies ist kein banales Ge- gesammelt hatte, zur Härte: Vorigen In Brüssel bahnt sich eine schwere zänk um Zahlen“, urteilt Frankreichs Dienstag ließ er sein Cip-Dekret kurzer- Krise an: Die Briten wollen Außenminister Alain Juppe´, „vielmehr hand im Journal officiel, Pariser Pendant steht die Philosophie der europäischen des deutschen Bundesanzeigers, fest- den Weg zur Einheit versperren. Integration auf dem Spiel.“ schreiben und damit in Kraft treten. Da- Tatsächlich geht es den Briten darum, mit forderte er Jugend und Gewerkschaf- o offen haben die Außenminister die Erweiterung der Union zunutzen, um ten offen heraus. der Europäischen Union ihr Schei- deren inneren Zusammenhalt zu schwä- Frankreich leidet pauschal an Orien- S tern noch nie eingestanden. Als sie chen. Premier John Major will sich mit tierungslosigkeit und Selbstzweifeln. Sei- am vergangenen Dienstag zum dritten- seiner unnachgiebigen Haltung in Brüs- ne Jugend leidet doppelt. Die junge Ge- mal vergebens über die Abstimmungsre- sel nicht nur bei anti-europäischen kon- neration, so der Sozialpolitiker Philippe geln in einem vergrößerten Europa bera- servativen Parteifreunden anbiedern. Er Campinchi, sehe sich „beiseite gescho- ten hatten, sah der griechische Ratsvor- möchte den EU-Partnern seine „Vision ben, geopfert, ohne Horizonte“. sitzende Theodoros Pangalos „eine Men- von Europa aufzwingen“ (Financial Ohne Berufsaussichten, durch Aids- ge Schwierigkeiten“ auf die Zwölf zu- Times): eine riesige Freihandelszone zwi- Furcht in der einst als selbstverständlich kommen. schen Hammerfest, Saloniki, Warschau empfundenen sexuellen Freiheit einge- „Ein schrecklicher Tag für Europa“, und Lissabon, in der die Mitgliedstaaten engt, fühlt Frankreichs „wütende Ju- stöhnte der Ire Tom Kitt, und der Nieder- in der Außen- oder Justizpolitik lose mit- gend“ (Le Point) sich ständig durch Bal- länder Pieter Kooijmans befand: „Jetzt einander kooperieren, ohne ihre nationa- ladurs Technokraten schikaniert. sind wir in der Krise.“ Gut zwei Monate le Souveränität einzubüßen. 400 000Jugendliche machten mobil für vorden Wahlen zumEuropäischen Parla- Es seiZeit, soMajor, „diealten Schlag- ihren Kult-Sender „Fun Radio“, weil ment hatte die Union ihren wahren Zu- worte und Träume“ von einem föderalen dem die Medienaufsicht seine „vulgäre stand offenbart: zerstritten, handlungs- Europa aufzugeben. Nun sieht er die Sprache“ verbot. Dabei reden da „Doc“ unfähig, konzeptionslos. Chance, unterstützt von den Spaniern, und „Difool“ mit ihren 1,5 Millionen jun- Nach dem Brüsseler Gezerre um Berg- die um den Einfluß der Südländer ineiner gen Hörern über Seelen- und Sexsorgen bauern, arktische Landwirtschaft, Al- aufgenordeten Union fürchten, jeder („Kann Tampax mich entjungfern?“) pentransit und Kabeljau gerieten dieVer- weiteren Integration den Riegel vorzu- sehr einfühlsam, natürlich auch mit Sprü- handlungen über die Aufnahme Schwe- schieben. „Die Briten“, erkannte Bel- chen vom Schulhof wie „wichsen“ oder dens, Finnlands, Österreichs und Norwe- giens Außenminister Willy Claes, „Möse“. gens gerade bei einem Problem in die „kämpfen um ein Konzept, das nicht das Als Affront empfindet eine Jugend, Sackgasse, das die zwölf Unionsmitglie- unsere ist.“ deren Lieblingsausdruck „cool“ ist und der vor der Erweiterung untereinander Der Streitum die Sperrminorität liefert die sich nach der Schule bevorzugt in US- klären müssen. Es geht um die Sperrmi- nur einen Vorgeschmack auf die Ausein- Imbißhallen wie „le MacDo“ trifft, den philisterhaften Kreuzzug der Rechtsre- Bisher betrug die Sperrminorität im gierung gegen Anglizismen – „le fran- Spanien Belgien Ministerrat 23 von insgesamt 76 glais“ – im Französischen. 8 5 Griechenland Stimmen. Geplant sind künftig Der Beschluß des Balladur-Kabinetts, Großbritannien Niederlande 27 von 90 Stimmen. wonach im von US-Rhythmen dominier- 10 Portugal Italien 10 ten Radio-Gedröhn künftig zu 40Prozent 5 5 Österreich Frankreich 10 5 Schweden französische Weisen erklingen müssen, 4 Deutschland 10 4 löste Protestaktionen ganzer Schulen Dänemark 3 aus. Balladur leide, so Le Point, am Irland „ontologischen Problem der Rechten“: 3 Stimmenverteilung Finnland der Unfähigkeit, mit der Jugend zu re- 3 den. Innenminister Charles Pasqua fiel im neuen EU- 3 Norwegen nur der Rat an die Eltern ein, ihre 15- bis Ministerrat 20jährigen „besser zu beaufsichtigen“. 2 Luxemburg Andere Konservative gehen auf Di- Beitritts- stanz zum Premier, der „Misere gesät hat länder und nun den Sturm erntet“ – so das neue Boulevardblatt Info Matin. Als das Staatsfernsehen France 2 zu einer Cip- norität im künftigen Ministerrat: Im Ka- andersetzungen, die den Staats- und Re- Debatte bat, wollte kein Minister zu Bal- pitel 29 der Beitrittsverträge muß festge- gierungschefs drohen, wenn sie 1996 auf ladurs Verteidigung antreten. schrieben werden, wie viele Stimmen nö- einer Regierungskonferenz die Institu- Am härtesten ging der konservative tig sind, um Mehrheitsentscheidungen in tionen und Entscheidungsabläufe für ei- Senatspräsident Rene´ Monory den Re- einem Europa der 16 zu blockieren. ne Gemeinschaft von 20 oder gar 25 gierungschef an: „Ein Land“, so der Bisher konnten zwei große und ein Mitgliedern vorbereiten. Dann geht es 70jährige Ex-Erziehungsminister, „das kleines Land (mit 23 von insgesamt 76 um so heikle Themen wie die Zahl der sich von seiner Jugend abschneidet, ver- Stimmen) ihr Veto einlegen. Nach der Kommissare, die Kompetenzen für das fällt dem Niedergang.“ Y Arithmetik der erweiterten Union wären Europaparlament und die Rotation der

152 DER SPIEGEL 13/1994 Präsidentschaft im Rat. Geklärt werden Auch klinisch steril aussehende Kör- nen der Beweis, daß Japan sich nicht muß auch die Frage, wie der Maas- ner brächten es nicht. „In kaliforni- mehr ernähren könne. „Hungersnöte trichter Vertrag, der eine gemeinsame schem Reis findet man keine Käfer“, ur- gibt es nicht nur in Afrika“, raunte das Außen- und Sicherheitspolitik sowie ei- teilt Shinichi Ito, Reishändler in Tokio, Massenblatt Asahi düster. ne Währungsunion vorsieht, in einer „aber nur, weil er übermäßig mit Pesti- Sogleich setzte ein Run auf das japa- größeren Gemeinschaft verwirklicht ziden behandelt wurde.“ nische Reiskorn ein. In kollektiver werden soll. Kaum jemand vermag sich Um so ungeheuerlicher dünkt es des- Hamsterhysterie standen Hausfrauen zu vorzustellen, daß in einer Union, der halb die Japaner, daß sie das Langkorn Hunderten vor einschlägigen Geschäf- auch noch Zyprer, Malteser, Polen, aus Thailand und das Kurzkorn aus Ka- ten Schlange, um einen Beutel echter Tschechen, Ungarn oder Letten ange- Japonica zu ergattern. Der im- hören sollen, gemeinsame Beschlüsse portierte Reis erwies sich als zustande kommen. Ladenhüter. Für Kommissionspräsident Jacques Es half nicht viel, als der Ten- Delors bedeutet die Erweiterung der no verlauten ließ, sein zweiter Union um die Mittel- und Osteuropäer, Sohn hätte Thai-Reis probiert daß sich die Gemeinschaft zu einem und nichts zu beanstanden ge- „Europa der variablen Geometrie“ ent- habt. Wenig dienlich war auch, wickelt: „Jene, die weitergehen möch- daß Landwirtschaftsminister ten, können sich zu einer Politischen Eijiro Hata in einem Super- Union zusammenschließen, und die markt ausländischen Reis aß übrigen geben sich mit einem gemeinsa- und bekannte, er habe „keine men Wirtschaftsraum zufrieden.“ Hemmungen“ gehabt. Auch bei den drei Benelux-Ländern, Die Ablehnungsfront blieb die untereinander schon lange eng ver- stabil. Hata verfügte deshalb, bunden sind, zirkulieren ähnliche Mo- es dürfe kein reiner japanischer delle. Der Luxemburger EU-Vertreter Reis mehr verkauft werden, er Jean-Jacques Kasel denkt an einen sei mit Importware zu vermen- „exklusiven Klub“ von zunächst sechs gen. Bis auf weiteres soll der oder sieben Mitgliedern, die eine ge- Anteil von Fremdreis am Ein- meinsame Außen- und Währungspolitik zelhandelsumsatz 70 Prozent entwickeln. Drumherum würden die betragen – zumindest bis Okto- „Trabanten“ (Kasel) kreisen, die in den ber, wenn die neue Ernte an- inneren Kern aufgenommen werden steht und die Importkörner hof- könnten, sobald sie die Voraussetzun- fentlich zurückdrängt. Der rei- gen für ihre Integration erfüllen. ne japanische Reis ist unterdes- Mit dem Konzept eines Europa, das sen Gold wert. sich in unterschiedlichen Geschwindig- Ein Fotogeschäft in Osaka keiten bewegt, wäre zumindest die Ge- nutzt ihn als Lockvogelangebot fahr gebannt, daß einzelne Mitgliedstaa- und gibt pro Kunden sechs Kilo ten wie Großbritannien die Entwicklung davon ab. Woher der Reis der gesamten Union aufhalten. Y Kunden beim Reiskauf (in Tokio) kommt, mag der Ladenmana- „Importware ist gefährlich“ ger nicht sagen. Es sei aber „genügend da“. Spielhallen ge- Japan lifornien demnächst in ihren Küchen ben neuerdings Reis als Preis aus. Das ganz groß köcheln sollen. Geschäft boomt. Der Grund: Es gibt nicht genügend Der Reismarkt wird von der japani- einheimisches Japonica-Rundkorn der schen Regierung kontrolliert, die fast die Klebrige Art klebrigen Art. Ein kühler und verregne- gesamte Ernte zu subventionierten Prei- ter Sommer brachte Nippons Reisbau- sen aufkauft, um sie den Grossisten zuzu- Ausländischer Reis macht ern 1993 die schlechteste Ernte seit fast teilen. Aber es gibt einen Schwarzmarkt, die Japaner unglücklich. Aber sie 50 Jahren. Gegenüber dem Vorjahr ging den Experten derzeit auf zwei bis drei der Ertrag um 26 Prozent zurück. Millionen Tonnen schätzen. müssen ihn essen. Beamte des Landwirtschaftsministeri- Drei Viertel aller Japaner, so geht aus ums haben den Fehlbedarf berechnet. einer Umfrage hervor, wollen aus- er Müller war entsetzt: Im Reis Bei einem Jahresverbrauch von 70 Kilo schließlich einheimischen Reis essen – aus Thailand hatte er den ver- pro Kopf (insgesamt also gut neun Mil- auch wenn er mehr als Importware ko- Ddorrten Kadaver einer Maus ent- lionen Tonnen) und unter Berücksichti- stet. Dieses Geschmacksverhalten kön- deckt – dies aber zu spät. Schon war gung der staatlichen Reisreserven ka- nen die Japanreisfanatiker nun unter Be- der Mauserest vermahlen. men die Bürokraten auf ein Minus von weis stellen: Schwarzmarktkorn aus der Der unappetitliche Vorfall, den die 2,2 Millionen Tonnen Reis. Ausgleich Präfektur Niigata kostet derzeit bis zu Medien breit auswalzten und der sogar konnten nur Importe schaffen. 20 000 Yen für einen Sechs-Kilo-Beutel, im Parlament erörtert wurde, bestätigte Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg das sind über 300 Mark. Millionen von Japanern ein uraltes kommt deshalb ausländischer Reis nach Schulkinder können sich das nicht lei- Vorurteil: Ausländischer Reis ist ver- Nippon. Er stammt aus Thailand, der sten –und sind doch die einzigen, die wei- schmutzt, gar gesundheitsschädlich. Welt größtem Exporteur von Reis, aus terhin ungepantschten Japonica serviert Und außerdem stinkt er. „Die Wahr- den USA, China und Australien. bekommen. Es seifür die kindlichen See- heit über thailändischen Reis liegt nun Anfang März, als die ersten ausländi- len notwendig, „sich das Gefühl für unse- auf dem Tisch“, frohlockte Junichi Ko- schen Reissäcke in die Supermärkte ge- re traditionelle Reiskultur zu bewahren“, waka, Autor des Bestsellers „Impor- langt waren, brach Katastrophenstim- rechtfertigt das Erziehungsministerium tierter Reis ist gefährlich“. mung aus. Die trockenen Körner schie- die Maßnahme. Y

DER SPIEGEL 13/1994 153 Werbeseite

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Osteuropa Zwischen Hammer und Amboß SPIEGEL-Reporter Walter Mayr über postsozialistische Nato-Anwärter und ihre Angst vor Rußland

ls der tapfere Galizier Herman Lie- Baltische, polnische und tschechoslo- Melden gehorsamst: Geschichtsbü- berman an Allerheiligen 1918 die wakische Nationalstaaten, die in der cher von Völkerfreunden gesäubert, A Freie Republik Przemys´l ausrief, Folgezeit rund um Przemys´l entstanden, Nationalhelden wiederbelebt, Armeen tat er es in dem Glauben, nun sei Raum weniger mutig, besser bewaffnet, wur- umgekehrten Marschbefehl erteilt. für Utopie. Österreich-Ungarn lag frisch den ebenfalls überrollt. Die sozialisti- Das Etappenziel heißt Nato. in Scherben, und Lieberman, immun schen Republiken nach 1945 zerbra- gegen Heldenmythen und völkischen chen, perfekt gerüstet, am Systemfeh- berstleutnant Sa´ndor Olajos steht Weihrauch, wollte den besten Staat der ler. am Südrand der alten Sowjetunion Welt – Sammelbecken für Polen, Juden, 75 Jahre nach Przemys´l wollen die Ound wartet auf die Allianz. Vor Ungarn und alle Bürger guten Willens. Völker aus der historischen Schnittmen- kurzer Zeit noch trug er den roten Stern Ein Zeitgenosse, schreibt Christoph ge von West und Ost nun endlich Sieger an der Stirnseite seiner Offiziersmütze. Ransmayr, habe Lieberman vor dem sein. Im Rücken fehlt ihnen dazu ein Seit Januar ist er „Partner for Peace“ – Konstruktionsfehler seiner scheckigen mächtiger Bruder. Im Nacken spüren Nato-Partner für den Frieden, postiert Zwergrepublik gewarnt: sie Moskaus Großmachtpolitiker, allen samt einigen Dutzend angejahrter T-55- „Die mitteleuropäischen Völker wol- voran den Kronprinzen Wladimir Schiri- Panzer zwischen Pußta und Karpaten. len ihre eigenen, autonomen, blöden nowski, der Mitteleuropa wieder in rus- Olajos befehligt in Nyı´regyha´za eine kleinen Nationalstaaten, korrupten Par- sische und deutsche Einflußsphären zu Schattendivision der ungarischen Ar- lamente und lächerlich kostümierten spalten droht. Auf seinen Phantomplä- mee: 110 Offiziere, 140 Rekruten, di- Armeen.“ Letztlich glaube jede Nation nen fehlen die heutigen Grenzen von daktisch gesehen ein optimales Verhält- von sich, sie sei einen „besonders genial Ungarn, Polen und Balten. nis. Die fehlenden 1150 Soldaten rücken gewundenen Weg von der Affenhorde Und so schleifen die Führer der jun- im Ernstfall ein. „Wenn wir angegriffen zum bissigen Nationalstaat“ gegangen. gen Demokratien, allein gelassen im werden, sehen wir schlecht aus“, sagt er. Doch Lieberman wollte nicht hören Niemandsland zwischen westlichen und „Die Nato müßte uns helfen.“ und träumte den völkerverbindenden russischen Atomwaffen, emsig am na- Der Kommandeur ist ein drahtiger Traum. Als er am folgenden Tag er- tionalen Profil, als hätte das in der Ver- Mann mit dichtem Schnurrbart, Mar- wachte, war seine Republik von frem- gangenheit nicht regelmäßig ins Verder- kenzeichen der Anhänger von Regie- den Truppen besetzt. Er hatte gleiches ben geführt. Liebermans Vermächtnis, rungspartei und wahrem Ungarntum. Glück für alle gefordert. Das war mutig alles Übel in der buntbesiedelten Mitte Seine gerötete Gesichtshaut läßt auf ge- und tödlich. Die Geschichte rehabilitier- Europas gehe von der Idee des Staats- selliges Kasernenleben im stillen Ostun- te den Utopisten Lieberman. volks aus, ist vergessen. garn schließen. Das letzte Manöver des Versorgungsbataillons FINNLAND liegt zwei Jahre zu- Sillamäe rück. Einmal jährlich, Truppenstärken Tallinn St. Petersburg Mit Furcht Narwa kurz vor Winterein- ESTLAND und Trotz bruch, werden die Mo- 2900 reagieren die vom Kom- toren der sowjetischen RUSSLAND munismus befreiten Panzer angeworfen. SCHWEDEN LETTLAND 2 030 000 Staaten im Osten Euro- Nato-Partner Olajos Riga 5000 pas auf neue Töne in der hätte sich wie seine russischen Außenpolitik. Regierung eine herzli- LITAUEN Unter schweren innenpo- chere Willkommensge- Kaliningrad 9800 litischen Druck geraten, ste der westlichen Alli- ca. 250 000 hatten Präsident Boris anz gewünscht. Knapp Bagrationowsk Minsk Jelzin und seine Regie- 40 Kilometer südlich Gizycko rung die Nachfolgestaa- BELORUSSLAND der Grenze zur Atom- DEUTSCH- ten der Sowjetunion und POLEN 102 600 macht Ukraine – Schi- LAND ihre ehemaligen Satelli- rinowskis Plänen zu- 220000 Warschau ten zur russischen Ein- folge die künftige Süd- flußsphäre erklärt. Auf grenze Großrußlands – der anderen Seite bleibt Kiew fühlt er sich mit seinem UKRAINE die erhoffte Schutzga- Prag schrottreifen Fuhrpark 438 000 rantie durch die Nato unbehaglich. TSCHECHIEN aus. Vom Baltikum über Die Nato gibt vor, 106 500 SLOWAKEI 47 000 MOLDAWIEN Polen bis nach Ungarn die Angst Ungarns und Bratislava 9400 dominiert nun die Angst anderer Bewerber vor Nyíregyháza vor dem Abstieg in ein einem Machtvakuum ÖSTERREICH Budapest RUMÄNIEN militärisch verwundbares UNGARN in der Mitte Europas 203 100 „Zwischeneuropa“. ca. 100 000 zu teilen. Dennoch hat sie eine baldige Auf-

156 DER SPIEGEL 13/1994 nahme abgelehnt: angeblich, um Ruß- lands Präsident Jelzin innenpolitisch nicht weiter zu schwächen. Als Trostpreis bleibt die Partnerschaft für den Frieden, eine wortreich aufge- bauschte Leerformel, so vage gefaßt, daß nun sogar die Russen selbst unter- schreiben wollen. Das Abkommen birgt keine Beistandspflicht für den Fall, daß einer der Partner angegriffen wird, kei- ne technische Unterstützung, keinen Zeitplan, der den Truppen zeigen wür- de, wann das Bündnis sie erwartet. „Gestern Warschauer Pakt, heute Nato, das ginge wohl zu schnell“, sagt traurig der kleine Oberstleutnant aus Ny- ´regyhaı ´za. „Wir sind schließlich ausge- bildet worden, um den Westen kaltzu- stellen, wenn er uns überfällt.“ Sa´ndor Olajos begann spät, an der Moskauer Defensivdoktrin zu zweifeln. Ungarische Panzer Der Absolvent der Budapester Militär- akademie Zrı´nyi hat 1975 seinen Offi- „Melden gehorsamst: umgekehrten zierseid auf die sozialistische Volksrepu- blik Ungarn abgelegt. „Wir wußten Marschbefehl erteilt“ mehr über die Nato als über die Sowjet- armee“, sagt er und lacht. „So gesehen wären wir auf die Nato gut vorberei- Beitritt handelt es sich um einen einsei- Aber noch sind die Atomwaffen jen- tet.“ tigen Heiratswunsch“, spottet der seits der Grenze nicht verschrottet, wird So gesehen – ja. Andererseits werden Schriftsteller György Konra´d. „Warum in Budapest Schirinowskis Buch „Der aus Linkshändern nicht über Nacht weinen, wenn sie uns nicht heiraten wol- letzte Sprung nach Süden“ ängstlicher Rechtshänder. Die überwiegende Zahl len? Nicht zu wollen, was nicht zu krie- Exegese unterzogen und auf den fehlen- der ungarischen Offiziere spricht kein gen ist – erstes Prinzip des Realismus.“ den Grundlagenvertrag mit Rußland Wort Englisch. Was Verteidigungskon- Konra´d behauptet sich als moralische verwiesen. Wegen unterschiedlicher Be- zept und Innere Führung bedeuten, ist und intellektuelle Instanz im diskurs- wertung der Ereignisse von 1956 ist er vielen auch in der Muttersprache schwer feindlich gewordenen ungarischen noch nicht ratifiziert. verständlich zu machen. Kleinklima, wo das Bild der reinrassigen „Sollten die Russen zurückkommen“, Ungarns modernere Reiternation wieder in sagt mannhaft Oberstleutnant Olajos, Waffen sowie 70 Pro- Mode ist. Träger von „werden wir kämpfen.“ zent der Truppen ste- Wertegemeinschaften, Er weiß, daß der Kampf nicht lange hen noch immer im sagt der störrische Auf- dauern würde. Westbezirk Transdanu- klärer, seien nicht die bien, an der Grenze Armeen. Europa, das n der Westgrenze der alten Sowjet- zum einstigen Klassen- bedeute Demokratie, union steht hünenhaft ein polni- feind. Die USA haben, Klassiker in den Ascher Oberstleutnant. Zu Schiri- auch das aus Rücksicht Bücherregalen, Spra- nowski und Nato habe er keine Mei- auf Rußland, die Liefe- chen – nicht Waffen. nung, dafür Befehle, und die kämen rung von F-16-Kampf- Was aber wird aus weiter aus Warschau, sagt der Offizier. flugzeugen abgelehnt. Ungarn, wenn der An- Nur wer Befehle gut ausführe, werde Statt dessen hinterlie- ti-Europäer die Macht Meister auf seinem Gebiet. Sein Ge- ßen die abziehen- ergreift? biet? „Soldaten dazu erziehen, Befehle den Sowjets moderne „Wir hätten noch schnell und zuverlässig auszuführen.“ MiG-29-Maschinen. Glück“, sagt Konra´d, Nato-Partner Ireneusz Rybzin´ski, Sie werden nun mit „wir würden nicht zu Kommandeur der 2. Motorisierten Bri- amerikanischer Früh- Schirinowskis pansla- gade in Gizycko/Masuren, ist botanisch warnelektronik ge- Kommandeur Olajos wischem Imperium von betrachtet den Pfahlwurzlern zuzurech- kreuzt. MiGs aus den Knin bis Wladiwostok nen. Verästelungen logischer wie einstigen Bruderlän- „Die Nato gehören. Aber ange- sprachlicher Art liegen ihm nicht. Ma- dern, die sich dem un- nehm wäre es nicht, so kellose Pflichterfüllung begrenzt seinen garischen Luftraum nä- müßte uns nahe an der Front zu Ehrgeiz nach oben. hern, waren bisher ge- helfen“ leben.“ Rybzin´ski befehligt 650 Soldaten un- treu dem operativen Nato-Partner Olajos ter der unbesiegten Festung von Lötzen Code des Warschauer ist durchaus der glei- am Löwentin-See, wie die ostpreußische Pakts als „freundliche Flüge“ vermeldet chen Meinung. Bis jetzt nimmt er die Stadt bis zum Kriegsende hieß. Hier worden. „Noch“, sagt Olajos, „sind wir Front nur als Wohlstandsgrenze wahr, hatten schon Hindenburg und sein pik- in keiner Hinsicht reif für die Nato.“ über die aus ukrainischen und russi- kelhäubiger Kaiser ihr Feldlager aufge- Freiere ungarische Geister halten schen Beständen Leninbüsten, Nackt- schlagen. Heute ist Gizycko/Lötzen Po- schon die demütige Stilisierung der tänzerinnen, Benzin, Ikonen und mit lens vorgeschobenste Stellung an der Nato-Kriterien zu einer Bibel der West- Wodka betäubte Rassehunde nach Un- russischen Grenze. Nordwärts führt der tauglichkeit für unwürdig. „Beim Nato- garn kommen. Weg durch verschlafene Weiler Rich-

DER SPIEGEL 13/1994 157 Werbeseite

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„Man soll sich auf die Gegenwart kon- zentrieren.“ Beunruhigt den ranghöch- sten Offizier im Grenzgebiet Schiri- nowskis Aufstieg? „In den Befehlen aus Warschau kann ich keine Panik lesen.“ Nicht auszuschließen, daß Nato-Part- ner Rybzin´ski, Absolvent der War- schauer Generalstabsakademie, vor 17 Jahren auf den Sozialismus vereidigt, privat ein liebreizender Mensch ist. Daß er Frau und Kinder nach Feierabend über den Löwentin-See rudert, wenn die masurischen Tage wieder länger wer- den. Möglicherweise sogar eine Mei- nung äußert. Als Nato-Speerspitze wäre er keine Zierde fürs neue Polen.

itten in der sensiblen Westflanke der ehemaligen Sowjetunion Ukrainische Händler Msteht Nato-Partner Indrek Sirel und erzählt vom Leben in den verbote- „Ich hatte geglaubt, die Sowjetunion nen Raketenstädten. Kindheit und Ju- gend hat er als Sohn eines Sowjetsolda- sei der beste Staat der Welt“ ten in den belorussischen Wäldern ver- bracht. In Gomel, Mosyr und Petrikow, SS-20-Abschußbasen. Nun ist er 24 Jah- tung Bagrationowsk/Preußisch-Eylau im kau-Achse“ – einer Wendung von Mos- re alt und die Nummer zwei in der Mili- russischen Gebiet Kaliningrad, ehemals kaus Außenminister Kosyrew, die des- tärhierarchie Estlands. Königsberg. sen jovialer Kollege Kinkel zum Entset- Mit dem Kommando über das Infan- Die Polen wissen wenig über die Men- zen der Polen unbeanstandet ließ. terie-Bataillon Viru an der Grenze zum schen drüben im einstigen Sperrgebiet, Auch die Armee ist verunsichert. Ihre russischen Kernland ist dem schmächti- auf der anderen Seite von Goldaper See Reihen wurden halbiert, die Privilegien gen Offizier eine Schlüsselposition über- und Rominter Heide. gekürzt, strategische Leitlinien verän- tragen worden. Bis zu 90 Prozent Rus- Das Gebiet Königsberg ist Rußlands dert. Das Geld für Neuerungen ist sen mit sowjetischen Pässen und einige Exklave und Aufmarschplatz. Auf ei- knapp in Zeiten, wo es zu den Zielen Ukrainer leben in diesem Teil Estlands. nem Areal von der Größe Schleswig- des Premiers zählt, „in jedem Dorf ein Den Angehörigen des einstigen Herr- Holsteins stünden, so heißt es in War- Telefon“ zu wissen. schervolks, die in der schau, inzwischen mehr Soldaten als in Die Nato, sagt der baltischen Republik ganz Polen – etwa eine viertel Million. Verteidigungsminister, zur Minderheit gewor- Unter ihnen befinden sich Elitedivisio- hätte mit materieller den sind, gilt die be- nen, die aus der Ex-DDR abgezogen Unterstützung ein Zei- sondere Anteilnahme wurden, offensive Geschwader der Luft- chen setzen können: Moskaus. Keine Frage, waffe und Mannschaften der U-Boot- „Willst du wirklich hel- wo im Konfliktfall Feu- Flotte in Baltijsk/Pillau. fen, schenk eine An- er ausbräche. Die waffenstarrende Exklave sei die gel, nicht einen Fisch.“ Doch Hauptmann Problemzone von morgen, sagt Bronis- Solange die westli- Sirel, Absolvent der law Geremek, der den außenpolitischen che Schutzmacht sich mit Lenin- und Rot- Ausschuß im Sejm leitet. „Die Region bitten läßt, wächst die bannerorden bedach- müßte entmilitarisiert werden. Doch die Gefahr politischer In- ten Höheren Komman- Russen wissen nicht, wohin mit ihren stabilität in Polen. An deursschule in Mos- Truppen. Im Falle eines russischen An- der militärischen Front kau, kennt keine griffs wäre Polen wohl das erste Opfer.“ verharrt als olivgrünes Angst. Er ist auf dem Verteidigungsminister Piotr Kolo- Symbol polnischer Rat- Roten Platz mit Best- dziejczyk warnt gar vor einem „zweiten losigkeit Oberstleut- note geehrt worden. Bosnien“. Polen müsse schnellstmöglich nant Ireneusz Rybzin´- Kommandeur Rybzin´ski 1991 hat er sich für ei- Mitglied der Nato werden. Seit Schiri- ski und kämpft an der nen Posten bei minus nowskis Aufstieg werde Rußlands Präsi- Spitze der 2. Mot. Bri- „Botanisch 50 Grad am Baikalsee dent Jelzin irrigerweise als Demokrat gade um Orientierung. entschieden, um nicht gehandelt – verständliches Wunschden- Einen Feind, zu dessen betrachtet ein im rebellischen Estland ken, wie der Minister einräumt: „Weder Abwehr Befehle benö- Pfahlwurzler“ gegen seine Landsleute der Westen noch ich wüßten einen Men- tigt würden, sehe er au- kämpfen zu müssen. Er schen, der Rußland in die Demokratie genblicklich nicht, sagt ist Elitesoldat. führen könnte.“ der Offizier, während er im Jeep zur Als die Sowjetarmee lautlos in eine Die vage Nato-Formel der Partner- Truppe fährt und der vorwitzige Rekrut russische überführt wurde, hat Indrek schaft für den Frieden hat in Polen exi- am Steuer „Go West, Life is Peaceful Sirel sich nach Estland geschlichen, ins stentielle Ängste neu belebt. Von der there“ vom Band laufen läßt. kleine, steifgefrorene Stück Land am verhängnisvollen Position zwischen Wie war das im sozialistischen Polen? Ostseeufer. Dort schwor der vormalige Hammer und Amboß ist wieder die Re- „Hatten wir auch keinen Feind.“ Von Kremlkadett, gedrillt auf Völkerfrieden de, von Rapallo und der „Berlin-Mos- wo könnte er in Zukunft kommen? und Sowjetunion, künftig auch auf Rus-

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Werbeseite AUSLAND sen oder Ukrainer zu zielen, sollten sie bei Narwa an der Grenze die Nase ins Baltikum strecken. „Wir hoffen, daß die Frontlinie nie- mals diesseits von Narwa verläuft, doch wir haben kein Recht, diese Möglichkeit zu übersehen“, sagt Estlands Präsident, der Dichter Lennart Meri. In Schiri- nowskis Planspielen bliebe nur die Hauptstadt Tallinn verschont. Der Westen, sagt Meri, verstehe nicht, daß die meisten Russen noch in kolonialistischen Kategorien dächten: „In Europa fragen sich die Leute, ob sie sich einen Zweitwagen kaufen sollen. Es könnte sich aber die Frage stellen, ob sie nicht ihren Erstwagen gegen einen Pan- zer tauschen müssen. Die Möglichkeit eines Weltkriegs steht heute fühlbar vor der Tür Europas.“ Der Präsident hat die angebotene Estnische Rekruten bei Schießübung Nato-Partnerschaft als ein „leeres Fläschchen Parfüm“ bezeichnet – „Wenn die Russen kommen, werden hübsch anzusehen, kein Inhalt – und dann doch eingewilligt. Sein Oberkom- sie sich eine blutige Nase holen“ mandierender, der amerikanische Oberst a. D. und Vietnamkämpfer Aleksander Einseln, zimmert derweil nen Kreuz Erster Klasse dekoriert und die Estenmacher, vier Scharfrichterin- das Gerüst der Vaterlandsverteidigung. haben mit der Estnischen Legion, die in nen mit existentieller Machtbefugnis. Ihm unterstehen knapp 3000 Soldaten. der Waffen-SS aufging, gegen die sowje- Ihr Verhör zum Thema Sprach- und Beinahe genauso viele haben die Russen tischen Besatzer gekämpft. „Ich hatte Heimatkenntnisse entscheidet darüber, noch immer im Land. die Ehre“, sagt einer von ihnen in rost- ob der Antrag eines Russen auf Staats- „Wir haben wenigstens zwei Jahre freiem Deutsch, „den zahmen Heini bürgerschaft Aussicht auf Erfolg hat. Zeit“, sagt der General. „Wenn die durchs Heidelager zu führen.“ – Den Auftritt Wiktor Lasutkin, vor Aufre- Russen vorher kommen, gibt es Kampf, zahmen Heini? – „Himmler, Heinrich.“ gung schlotternder Ohrenarzt aus Semi- und sie werden sich eine blutige Nase Die Greise mit den Fellmützen und palatinsk, der seit geraumer Zeit in Est- holen.“ Leider gleiche der Betrieb in den leuchtenden Augen sind Museums- land lebt. „Was ist unser Wappentier, Estlands Armee ab und stücke der estnischen Wiktor?“ erklingt es in estnischer Spra- zu noch einem „ver- Geschichte. Zu Zaren- che. – „Schwalbe.“ „In welchem estni- dammten Kindergar- zeiten geboren, Offi- schen Theater sind Sie zuletzt gewe- ten“, doziert der heim- ziere in der ersten est- sen?“ – „In keinem.“ gekehrte Exil-Este: nischen Republik, un- Dann schweigt Wiktor. Er sieht nun „Dies hier ist eine sehr ter sowjetischer Besat- aus, als sei er bereit, die Frage nach dem primitive Gesellschaft, zung in der Roten Ar- größten Verbrecher der Geschichte mit die dabei ist, sich zu mee, bei den Nazis im „Stalin“ zu beantworten, in der kehligen verändern.“ Lager und in der Waf- Steppensprache, die zu erlernen er nie Zwischen dem Ame- fen-SS. Am Ende lan- einen Grund sah. rikaner und dem jun- deten sie in sowjeti- Wiktor Lasutkin steht da wie ein Erst- gen Hauptmann Sirel scher Gefangenschaft kläßler, der die Hand auf die Bank le- regiert in der estni- und knapp 50 Jahre gen muß, um zu beweisen, daß er saube- schen Militärhierarchie später wieder in Est- re Fingernägel hat. Die Estenmacher das Nichts. Erfahrene lands Armee. schicken ihn zurück ins Glied. Offiziere aus Sowjet- Draußen, unweit der Von einem wie ihm wird kein Aufruhr zeiten lehnt Einseln ab. Kaserne, waren sie da- ausgehen in Estland. Sein Schicksal aber „Die aus Rote Armee bei, als Esten gegen und das der russischen Minderheit im gesamten Baltikum zählt zu den Zuta- taugen für uns nicht, Kommandeur Sirel Esten gekämpft haben. drum nehmen wir die Bis in die siebziger Jah- ten, die der begabte Giftkoch Schiri- Großväter“, stimmt „Mein Vaterland, re wurden im Moor un- nowski in Moskau braucht, um die de- Major Robert Telliske- ter den Blauen Bergen gradierten Massen zu Hause gegen die vi zu und meint damit wie lieb, wie bei Sillamäe noch Lei- jungen Republiken aufzuwiegeln. sich selbst und seine schön bist du“ chen aus der Schlacht Unter der Bataillonsfahne mit dem Kameraden. Telliskevi von 1944 geborgen. schwingenspannenden Falken, der die ist 78 und Generalin- Wohin auch immer das Stadt Narwa zwischen den Krallen hält, spekteur der estnischen Truppen. Der kleine Volk sich unter dem Würgegriff sagt Hauptmann Indrek Sirel, er be- gleichaltrige Major Rudolf Brus leitet der großen Nachbarn wand, es ist ihm trachte es als Ehre, fürs Vaterland zu eine Militärschule, gestützt auf eigene nicht gut bekommen. sterben, sollte es zum Ernstfall kom- Gefechtserfahrungen aus den frühen Und so richten, trotz unübersehbarer men. Dann schreitet er den Abendap- vierziger Jahren. Drohgebärden aus Moskau, die Esten pell ab. Es ist kurz vor zehn. Weitere Kollegen zwischen 70 und 80 diesmal den Blick nach innen. Unweit Sechshundert Mann nehmen Aufstel- sitzen im Stab. Alle sind mit dem Eiser- der Kaserne tagen an diesem Morgen lung mit dem Rücken zu Rußland. Der

DER SPIEGEL 13/1994 163 Werbeseite

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Diensthabende schreit: „Die Hymne der Der Geschäftsmann Sakmanow ist Republik Estland.“ Die Truppe singt: Stammgast im Maxie’s, einem Nacht- „Mein Vaterland, wie lieb, wie schön klub in Londons Nobelviertel Knights- bist du.“ Manche bewegen lautlos die bridge. Jeden Samstag ist Russische Lippen. Nacht in diesem Etablissement gleich Die stummen Sänger seien die besten neben dem Luxuskaufhaus Harrods. Kämpfer, lobt der Hauptmann – Rus- Ein bißchen Folklore gegen aufflackern- sen, „mit dem Schwert zwischen den des Heimweh, junge und hübsche Mäd- Zähnen geboren“. Im Falle eines Kon- chen, Champagner und Kaviar bis zum flikts mit Moskau erwarte er, daß die Abwinken: solch ein Dasein schätzen Söhne russischer Einwanderer loyal zu Sakmanow und die vielen anderen russi- Estland stünden. schen Barbesucher im goldenen We- Auch er habe lernen müssen, die Fah- sten. ne zu wechseln, sagt der neue Nato- Maxie’s-Chef Tony Chouw ist begei- Partner – damals, als zusammenbrach, stert von seinen spendablen Kunden aus was er verteidigen wollte: „Ich hatte ge- dem Osten: „Sie verstehen zu feiern, glaubt, die Sowjetunion sei der beste und das Geld geht ihnen nie aus.“ Rech- Staat der Welt.“ Y nungen über 1000 Pfund (2600 Mark) pro Gast sind der Normalfall. Chouw: „Sie machen sogar größere Zechen als Großbritannien die Araber.“ Vor allem finanzkräftige Besucher vom Persischen Golf und Hongkong- Chinesen sorgten mit üppigen Einkaufs- Nur das touren bislang dafür, daß Londoner Im- mobilienmakler, Edelrestaurants und Luxusläden trotz der landesweiten Re- Beste zession auf ihre Kosten kamen. Nun eta- bliert sich eine zusätzliche Neureichen- Privatschulen, Luxushäuser und Elite in der britischen Hauptstadt, mit Juwelen: reiche Russen genießen der, so Klubbesitzer Chouw, „niemand gerechnet hat“: das feine Leben in London. Es sind Russen, Ukrainer und Bal- ten – überwiegend smarte Profiteure ei- ladislaw Sakmanow ist blenden- nes chaotischen Booms, der nach dem der Laune. Gerade haben Karo- Zerbersten des Sowjetimperiums Wlina und Olga, die beiden Sopra- schnelles Geld für bisweilen anrüchige nistinnen, gefühlvolle Weisen aus der Geschäfte verspricht. russischen Heimat vorgetragen. Eine 3,1 Milliarden Pfund (knapp 8 Milliar- neue Flasche Schampus steht im Küh- den Mark) haben nach Schätzung von ler, und die Begleiterin, eine voll- Londoner Bankern Anleger aus Ruß- schlanke Brünette, schiebt ihm ki- land in britischen Geldinstituten hoch- chernd eine Marlboro zwischen die Lip- verzinslich verwahrt, Tendenz steigend. pen. Ein beträchtlicher Teil davon, so vermu-

Russische Nacht bei Maxie’s: Kaviar bis zum Abwinken

166 DER SPIEGEL 13/1994 Werbeseite

Werbeseite menklatura. Jaguar-Händler schaft in dem Kapuzenverein war da- Christopher Jane in Kensing- mals eine Art Bürgertugend, ein Aus- ton sieht sein bisheriges Bild weis, vollblütiger Amerikaner zu sein. vom freudlosen Ostblockmen- Der Klan machte Front gegen alles schen gründlich revidiert: Fremde, gegen „Nigger“ ebenso wie „Eigentlich glaubt man, daß gegen Juden und Katholiken. die sich für Brot anstellen und Die Lynchmorde an den beiden jun- nicht für teure Karossen.“ gen Schwarzen Abram Smith und Tho- Im Streben nach kapitalisti- mas Shipp waren deshalb auch nicht schen Segnungen haben wohl- die Taten von Außenseitern. Tausende habende Ostler nun auch das von Bürgern hatten ihren Abendspa- britische Bildungssystem ent- ziergang zum Gerichtsplatz verlegt, um deckt – ein Trend, von dem das Schauspiel nicht zu verpassen. Das sich John Rawlinson, 34, eine Foto, das bei dieser Gelegenheit ent- Erwerbsquelle erhofft, die stand, fand schon anderntags als Sou- schon bald „heftig sprudeln“ venirpostkarte reißenden Absatz. kann. Auch jetzt erscheint es wieder in Rawlinson, ein in den USA US-Zeitungen und erinnert die Ameri- geschulter Banker, ist Leiter kaner daran, daß der Rassismus ihrer der Oakley Hall School in Ci- Vergangenheit juristisch weitgehend rencester (Grafschaft Glouce- unbewältigt blieb. Seit Ende des Bür- stershire), einer kleinen Pri- gerkriegs 1865, der die Befreiung der vatschule. 18 der 60 Internats- Sklaven brachte, gab es bis in die fünf- zöglinge stammen derzeit aus ziger Jahre hinein über 4000 meist un- Rußland und der Ukraine, gesühnte Lynchmorde. Dazu kommen Töchter und Söhne von wohl- Hunderte von Attentaten auf Bürger- Schulleiter Rawlinson, russische Zöglinge habenden Bürgern. rechtler, von denen gleichfalls nur ein „Gebühren immer pünktlich und cash“ Die Schulgebühr von knapp kleiner Teil geahndet wurde. Mit er- 13 000 Mark (etwa das 15fache heblicher Verspätung wird nun einiges ten britische Interpolbeamte, stammt aus eines russischen Lehrer-Jahresgehalts) Unrecht wiedergutgemacht. den Kassen der Russen-Mafia. Allein in entrichten die Eltern „immer pünktlich So wurde Anfang des Jahres im Süd- Haus- und Grundbesitz, vorwiegend in und cash“, lobt Rawlinson. staat Mississippi ein 73jähriger unbe- exquisiter Lage wieChelsea, Mayfair und Er hat mit russischen Partnern in lehrbarer Rassist für den Mord an ei- Kensington, investierten Russen in den Moskau eine Firma gegründet, um nem Bürgerrechtler vor 31 Jahren ver- vergangenen beiden Jahren mindestens noch mehr Oberschicht-Kinder zur Er- urteilt. Dort soll auch ein einstiger Ku- 125 Millionen Mark. ziehung ins Vereinigte Königreich zu Klux-Klan-Chef zum drittenmal vor Verblüfft registriert Immobilienhänd- locken: „Das ist ein gewaltiger Markt, Gericht gestellt werden, dem der Mord ler James Wilson, wie souverän die wo noch viel zu holen ist.“ Y an einem Schwarzen zur Last gelegt Klientel aus der ehemaligen Staatswirt- wird (und der mutmaßlich die Verant- schaft auftritt: „Sie wollen immer nur das wortung für mehrere andere tödliche Beste und Teuerste.“ Die Käufer seien Rassismus Anschläge trägt). Zweimal konnte er häufig „junge Unternehmer“, die „offen- einer Verurteilung bisher entge- sichtlich ihr Geld sehr schnell“ gemacht hen. haben. Aber auch Tote gab es schon – Angehörige der tschetschenischen Ma- Bein im Grab fia, die in ihrem Londoner Appartement von Killern erschossen wurden. Mit zwei Freunden sollte James Ca- Noel De Keyzer, Direktor der Makler- meron gelyncht werden. Jetzt will firma Savills, hat aufgeschnappt, daß ei- nige seiner Kunden wohl im Öl- oder er für die US-Opfer von Selbstjustiz Holzgeschäft tätig sind. Genaueres will ein Museum einrichten. er nicht wissen: „Die Leute sind jeden- falls sehr verschlossen.“ as Foto sieht aus, als hätten sich Fi- Und verschwenderisch obendrein: In guren des amerikanischen Idyllen- vornehmen Einkaufsstraßen wie der DMalers Norman Rockwell in eine New Bond Street zählen die alerten Ge- höllische Szenerie verirrt. Unter den schäftemacher aus der früheren UdSSR blutigen Leichen zweier junger Schwar- zum hochgeschätzten Publikum. „Vor al- zer, die an den Ästen eines Baumes auf- lem auf Diamanten“ hätten es diese geknüpft sind, haben sich – am Abend Gentlemen abgesehen, hat John Lloyd- des 7. August 1930 – rechtschaffene Morgan, Manager des Juweliers Tiffany, Bürger des Städtchens Marion im beobachtet. Bundesstaat Indiana versammelt, über- „Befremdlich“ wirkt auf ihn allerdings zeugt davon, Recht geschaffen zu ha- immer wieder, wenn die russischen Besu- ben. cher „selber Schmuck von schlechter Der Schauplatz des grausigen Gesche- Qualität tragen und dann bei uns ein hens galt in den zwanziger Jahren als Prachtstück von der Größe eines Tau- Hochburg des Ku-Klux-Klan. Mitglied- beneis erwerben“. Auch Luxuswagen gehören zu den be- * Mit einem Stück der zwei Stricke, die bei den Überlebender Cameron* gehrten Gütern der neuen Konsum-No- Morden in Marion benutzt wurden. Rettende Frauenstimme

168 DER SPIEGEL 13/1994 AUSLAND

In Florida muß das Staatsparlament drei jungen Schwarzen festgenommen. dessen zerfetzte Kleidung Andenkenjä- jetzt entscheiden, ob Schadensersatz an Am Nachmittag des nächsten Tages ger längst aufgeteilt hatten. Jemand überlebende schwarze Bürger des Orts starb das Überfallopfer an seinen hüllte den leblosen Körper in die weiße Rosewood gezahlt werden soll. Aus Ra- Schußverletzungen. Polizeibeamte heiz- Robe eines Klan-Mitglieds, dann häng- che für die angebliche Belästigung einer ten die Stimmung an und hißten das ten sie den Toten ebenfalls an den weißen Frau war der kleine Flecken blutverschmierte Hemd des Getöteten Baum. 1923 von weißen Rassisten niederge- an der Fahnenstange vor ihrem Haupt- Wie seine Freunde zuvor wurde jetzt brannt worden. quartier. Der Bürgermeister, der längst Cameron aus dem Gefängnis gezerrt, Die alten Lynchmorde von Marion ahnte, was nun geschehen sollte, verließ geschlagen, angespuckt. Er hörte die werden dagegen nicht neu aufgerollt. die Stadt. Vor dem Gefängnis versam- Rufe „Nigger, Nigger, Nigger“, als hätte Daß dieser Fall noch einmal Aktualität melte sich eine empörte Menge. sich der ganze Wortschatz der Umste- gewinnt, liegt an einem Schicksal, das Kurz nach acht Uhr flogen die ersten henden auf dieses eine Haßwort redu- bislang nur in der Region von Marion Steine. Einige Rädelsführer versuchten, ziert. Polizisten, die ihn eigentlich be- bekannt war: An jenem Baum auf dem das Gefängnis, in dem sich der Sheriff schützen sollten, machten den Weg zum Platz vor dem Gericht hätten drei Lei- und bewaffnete Polizisten verbarrika- Baum frei. Dann sah der Junge die Lei- chen hängen sollen. Ein dritter Schwar- diert hatten, mit Benzin in Brand zu set- chen von Shipp und Smith über sich. zer, der damals 16jährige James Came- zen. Wenig später brachen sie die Ein- Daß ihm das gleiche Ende erspart ron, ist wohl der einzige lebende US- gangstür aus ihrem Rahmen. blieb, kann Cameron bis heute nicht be- greifen. Er ist überzeugt, ei- ne Frauenstimme über den Lärm hinweg gehört zu ha- ben: „Bringt den Jungen zu- rück.“ Dann habe sich eine Gasse geöffnet, seine Ver- folger hätten fast betreten zu Boden geschaut, er selbst sei ins Gefängnis zu- rückgestolpert. Seither hat Cameron ver- sucht, den Haß zu begrei- fen, dem er beinahe erlegen wäre. Ein Leben lang hat er Tausende von Büchern über den Rassismus zusam- mengetragen, hat Doku- mente und Bilder von Lynchmorden und anderen Verbrechen aufgestöbert und alles sorgsam in Kisten verpackt. Ein Zeuge der Morde von Marion hat ihm sogar ein Stück eines der damals benutzten Stricke geschickt. Die Horrorstücke möchte Cameron, heute 80 und längst in Ruhestand, in ei- nem „Museum des schwar- zen Holocaust“ ausstellen. Lynchmorde in Marion, Indiana (1930): Abendspaziergang zum Gerichtsplatz Die Stadtverwaltung seines Wohnorts Milwaukee gab Bürger, der berichten kann, wie er den Thomas Shipp war der erste. Als er ihm dafür ein leerstehendes ehemaliges Klauen eines Lynchmobs entkam*: aus dem Gefängnis gezerrt wurde – ta- Fitneßcenter, für alles weitere muß er Seine Geschichte begann mit einem tenlos hatte der Sheriff zugesehen –, selbst sorgen. Verbrechen. Von den Freunden Tommy schlug ihn ein johlender Mob mit Stök- Selbst wenn er bereits „mit einem Shipp, damals 18, und Abe Smith, da- ken, Steinen und Fäusten zusammen. Bein im Grab“ stehe und das andere ei- mals 19, hatte sich Cameron zu einem Jemand legte dem Halbtoten einen gentlich „auch schon drin sein müßte“, Raubüberfall überreden lassen. Doch Strick um den Hals und zerrte ihn zum arbeitet Cameron unermüdlich an der als er dem weißen Opfer gegenüber- Zellenfenster, hinter dem sein Freund Verwirklichung seines Plans. Es stört stand, erkannte Cameron ihn als einen Abe Smith zitterte. Am vergitterten ihn zwar nicht, daß in Washington ein Kunden, dem er schon häufig die Schu- Fenster wurde Shipp erwürgt. Museum für den Holocaust der europäi- he geputzt hatte. Dann holte sich die Meute Smith. Un- schen Juden eingerichtet wurde; daß es Cameron floh – eine Augenzeugin mittelbar vor dem Eingang wurde er mit keines für die Leidensgeschichte der wird das später bestätigen –, doch im einem Brecheisen, das ihm in die Brust US-Schwarzen gibt, sei allerdings unge- Wegrennen hörte er Schüsse fallen. drang, umgebracht. Grölend zerrten ihn recht. Noch in der gleichen Nacht wurden die aufgebrachte Männer zum Platz vor Cameron zweifelt nicht daran, daß er dem Gericht und knüpften ihn dort an die Eröffnung seines Museums noch er- einem Baum auf. leben wird. „Es gibt ja Engel“, sagt er. * James Cameron: „A Time of Terror“. Black Clas- sic Press, Baltimore; 204 Seiten; 14,95 US-Dol- Dann kehrte der immer noch blutdur- Und meint wohl: Die haben ihm einmal lar. stige Mob zur Leiche von Shipp zurück, geholfen, die werden es wieder tun. Y

DER SPIEGEL 13/1994 169 Werbeseite

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Italien „Mafia-Strukturen intakt“ Interview mit dem Soziologen Pino Arlacchi über das Netzwerk der Unterwelt und den Wahlkampf

SPIEGEL: Professor Arlacchi, wie steht es hat zum Beispiel immer betont, daß nur um den Kampf gegen die Mafia inItalien? Cosa Nostra zentral gelenkt sei, nämlich Arlacchi: Ich fürchte, es steht schlecht. von der „Kommission“ oder der „Kup- SPIEGEL: Aber es hat doch so viele aufse- pel“. Von „pentiti“ der Camorra, also henerregende Verhaftungen gegeben. den Kronzeugen in Gerichtsverfahren, Cosa-Nostra-Boß Toto Riina und führen- wissen wir aber jetzt, daß auch diese eine de Männer von ’Ndrangheta und Camor- Form von Koordination zwischen den ra sitzen im Gefängnis. Clans aufgebaut hat, die der vertikalen Arlacchi: Gerade dashat zueiner völligen Struktur von Cosa Nostra sehr ähnlich Fehlbewertung der Situation geführt, zur ist. In Kalabrien hat es schon vor 40 bis Überschätzung der Erfolge. Auch bei der 50 Jahren Gipfeltreffen der ’Ndranghe- italienischen Linken glauben viele, daß ta-Clans gegeben. mit dem Angriff auf die Zentralen SPIEGEL: Welche von den drei Organisa- der Mafia-Macht schon das meiste getan tionen ist denn Ihrer Meinung nach jetzt wäre. am gefährlichsten? SPIEGEL: Aber ein wichtiges Stück des Arlacchi: Sowohl die Camorra als auch Weges wurde zurückgelegt. die ’Ndrangheta sind furchtbar unter- Arlacchi: Zweifellos. Das Entscheidende schätzt worden. In Kalabrien ist vor al- ist indes, daß die Strukturen der Mafia in- lem die Verbindung zu anderen krimi- takt geblieben sind. Die Bosse sitzen in nellen Kräften im Untergrund besonders Hochsicherheitsgefängnissen ein. Aber Pino Arlacchi eng. 30 Prozent aller italienischen Mit- die Organisationen laufen weiter. Es hat ist einer der bedeutendsten Mafia- glieder von Freimaurerlogen leben in keine Kriege um die Nachfolge der gro- Forscher Italiens. Der Soziologe, 43, dieser kleinen Region von zwei Millio- ßen Bosse gegeben. Daraus folgt, daß sie stammt aus Kalabrien und hat seine nen Einwohnern. die Fäden noch in der Hand haben. Werke, darunter „Die unternehmeri- SPIEGEL: Und vielen der unzähligen ita- SPIEGEL: Welche Rolle hat die Mafia im sche Mafia“ (1983), vornehmlich aus lienischen Logen hat die Justiz inzwi- Wahlkampf gespielt? Recherchen über die ’Ndrangheta, schen nachgewiesen, daß sie als Binde- Arlacchi: Programmatisch hat sie eine die kalabrische Mafia, entwickelt. Er glied zwischen der Mafia und der bürger- viel zu geringe Rolle gespielt. Das gilt ist wissenschaftlicher Berater der DIA lichen Gesellschaft dienen. auch für das Lager der Progressiven, für (Direzione investigativa antimafia), Arlacchi: Es wird immer offenkundiger, das ich selber in Kalabrien kandidiert ha- der vor zweieinhalb Jahren gegründe- daß die Mafia nur ein Teil eines komple- be. Es ist viel zuwenig darüber gespro- ten zentralen Fahndungsbehörde im xen, illegalen Systems im Untergrund ist. chen worden, wie der Kampf gegen die Kampf gegen die Mafia. Bei den Par- Dazu gehören Gruppierungen der extre- Mafia weiterlaufen soll. lamentswahlen an diesem Wochen- men Rechten, subversive Kräfte bei den ende führte Arlacchi die Liste der PDS Geheimdiensten oder auch das Netz- (Partei der Linksdemokraten), der frü- werk der internationalen Finanzkrimina- heren Kommunisten, in Kalabrien an. lität. SPIEGEL: Sind so auch die schweren Bombenanschläge des vergangenen Jah- SPIEGEL: Hat die Mafia nicht auch res in Italien zu erklären? selbst im Wahlkampf mitgemischt? Arlacchi: Sie wurden damals vom Innen- Arlacchi: Ich kann nur von meinen Be- ministerium etwas vorschnell zum Werk obachtungen in Kalabrien sprechen. Da der sizilianischen Mafia erklärt. Diese wurde sehr deutlich, daß das neue These ist nicht mehr haltbar. Eindeutig Mehrheitswahlrecht einige sehr suspek- wissen wir inzwischen, daß es bei diesen te Persönlichkeiten auf den Plan gerufen Attentaten eine Zusammenarbeit ver- hat, die darauf bauen konnten, in ihrem schiedener krimineller Gruppen gab. Wahlkreis die Mehrheit zu gewinnen. Insbesondere waren rechtsextreme Ter- SPIEGEL: Im normalen Sprachgebrauch roristen beteiligt, aber auch Mitglieder wird das Wort Mafia sachlich ungenau von illegalen Geheimlogen. als Sammelbegriff für organisiertes Ver- SPIEGEL: Ein Sieg über die Mafia ist also brechen verwendet. Sollte man nicht die nicht in Sicht? Cosa Nostra in Sizilien, die ’Ndrangheta Arlacchi: Vorläufig sicherlich nicht. Cosa in Kalabrien oder die Camorra um Nea- Nostra ist von den Verhaftungen der bei- pel genau auseinanderhalten? den vergangenen Jahre schwer getroffen Arlacchi: Die Unterscheidungen werden worden, die anderen Gruppierungen immer schwieriger, weil sich die Er- nicht so. Ich schätze, es wird noch fünf Cosa-Nostra-Boß Riina vor Gericht scheinungsformen dieser kriminellen bis sechs Jahre dauern, bevor wir die Sa- „Nur Teil eines komplexen Systems“ Organisationen ständig verändern. Man che einigermaßen kontrollieren. Y

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Fußball „DAS WIR-GEFÜHL ZERSTÖRT“ Es sollte die Saison der großen Spielerpersönlichkeiten werden. Bernd Schuster und Karlheinz Riedle kehrten heim, Anthony Yeboah und Andreas Herzog schienen den Erfolg zu garantieren. Doch die vermeintlichen Heilsbringer haben die Klubs mitunter in fatale Abhängigkeiten gebracht. Oft zerstört Neid das Betriebsklima.

leich zu Saisonbeginn demonstrier- te Michael Schulz die veränderten GUmgangsformen beim BV Borus- sia. Als der neue Spielmacher Matthias Sammer den Kollegen Anweisungen ge- ben wollte, verweigerte Abwehrspieler Schulz im Spiel gegen Schalke 04 den Gehorsam: „Lauf du doch, du Sack, du bist doch der Millionär.“ Spieler wie er, so dachte Schulz, hat- ten aus Borussia Dortmund schließlich einen europäischen Spitzenklub ge- macht. Neuzugänge wie die aus Italien zurückgekauften Nationalspieler Sam- mer und Karlheinz Riedle aber ver- drängten nun die alten Kameraden. „Wenn meine Freunde aus nichtigem Anlaß auf der Tribüne sitzen oder ver- kauft werden“, sagt Schulz, „beeinflußt das mein Spiel.“ Seit Borussia so stark besetzt ist wie nie zuvor, spielt die Mannschaft schwach wie lange nicht.

Dortmunder Profi Riedle: „Richtig verhungern lassen“

Ausgerechnet die Verstärkungen er- Das hatten die Auguren so nicht vor- wiesen sich als Krisenherd. Ähnlich wie gesehen. Freudig erregt wie seit Jahren das Dortmunder Management mußten nicht war die Liga in die neue Saison ge- auch die Klubverantwortlichen in startet. Die Branche berauschte sich am Frankfurt, bei Bayer Leverkusen oder Boom, den die neuen Starkicker vieler- Werder Bremen begreifen, daß die Inte- orts ausgelöst hatten. Die, so kalkulierte gration von Topstars dem deutschen etwa der Leverkusener Manager Reiner Fußball mehr Probleme als Glücksmo- Calmund, garantierten „Sahnehäub- mente beschert. chen“ wie Meistertitel oder Europapo- Im Vertrauen auf vermeintliche kale. Heilsbringer wie Anthony Yeboah, Bislang garantieren sie jedem Verein Bernd Schuster oder Andreas Herzog seine Krise. In Dortmund bescherte der haben sich die Vereine in mitunter fata- Aufstand der selbsternannten Malocher le Abhängigkeiten begeben. Trifft der um Schulz gegen die Großverdiener Halbgott aus Ghana, siegt die Eintracht; Sammer und Riedle der Borussia ein kränkelt der blonde Engel, kassiert Bay- „Kack-Jahr“ (Schulz). Eine schwere er 1:9 Punkte in Serie; und je nach Verletzung Yeboahs leitete in Frankfurt Formkurve des Alpen-Maradona pen- die Baisse ein. Vor allem Regisseur Leverkusener Profi Schuster delt der SV Werder zwischen Mittelmaß Uwe Bein vermißte den antrittsstarken „Bernd ist nicht zum Grätschen hier“ und Meisterschaft. Partner. „Wenn Tony dabei ist, spielt

DER SPIEGEL 13/1994 175 Werbeseite

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Uwe Zauberpässe“, konstatiert Trainer Klaus Toppmöller, „wenn Tony fehlt, spielt Uwe Fehlpässe.“ So legt der Ausfall des Häuptlings mit- unter die gesamte Sippe lahm. Während der Stürmer aus dem Stamm der Ashanti sein Knie von einem Medizinmann in der Heimat mit wundersamen Salben kurie- ren ließ, fiel Frankfurt nach drei Heim- niederlagen von der Tabellenspitze. Weil sich alle der hochgelobten Titelfa- voriten einen Durchhänger leisteten, fand sich kürzlich sogar der harmlose Aufsteiger MSV Duisburg auf Platz eins wieder – mit negativem Torverhältnis. Und in der vorigen Woche staunte Bay- ern-Trainer Franz Beckenbauer, daß er mit 19 Minuspunkten ganz oben stand: „Das reichte früher mal gerade für einen langweiligen Platz im Mittelfeld.“ Ausgerechnet im Zeitalter der Super- stars scheint Durchschnitt das Maß der Liga zu sein. Wann nützen Heroen, wann schaden sie? Müssen die Schusters dieser Fußballwelt nur „alle, absolut alle Frei- heiten“ bekommen, wie Bayer-Trainer Dragoslav Stepanovic glaubt? Oder hat sich ein Herzog „einzuordnen und da zu spielen, wo ich ihn hinstelle“, wie Bre- mens Otto Rehhagel meint? Jupp Heynckes, Trainer bei Atletico Bilbao, will mit neuen Spielern „perma- nent die Strukturen durcheinanderbrin- gen“, um Druck zu erzeugen. Der Karls- ruher Coach Winfried Schäfer hingegen möchte „unbedingt die Strukturen erhal- ten: Wenn ich einen neuen Spieler kaufe, muß ich einen alten abgeben“. Patentre- zepte, hat Frankfurts Manager Bernd Hölzenbein festgestellt, gebe es nicht: „Wüßte ichsie, würde ich zu meinem An- lageberater gehen.“ Um dem schwierigen Wesen Superstar zu begegnen, empfiehlt die Kölner Sport- hochschule ihren Nachwuchstrainern ba- nal, „das Gespräch, das Miteinander“ zu suchen. Doch wenn die Idole die Ge- sprächstherapie ablehnen und „der Neid erst einmal ausgebrochen ist“, sagt Do- zent Erich Rutemöller, bis August 1991 selbst Bundesligatrainer in Köln, müsse der Star weiterverkauft werden. Auf diese Weise erwägt auch Andreas Herzog sich seines Kummers zu entledi- gen. Ein Jahr lang diente er der Bremer Meistermannschaft als Lenker, dann ver- mißte Trainer Rehhagel beim ebenso leichtfüßigen wie leichtlebigen Österrei- cher deutsche Erdenschwere. „Andreas ist zuviel Mozart und zuwe- nig Wagner“, so der Aphorismenfreund, der Herzog zur Kärrnerarbeit in die vor- derste Sturmreihe schickte. Schon lieb- äugelt der empfindsame Wiener mit dem FC Barcelona; Werder, das Herzog 1992 für drei Millionen Mark kaufte, wittert ein Geschäft. Doch manchmal taugt der Star nicht malmehr alsSpekulationsobjekt. Riedle, der Dortmund fast zehn Millionen Mark

178 DER SPIEGEL 13/1994 Ablöse kostete, trifft selten das Tor, ist allzu häufig verletzt und wäre nur mit viel Verlust zu veräußern. Gemeinhin versuchen die Fußballehrer ihren Profis die Verpflichtung eines Stars damit schmackhaft zu machen, daß mit der Hilfe des Neuen mehr Spiele gewonnen und damit mehr Siegprämien kassiert werden können. Doch weil Riedle in 17 Bundesliga- Einsätzen nur 3 Tore schoß und auch deshalb weniger Prämien als zuvor aus- geschüttet wurden, war der Stürmer den Kollegen nicht mehr vermittelbar. Ge- meinsam mit Flemming Povlsen, durch Riedle um seinen Lieblingsposten ge- bracht, startete Schulz das Mobbing ge- gen den Neuen. Obwohl er keinen Pfen- nig mehr verdiene als vor einem Jahr, zürnte Schulz, müsse er sich „auf einmal als Millionario“ beschimpfen lassen. Mehr als jedes Büro seien Fußball- teams von Eifersucht und Mißgunst durchsetzt, behauptet der Karlsruher Schäfer: Die Dortmunder Profis „den- ken, daß all das Geld, das sie eingespielt haben, nun einer bekommt, der es eben nicht eingespielt hat“. Die haben, beob- „Fußballteams sind von Eifersucht und Mißgunst durchsetzt“ achtete Hölzenbein, „den Riedle manch- mal richtig verhungern lassen“. In Leverkusen erhob Stepanovic den Konflikt mit dem Team zum Programm – mit dem zweifelhaften Erfolg, daß er ebenso viele Punkte erzielte wie seine Vorgänger ohne Schuster. Die um ihren Status besorgten Stars Franco Foda und Ulf Kirsten bekamen gleich über die ver- änderte Hackordnung Bescheid: „Bernd Schuster ist nicht zum Grätschen hier.“ Während der Spanien-Rückkehrer Privilegien genießt – persönliche Leib- wächter und verspätetes Erscheinen zum Training inklusive –, nahm Stepanovic die übrigen Spieler um so härter ran: Ab- wehrspieler Martin Kree wurde gezwun- gen, seine Bochumer Wohnung aufzuge- ben, der Brasilianer Paulo Sergio mußte 116 Mark für ein Trikot bezahlen, das er beim Torjubel ins Publikum geworfen hatte. Die Mannschaft unterhalb Schu- sters verstehe nur die Sprache des Knüp- pels, meint Manager Calmund. Doch Schuster, unterm Bayerkreuz wie ein Messias verehrt, spielt zu spora- disch gottgleich, um als Solist mit zehn Begleitern die Deutsche Meisterschaft zu erringen. „Ein Star allein“, urteilt Bek- kenbauer, „ist leicht auszuschalten.“ Dennoch klammert sich auch Ein- tracht Frankfurt nahezu hysterisch an ih- re Lichtgestalt. In den Köpfen der Profis, sagt Hölzenbein, „ist es so, daß sie sich mit dem Tony einfach mehr zutrau-

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Bewunderer eingegangen. Ist die Liga auf dem Weg zu den Verhältnissen des US- Sports, wo Basketballer wie der 22jährige Shaquille O’ Neal 100 Millionen-Dollar- Verträge unterschreiben, ihre Trainer entlassen kön- nenund, statt zumTraining, lieber zu Dreharbeiten für Kinofilme gehen? Immer größer, immer schillernder, immer teurer werden auch die Fußballer. Doch immer seltener scheint der Star zugleich der gewünschte Siegertyp zu sein, der „wahre Führung übernimmt und allen Unwettern entgegensteht“ (Heynckes). Die Erwar- tung, meint Bremens Mana- ger Willi Lemke, „daß ein 10-Millionen-Spieler auto- matisch ein 20-Tore-Stür- mer ist“, könne kaum noch ein Profi erfüllen. Bei Wer- der will man sich deshalb wieder auf die bewährte Li- nie konzentrieren, Zweit- liga-Talente wie Bernd Frankfurter Torjäger Yeboah Hobsch oder Mario Basler Die gesamte Sippe lahmgelegt zu Spitzenspielern zu for- men. en“. Yeboah, der in dieser Woche für Auch der Karlsruher SC plant, lieber Ghana beim Afrika-Cup in Tunesien an- ins Stadion zu investieren als überkandi- treten muß, wird zu den Bundesligaspie- delte Kicker zuerwerben. „DasSchlimm- len eigens eingeflogen, obwohl selbst die ste ist“, warnt Coach Schäfer, „wenn ei- Frankfurter Funktionäre an der Belast- ner das Wir-Gefühl zerstört.“ Umsichti- barkeit ihres gerade gesundeten Torjä- ge Trainer wie der Hamburger Benno gers zweifeln. Toppmöller: „Der Tony ist Möhlmann erkennen rechtzeitig, wann sehr sensibel.“ die Stimmung kippt. So zog er seinen von Soheizen auch die Vereine dieHelden- der Presse zum Wundermann hochstili- verehrung weiter an, als wären sie mit sierten Neueinkauf Valdas Ivanauskas Bild und Kicker eine große Koalition der flugs aus dem Medienverkehr, bevor der Rummel dem Litauer zu Kopf steigen und dem HSV-Team übel aufstoßen konnte. Ist die psychische Gemengelage bereits ausdem Lot, gilt es, das rechte Krisenma- nagement zu finden. In Dortmund ris- kierte Trainer Ottmar Hitzfeld, von der Entlassung bedroht, einen weiteren Kursverfall Riedles und setzte den Welt- meister auf die Bank. Ausgerechnet ei- nem 17jährigen, Lars Ricken, verlieh der Trainer ostentativ Prokura: „Der istmein Chef im Mittelfeld.“ Für den Pennäler, der morgens die Schulbank drückt, will Hitzfeld sogar das Training auf den Nach- mittag verlegen. Ähnlich reagierte Toppmöller auf das Uefa-Cup-Aus gegen Salzburg: Beim Bundesligaspiel in Dresden schickte er den 19jährigen Amateur Matthias Bek- ker aufs Feld – Frankfurt gewann 4:0. Zwar hat auch beim FC Bayern Mün- chen das Auftrumpfen von Nachwuchs- Bremer Regisseur Herzog leuten wie Christian Nerlinger, 21, und „Zuviel Mozart, zuwenig Wagner“ Dieter Frey, 21, die Hierarchie durchein-

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Werbeseite SPORT andergewirbelt. Doch wichtiger für den förderung von Fenstern und Verein war, den Star Lothar Matthäus Versicherungen, Zeitungen miß- wieder auf Kurs zu bringen. brauchen sie als Lolitas in aufrei- Monatelang hatte der mitteilsame An- zenden Farbbildern. treiber den Klub mit eitler Selbstdarstel- Wie im internationalen Kin- lung und verbalen Ausfällen genervt. derhandel gilt die Regel: je jün- Dann setzte Vizepräsident Beckenbauer ger, desto besser und je hüb- die innerbetriebliche Rangliste außer scher, desto teurer. Für die Wer- Kraft und Matthäus einen noch bedeu- bung ist die Summe aus „Erfolg, tenderen Star als Trainer vor die Nase: Jugend und Schönheit“, urteilt Beckenbauer. Y der Münchner Marketingprofes- sor Arnold Hermanns, „fast un- schlagbar“. Werbung Während junge Männer von den Vermarktern oft als unreif und konturlos abgelehnt werden, haben alternde Stars den Makel, Aphrodite satt und abgebrüht zu wirken. Die kessen Starlets hingegen, frisch, lustig und unverbraucht, für alle sind für viele Kampagnen die Idealbesetzung: Sex sells. Franziska van Almsicks Beispiel Die Vorreiterin der neuen macht Schule: Sportvermarkter Welle, die Schwimm-Weltre- kordlerin Franziska van Alm- entdecken die jungen Athletinnen sick, bringt es inzwischen auf – naiv und lasziv. sechs einträgliche Werbeverträ- ge, vom Schokoriegel bis zum Fitneßstudio. Die permanente s war eine schwierige Mission für Präsenz in den Medien nutzt ihr den Präsidenten der Ukraine. Weil Manager Werner Köster wieder- ERußland seinem Land gerade we- um, den Vertrieb eines eigens gen ausstehender Zahlungen den Gas- produzierten Fitneßvideos und hahn zugedreht hatte, sollten die USA den Verkauf von Lizenzrechten ihm das Geld zum Überleben pumpen. Gymnastin Brzeska als Model für Baseballkappen und T-Shirts Leonid Krawtschuk nahm deshalb das „Sieht genial aus“ anzukurbeln. aparteste Aushängeschild der jungen Kaum hat die 15jährige Berli- Republik zum Staatsbesuch nach Wa- nerin ihre Mitarbeit als Kolumni- shington in Schlepp: Oxana Bajul. stin einer Boulevardzeitung be- In nahezu jedem amerikanischen endet, verschafft ihr ein Privat- Wohnzimmer hatten die Weinkrämpfe sender eine eigene Fernsehshow. der Eiskunstläuferin nach ihrem Olym- In diesem Jahr wird die sechs- piasieg in Lillehammer Mitgefühl ent- fache Europameisterin fast drei facht. Bill Clinton neben der niedlichen Millionen Mark verdienen. 17jährigen im Weißen Haus – das Bild Franziskas Kurs steigt selbst in mochte auch dem US-Präsidenten gefal- Zeiten der Rezession derart, daß len, gab es ihm doch Gelegenheit, sein ihr Berater schon mal seine angeschlagenes Ansehen zumindest bei Grundsätze umstößt. „Es wirkt Amerikas eiskunstlaufverrückten Haus- nicht überzeugend“, befand Kö- frauen aufzupolieren. ster vor einem Jahr, „wenn je- Mit ähnlicher Absicht verpflichtete in mand fürAutos wirbt, der gerade derselben Woche ein Stuttgarter Unter- erst eine Mofa geschenkt bekom- nehmer eine Sportgymnastin aus dem men hat.“ Wenig später unter- schwäbischen Schmiden. Weil dem Chef zeichnete van Almsick einen der Immocon AG das Image des „Bau- Vertrag mit Opel. löwen“ und „Immobilien-Hais“ schon Strenge Erfolgsorientierung länger mißfiel, heuerte Georgios Elef- und kindliche Naivität paaren theriadis die 15jährige Magdalena sich bei den jungen Athletinnen Brzeska an. Damit etwas Glanz ihrer zum schlagenden Verkaufsargu- „großen Ausstrahlung“ auf ihn abfalle, ment. Die Siege der Mädchen, unterstützt er die deutsche Meisterin mit erklärt der Frankfurter Soziolo- einer sechsstelligen Summe. ge Henning Haase, suggerieren Die Teenies haben Konjunktur. Seit dem Publikum: „Du kannst es Politiker, Firmenchefs und Medien die schaffen, auch wenn du noch ein Nähe zum sportiven Nachwuchs suchen, kleines Mädchen bist.“ Die sind jugendlicher Charme und überre- „Unschuld“, die den nett lä- gionale Bekanntheit kostbare Güter. chelnden Sportlerinnen unter- Helmut Kohl setzt Sportlerinnen als fe- stellt wird, potenziere den Wer- schen Farbklecks bei seinen Festen ein, Schwimmerin van Almsick bei Werbefotos bewert. Schließlich stehe sie im die Industrie benutzt sie zur Verkaufs- „Pädophiler Wunderartikel“ „krassen Gegensatz zu den riesi-

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Werbeseite SPORT gen Durchstechereien“ (Haase) in ande- dern die Models die Stars sind, produ- ren Teilen der Gesellschaft. zieren die Vermarkter auch im Sport Zuweilen gleichen körperliche Reize Kunstgestalten, die der realen Wett- auch sportliche Defizite aus. Zwar be- kampfwelt völlig entwachsen. Sport sei, legte Magdalena Brzeska bei der letzten sagt Professor Haase, zu einem „Vehi- Weltmeisterschaft in der rhythmischen kel der Heldenverehrung“ geworden. Sportgymnastik nur den zwölften Platz Wie in der antiken Götterwelt würden im Vierkampf, doch habe die Blondine die Idole heute „Wünsche, Wollen und den Vorzug, schwärmt ihr Manager Ideen der Menschen versinnlichen“. Klaus Kärcher, „genial auszusehen“. Dabei strahlen die jungen Sportlerinnen Modefotos mit dem langbeinigen wie einst Aphrodite auch „erotische Po- Teenager waren bei den Medien „der- tenzialität“ aus – jene Vorstellung, die maßen reingeknallt“ (Kärcher), daß im Kopf zur Wirklichkeit werden kann. Sponsoren nicht lange ausblieben. Wenn Magdalena Brzeska für Werbe- 180 000 Mark Grundgehalt im Jahr zahlt aufnahmen schon mal in die Rolle des allein der Immobilienhändler Elefthe- Vamps schlüpft, wird das eben noch un- bedarfte Mädchen zum Lustobjekt. Als republikweit Fotos einer Bademoden- kollektion von Franziska van Almsick veröffentlicht wurden, avancierte die Schwimmerin zum „pädophilen Wun- derartikel“ (taz). Dem Bunte-Chefre- dakteur, kommentierte das Zeit-Maga- zin, sei Franzi „auf geradezu libidinöse Weise ans Herz gewachsen“. Diese „sublime Form der Sexualität“, sagt Hochschullehrer Hermanns, sei durchaus geschäftsfördernd. Die Hoff- nung auf gute Erträge muß auch Eis- kunstläuferin Tanja Szewczenko getrie- ben haben, sich für das Bilderblatt Max in lasziven Posen ablichten zu lassen. Grell geschminkt und mit knapper Le- derweste bedeckt, schaut sie verführe- risch in die Kamera. Die 16jährige Olympia-Sechste hatte sich bisher stets beschwert, vom juvenilen Werbekuchen zuwenig abbekommen zu haben. Die Grenze zwischen gewinnbringen- der Vermarktung und dem Mißbrauch kindlicher Stars ist indes fließend. Um den Geschäftsgang mit Franziska van Almsick zu schmieren, nutzte Ex-Jour- nalist Köster den engen Kontakt zu sei- nen alten Bild-Kollegen bis zu jenem Tag, als das Blatt ungefragt einen Lie- besgruß der Schwimmerin zum 92. Ge- burtstag von Heinz Rühmann veröffent- Eiskunstläuferin Szewczenko lichte: „Mit Küßchen von Franzi“. „Sublime Form der Sexualität“ Zum Bruch mit ihrem Verlautba- rungsblatt kam es in der vorletzten Wo- riadis, der in dem bis 1996 laufenden che, als Bild ohne Absprache Doping- Kontrakt zusätzlich leistungsbezogene Vorwürfe der Berliner Göre gegen die Prämien in Aussicht stellt: Sollte Mag- chinesischen Schwimmerinnen („Voller dalena Olympiasiegerin werden, kann Pickel, Kreuze wie Schränke“) verbrei- sie bis zu einer Million Mark kassieren. tete. Fix mußte sich Franzi bei den von Noch wirken die Slogans, die die Ver- ihr angeschwärzten Asiatinnen mit Blu- bindung begründen sollen, sperrig: Sei- mensträußen entschuldigen. ne Firma, so Eleftheriadis, sichere „die Auch Nancy Kerrigan, das Eiskunst- Zukunft der Sportlerin“ ebenso wie laufgirl, das der Attacke einer Konkur- „Immobilien die Zukunft der Men- rentin zum Opfer fiel, hat Mühe, das schen“. Doch schon bald sollen die überbordende Interesse an ihrer Person Kampagnen schriller werden. Mit den zu verkraften. Zwar verdient sie dank größten Plakatwänden, „die es bisher in mehrerer Verträge Millionen Dollar, Deutschland gegeben hat“, will Mana- doch in einer Talkshow brach „Everybo- ger Kärcher auf dem Potsdamer Platz in dy’s darling“ kürzlich unvermittelt in Berlin Magdalena Brzeska zum „Me- Tränen aus. Sie fühle sich eingeengt wie dienereignis“ machen. in „einem Fischglas“, bekannte die Ähnlich wie in der Modebranche, wo Olympia-Zweite offenherzig, das sei nicht mehr die Kostümschneider, son- „einfach kein Leben mehr“. Y

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Krebstherapie unheilbare degenerative Ner- venerkrankung. Der deut- Teilerfolge sche Politiker Baron Gutten- berg erlag ihr 1972, den briti- mit Immunfaktor schen Astrophysiker Stephen Nahezu 300 Patienten haben Hawking fesselt die Krank- der amerikanische Krebsarzt heit seit Jahrzehnten an den Steven A. Rosenberg und Rollstuhl. Französische Kli- seine Mitarbeiter seit 1985 niker hoffen nun ein Medika- mit Interleukin 2, der gen- ment entdeckt zu haben, das technisch erzeugten Nachbil- die Krankheit zwar nicht zu dung eines körpereigenen heilen vermag, aber ihren Abwehrstoffes, behandelt. Verlauf „zu verlangsamen Letzte Woche gaben die scheint“. Die Ärzte behan- Krebsärzte im Journal of the delten 77 Patienten, die an American Medical Associa- Lateralsklerose erkrankt wa- tion eine erste Zwischenbi- „Hubble“-Observatorium (beim Aussetzen aus der Shuttle-Ladebucht) ren, mit dem Antiglutamat lanz: Von 134 Patienten, die Riluzole. Beim Vergleich mit am schwarzen Hautkrebs die Kollisionsspuren von Medizin einer Kontrollgruppe, die („malignes Melanom“) lit- Mikro-Meteoriten stammen nur ein Scheinmedikament ten, kam es bei 9 zu ei- oder ob sie nicht zum gro- Nervenleiden erhalten hatte, zeigte sich, ner kompletten Rückbildung ßen Teil auf pulverisierten daß nach zwölf Monaten in der bereits metastasierten Raumfahrtmüll zurückzufüh- gebremst? der Kontrollgruppe nur 58 Krankheit, bei 14 weiteren ren sind, die Überreste aus- Die Ursache der Krankheit, Prozent der Patienten über- war eine teilweise Rückbil- gebrannter Raketenstufen so heißt es in Lehrbüchern, lebten, in der behandelten dung zu beobachten. Von und ausgedienter Satelliten. „ist unbekannt“, ihr Ausgang Gruppe dagegen 74 Prozent. 149 Nierenkrebspatienten im In einigen Teilen, so die bri- tödlich – manchmal schon Außerdem sei auch der für fortgeschrittenen Stadium tischen Experten, seien die nach Monaten, mitunter das Fortschreiten der Krank- verursachten Schäden bis zu erst nach Jahrzehnten: Die heit typische Muskelschwund achtmal stärker als vorher Amyotrophische Lateralskle- bei den Behandelten weit ge- berechnet. rose (ALS) ist eine bislang ringer gewesen.

Klimaforschung Zeichen des Unheils Ein Vulkanausbruch in der pazifischen In- selgruppe der Neuen Hebriden, der im Krebsarzt Rosenberg Jahre 1453 das Eiland Tongoa von der Hauptinsel Epi abspaltete, hat den Fall wurde bei 10 eine komplette der von den Türken belagerten Stadt Kon- Rückbildung registriert, 20 stantinopel und damit den endgültigen weitere sprachen teilweise Untergang des Byzantinischen Reiches be- auf die Therapie an. Die schleunigt. Das jedenfalls ist die These des Länge der Beobachtungszeit amerikanischen Klimaforschers Kevin lag für die Totalremissionen Pang vom Jet Propulsion Laboratory im zwischen 7 und 91 Monaten. kalifornischen Pasadena. Die Auswirkun- gen des Ausbruchs, der im Meeresboden Raumfahrt zwischen Epi und Tongoa einen Krater von elf Kilometer Durchmesser hinterließ Gefährlicher und eine Explosivkraft von zwei Millionen Hiroschima-Bomben freisetzte, waren Schrott weltweit zu spüren und sind noch immer Die bei der Reparatur nachweisbar – als Schwefelspuren in Bohr- des Satelliten-Observatori- kernen arktischen Eises und in den schma- ums „Hubble“ ausgetausch- len, frostgeschädigten Jahresringen alter ten und zur Erde zurückge- Bäume. Die Staubwolken des Vulkans brachten Teile bargen eine hatten große Teile des Sonnenlichts absor- für die Raumfahrtingenieure biert, in alten Chroniken werden für die „Eroberung von Konstantinopel“ (Stahlstich) unliebsame Überraschung: Jahre 1453 und 1454 überall Mißernten Wie Wissenschaftler der Uni- verzeichnet. Die Verteidiger Konstantino- peln der Hagia Sophia – von den Belager- versity of Kent in Großbri- pels litten im Frühjahr 1453 unter unge- ten wurde dies als schlechtes Omen gedeu- tannien jetzt mitteilten, wie- wöhnlichen Regen- und Hagelstürmen, tet. Doch es war nur der Widerschein eines sen diese Teile weit mehr vier Tage nach einer Mondfinsternis, am durch die Staubpartikel des pazifischen Spuren von Kollisionen mit 26. Mai, hüllte dichter Nebel die Stadt Vulkans hervorgerufenen, besonders in- kleinsten Materieteilchen ein, und als er sich gegen Abend lichtete, tensiven Abendrots. Drei Tage später er- auf, als bislang angenommen überzog ein roter Feuerschein die Kup- oberten die Türken die Stadt. wurde. Unklar ist noch, ob

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Serienreifes Elektroauto Hotzenblitz: Ein keilförmiges Leichtgewicht mit dem Körperbau eines Rennwagens

Automobile TRIUMPH EINES TÜFTLERS Seit kurzem träumt Mercedes vom Swatch-Mobil. Währenddessen hat ein Elektromeister aus dem Schwarzwald schon Tatsachen geschaffen. Das erste deutsche Serienauto mit Elektroantrieb – Reichweite: maximal 200 Kilometer – heißt „Hotzenblitz“ und soll in Thüringen vom Band laufen.

uf die Frage, wo Herr Hayek denn Elektromeister Thomas Albiez, 36. Das Zusätzlich können zwei Sprudelkisten sein Swatch-Mobil ausstelle, raunte Startkapital, 750 000 Mark plus einen in der achtern ausziehbaren Gepäck- AMercedes-Sprecher WolfgangInhe- erheblich höheren Kredit, spendierte Schublade gelagert werden. ster kürzlich auf dem Genfer Autosalon: vor vier Jahren der Schokoladen-Fabri- Angetrieben wird der Winzling von ei- „Was soll er denn ausstellen? Er hat doch kant Alfred Ritter. Inzwischen surren nem abgasfreien Drehstrom-Motor mit nichts.“ Zu sehen gab es von dem „stadt- neun Vorserienmodelle von erstaunli- 12 kW (16,3 PS) – schwachbrüstig, aber gerechten Auto“, das die Mercedes-In- cher Solidität durch den Hotzenwald. kein Kümmerling, wie sich beim Testfah- genieure zusammen mit dem Schweizer Was nun aus dem Projekt wird, ent- ren zeigte. Laut Herstellerangaben spur- Swatch-Mann Hayek realisieren wollen, scheidet das Land Thüringen. Dort will tet der Hotzenblitz in 5,8 Sekunden auf bisher nur zwei Designstudien. Das reale Albiez im ehemaligen Simson-Moped- 60, erreicht bei Voll-Strom auf der Ebene Swatch-Auto soll erst 1997 auf den Markt werk Suhl die Serienproduktion anlau- 120 Stundenkilometer und kann auch mit kommen. fen lassen. Voraussetzung: Die Landes- 300 Kilogramm Zuladung noch an Aber während es die Öko-Propheten väter bürgen für einen Kredit von acht 18prozentigen Steigungen anfahren. vom Untertürkheimer Auto-Olymp mit Millionen Mark. Mit seinen 120 Stundenkilometern der Blechwerdung der großen Worte Es könnte eine gute Investition sein, Spitze triumphiert er auch über die wind- nicht eilig haben, steht ein anderes deut- denn der Hotzenblitz erfüllt mehr als die schnittige Elektro-Zigarre („La Jamais sches Elektromobil bereits kurz vor der entscheidenden Eckdaten des oft zitier- Contente“, Höchsttempo: 105,88 Stun- Serienfertigung: ein kurios anmutender ten Swatch-Lastenhefts: Mit einer Ge- denkilometer), mit der 1899 der Belgier 2+2-Sitzer, eine Kreuzung ausEier-Look samtlänge von nur 2,70 Meter läßt er Camille Jenatzky seine Zeitgenossen und Keilform. Sein Name: Hotzenblitz. sich wie einst die Isetta mit der Front staunen machte, ehe der Siegeszug des Entworfen und gebaut wurde der zum Randstein einparken. Trotz der Verbrennungsmotors begann. Sonderling von einer kleinen Gruppe Kürze finden notfalls vier Insassen Der heiße Ofen aus dem Hotzenwald Schwarzwälder Tüftler um den Ibacher Platz, zwei mehr als im Hayek-Konzept. funktioniert mit relativ unspektakulärer

192 DER SPIEGEL 13/1994 Dort fand sich im Oktober 1992 die etablierte Industrie-Gesellschaft zu ei- nem dreijährigen Dauertestprogramm ein: unter anderem mit E-Versionen des Mercedes 190, des 3er BMW, des VW Golf und des Opel Astra Caravan – ein spannungsgeladenes Stelldichein schwerfällig elektrisierter Standardau- tos. Brodelnde Hochleistungsbatterien, etwa Natrium-Schwefel-Akkus mit 300 Grad Arbeitstemperatur, treiben die Stromkolosse voran. Ende 1995 soll bilanziert werden, was solcher Aufwand bringt. Bis dahin will der schwäbische Elektrotüftler Al- biez, der keine Unterstützung aus Bonn bekommt, das Gewicht des Hot- zenblitz durch den Einsatz eines Alu- Hotzenblitz-Erfinder Albiez: „Wir stehen immer als Hinterwäldler da“ miniumrahmens noch weiter gedrückt haben, auf 650 Kilogramm. Der Einzelkämpfer, der nie eine 227,39 Der neue Saubermann Universität besuchte, sieht eine histori- 204,20 Schadstoffemissionen nach Antriebsart; sche Logik in der Benachteiligung der Angaben in Gramm je Kilometer Hotzen („Wir stehen immer als Hinter- wäldler da“). Sein Namensvetter, der belesene Bauer und Salpetersieder Jo- Quelle: TÜV Rheinland/ VW Golf Benzin Kat (40 kW) Hotzenblitz hann Fridolin Albiez, führte im Hot- VW Golf Diesel (40 kW) zenwald von 1719 bis 1727 die histori- 137,40 VW Golf Elektro (26 kW) schen Salpeteraufstände gegen die 1,25 drückende Herrschaft Österreichs an. Hotzenblitz (12 kW) Der Name des Wagens hat mit solch glorreichen Traditionen nichts zu tun. 0,89 Er bezeichnet vielmehr einen sagen- haften elektrostatischen Zufallstreffer. 63,41 Vom „Hotzenblitz“ sprechen die Bau- 0,58 0,54 ern der Gegend, wenn ein runterge- 0,35 wirtschaftetes, aber hoch versichertes 0,28 0,16 Gehöft überraschend abbrennt. 0,09 Am automobilen Hotzenblitz ent- zündet sich allerdings auch Kritik von seiten der Umweltschützer. Grundsätz- Kohlendioxid Schwefeldioxid Stickoxide lich ist der ökologische Nutzen von Elektroautos strittig. Das Problem des Antriebstechnik. In der Basisversion ist Autohersteller, die sich bisher vorwie- fossilen Energieverbrauchs, so der der Wagen mit klassischen Bleibatterien gend damit begnügten, ihre gewichtigen Vorwurf, werde durch sie nur verla- ausgerüstet, die zehn Kilowattstunden Standardkarossen mit Batterien vollzu- gert, jedenfalls solange die gängigen speichern und je nach Fahrweise 80 bis packen. Solches Treiben bringt zwar die Kraftwerke noch vorwiegend Kohle 100 Kilometer Reichweite garantieren. Technik kaum vorwärts, dafür aber und Öl verbrennen, um Strom zu ge- Für den reinen Stadtverkehr müßte das reichlich Fördermittel aus Bonn. winnen. reichen. Wer größere Strecken elek- 22 Millionen Mark bewilligte vor zwei Hilfreich für die Beurteilung der je- trisch fahren will, kann Nickel-Cadmi- Jahren Forschungsminister Riesenhuber weiligen Umweltbilanzen ist eine Un- um-Batterien (150 Kilometer) oder kurz vor seinem Abgang für den ersten tersuchung des TÜV Rheinland aus Zink-Brom-Batterien (200 Kilometer) Großversuch von Elektrofahrzeugen auf dem Jahr 1990. Darin wurden drei als Sonderausstattung bestellen. der Ostseeinsel Rügen. Versionen des VW Golf verglichen: Erreicht wurden solche Werte durch konsequente Gewichtseinsparung. Statt einer klassischen Karosserie verpaßte das Albiez-Team dem Hotzenblitz einen rennwagenähnlichen Körperbau, dessen tragendes Grundgerüst ein stählerner Gitterrohrrahmen bildet. Die Bodenwanne, die die Batterien beherbergt, besteht aus Aluminium, der Rest der Karosserie aus Kunststoff. So wiegt das gesamte Auto einschließlich der sechs Zentner schweren Batterien nur 700 Kilogramm. In der Leichtigkeit liegt die Kraft – und der Unterschied zu den erfolglosen Elektroexperimenten der etablierten E-Auto „La Jamais Contente“ (1899), Swatch-Studie (1994): „Er hat doch nichts“

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Werbeseite TECHNIK die beiden serienmäßigen Modelle mit Verbrennungsmotoren (Benziner und Diesel) und der Versuchswagen „City- stromer“ mit Elektromotor. Alle drei wurden in einem genormten Prüfzyklus gefahren und dabei auf die umweltbelastenden Abgase Kohlendi- oxid, Schwefeldioxid und Stickoxide hin untersucht. Bei den klassischen Versio- nen erschnüffelten die Techniker die Schadstoffanteile direkt am Auspuff. Der Schadstoffausstoß des E-Modells wurde hochgerechnet – basierend auf den durchschnittlichen Emissionen aller europäischen Kraftwerke (die ja den Auto-Fahrstrom erzeugen müssen). Die Ergebnisse waren teilweise über- raschend. Beim Schwefeldioxid, das im Autoabgas nur in sehr geringer Dosis auftritt, standen die Verbrennungsmo- toren sauberer da. Stickoxide anderer- seits treten an Kraftwerkschloten nur in kleinen Mengen aus. Aufschluß über die Energiebilanz ebenso wie für den Einfluß auf den glo- balen Treibhauseffekt geben die Daten über Kohlendioxid. Und da schnitt der Elektro-Golf eindeutig besser ab als sei- ne abgasfauchenden Rivalen. Nur 137,4 Gramm CO2 entweichen im zugrunde gelegten Durchschnittskraftwerk für den pro Fahrkilometer nötigen Strom. Fast anderthalbmal soviel entströmen dem Diesel, noch mehr dem Benziner (siehe Grafik Seite 193). Noch stärker schlüge der Zeiger zu- gunsten der Elektromobile aus, wenn man statt der E-Golf-Werte den weit ge- ringeren Energiebedarf des Hotzenblitz zugrunde legte. Der schluckt laut Werksangaben nur knapp die Hälfte des Golf-Stroms, würde also im Schadstoff- Vergleich dementsprechend brillant ab- schneiden (rechnerisch mit 63,4 Gramm CO2 pro Kilometer). Allerdings birgt der vom TÜV vorge- legte Vergleich eine Schwachstelle: Die Bilanz der E-Autos wird von zahlrei- chen europäischen Atomkraftwerken positiv beeinflußt, die keine Luftschad- stoffe ausstoßen (dafür aber andere Ent- sorgungsprobleme haben). Interessant wäre, wie wenig Sprit ein Hotzen-Diesel verbrauchen würde. Ohne die schweren Batterien würde er kaum mehr als 500 Kilogramm wiegen. Doch diese Überle- gung bleibt Utopie, solange es im Hot- zenwald nur blitzt. Grundsätzlich zeigt das Albiez-Kon- zept, daß radikaler Leichtbau nicht nur sinnvoll, sondern auch technisch reali- sierbar ist. Scheitern könnte der Wagen allenfalls an der Bezahlbarkeit. Die er- sten Kunden müssen sicherlich Über- zeugungstäter ohne buchhalterische Ra- tio sein: Bei einer Startstückzahl von 1500 Autos pro Jahr soll der Hotzenblitz 35 000 Mark kosten. Wenn sich trotzdem genügend Käufer finden, sind niedrigere Preise und höhe-

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Werbeseite WISSENSCHAFT re Stückzahlen denkbar (Traumziel: soll beim Haferschleim-Essen geklek- mann, Mitarbeiter an der „Deutschen 25 000 Mark bei 10 000 Wagen pro kert haben. Sammlung von Mikroorganismen und Jahr). Das Schicksal des Elektrikers Al- Und nun noch Fußpilz. Doch Hasel- Zellkulturen“ in Braunschweig: „In kei- biez hinge dann vom Verkaufserfolg der wandters Experiment stößt auf starke nem Fall konnte bewiesen werden, daß 300 deutschen Händler ab, die dem Skepsis. Walter Gams, renommierter die Proben nicht erst nach der archäolo- Technik-Reformer noch in diesem Jahr Mikrobiologe von der größten europäi- gischen Bergung verunreinigt wurden.“ den Vertrieb organisieren sollen. schen Pilzsammelstelle im holländischen Was den Kontaminationsverdacht Sein Namens-Vorfahr, der Alt-Revo- Baarn, hält die Pilzstory aus Innsbruck nährt: In Haselwandters Petrischalen luzzer Johann Fridolin Albiez, hatte mit für einen „Scherz“. Daß Mikroorganis- keimten zwei Sporenpilze und ein Bak- seinen umstürzlerischen Ambitionen zu men unbeschadet Jahrtausende überste- terium, die massenhaft in der Natur ver- Lebzeiten wenig Fortüne. 1727 wurde er hen, sei „extrem unwahrscheinlich“. breitet sind. Gefunden wurden verhaftet und starb im Gefängnis zu Pilze lassen sich tieffrieren, aber 5300 i Absidia corymbifera (volkstümlich: Freiburg. Die Salpeterer, deren Anfüh- Jahre lang? Schon unter kontrollierten Köpfchenschimmel), die sich auf rer er gewesen war, wurden 18 Jahre Pflanzen, aber auch im später durch österreichische Truppen Uterus von Schafen niedergeschlagen. Y wohl fühlt; i Chaetomium globosum, das auf zellulosehalti- Biologie gem Substrat aller Art siedelt und als „gefürch- teter Bücherschädling“ (Hoffmann) gilt. In Bi- Gräßlicher bliotheken schwirrt die- ser Keim millionenfach umher. Werden die Bü- Verdacht cher feucht, überzieht Chaetomium die Seiten Litt Ötzi an Fußpilz? Ein Forscher mit graugrünen Plak- hat Mikroorganismen aus ken; i das Stäbchenbakterium dem Schuh der Eismumie zu Streptomyces violaceco- neuem Leben erweckt. ruber, das sich fast überall zu Hause fühlt. Es steckt in der Erde, m 2. Oktober 1991 wurde dem siedelt auf Viehfutter Innsbrucker Mikrobiologen Kurt und Komposthaufen, AHaselwandter ein Büschel Gras findet sich aber auch auf übergeben. Das Material hatte dem un- Schneeflächen. glücklichen Gletscherläufer Ötzi vor Der Pilz-Experimenta- 5300 Jahren als Schuhpolster gedient. tor Haselwandter hält eine Aufgeregt nahm der Forscher das nachträgliche Verschmut- Heuhäuflein in Empfang und startete zung der Heusohlen ein Experiment, das alsbald einen Juras- für ausgeschlossen. „Die sic-Park-artigen Ausgang nahm. Auf Grasbüschel wurden auf Nährböden gelegt, sprossen aus der uri- direktem Wege in einen gen Bio-Sohle lebende Sporenpilze. Autopsieraum verbracht Kaum waren die Kleinstlebewesen und unter sterilen Be- ausgekeimt und ihre Arten taxiert, griff dingungen zwischengela- der Professor zur Schreibmaschine, um Gletscherleiche Ötzi gert“, erklärt er. Zudem den Versuch dem Fachblatt FEMS Mi- Steinzeitkeime oder Touristendreck seien die von ihm kulti- crobiology Letters mitzuteilen. Resümee vierten Pilzarten nicht in seines Berichts: Die Schimmelplacken Kühlbedingungen – bei minus 80 Grad so hohen Alpenlagen anzutreffen. Ötzi sind wiedererweckte Organismen aus Celsius – sterben die Keime nach weni- müsse sie per pedes hochgetragen ha- der Steinzeit. gen Jahren ab. ben. „Unglaublich aufregend“, staunte Öt- Ötzi hingegen lag im Schmelzwasser. Doch die Argumente ziehen nicht. zi-Chefforscher Konrad Spindler, als Bei Temperaturen um null Grad bilden Vor und während der Bergung des Glet- ihm die wundersame Pilzvermehrung sich Eiskristalle. „Die piksen sich wie schermannes boten sich Kontaminati- kund ward: „Lebende Organismen wur- kleine Dolche in die Pilzzellen“, erklärt onsmöglichkeiten zuhauf: den aus einem jahrtausendelangen To- Botaniker Gams. i Lange vor ihrer Entdeckung lag die desschlaf gerissen.“ Gerüchte über die Renaissance von Eisleiche teilweise frei auf dem Simi- Der neue Pilzverdacht paßt ins Bild. uralten Einzellern oder Blumensaat gei- laun herum. Ihr Schädel zeigt Spuren Unter den Argusaugen der Mumienfor- stern seit Jahrzehnten durch die Fachli- von Vogelfraß; scher verwandelt sich Ötzi zunehmend teratur. In den fünfziger Jahren wollten i der linke Schuh wurde erst vier Tage zum Penner. Unrasiert, mit verwahrlo- Forscher Lotussamen aus einem Pha- nach dem Abtransport der Mumie sten Waffen und eingeschlagener Nase raonengrab zum Erblühen gebracht ha- eingesammelt. Bis dahin waren Dut- stolperte er durchs Geröll. In seinem ben. Andere Mikrobiologen kultivierten zende von schaulustigen Touristen Grasumhang nisteten parasitäre Hirsch- aus 9000 Jahre alten Bohrkern-Sedi- um die Fundstelle gestapft. An einer lausfliegen. Auf der Kupferaxt ent- menten angeblich eine Bakterie. schmutzigen Schuhsohle können deckten die Experten unlängst erwärm- Solche Wiedergeburtsmeldungen ste- Abermillionen von Bodenbakterien te Getreidekörner: Der Alpengänger hen allesamt in Zweifel. Peter Hoff- haften;

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i beim Abtransport der Beifunde wur- So haben sie in den letzten Jahren den de die Heusohle – wegen eines heran- angeblich optimalen Kolbenhub des Pe- nahenden Schneesturms – von den nis beim Koitus errechnet (vier Zenti- Archäologen eilig mit den Fingern an- meter), die minimale Reizzeit bis zum gefaßt und sodann durch die herbstli- Beginn der Vaginallubrikation bestimmt che, sporenschwangere Alpenluft zu (17 Sekunden) und die maximale Orgas- Tal getragen. musfrequenz pro Minute auf acht festge- Wie schnell abgestorbene Biomasse legt – alles Blödsinn, natürlich. unter solchen Bedingungen von Pilzen Doch was sie sich jetzt mit dem U- befallen wird, zeigt Ötzi selbst. Kaum Spot geleistet haben – das ist der Höhe- aufgetaut, bildeten sich auf dem Leich- punkt: Neueste Forschungen hätten den nam blaue und schwarze Schwären. Nur Beweis erbracht, so behaupten die Se- mit Mühe und viel Formalin konnte der xologen Alexandra Penney und Kevin Gammelprozeß gestoppt werden. McKenna, daß es bei vielen, vielleicht Über Haselwandters Schuhpilz-Expe- sogar allen Frauen eine bislang unbe- riment schwebt somit ein gräßlicher kannte, höchsterogene Zone gebe; die Verdacht. Vielleicht stammen die winzi- sei um ein Vielfaches reizempfindlicher gen Wesen wirklich aus der Steinzeit – als die altbewährte Klitoris und führe vielleicht aber auch nur aus seiner eige- bei entsprechend geschickter Digital- nen Handbibliothek. Y Stimulation mit Sicherheit zum ESO, zum „Extensive Super Orgasm“. Das erogene Neuland orteten die Or- Sexualität gasmologen rund um die Urethra, wie die Mediziner die Harnröhre nennen. „Der Schlüssel zum weiblichen Orgas- mus“, postuliert McKenna, „liegt in der Lücken Harnröhre“ – eine „mittel gefüllte“ Bla- se sei daher beim Sex empfehlenswert. Ähnlich zum Narren gehalten haben geschlossen die Propheten des Sexualvollzuges ihr Publikum schon einmal, vor zwölf Jah- US-Sexologen propagieren einen ren. Damals entdeckten sie den soge- neuen Lustpunkt: nach dem G-Spot nannten G-Spot wieder, jenen mysteriö- sen Gewebebezirk, den der deutschblü- nun der U-Spot – aber wo? tige Frauenarzt Ernst Gräfenberg be- reits 1950 „an der Vorderwand der Va- m es vorweg zu sagen: Es gibt ihn gina entlang der Harnröhre“ lokalisiert nicht. Kein Wunder also, daß Frau- haben wollte. Uen vergebens tasten, Männer hilf- Doch soviel die Frauen an ihrem los fummeln, seitdem sie den sogenann- „neuen Lustzentrum“ auch herumpro- ten U-Spot suchen – vor allem in den bierten – selbst bei der als G-Spot-Ideal- USA, wo die Populär-Sexologen über haltung empfohlenen Positio aversa, eine besonders ausgeprägte Phantasie dem Verkehr von hinten, kam nach all- verfügen. gemeinem Bekunden kaum eine zu der

Sex-Test im Labor: Das Publikum zum Narren gehalten?

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Werbeseite TECHNIK versprochenen „Orgasmus-Serie“. Dar- Vorschlägen. Der Planung zufolge soll an sei die Formgebung des männlichen Magnetbahn demnächst in Chicago eine vier Kilome- Gliedes schuld, monierten daraufhin ter lange Pilotanlage das dortige U-Bahn- die Sexologen und forderten die ein- Netz ergänzen. schlägige Industrie auf, „G-Spot-aktive Taxi 2000 erinnert an die Geisterbahn Vibratoren und Dildos“ zu fertigen. Beinlose vom Rummelplatz: Hunderte von elek- Stets nach dem Vorsatz forschend, tronisch gesteuerten, knapp drei Meter daß auch im Belanglosen keine Lücken langen Vier-Mann-Kabinen huschen, klaffen sollen, haben die Sexologen in Käfer von einem Magnetantrieb auf 50 Stun- letzter Zeit viele schöne Experimente denkilometer beschleunigt, buchstäblich gemacht. Nun wissen sie zum Beispiel, Mit einer Kreuzung aus U-Bahn und im Fluge über ihre aufgestelzten Füh- daß Taxi wollen US-Ingenieure rungsschienen, die ein Netz aus miteinan- i das Scheidengewölbe der Frau zwei der verknüpften Kreisbahnen bilden bis vier Zentimeter vom Scheidenein- die Verkehrsprobleme in Ballungs- (siehe Grafik). gang („Introitus“) weniger empfind- räumen lösen. Die Haltestellen liegen höchstens 800 lich auf Stromstöße reagiert als ihr Meter voneinander entfernt. Von jeder Handrücken – wobei die großen Station aus kann ein Reisender jeden be- Schamlippen etwas elektrosensibler ein Vater hatte sich eifernd bemüht, liebigen Punkt im Schienennetz errei- sind als die kleinen; die Chinesen zum Christentum zu chen – ohne Zwischenstopp, ohne Um- i Frauen mehr multiple Orgasmen ha- Sbekehren. Zur Strafe warfder Kom- steigen. Ein Flugreisender etwa betätigt ben als Männer – Spitzenreiterin ist munistenführer Mao Tse-tung den Mis- am Flughafen die Ruftaste. Spätestens eine amerikanische Probandin mit sionar für 20 Jahre ins Gefängnis. nach drei Minuten hält direkt vor ihm die angeblich 136 aufeinanderfolgenden So sendungsbewußt wieder Senior ver- nächste freie Kabinenbahn. Der Passa- Höhepunkten, während der beste breitet auch Edward Anderson, 66, von gier gibt den Namen seines Hotels ein, Mann nur auf 16 kam; der Boston University seine frohe Bot- der Bordcomputer errechnet den kürze- i in der Phase der Erregung eine „gänsehautartige Granulation oder Zu viert in die Zukunft? Körnelung“ der Haut an bestimmten Eine Magnetbahn als neues Nahverkehrssystem Stellen des männlichen und weibli- chen Genitals auftritt – ein Be- gleitphänomen, das beim Mann am deutlichsten „am proximalen Penis- schaft sowie am präejakulatorisch ge- strafften Hodensack“ zu beobachten ist; i sexuell erfahrene Frauen „als Mini- mum einen Penis der Ausmaße von 17,1 mal 4,5 Zentimeter verlangen“, wohingegen sich „Frauen mit weniger als zwölf Männern mit 14,8 Zentime- tern Länge und 3,9 Zentimetern Dik- ke zufriedengeben“. Doch nichts, nicht einmal ihre „Or- gasmus-Konferenzen“, die sie in den großen Städten dieser Welt abhalten, Die bis zu vier Personen befördernden Kabinenbahnen können auf dem aus Kreisbahnen zusammengesetzten Schienennetz nur in eine Richtung fahren. Richtungswechsel sind an den lieben die Sexologen mehr, als sich be- Knotenpunkten möglich. Um anzuhalten und Passagiere aufzunehmen, wechseln die sonders ausgefallene Koital-Techniken Kabinenbahnen auf dafür vorgesehene Wartegleise. auszudenken, die den Orgasmus immer noch orgastischer gestalten sollen. Diesbezügliche Highlights sind der- schaft von der Revolution im öffentlichen sten Weg. Selbsttätig und lautlos glei- zeit die Coital Alignment Technique, Nahverkehr. Schon seit einem Viertel- tet die Kapsel, die aussieht wie ein bei der das Rein-Raus des Gliedes zu- jahrhundert versucht der Maschinenbau- beinloser Käfer, ihrem Ziel entgegen. gunsten eines rhythmischen Schubberns ingenieur, seine autoversessenen Lands- Anders als herkömmliche Taxen mit dem Unterleib entfällt, sowie der leute für fahrerlose und individuell steu- stecken die Kabinenbahnen nie im Non-Ejaculatory Male Orgasm, der laut erbare Kabinenbahnen zu begeistern. Stau. Da ein Zentralrechner sämtliche Anweisung am einfachsten zu bewerk- Sein gesamtes Vermögen verpulverte Bordcomputer überwacht, genügt zwi- stelligen ist, wenn der Mann auf einem Anderson, der nicht raucht, nicht trinkt schen jeweils zwei der eiförmigen Kap- Stuhle sitzt – nicht ganz ungefährlich, und nie ins Kino geht, für diese Kreuzung seln ein Sicherheitsabstand von nur 14 falls das Möbel intra coitum zusammen- aus U-Bahn und Taxi („Taxi 2000“). An- Metern; so können die Taxi-Bahnen bricht. derson träumt davon, „Teile der Stadt zu- während der Rush-hour in dichter Fol- Ungleich mehr Opfer fordert der ge- rückzuerobern“, Parkplätze beispiels- ge auf den Schienensträngen fahren. nitale Forscherdrang jener Frauen, die weise, um diese „in Parks und Gärten zu Kaum eine Straße könnte mit einer danach trachten, ihren – nicht existie- verwandeln“. solchen Verkehrsdichte fertig wer- renden – U-Punkt zu finden, und zu Inzwischen hat der ausdauernde Tech- den. diesem Zweck die Region rund um die nik-Mönch ein Etappenziel erreicht. Seit Auch gegenüber U-Bahnen bieten Urethra übermäßig stimulieren. „Ich Oktober letzten Jahres baut das amerika- die gläsernen Kapseln im Großstadt- habe noch nie“, konstatiert der New nische Rüstungsunternehmen Raytheon, dschungel von Chicago Vorteile, wie Yorker Gynäkologe Gordon Bradley, das mit Bomben und Granaten immer Erfinder Anderson argumentiert: Jeder „so viele Blasenentzündungen gesehen weniger Geld verdient, für 40 Millionen reist für sich allein – auf eigenem wie in der letzten Zeit.“ Y Dollar eine Teststrecke nach Andersons Kurs, sicher vor Straßenräubern. Ob

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aber die Investitionskosten für die Tras- Der Verkehrsexperte Vukan Vuchic sen und die Plastikkabinen unter denen von der University of Pennsylvania faßte von anderen Bahnen liegen, wie Ander- die Einwände zusammen: Die Mini-Kap- son behauptet, ist die Frage. seln vereinten das „Schlechteste aus bei- Kritiker wenden ein, Magnetbahnen den Welten“. Zunächst werde, wie bei rechneten sich nur dann, wenn großräu- der U-Bahn, eine aufwendige, das Stadt- mige Kabinen auf die Reise geschickt bild verunzierende Trasse konstruiert, werden, die Platz für 100 Fahrgäste und und dann würden doch, wie beim Pkw, in mehr bieten – etwa nach dem Vorbild jeder Plastikkiste nur eine kleine Zahl der zu Lebzeiten erfolgreichen, inzwi- von Passagieren transportiert. „Im Er- schen eingemotteten Berliner Magnet- gebnis“, so Vuchic, „kriegen wir wieder bahn (siehe Kasten). eine Art Auto, nur teurer.“

Opfer der Vereinigung Die Erfolgsbilanz der Berliner Magnetbahn

Drei Millionen Fahrgäste hat die anders als der zehnmal schnellere Berliner Magnetbahn von 1989 bis Transrapid), energiesparend (sie 1991 zwischen dem Bahnhof Gleis- verbrauchte 20 Prozent weniger als dreieck und dem Kemperplatz kut- eine U-Bahn) und kam fast ohne schiert – es war die weltweit erste M- Personal aus (das im öffentlichen Bahn, die im Nahverkehr eingesetzt Nahverkehr gewöhnlich 70 Prozent wurde. der Kosten verschlingt). Wie bei Andersons futuristischem Die stolze Erfolgsbilanz rettete Taxi 2000 trugen die kastenförmigen die vielbestaunte Magnetbahn nicht. Kabinen weder Motoren noch Sie fiel der Wiedervereinigung zum Bremssysteme: Starke Dauermagne- Opfer. Nach dem Fall der Mauer te im Kabineninnern hielten rund war es auf einmal möglich, die alte 1,5 Zentimeter Abstand zwischen U-Bahn-Linie U2 wieder auf voller der Fahrgastzelle und dem metalle- Länge bis zum Potsdamer Platz in nen Leitweg; der Waggon schwebte Betrieb zu nehmen; die Magnet- in der Luft. Als Motor wirkten in die bahn, die nur ein 1,6 Kilometer lan- Leitschiene verlegte Kabelstreifen: ges Teilstück der U2 abdeckte, wur- Sie erzeugten ein wanderndes Ma- de damit überflüssig. gnetfeld, das die Kabinen wie auf ei- Die Bahn wurde in ihre Einzeltei- nem unsichtbaren Kissen vorwärts le zerlegt. Die High-Tech-Waggons zog. verstauben seither in einem Lager- Die vollautomatische Berliner schuppen auf dem Flughafen Schö- Magnetbahn war extrem leise (ganz nefeld.

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SECHS STUNDEN ENTSCHEIDEN Der Schlaganfall ist das Stiefkind der Medizin: Obgleich häufiger als ein Herzinfarkt und die Hauptursache der Invalidität, ist seine Therapie bisher meist unzureichend, die Akutversorgung kommt häufig zu spät. Moderne Behandlungsverfahren eröffnen neue Chancen – das Risiko läßt sich halbieren.

Arterienverschluß im Gehirn vor und nach der Behandlung*, Patient bei Mikrokatheterisierung (in Hamburg): Mit einem

ewöhnlich schaltet der Fahrer des Schlaganfall nicht als kostbar. Gemüt- sie ist die dritthäufigste Todesursache Rettungswagens bei einem Schlag- lich schaukelt man den Kranken seinem und der häufigste Grund dauerhafter In- G anfallpatienten weder Blaulicht Verhängnis entgegen. validität; 1,5 Millionen Menschen sind noch Martinshorn ein. Warum auch? Der „Die Therapie des Schlaganfalls, so davon betroffen. Kranke liegt ja ganz friedlich, er schläft wie sie heute praktiziert wird, ist Doch anders als bei Herzinfarkt und oder scheint zu dösen, sein Teint ist ro- schlicht archaisch“, sagt Werner Gross- Krebs ist das öffentliche Interesse ge- sig, die Angehörigen bleiben ganz gelas- mann, Medizinprofessor in München ring, gibt es keine nennenswerten Initia- sen. und Chef der „Stroke Unit“ im Kran- tiven für Früherkennung und Erste Hil- Auch der Hausarzt verbreitet keine kenhaus Harlaching. Vor drei Jahren fe. Keine prominente Politikergattin Hektik. Meist ist er erst Stunden nach richtete er diese Spezialstation ein – trommelt im Namen der Opfer. Fast alle dem Ereignis ans Krankenlager gerufen Konkurrenz hat er kaum. nehmen die Krankheit als dunkles worden, hat den „Apoplex“ an seinen Denn die Krankheit Schlaganfall ist Schicksal hin, auch die meisten Ärzte. klassischen Zeichen – schlaffe Lähmung, das Stiefkind der Medizin. Sie fällt Jahr In ihrer Welt der konkurrierenden To- Sprachstörungen – diagnostiziert, dann für Jahr mindestens 500 000 Deutsche, desursachen gilt der Schlaganfall als das aber lange telefoniert, um ein Kranken- finale Leiden der alten Menschen. Die hausbett zu organisieren. Das ist müh- * Oben: Nach dem Arterienverschluß ist ein Teil Diagnose wird von der resignativen Er- des Hirnstamms nicht mehr durchblutet; unten: sam, die Kliniken mögen keine Apople- durch medikamentöse Auflösung des Blutpfrop- kenntnis grundiert, daß jeder schließlich xe. So vergeht die Zeit. Sie gilt bei einem fes ist die Durchblutung wiederhergestellt. an irgend etwas sterben muß.

206 DER SPIEGEL 13/1994 63 432 erlagen 1992 in Deutschland venzellen schon nach wenigen Sekunden nin, hatte der erste Schlag schon mit dem altbekannten Leiden, mehr Frauen Schaden – bei Muskelzellen dauert das 52 Jahren getroffen. 25 Ärzte (darun- (41 204) als Männer (22 228), nahezu Minuten, im Knorpel sogar Tage. ter 8 deutsche) versuchten, den ge- gleichviel Süd- und Norddeutsche, Land- Die totale Abhängigkeit des Gehirns lähmten Hochdruckkranken wieder auf leute und Städter. Gefällt wie von einem von permanenter Sauerstoffzufuhr er- die Beine zu stellen, vergebens. Auch Schlag wurden runde Bullerköpfe mit ro- höht das Risiko des Zentralorgans. Es ist die Bemühungen seiner Ehefrau Na- ten Hochdruckgesichtern, mitten im Le- der Sitz der Seele, des Verstandes, der deschda Krupskaja, Lenin die alten ben stehend und doch vom Tod umfan- Erinnerung, ist Steuerzentrale jeglicher Lieblingsvokabeln beizubringen, blie- gen. Unter den Opfern waren alte und Bewegung und die übergeordnete Emp- ben ohne Erfolg. „Revoreru-lou-rvu- uralte Frauen, doch auch einige hundert fangsstelle der Sinneseindrücke – doch jon“ – es ging nicht. Nach dem vierten in der Blüte ihrer Jahre: Manche hatten all das nur, solange ein funktionierender Schlaganfall, am 21. Januar 1924, starb die Antibabypille genommen und zu- Blutkreislauf für ausreichenden Sauer- Lenin. gleich stark geraucht; andere sich an Ko- stoff sorgt. Bevor man ihn einbalsamierte, wur- kain versucht und dabei den Blutdruck in Diese Versorgung ist auf vielerlei Wei- de das Gehirn (oder was davon noch lebensgefährliche Höhen getrieben. se gefährdet: Die Adern können zu eng übrig war) entfernt. „Es ist mir ein

Warnzeichen Die Vorboten des Schlaganfalls

Flüchtige Lähmungen

Taubheit in den Gliedmaßen

Heftige Kopfschmerzen

Drehschwindel mit Gangunsicherheit

Gesichtsfeldausfälle

Hörstörungen

Augenzittern (Nystagmus)

Koordinationsstörungen

„Drop attacks“, plötzliches Hinstürzen ohne oder mit nur momentanen Bewußtseins- störungen (Blitzsynkopen)

Sprech- und Schluckstörungen

Augenmuskellähmungen mit Doppelbildersehen

Vorübergehende globale Gedächtnisstörungen vom Bein her vorgeschobenen chemischen Messer wird der Blutstrom im Kopf wieder flottgemacht

Einige Schlaganfallopfer starben auf werden oder durch ein Blutgerinnsel ab- Rätsel“, bekannte einer seiner behan- der Achterbahn oder beim Fitnesstrai- rupt verstopfen, sie können auch platzen delnden Ärzte, der Russe Wladimir ning, in den Bergen, auch unter Wasser. oder reißen. Die Folgen sind stets gleich: Rosanow, „daß er mit einem derart ge- Etliche Männer traf der Schlag bei der Die malträtierten zugrunde gehenden schädigten Gehirn überhaupt so lange Liebe, mors in coito. Nervenzellen können ihre Aufgabe nicht leben konnte.“ Immer war die Durchblutung des Ge- mehr ausüben, das Gehirn stellt seine In Stalins Todesjahr erlitt auch des- hirns, dieses merkwürdigen, butter- Funktion teilweise oder ganz ein – das ist sen Alliierter und Widersacher Win- weichen, ganz sanft pulsierenden Or- der Schlaganfall (siehe Grafik Seite 215). ston Churchill, damals 78 Jahre alt, gans abrupt gestört worden. Die grau- „Er lag bewußtlos im Flur, gelähmt, den ersten schweren Schlaganfall. Der weiße, rund drei Pfund schwere Zusam- mit aufgerissenen Augen“, erinnerte sich britische Premier genas von seinen menballung von 100 Milliarden Nerven- der Erste Sekretär Nikita Chruschtschow Lähmungen, regierte noch zwei Jahre zellen hat die Konsistenz einer reifen an das Schlaganfallopfer Josef Stalin. lang und starb erst 1965, zwölf Jahre Avocado, liegt gut geschützt im knö- „Diese Augen, das war das schlimmste.“ später, im 91. Lebensjahr, wohlver- chernen Schädel, ist jedoch gegen Blut- Drei Tage später, am 5. März 1953, war sorgt mit Brandy und Zigarren. mangel extrem empfindlich. der Diktator tot, gestorben im 75. Le- Soviel Glück hatte US-Präsident Wird die Sauerstoffzufuhr, vermittelt bensjahr. Franklin Roosevelt nicht. Der Dritte durch die roten Blutkörperchen (Ery- Seinen Vorgänger, den Bolschewisten im Bund gegen Hitler überlebte seine throzyten), unterbunden, erleiden Ner- und Sowjetgründer Wladimir Iljitsch Le- massive Hirnblutung nur wenige Stun-

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Werbeseite den. Sein Tod am 12. April 1945 er- schien dem ebenfalls schlaganfallbe- drohten Führer Adolf Hitler, tief un- ten im Bunker der Reichskanzlei, als Fingerzeig der Vorsehung; das war sein letzter Irrtum. Daß die Großen vom Schlag getrof- fen werden, gilt seit Jahrhunderten als gesicherte Erkenntnis. Lange vor der Entdeckung des Blutkreislaufs (1628) und der Blutdruckmessung (1896) er- kannte man am roten Hochdruckkopf und dem kämpferischen Temperament, gepaart mit großem Hunger und un- stillbarem Durst, den „Schlagfluß“- Kandidaten. Heutzutage sind die Gro- ßen – weil regelmäßig ärztlich unter- „Die Technik muß zum Patienten kommen, nicht umgekehrt“

sucht – weniger gefährdet als die Klei- nen. Für die kommt der Hirninfarkt meist aus scheinbar heiterem Him- mel. In Wirklichkeit warnt der Kopf sei- nen Besitzer, doch sind die Signale oft sehr diskret und mehrdeutig. Flüchtige Durchblutungsstörungen des Gehirns können zu Schwindel, Gangunsicher- heit, Gefühls- und Sehstörungen, auch zu einer verwaschenen Sprache führen. „Schreckliche Kopfschmerzen“ hat Roosevelt vor seinem Tod beklagt. Winston Churchill litt unter dem Ge- fühl, als würde im Gehirn ein überfor- derter Teil „unverhofft platzen“. Die Symptome sind unscharf und variabel, weil die zugrunde liegende Durchblu- tungsnot auf vielerlei Weise an wech- selnden Orten auftreten kann. Unter dem Stichwort Schlaganfall werden ganz verschiedene Vorgänge zusammengefaßt: i Bei vier von fünf Patienten liegt dem Desaster eine Durchblutungs- störung („ischämischer Hirninfarkt“) zugrunde; die Mangeldurchblutung kann viele Ursachen haben, darun- ter als häufigste der Verschluß einer Arterie durch einen Blutpfropf. Nur wenige Kranke verlieren das Be- wußtsein, die meisten trifft dieser Schlag in den frühen Morgenstun- den. i Nur bei rund 15 Prozent der Patien- ten blutet es aus einer defekten Schlagader ins Gehirn („zerebrale Massenblutung“); die Nervenzellen werden dabei zur Seite gedrückt, der raumfordernde Prozeß legt die be- troffenen und oft auch die benach- barten Hirnzentren lahm. Die Blu- tung entsteht meist während einer Belastung, oft sinkt der Patient in- nerhalb Minuten in tiefe Bewußtlo- sigkeit („Koma“).

210 DER SPIEGEL 13/1994 TITEL i Die Subarachnoidalblutung, rund 5 Das „große Defizit Prozent aller Fälle, kommt fast immer in der Akut-Versor- dadurch zustande, daß eine angebore- gung“ des frischen ne Aussackung eines Blutgefäßes an Schlaganfalls führt der Schädelbasis platzt und dabei Blut Hans Christoph Die- unter eine der Hirnhäute, die Spinn- ner, Direktor der Uni- webhaut (Arachnoidea), gerät. Aus- Nervenklinik in Essen gelöst wird der Defekt meist beim und wie Grossmann Pressen, beim Heben schwerer Ge- Herr über eine „Stroke genstände oder durch die Anstren- Unit“, auf eine Beson- gung beim Koitus. derheit des Schlagan- In jedem Fall ist nur rasche Hilfe gute falls zurück: Der Hirn- Hilfe. In den ersten sechs Stunden der infarkt verursacht, Erkrankung gibt es ein „therapeutisches ganz im Gegensatz Fenster“, lehrt der Münchner Experte zum akuten Herzin- Grossmann. Während dieser Zeitspan- farkt, keine Schmer- ne sind viele Nervenfunktionen „noch zen. reversibel“ – die Ärzte können mit einer Dieser geradezu Kombination aktiver Maßnahmen die heimtückische Mangel ausgefallenen Hirnleistungen, zum Bei- dämpft alle Aktivitä- spiel die Sprache, sofort wiederherstel- ten von Arzt und Pa- len. tient. Im übrigen sind „Leider“, sagt Grossmann, „sehen beide, sagt Professor wir die meisten Patienten erst nach 16, Diener, meist der alt- Alliierte Churchill, Roosevelt, Stalin (1945) 24 oder noch mehr Stunden.“ Dann gibt hergebrachten – und Die Großen werden vom Schlag getroffen es „nur mehr eine sehr begrenzte thera- inzwischen falschen – peutische Eingriffsmöglichkeit“. Meinung, „man könne bei einem kommen? Aus dem Herzen, wie so oft? Statt dessen folgt die Abschiebung ins Schlaganfall sowieso nicht spezifisch Oder sind die Halsschlagadern verengt? Pflegeheim, die Abstempelung der Ge- therapieren“. Die Gerinnungsfähigkeit des Blutes lähmten oder Sprachgestörten als geistig Beim akuten Herzinfarkt und jedem krankhaft erhöht? Gefäßwände entzün- Behinderte oder die mühselige, langwie- Unfall wird von Betroffenen, Ersthel- det? rige, oft vergebliche Rehabilitation fern und Ärzten ein hohes Tempo vor- Das differentialdiagnostische Puzzle (siehe Seite 218). gelegt. Die weitverbreitete Go-slow- ist mühsam, doch es duldet keinen Auf- Mentalität ausgerechnet beim schub. Die Behandlung des Schlagan- Schlaganfall ist für Grossmann falls verspricht nur dann Erfolg, wenn Ungleiche Risiken „rational nicht zu begründen“: sie kausal und möglichst rasch erfolgt. Faktoren, die das Schlaganfallrisiko erhöhen Das Sterberisiko ist bei Herz- Was dabei möglich ist, machen die infarkt und Schlaganfall gleich Ärzte der Neuroradiologischen Abtei- groß. lung der Hamburger Uni-Klinik vor: Risikofaktoren Risikovervielfachung Das „Bewußtsein für die Dort werden die verschlossenen Gehirn- Alter ab 45 Jahre; Verdop- Dringlichkeit der Frühbehand- gefäße durch Mikrokatheter „rekanali- pelung alle zehn Jahre lung“ will der Münchner Arzt siert“. Die sprachlosen, an allen vier Ex- bei seinen Kollegen noch tremitäten gelähmten Patienten (Sterbe- Diabetes 3- bis 5fach „schärfen“. Sie sollen die au- rate bisher 95 Prozent) können sich nach geglücktem Eingriff wieder bewegen Vererbung 3fach ßerordentliche Dynamik der Krankheit im Auge behalten: und bedanken. Herzerkrankungen 5- bis 7fach Wenn die zentralnervösen Um auf derart spektakuläre Weise Funktionen wegen Sauerstoff- helfen zu können, müssen die Ärzte Bluthochdruck 5fach mangels ausfallen, werden aber erst einmal wissen, welches Blutge- auch Herz, Lunge, Kreislauf fäß das Desaster verursacht hat. Her- Alkoholkonsum 1- bis 4fach und Nieren in Mitleidenschaft kömmliche Untersuchungen, etwa Bewegungsmangel 2- bis 3fach gezogen. Es entsteht, lehrt durch das Abhören der Strömungsge- Grossmann, eine „globale ve- räusche der Halsschlagadern oder durch Hohe umstritten getative Dysfunktion“ mit be- die Messung der Druckunterschiede bei- Cholesterinwerte handlungsbedürftigen Funkti- der Augen, erlauben keine präzise Dia- onsstörungen in vielen Orga- gnose. Antibabypille 2- bis 3fach nen. Die Krankheit Schlagan- Die wird nur möglich durch den kom- Übergewicht umstritten fall eskaliert, die Chancen des binierten Einsatz modernster Technik. Patienten werden ungewisser. Beim akuten Notfall bewähren sich vor Rauchen 2- bis 5fach In dieser Situation gilt Ruhe allem die verschiedenen Ultraschall- den meisten Doktoren noch (Sonographie-)Geräte, die sogar durch immer als die Therapie der den knöchernen Schädel hindurch in psychosoziale Risikofaktoren Wahl – auch deshalb, weil die den Adern die Blutströmung und deren Hindernisse sichtbar machen. Lebensverändernde Ereignisse Mediziner meist nur rätseln, welche Ursache dem Befund In den entscheidenden ersten Stunden Negativ-Emotionen zugrunde liegt: eine Massen- sind die Methoden der Computer- und blutung im Gehirn? Hirnin- Kernspintomographie (sie arbeiten mit Workaholismus (Arbeitssucht) farkt durch Blutleere der Röntgenstrahlen beziehungsweise Ma- Adern, hervorgerufen durch gnetfeldern) nur von eingeschränktem ein Gerinnsel? Woher mag es Wert; bildgebende Schatten, die Ort

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Werbeseite und Art des Schlaganfalls lokalisieren helfen, bilden sich erst heraus, wenn die Gewebeänderungen fortgeschritten sind. In den spezialisierten „Stroke Units“ ist der Patient von Dutzenden Überwa- chungsgeräten umgeben. Permanent werden Blutdruck, Puls, Flüssigkeits- und Sauerstoffbilanz überwacht. Bei Bedarf wird auch der Hirndruck gemes- sen und aufgezeichnet. „Die Technik muß zum Patienten kommen“, fordert Grossmann, „nicht umgekehrt.“ Nur eine kontinuierliche Überwachung („Monitoring“) – bei Herzinfarkten und Unfallopfern längst Routine – macht die Erfolgskontrolle der eingeleiteten The- rapie und deren Korrektur überhaupt möglich. Mit Hilfe der Mikrokatheter, wie man sie in Hamburg in die Hirngefäße schiebt, läßt sich direkt am Blutgerinn- sel ein „chemisches Messer“ installie- ren: Aus der Katheterspitze werden, hoch dosiert, Lyse-Medikamente frei- gesetzt; sie lösen den Thrombus auf. Diese Art der „interventionellen Technik“ ist zu kompliziert und zu teu- er, um flächendeckend in ganz Deutsch- land angewendet zu werden. Neben den beiden hochspezialisierten „Stroke Units“ nach US-amerikanischem Vor- bild gibt es bisher in Deutschland rund 40 neurologische Intensivstationen, die akute Schlaganfälle angemessen thera- pieren. „Unser Ziel ist es“, sagt der Heidel- berger Neurologie-Professor Werner Hacke, „daß jeder frische Schlaganfall umgehend von erfahrenen Experten un- tersucht wird, um zu sehen, was getan werden kann.“ Von diesem Ziel ist man noch weit entfernt: „Beim Schlaganfall gibt es einen eklatanten Mangel an effi- zienter Therapie.“ Dieser Mangel macht sich auch im Vorfeld negativ bemerkbar. Richtig praktizierte Prophylaxe ist beim drohen- den Schlaganfall auf vielerlei Weise möglich – durch Verhaltensänderungen und Medikamente, auch durch gefäß- chirurgische Operationen. Im Alltag ist solche Vorbeugung aber nicht die Re- gel. Von Patienten und Ärzten werden die möglichen Frühwarnzeichen mei- stens bagatellisiert. Erstes Ziel der 1992 in Gütersloh ge- gründeten „Deutschen Schlaganfall-Stif- tung“ ist deshalb die Aufklärung der Be- völkerung durch Wort und Bild. Schirm- herrin und Geldgeberin der Stiftung ist Liz Mohn, die Ehefrau des Bertels- mann-Pioniers Reinhard Mohn. Ihr En- gagement, mittlerweile unterstützt von einem Dutzend Professoren, soll jedoch über Aufklärungsbroschüren weit hin- ausführen. „Wir werden in zehn Kliniken speziel- le Apoplex-Stationen schaffen“, ver-

214 DER SPIEGEL 13/1994 Der Körper versucht, Verstopfung im Gehirn den Sauerstoffmangel Entstehung und mögliche Folgen eines Schlaganfalls durch Blutversorgung über Seitenwege aus- zugleichen (kann medi- Lähmungen Empfindungs- kamentös unterstützt Wortfindungsprobleme störungen Vordere werden) Hirnschlagader Zentrum der Durchblutungs- störung (irreparabler Schaden) Gerinnsel oder Randzone der Ablagerungen in Hintere Durchblutungs- einer größeren Hirnschlagader störung (reparabler Antriebs- und Hirnarterie führen Schaden, kann durch Aktivitätsverlust zur Unterbrechung akutmedizinische der Blutversorgung Maßnahmen behoben werden) Sehstörungen Verstimmbarkeit, Aggressivität Sprachver- Wirbelschlagader ständnisstörungen

Innere Halsschlagader spricht Frau Mohn, „wir werden SOS- dieses Risiko durch richtige Ernährung Tabletten verordnet – die Zahl dramati- Telefone einrichten und die wissen- oder Sport zu mindern, gibt es nicht. scher Hirnblutungen, bei denen ein Ge- schaftliche Erforschung der heimtücki- Bisher hat die Heilkunst wenig Mög- fäß zerreißt, vermindert hat. schen Krankheit fördern.“ Wenn die In- lichkeiten, eine erblich bedingte Nei- Als riskant, aber erfolgreich haben itiative Raum greift, wären rund 120 000 gung zu einer bestimmten Krankheit er- sich gefäßchirurgische Eingriffe an den Schlaganfälle pro Jahr und damit 40 000 folgreich zu korrigieren. Immerhin sind Halsschlagadern erwiesen. Diese Arte- Opfer vermeidbar, hofft Gerhard Sitzer, Bluthochdruck und Zuckerkrankheit – rien sind häufig durch Fett- und Kalkab- Neurologie-Professor und wissenschaft- zwei der wesentlichen Ursachen vorzei- lagerungen gefährlich eingeengt, oft oh- licher Promotor der Stiftung. tiger Gefäßalterung und -verengung – ne daß dies Beschwerden hervorruft. Die optimistische Hochrechnung setzt mittlerweile behandelbar. Wenn die Adern vorsichtig eröffnet und einen Vielfrontenkrieg voraus. Zigaret- Percy Heinrich, genannt der Heiß- die Ablagerungen von den Gefäßwän- tenrauchen verdreifacht, starkes Trin- sporn, Shakespeares aufbrausender den abgelöst werden, bessert sich die ken verdoppelt das Schlaganfallrisiko. Schlaganfallkandidat, würde heutzutage Durchblutung des Gehirns sofort, von Frauen über 30, die etwas zu dick sind, medikamentös auf Blutdrucknormwerte einer Minute zur anderen. rauchen und die Antibabypille schluk- heruntertherapiert. Experten vermuten, Diese „Endarteriektomie“ hilft bei ken, haben ein vielfach größeres Risiko. daß die weitverbreitete Hochdruckbe- weit fortgeschrittenen Gefäßverschlüs- Weitere „weniger gut gesicherte Risi- handlung – jährlich werden dafür in sen, wenn die Adern bereits um 70 bis kofaktoren“ sind Bewegungsmangel, Deutschland mindestens 30 Millionen 99 Prozent verengt sind, am besten: In- ein erhöhter Cholesterin- und Blutfett- spiegel und ganz allgemein das Über- gewicht. In der neuesten Ausgabe des renommierten „Herz-Kreislauf-Le- xikons“** steht, was der Doktor von solchen Risikofaktoren zu halten hat: „Behandlung möglich – Nutzen der Be- handlung nicht gesichert“. Ein besonders aussagekräftiges Indiz für drohende Schlaganfallgefahr glau- ben jetzt Forscher in Österreich aufge- spürt zu haben: Ist die Konzentration ei- ner bestimmten Form von Cholesterin, das Lipoprotein-a, im Blut erhöht, so steige das Risiko, einen Schlaganfall zu erleiden, auf das 20fache. Eine negative Nachricht schieben die Forscher jedoch gleich nach: Der Blut- gehalt an Lipoprotein-a ist ausschließ- lich genetisch bestimmt. Eine Chance,

* In München-Harlaching. ** „Herz-Kreislauf-Lexikon“. Medikon Verlag, München; 1826 Seiten; 198 Mark. Schlaganfallpatient in der „Stroke Unit“*: „Wir sind an der Schwelle“

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Werbeseite TITEL nerhalb 24 Monaten sinkt das Risiko, einen lebensgefährlichen Schlaganfall zu erleiden, von 13 auf 3 Prozent. Verständlicherweise finden weniger Suche nach Inseln blutige Vorsorgemaßnahmen bei den Patienten eine größere Akzeptanz. Schon „eine Prise ASS“, verspricht das Fachblatt Medical Tribune seinen ärztli- im Stammhirn chen Lesern, könne Wunder wirken. ASS steht für Acetylsalicylsäure, eine SPIEGEL-Redakteur Johann Grolle über Patienten beim Reha-Training Chemikalie, die der deutsche Chemiker Felix Hoffmann bereits 1897 zusam- menrührte und die seither unter dem Markennamen Aspirin vertrieben wird. Der Medikamenten-Oldie hat außer den bekannten schmerzlindernden Wir- kungen die fast ein Jahrhundert lang unbeachtet gebliebene Nebenwirkung, die Zusammenballung der Blutplätt- chen (Thrombozyten), zu hemmen. Dieser Effekt wird nun in der Schlagan- fallprophylaxe ausgenutzt. Schon 30 bis 75 Milligramm ASS pro Tag (eine Tablette Aspirin enthält 500 Milligramm) halbieren das Schlagan- fallrisiko. Auch die kleinen „Schlägle“, worunter die Mediziner rasch vorüber- gehende Mangeldurchblutungen des Gehirns verstehen, wurden unter ASS sehr viel seltener. Eine unerfreuliche, therapeutisch nicht nutzbare Nebenwir- kung des ASS ist die Reizung der Ma- genschleimhäute; mit kleineren Magen- blutungen müssen drei Prozent der Pa- tienten rechnen. Die alte Ärzteregel, daß ein wirksa- Patient Pape bei Lesetraining: Ratlos vor dem „R“ mes Medikament neben der erwünsch- ten Hauptwirkung immer auch eine un- s war schon“, sagt Hans-Peter Bar- Inzwischen, sieben Jahre nach seinem erwünschte Nebenwirkung hat, be- bist, 45. Dann holt er Luft. „Arg Schlaganfall, kann er doch wieder lau- wahrheitet sich auch bei einem neuent- Eschwer“, fährt er fort, und seine Pu- fen, und aus dem Lallen sind verständli- wickelten Arzneimittel, made in USA. pillen wandern dabei an die Decke, als che Worte geworden. Jeden Laut, jede Das Präparat heißt Selfotel und wird wollten sie jedes Wort einzeln von dort Bewegung seiner Gliedmaßen hat Bar- zur Zeit von James Grotta an der Uni- herabziehen. bist den Zellen in seinem Kopf wieder versity of Texas in Houston getestet. Dann erzählt er, aufgeteilt in Sprach- abringen müssen. Jahrelang waren das Selfotel ist ein Gegenspieler des häppchen von jeweils vier, fünf Silben, Zucken eines Zeigefingers oder ein ge- Glutamat, eines Botenstoffes der Ner- von der Zeit, als seine Ehe auseinander- lungenes „k“ Zeichen, die ihn hoffen venzellen. Geraten diese in Sauerstoff- brach. ließen. not, so steigern sie ihren Glutamat- „Damals konnte ich – noch fast nicht Erst hier in der Tagesklinik in Mün- Ausstoß – eine verhängnisvolle Kaska- sprechen“, erzählt er. „Das Problem chen-Bogenhausen gelang es ihm de, denn sie führt zur Übererregung schließlich, wieder so viel Kontrolle der nicht bedrohten Nachbarzellen. über seine Zunge, die Stimmbänder, Das gefährdete Areal wird größer, der „Patienten, die den Kehlkopf, das Zwerchfell zurückzu- Schlaganfall eskaliert. Unter Selfotel zurückblicken, leiden erobern, daß er mit Fremden sprechen bleibt der Nervendefekt eng umgrenzt, und telefonieren kann. Nur den schlep- der Patient leidet jedoch, solange er am meisten“ penden, synthetisch klingenden Tonfall das Präparat bekommt, an Halluzina- wird er nicht los. Seine Stimme klingt tionen. war – ob der Scheidungsrichter – mein eintönig, gleichgültig, ob er von seiner Im nächsten Jahr soll Selfotel auf den ,Ja‘ – verstehen konnte“, immer in dem- Scheidung spricht, von seiner Leiden- Markt kommen. Auch deutsche Wis- selben monoton nasalen, leicht gurgeln- schaft für Sportwagen oder von seiner senschaftler, darunter der Mediziner den Schwäbisch. Barbist muß beim Firma für Schweißtechnik im schwäbi- und Nobelpreisträger Bert Sakmann in Sprechen genau mit seiner Luft haushal- schen Kornwestheim. Heidelberg, arbeiten an Medikamen- ten. „Sonst muß ich schnappen“, erklärt Barbist ist einer von denen, die der ten, die den Kaskaden im Gehirn ihre er. Sprechtherapeut Matthias Vogel „meine gefährliche Dynamik nehmen sollen. Seine Frau hatte sich für die Schei- Rückspiegel-Patienten“ nennt. Hypno- „Es geht voran“, urteilt Werner Hak- dung entschieden, als sie die Prognose tisiert vom Blick zurück in die eigene ke. „Wir sind jetzt wirklich an der der Ärzte hörte: Nie wieder würde ihr Vergangenheit, kämpfen sie um jede Schwelle.“ In den nächsten Jahren, Mann sprechen, nie wieder gehen kön- noch so kleine Verbesserung, die sie noch vor dem Ende des Jahrhunderts, nen. Als seine Frau ihn verließ, verlor demjenigen, der sie einmal waren, wie- soll der Schlaganfall seinen Schrecken Barbist die einzige, die sein Gelalle we- der einen Schritt näher bringt. Barbist verlieren. nigstens halbwegs verstand. starrt zurück auf den agilen Geschäfts-

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Werbeseite TITEL führer eines mittelständischen Unter- die Funktion des Gaumensegels und müssen sie sich damit begnügen, den nehmens, einen sportlichen, jugendlich über die Muskulatur des Zwerchfells Patienten beizubringen, wie sie mit ih- aussehenden Mann von noch nicht ein- fachsimpeln. Zu Hause hat er Sprossen- rer Behinderung leben können. mal 40 Jahren, Vater zweier Kinder. wand, Laufband und elektrisches Fahr- Die Klinik in Bogenhausen hat in- „Die Rückspiegel-Patienten“, sagt sein rad aufgestellt. Vier bis fünf Stunden zwischen einen Ruf, der für Zulauf Therapeut, „leiden am meisten.“ Training verlangt er sich jeden Tag ab: nicht nur aus Bayern, sondern auch An den Moment, in dem sich die Ar- Handgymnastik, Schwimmen, Krafttrai- aus Baden-Württemberg, Niedersach- terien im Hirn verschlossen, erinnert ning, Atemübungen unter Computer- sen, Hamburg, sogar aus dem Ausland sich Barbist noch deutlich. Es war der kontrolle. sorgt. Nirgends werden die verbliebe- 23. Dezember 1986, der Tag vor Heilig- Doch allem Eifer zum Trotz hat er nen Fähigkeiten eines geschädigten abend. Er saß vor dem Fernseher, als lernen müssen, daß sich die Zell-Lei- Hirns mit so vielfältigen, ausgeklügel- sein Blick plötzlich im linken Augenwin- chen in seinem Hirn nicht wieder zum ten Tests vermessen wie hier. Neuro- kel festklemmte. „Hoffentlich bleibt das Leben erwecken lassen. Er muß sich da- linguisten und Phonetiker, Logopäden und Neuropsychologen, Kognitions- und Gedächtnisforscher tasten sich an die noch lebendigen Hirnfunktionen heran, um bei jedem Patienten indivi- duell nach Strategien zu suchen, wie sie lernen können, die Löcher im Kopf zu überbrücken. Doch der Erfolg ist auch in Bogen- hausen oft Glückssache. Zuverlässige Prognosen gibt es nicht. Dreißig Patienten liegen auf Station 35 in der Bogenhausener Klinik. Noch einmal so viele kommen täglich in die Tagesklinik. Ein Unfall, ein Tumor, ei- ne Infektion oder – am häufigsten – ein Schlaganfall hat jedem von ihnen einen Teil des Gehirns zerstört. Ihre Lähmungen können die Patien- ten meist noch am ehesten begreifen. Wenn dagegen Seh- oder Sprachzen- tren betroffen sind, wenn das Gedächt- nis oder die Steuerung der Aufmerk- samkeit nicht mehr funktionieren, dann registrieren sie oft nur mit Un- Patient Barbist bei Atemübung: Erste Laute nach sechs Wochen verständnis, daß sie plötzlich wieder an einem der rätselhaften Abgründe ste- nicht immer so“, konnte er noch den- mit begnügen, die lebenden Inseln in hen, hinter denen ehedem Worte, Er- ken, und während er das dachte, be- den motorischen Zentren seines innerungen, Gefühle, Bilder waren. gann in seinem Stammhirn bereits das Stammhirns wiederzufinden und zu ak- Jetzt gähnt dort ein für sie unbegreifli- Sterben. tivieren. ches Nichts. Der zweite Schlaganfall, zwei Tage Oft sind diese Inseln verschüttet und „Ich weiß es, und ich weiß es nicht“, später im Krankenhaus, war der müssen mühsam wieder freigelegt wer- sagt Dirk Pape, 47, und schiebt dabei schlimmere. Die Lähmung ging schon den. Einen Weg zu wichtigen brachlie- einen Scrabble-Stein mit dem Buchsta- zurück, als er plötzlich erneut diese genden Arealen in Barbists Hirn konn- ben „R“ auf dem Tisch hin und her, unheimliche Taubheit spürte, diesmal ten die Bogenhausener Therapeuten als könne er ihn so dazu bringen, seine auf seiner rechten Seite. Der Nacht- mit einem einfachen Stück Plastik bah- Bedeutung preiszugeben. Gerade noch schwester, die er noch rufen konnte, nen, das er jetzt beim Sprechen im ist es ihm gelungen, alle Buchstaben fiel nichts anderes ein, als ihm Valium Mund trägt. zu verabreichen. „Die Gaumensegelprothese“, erklärt Wochenlang war Hans-Peter Barbist Barbist, „verhindert – daß die Luft – Vergebens versucht das danach eingeschlossen in einen Kör- durch die Nase – entweichen kann.“ Gehirn, sich einen per, den er nicht mehr zu steuern ver- Die durch die Prothese kanalisierte mochte. Von außen drangen die ärztli- Luft reizt beim Sprechen die Gefühls- Reim darauf zu machen chen Diagnosen in ein Hirn, das die nerven im Mund. Erst diese sensori- Schreckensurteile wohl zu verstehen, sche Rückmeldung ermöglicht es dem alphabetisch zu ordnen. Ein aus dem das aber nichts mehr darauf zu erwi- Gehirn, Laute richtig zusammenzuset- Zusammenhang losgelöstes „R“ aber ist dern wußte. zen. für ihn nur eine sinnentleerte Anord- Erst sechs Wochen später kamen die Das Retten von Nervenzellen ist nung von drei Strichen. ersten Laute. In der Art, wie der Pa- Aufgabe der Akut-Klinik. In der Re- „Ingenieur und Volkswirt. Umwelt tient daran arbeitete, diese Laute wie- ha-Klinik ist es dafür zu spät. Ärzte, und Verkehr. Volkswagen“, hat er zu- der in Worte zu verwandeln, ließ sich Psychologen und Krankengymnasten vor auf die Frage nach seinem Beruf ge- der alte Power-Mensch wiedererken- wissen: Nervenzellen wachsen nicht antwortet. Jetzt brütet er über dem Al- nen, der sich jetzt mit Verbissenheit nach, der Tod im Hirn ihrer Patienten phabet aus Spielsteinen und wiederholt und Eifer die Rehabilitation zum Beruf ist endgültig. Ihr Ziel kann es deshalb das Wort, das er daraus zusammenset- erkor. nur sein, andere Hirnareale dazu zu zen soll: „Bock, Bock, Bock . . .“ Beim Inzwischen kann er über die Tücken bewegen, die Funktion der abgestorbe- achtenmal glaubt er schließlich, den An- der Explosionslaute „k“ und „p“, über nen Zellen zu übernehmen. Oft aber fangsbuchstaben herausgefunden zu ha-

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Werbeseite TITEL ben: ein „B“. Beim zwölftenmal wählt zu lesen, der in winzigen Buchstaben Panik. Und dann fällt mir noch weniger er noch ein „C“ und ein „H“. Dann darauf gedruckt ist. Mit starrem Blick ein.“ blickt er den Therapeuten zweifelnd an. tastet er die Tischplatte ab, bis er Noch immer lähmen lange Pausen das „Buch“ liest er dann staunend vor, als schließlich rechts neben den Tisch zeigt Gespräch. Noch immer ist oft nur be- der Therapeut einen Vokal eingefügt und sagt: „Es hat einen roten Deckel.“ klemmende Leere, wo ehedem Worte hat: Das vollständige Wort erkennt Pa- Sein Blick ist inzwischen über den Tisch- waren. Und jeder zweite Satz verfängt pe sofort. „Buch, Buch, Buch . . .“, wie- rand hinausgefahren. Seine Augen fixie- sich in den Fallstricken der Grammatik. derholt er jetzt. Erneut versucht er, das ren eine rote Kaffeemaschine, die im Aber viele Worte hat Endriss auch Wort in einzelne Laute zu zerlegen, weil Regal am Fenster steht. wiedergefunden. Und das ist sehr viel, er sagen soll, für welchen Laut die Die Bogenhausener Ärzte sind skep- gemessen an dem schrecklichen ersten Buchstaben „CH“ stehen. Verlegen la- tisch, ob es ihm jemals wieder gelingen halben Jahr nach seinem Schlaganfall. chend gibt er schließlich auf: „Ich weiß wird, aus dem zusammenhanglosen „O Gott, o Gott. Wortlos denken“, sagt es, und ich weiß es nicht.“ Chaos vor seinen Augen hilfreiche In- er, wenn er sich an die Zeit erinnert, als Auf eine ähnliche Formel hat auch formation zu gewinnen. Noch ist er mit die Logopädin in Bogenhausen ihm sag- Jan Billiet, 69, sein Leiden gebracht: offenen Augen oft hilfloser, als wenn er te, er solle „Hut“ sagen, und er es nicht „Nehmen Sie es mir nicht übel. Ich sehe sie schließt. Beim Anziehen etwa führen konnte. Sie. Aber ich sehe Sie nicht“, sagt er, ihn die zusammenhanglosen Farben und während er zum Gruß seine Hand ziel- Formen vor seinen Augen immer wieder los in den Raum streckt. Er weiß, daß es in die Irre. Vergebens versucht sein „Inzwischen ist sinnlos ist, nach dem zu greifen, was er Hirn, sich einen Reim darauf zu ma- das Leben intensiver für die Hände seines Gegenübers hält. chen. Dabei hat er an der Tür sogar das Pla- Wie wichtig ist die verlorene Hirn- als zuvor“ kat mit den blauen Pferden von Franz funktion zur Bewältigung des Alltags, Marc wiedererkannt. „Da ist die Mäh- wie wichtig ist sie im Beruf? Danach be- Inzwischen ist sein Überlebenswille ne“, sagt er und tastet mit dem Finger mühen sich die Therapeuten das Trai- wieder erwacht. Seine Augen leuchten auf der Tür, knapp neben dem Poster. ningsprogramm für ihre Patienten zu wieder, wenn er von seinen Plänen re- Er liebe es, in Galerien zu gehen. Am orientieren. Wie kann ein Verkäufer oh- det, unbeholfen, stockend, immer wie- letzten Wochenende, so erzählt er, sei ne Stimme, ein Lehrer ohne Sprache der sich in der Satzkonstruktion verfan- er mit seiner Frau in der Neuen Pinako- weiterleben? Oder wie ein Künstler oh- gend. thek gewesen. „Aber richtig sehen kann ne rechte Hand? In der Kiesgrube bei Griesstätt stellt er ich die Bilder nicht“, gesteht er. Rudel Endriss, 50, ist Bildhauer. Und jetzt seine Skulpturen aus. Für den Som- Ein Schlaganfall hat die Assoziations- seit seinem Schlaganfall im Januar letz- mer bereitet er eine Ausstellung über felder seiner Sehrinde zerstört. Zwar ge- ten Jahres muß er seine rechte Hand mit mittelalterlichen Buchdruck vor. Näch- langen die Reize von seiner Netzhaut Hilfe seiner Linken zurechtrücken. ste Woche soll der Bau seines neuen Hauses beginnen. Und auch mit dem Bildhauern hat er wieder angefangen. Gewiß, an seiner rechten Hand kann er bisher nur den Zeigefinger ein klein wenig bewegen. Er muß lachen, so lä- cherlich erscheint ihm dieses Fingerzuk- ken. Und doch ist es ein Hoffnungszei- chen. Außerdem könne er ja schweißen. Das gehe auch mit einer Hand. Seine letzten Skulpturen waren ohnehin aus Stahl. Sogar Vorlesungen an der Fachhoch- schule hält er seit letztem Freitag wieder. Seiner Logopädin hat er, abgerissen und fehlerhaft, diktiert, was er seinen Stu- denten sagen wollte. Dann hat er geübt. „Fünfmal, zehnmal, zwanzigmal.“ „Die Studenten waren ganz eine liebe Gruppe“, sagt er. Das nächste Mal will er ihnen seine Skulpturen in der Kiesgru- be zeigen. Schließlich, tröstet er sich, ist Kunst nicht verbal. Patient Billiet*: „Ich sehe Sie, aber ich sehe Sie nicht“ Nur ganz am Anfang habe er sterben wollen. „Eine Woche später“, so be- noch bis ins Großhirn, doch dort werden „Ich bin ganz froh, daß“, sagt er. Pau- schreibt er es, „kann ich getrost sagen, sie nicht mehr zu sinnvollen Bildern zu- se. „Ich bin ganz froh, daß“, wiederholt daß ich lieber leben wollte. Aber eine sammengesetzt. er. Und wieder stößt er auf dieselbe Woche vorher war ich kippelig.“ „Was sehen Sie hier auf dem Tisch?“ Barriere. Fünfmal, zehnmal kommt sein Inzwischen sei das Leben sogar inten- fragt der Therapeut, der einen Kugel- Satz nach dem „daß“ ins Stocken. Dann siver als zuvor, sagt er. Und dann ver- schreiber, einen Bleistiftanspitzer und endlich findet sein Hirn den Weg über sucht er zu beschreiben, warum. Ist es einen Textmarker vor seinem Patienten die Klippe. „Ich bin ganz froh, daß ich die Grammatik, oder sind es die Gedan- auf den Tisch gelegt hat. wieder kommunizieren kann.“ ken, in die er sich dabei verstrickt? Billiet beugt sich über den Tisch, als Sicher, es sind da immer noch diese „Früher 50 Jahre, ungewiß, 30 Jahre. sei er aufgefordert worden, einen Text „Haken im Gedächtnis“, wie er sie Aber ein Doktor hat gesagt, daß ich nennt. „Dann fixiere ich Wort. Und noch 10 Jahre lebe. Kolossal besser. * Bei Sehübungen an einem Kandinsky-Bild. dann fällt mir nicht ein. Und dann eine Schlußstrich gezogen.“ Y

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Werbeseite KULTUR SZENE

Großpapa besonders viel Ausstellung land emigrierte Amerikanerin an einem Island-Sage ausgeschlachtet Gehirntumor, gerade 34 Jahre alt. Die hat. Das im Original kolossal Anfänge ihrer Laufbahn – Gemälde, besetzte Orchester beschei- Bilder einer Bildhauerin Aquarelle, Zeichnungen und Reliefs – det sich in Reykjaviks klei- „Ich werde gegen alle Regeln malen“, sind jetzt im Ulmer Museum zu betrach- nem Graben mit einer „Ein- nahm sich Eva Hesse an der Kunstakade- ten, in der ersten Schau der Malerin und streichfassung“ für maximal mie vor, darin ganz brave Tochter der Bildhauerin in ihrem Geburtsland seit an- 74 Musiker. Avantgarde. Nur ein Jahrzehnt hatte sie derthalb Jahrzehnten (bis 23. Mai). Eine Zeit, ihren Vorsatz in die Tat umzuset- ärmliche Bilanz, denn gerade erst haben Literaturkritik zen. 1970 starb die als Kind aus Deutsch- im Ausland mehrere Gesamtausstellungen den hohen Rang ihres Werks Abgestrafter bestätigt. Den Ulmer Arbei- ten ist abzulesen, wie die Nestflüchter zwischen Selbstzweifel und Die deutsche Literaturkritik Selbstsicherheit schwanken- ist durchweg eine barmherzi- de Hesse sich durch aben- ge Körperschaft verständnis- teuerlich viele Ausdrucks- seliger Geister. Doch wenn formen hindurchkämpfte, ein Zunftgenosse ins Dichter- ehe sie zur Bildhauerei fand. fach wechselt, peitscht die Die hat sie dann mit sinn- Meute den strebsamen Nest- licher, intuitiver Dichte aus flüchter gern mit scharfkanti- dem Klammergriff des intel- gen Verrissen. Dem Turbo- lektuellen Minimalismus be- Feuilletonisten Fritz J. Rad- freit. „Vielleicht ist meine datz ist das einst mit seinem Kunst deshalb so gut“, sagte Epos „Kuhauge“ widerfah- sie kurz vor ihrem Tod, ren. Nun muß sich auch der „weil ich keine Angst ha- Theater- und Literaturkriti- Hesse-Werk „Oomamaboomba“ (1965), Hesse be.“ ker Peter von Becker, 46, über Kollegen grämen, die seinen Roman „Die andere Architektur der Fernsehredakteur Horst Neu-Cluny wird, wie Bau- Zeit“, erstaunlich einhellig, Cramer jetzt im Buch meister Koob versichert, als „endloses talmiphiloso- Cluny aus („Cluny – Architektur als Vi- durch Eingabe zusätzlicher phisches Gequatsche“ (Die sion“; Edition Braus; 68 Details ständig verfeinert. Welt) schmähen. Die FAZ dem Computer Mark). Rekonstruiert wird raunzte über von Beckers Die Kirchenbauer hielten die Abteikirche von Cluny, Oper „ganz leeres Buch“ und sich an überkommene Pro- ein nach der Französischen wünschte sich, „daß er die portionsregeln, grundierten Revolution größtenteils ver- Wagner-Helden ihren Plan mit Linienrastern nichtetes Hauptwerk romani- und stellten Pfeiler, Bögen scher Baukunst. Meßdaten kehren heim und Kapitelle serienweise be- aus Ruine und alten Ansich- Wild wüten Wagners wehr- reit – wie ihre Vorgänger vor ten verknüpft der Computer hafte Walküren nun auch im 900 Jahren. Doch das Gottes- nicht nur schneller und zu- hohen Norden Europas. haus war nicht aus Stein, son- verlässiger als die Cluny-For- Erstmals dürfen Waltraute dern aus Computerdaten. schung, der er handfeste Feh- und Schwertleite nebst Wo- Die Entstehung dieses Re- ler nachwies, sondern auch tan, Siegfried und dem Dra- chen-Gebäudes schildern der anschaulicher. Der noch syn- chen auf mythologischen Architekt Manfred Koob und thetisch-glatte Anblick des Mutterboden zurück: Beim Reykjavik Arts Festival auf Island, der Stammheimat der von Becker von Wagner adaptierten Ed- da-Dichtung, spielt das nächsten 30 Jahre Ruhe ge- Opernhaus der Inselhaupt- ben wird“. Dagegen freilich stadt zur heimischen Wag- hat der Neo-Romancier ner-Premiere den giganti- (Textprobe: „Zwei lachende schen „Ring des Nibelungen“ Köpfe, und ihre Körper wa- auf. Doch der 16stündige Ko- ren aus einem Guß“) jetzt die loß wird für die Erstauffüh- letzte Waffe der Künstler- rung am Polarkreis Ende Mai Mimosen eingesetzt – die auf 252 Minuten gestutzt – Menschenrechtsbeschwerde für Gralshüter ein Sakrileg, bei der Geschäftsleitung. Die für den Bayreuther Statthal- FAZ-Kritik, schrieb er, über- ter-Enkel Wolfgang Wagner schreite jede „Grenze des de- „durchaus legitim“; er selbst mokratischen Journalismus“ betreut das Projekt. Als und sei „Menschenverach- Schwerpunkte der Kurzversi- tung als Feuilletonismus“. on wählte er „Rheingold“ Frontwechsel erweitern den Cluny-Computerbild und „Walküre“, in denen der Horizont.

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Schriftsteller „IM KOPF SAUBER“ Der ostdeutsche Literat Stefan Heym, demokratischer Sozialist und Kandidat der SED-Nachfolgerin PDS für die Bundestagswahl, hat sich schon in den fünfziger Jahren mit politischen Kommentaren hervorgetan – als Anhänger des Stalinismus, Verharmloser sowjetischer Straflager und Agitator gegen aufsässige DDR-Bürger.

tefan Heym, 80, Erfolgsautor und Bundestagskandidat der PDS in SBerlin, legt Wert auf Kontinuität. „Stets“, beteuerte der Dichter im Bou- levardblatt BZ, habe er sich „für Demo- kratie und Sozialismus“ engagiert. Als aufrechter Recke für Menschen- recht und soziale Gerechtigkeit und un- erschrockener Kämpfer gegen Faschi- sten und andere Diktatoren soll der Schriftsteller im Herbst der SED-Nach- folgepartei wieder in das Bonner Parla- ment helfen. „Ich hoffe, daß gerade ich mit meinem Namen dort etwas bewegen kann“, verkündete der Alte aus dem Berliner Vorort Grünau emphatisch. Doch Schein und Sein liegen bei Heym wie bei vielen seinesgleichen, die den Untergang des sozialistischen Sy- stems nicht verwunden haben, weit aus- einander: In den fünfziger Jahren hat der Dichter, zumindest insoweit seinem Kollegen Stephan Hermlin ebenbürtig, sein demokratisches Engagement vor al- lem der Rechtfertigung des SED-Re- gimes und der Verherrlichung des Dik- tators Josef Stalin gewidmet – das zeigen bislang weithin unbekannte Texte des Autors. Heym, Sohn eines jüdischen Chem- nitzer Kaufmanns, der vor den Nazis in die USA emigrierte und ursprünglich Helmut Flieg hieß, kehrte 1945 als Ser- geant einer US-Einheit für psychologi- sche Kriegführung nach Deutschland zurück. Doch mit den Amerikanern überwarf sich der damalige US-Bürger bald we- gen seiner Sympathien für den Kommu- PDS-Bundestagskandidat Heym: Aufruf zu Klasseninstinkt und Wachsamkeit nismus. 1952 siedelte er in die DDR über. Im April 1953 ließ Heym über die großen Panzer, den Oberleib aus der Der bekehrte Westautor, der unter staatliche Nachrichtenagentur ADN alle Luke gereckt, lächelnd. Das ist der anderem durch seinen Roman „Der bit- Welt wissen, er setze sich im Osten Mann, um dessentwillen ihr ruhig tere Lorbeer“ (1950) international be- „offen für Frieden und Freiheit und De- schlafen dürft. kannt geworden war, propagierte im mokratie“ ein. Juli 1953, knapp drei Wochen nach Daß er damit nicht den Sturz des Sta- Ohne das Eingreifen der Sowjettrup- dem Blutvergießen, ein „unzerreißbares linismus meinte, gab der Flüchtling aus pen, belehrte der Ex-US-Offizier die Band zwischen den Werktätigen und ih- dem Westen nach der Niederschlagung DDR-Bewohner, „hätten die amerika- rer Regierung“ in der DDR. des Arbeiteraufstandes vom 17. Juni nischen Bombennächte schon angefan- Den im März 1953 verstorbenen Men- 1953 in der Ost-Berliner Zeitung kund: gen“. Die Schüsse auf die Aufständi- tor der SED-Republik, Josef Stalin, be- schen, so Heym damals dialektisch, sei- trauerte Heym ein dreiviertel Jahr spä- Es war einmal am 17. Juni 1953 ein so- en gefallen, „um den Krieg zu verhin- ter zu dessen Geburtstag, dem „ersten, wjetischer Offizier, der stand auf einem dern, nicht um ihn zu beginnen“. den wir ohne ihn verleben müssen“. In

228 DER SPIEGEL 13/1994 man an die erzieherische Walter zeigte sich Heym 1957 über Stu- Wirkung produktiver Ar- denten in der DDR, diegegenPflichtvor- beit.“ lesungen über Marxismus-Leninismus Damit, schwärmte der protestierten. Der klassenkämpferische allzeit demokratische So- Poet verglich die Jungakademiker mit zialist, seien „die sowjeti- „Erbschleichern und Taschendieben“, schen Justizbehörden doch welche „die Arbeiterschaft betrügen“ auf dem richtigen Weg“. wollten und somit „eine traurige Mi- Diesen Weg wollte der schung von Judas und Spießbürger“ dar- sensible Dichter durch sub- stellten. versive Elemente auf kei- Solch mutiges Engagement für Freiheit nen Fall gefährden lassen. und Demokratie war dem SED-Regime Daher wandte er sich im zwei Jahre später, 1959, einen „National- Herbst 1956 mehrfach ge- preis II. Klasse“ wert. Ärger mit der gen das Aufbegehren in Po- Staatspartei bekam Heym erst ab Mitte len und Ungarn. Als die Be- der sechziger Jahre, alsdas SED-Politbü- völkerung Budapests im romitglied Horst Sindermann ihm eine Oktober die Stalindenkmä- „eingebildete Elitemission“ vorwarf – ei- Volksaufstand am 17. Juni 1953: „Krieg verhindern“ ler stürzte, klagte Heym in ne schwere Kränkung für den von sich der Berliner Zeitung, in Un- überzeugten Literaten. seiner Kolumne „Offen gesagt“, die re- garn sei „die Partei der Arbeiterklasse Heyms Zeitroman „5 Tage im Juni“ – gelmäßig in der Berliner Zeitung er- führerlos und entmachtet“. eine Bilanz des Arbeiteraufstands vom schien, rühmte Heym den Despoten, der Die eigenen Bürger mahnte der Spe- 17. Juni 1953 – wurde Anfang der siebzi- während seiner Regierungszeit in Kon- zialist für psychologische Kriegführung ger Jahre inder DDR diskutiert, erschien zentrationslagern über 20 Millionen zu „Klasseninstinkt und Wachsamkeit“. aber dann, 1974, doch nur im Westen. Menschen hatte umbringen lassen: Er sei Schließlich könnten die Sozia- der „meistgeliebte Mann unserer Zeit“. listen es „sich nicht leisten zu Geliebt, so Heym, hätten Stalin vor al- vergessen, daß der Klassen- lem „die kleinen Leute, die die Auswir- feind noch existiert“. kungen seiner Gedanken und seiner Daß die Sowjets den Un- Handlungen in ihrem Leben verspür- garn-Aufstand niederschlugen, ten“. war für Heym eine „Frage der Ethik“. Sittlich und mensch- lich sei es, so der Dichter im „Dem unerhörten Dezember 1956 in seiner Ko- Druck des Klassenfeindes lumne „Offen gesagt“, dem „Ausbruch der Anarchie und standgehalten“ der irregeführten Leidenschaf- ten energisch zu begegnen“. Die Eloge, die der eitle Heym in sei- Während in Budapest der nem autobiographischen „Nachruf“ sowjetische Geheimdienst Ra- 1988 zwar „ärgerlich“ findet, zugleich che an Regimegegnern nahm, aber als „außergewöhnliches Stück Pro- empfahl Heym seinen Lesern, sa“ preist, blieb nicht die einzige Ver- mit der „öffentlichen Selbstka- beugung vor dem Stalinismus. steiung“ sollte man in der Aufstand in Ungarn 1956: „Ausbruch der Anarchie“ Nach einer Reise durch das Sowjet- DDR „eine Pause machen“. land zeigte Heym sich 1954 beeindruckt Und er lobte Walter Ulbricht und die Der Parteizensur war das Manuskript zu von der „Ruhe, mit der die Leute in der SED, die „dem unerhörten Druck des kritisch –die frühere, weit versöhnlichere Sowjetunion gesegnet sind“. Die Ursa- Klassenfeindes standgehalten“ hätten. Version wäre ihr sicher lieber gewesen. chen der „Ruhe und inneren Sicher- Weniger erfreut als über den wackeren Als 1976 der Liedermacher Wolf Bier- heit“ im Lande Stalins mann aus der DDR ausgebürgert wurde, verklarte der weltläu- war Heym einer der Unterzeichner der fige Reporter seinen Protestresolution. Landsleuten in seinem Gegenüber dem SPIEGEL räumt Buch „Im Kopf – sau- Heym rückblickend selbstkritisch ein, er ber“. habe sich seinerzeit beim Urteil über Ul- Bei den Gefange- bricht „ein wenig vertan“. Zugleich nenlagern in der So- rechtfertigt er seine SED-Propaganda wjetunion, die Alexan- damit, daß „damals eine völlig andere Si- der Solschenizyn später tuation“ bestanden habe: „Das können in seinem Bericht über Sie gar nicht beurteilen.“ den Archipel Gulag be- Als Bundestagskandidat der PDS setzt schrieben hat, handele Stefan Heym vorallem auf die Jungen. Er es sich um „Siedlun- fühle sich, sagt er, „mit den jungen Men- gen“ mit „kleineren schen in der PDS verbunden, mit denen, Häusern und größeren die keine SED-Vergangenheit haben“ – Baracken“. Dort wür- und keine Erinnerung? den Kriminelle umer- Auf den Schild gehoben haben den Ex- zogen, denn: „In der Kommunisten Heym indes die,mitdenen Sowjetunion glaubt Sibirisches Straflager: „Produktive Arbeit“ er auf einen langen gemeinsamen Holz-

DER SPIEGEL 13/1994 229 weg zurückblicken kann –die Alt-Genos- sen der SED-Nachfolgepartei. Sie kürten Heym im Ost-Berliner Quartier Prenz- lauer Berg im Februar zu ihrem Kandida- ten. Auch sowächst zusammen, waszusam- mengehört. Y

Affären Alles selbst erlebt Der deutsche Kurzfilm „Schwarzfah- rer“, vorige Woche mit einem Oscar gekrönt, soll ein freches Pla- giat sein. Kenner widersprechen.

em großen Jubel folgte, über Nacht, der Katzenjammer. Ein Ddeutscher Kurzfilm hatte die be- gehrteste aller Filmtrophäen, den Os- car, errungen. Doch Pepe Danquart, 38, der Regisseur des preisgekrönten Bei- trags „Schwarzfahrer“, hatte kaum Zeit, den Rausch der „Oscar“-Feier auszu- schlafen, da meldeten RTL und zwei Boulevardblätter, er habe die Pointe seines Films geklaut. Und fragten sich, ob er seinen Oscar jetzt zurückgeben müsse. Die Geschichte ist in der Tat nicht neu. In der Straßenbahn sitzt ein Schwarzer, der nach den rassistischen Tiraden seiner Nachbarin bei der Fahr- kartenkontrolle kurzentschlossen deren Fahrschein aufißt, diese damit vor Kon- trolleuren in Beweisnot bringt und selbst ungerührt eine Monatskarte aus der Tasche zieht. Es gibt diesen Plot bereits in einem 1987 in Cannes ausgezeichneten Werbe- spot für die Osloer Verkehrsbetriebe.

Norwegischer Werbespot, preisgekrönter KULTUR

In dem norwegi- Kollegin, soll sie sich schen Halbminuten- in einer Straßenbahn Spot reißt ein Punk, in Helsinki ereignet entnervt von den ab- haben. Als er sie zum schätzigen Blicken sei- zweitenmal von einem ner Nachbarin, dieser Berliner Hotelportier den dummstolz hoch- hörte, stand für den gehaltenen Fahrschein Forscher fest: Es han- aus der Hand und ver- delt sich um ein mo- schluckt ihn; dem dernes Märchen, eine Kontrolleur hält er jener „absolut wahren dann lässig seine Mo- Geschichten, die der natskarte vor die Nase. Freund eines Freundes Zufall oder Dieb- selbst erlebt hat“. stahl? Die Fahrschein-Saga Danquart und sein ist, so Brednich, seit Produzent Albert Kitz- 1988 in Nord- und Mit- ler von der Berliner teleuropa gut bekannt. Trans-Film wollen von Sie verschwand dann dem norwegischen Oscar-Gewinner Danquart in der Versenkung und Werbewerk nichts ge- Pointe aus der Schweiz erlebte im vergange- wußt haben. Sie beru- nen Jahr eine Wieder- fen sich auf eine gemeinsame Bekannte, geburt: Die Süddeutsche berichtete im die den Vorfall in einer Straßenbahn in November von einem ähnlichen Vorfall der Schweiz selbst erlebt habe. in Wien. Ulrich Wickert erzählte ihn in Jurist Kitzler hat allerdings vorgebaut: den ARD-„Tagesthemen“ – als politisch Er ließ sich den Vorfall von der Zeugin korrekte Anekdote. schriftlich bestätigen, um eventuellen Den Plagiatsvorwurf und die zer- Plagiatsvorwürfen entgegentreten zu knirschte Aufforderung an Danquart, können. Kitzler wußte von einer Szene in den Oscar zurückzugeben, hält Bred- einem afrikanischen Film, in der eben- nich für „völlig absurd“. Schließlich sei falls ein Fahrschein verspeist wird. ja nicht bloß die Schluß-Pointe ausge- Über die Sache mit der guten Bekann- zeichnet worden, sondern der Zwölf- ten, die den Fall selbst erlebte, freut sich Minuten-Film als Ganzes. einer besonders: der Göttinger Ethnolo- Die Unterschiede zwischen beiden ge Rolf Wilhelm Brednich, 59. Der hat Filmen sind nicht zu übersehen: Wäh- sich seit mehreren Jahren auf das Sam- rend der Spot die Pointe auf kürzestem meln moderner Sagen spezialisiert und Weg und ohne Worte erzählt, beobach- die Erfahrung gemacht, daß es immer ei- tet Danquart auch die Gesichter derer, ne Person in der Bekanntschaft des Zu- die die rassistische Litanei dulden, ohne trägers gibt, die für die Wahrheit des Er- zu protestieren. zählten bürgt. Das Seltsame an dieser Diebesaffäre: Brednich ist auch für die Sache mit Es gibt niemanden, der sich beklaut dem verschluckten Fahrschein ein Ex- fühlt. Weder der schwedische Regisseur perte. Eine Version der Story befindet Rolf Solmann noch Knut George An- sich unter dem Titel „Der Punker in der dresen, der Produzent des norwegischen U-Bahn“inseiner Anthologie „Die Spin- Spots, mißgönnen Danquart die Tro- ne in der Yucca-Palme“ (1990). phäe. Beide können an der Wiederver- Er kennt die Geschichte seit 1987. Da- wertung des Stoffs „nichts Verwerfli- mals, so versicherte ihm eine finnische ches“ finden. Auch das „Academy Award“-Komi- tee denkt nicht daran, Danquart den Oscar abzuerkennen. In Los Angeles hält man die Affäre um das angebliche Plagiat für einen weiteren Beweis ty- pisch deutscher Mißgunst. Wirkliche Nachteile vom Wirbel um Danquarts „Schwarzfahrer“ hat indes der belgische Jungfilmer Jean-Philippe Laroche, 34. Dessen erster Kurzfilm „La dame dans le tram“ sollte gerade seine Reise durch die Festivals antreten – und wird nun nicht mehr angenom- men, weil er auf dieselbe Pointe setzt wie Danquarts „Schwarzfahrer“. Laroche sagt, er habe weder von Dan- quarts Film noch von dem norwegischen Spot gewußt. Er kennt eine Frau, die die Geschichte selbst erlebt hat – dies- deutscher Kurzfilm: Zufall oder Diebstahl? mal in einer Straßenbahn in Brüssel. Y

DER SPIEGEL 13/1994 231 KULTUR

„Madadayo!“ schmettern im vorlie- genden Fall der hochverehrte Filmregis- seur Akira Kurosawa, 84, und der hoch- verehrte Schauspieler Tatsuo Matsumu- ra, 79: Ihr feines kleines Alterswerk ist voll Melancholie und voll querköpfiger Weisheit, es handelt vom Altwerden, vom Vereinsamen, vom Sterbenmüssen, doch mit irrlichterndem Humor – als hätte Kurosawa seinem so strengen, so schicksalsschweren Œuvre von „Rasho- mon“ bis „Ran“ nun ein Satyrspiel hin- terhergeschickt. Matsumura porträtiert den in Japan offenbar hochverehrten Professor und Schriftsteller Hyakken Uchida (1889 bis 1971), einen emeritierten Exzentriker mit Herz und Witz: Seine ehemaligen Schüler hielten so treu zu ihm, daß sie, als er im Krieg ausgebombt wurde, ih- rem geliebten „Meister“ ein neues Haus bauten und jedes Jahr an seinem Ge- burtstag ein Fest veranstalteten. „Raining Stones“-Darsteller Jones, Tomlinson: Biotop für Unglücksmenschen Die Folge dieser Feiern – ihr Höhe- punkt ist jeweils ein lebhaft gekrähtes Film tugiesischen Szenerie gemacht hat, die „Madadayo!“ – gibt dem anekdotischen Chile darstellen soll. Warum kommen Film seinen Rhythmus: Es sind Banket- dann britische Filme in deutsche Kinos? te einer fremdartig steifen Männerge- Was ist da los? „Raining Stones“ ist in- sellschaft, deren Biertrinkzeremoniell Loch im Kopf nerhalb eines Vierteljahres (nach „The an deutsche Burschenschaftsbacchanale Snapper“ von Stephen Frears und gemahnt, und der professorale Humor, „Raining Stones“. Spielfilm von Ken „Naked“ von Mike Leigh) der dritte der da herrscht – damit auch wirklich Loach. Großbritannien 1993. kleine, geradezu schäbige britische immer was zu lernen ist –, hat offenbar Film, der im deutschen Kino-Angebot oft in der unübersetzbaren Doppeldeu- durch rüden Charme und freche Leben- tigkeit japanischer Wörter oder Schrift- s wird am klügsten sein, einen Typ digkeit auffällt: als eine einfach gelunge- zeichen seinen Ursprung. wie Bob Williams einfach für blöd ne Sache. Am Schluß aber, als der Sensenmann Ezu halten. Der Langzeit-Arbeitslo- Ken Loach, 57, macht seit gut einem wirklich auf der Schwelle steht, löst alles se, der in einer Vorstadtsiedlung von Vierteljahrhundert banale Filme über sich ins Traumhafte auf: Kinder hüpfen Manchester mit miesen Jobs und noch banale Leute, mit wenig Geld und oft vor einem riesigen Himmel auf einer mieseren Diebereien kaum Frau und (wie auch diesmal) hauptsächlich mit Wiese umher, spielen Verstecken, der Kind durchbringt, ist besessen von einer Amateurdarstellern. Sein Elan kommt Professor als kleiner Junge schlüpft in fixen Idee: Er meint, sein Töchterchen aus einer Art von Zuneigung zu diesen einen Heuhaufen, und als man nach ihm müsse in einem weißseidenen Kleid mit Unglücksmenschen, die nichts beschö- ruft, kommt ganz hell die Antwort: Spitzenschleier zur Erstkommunion ge- nigt. Die Besonderheit seiner Kunst, die „Madadayo!“ Dieses Finale hat den hen – dafür ist Bob bereit, sich ins Un- immer so tut, als sei sie gar keine, ist ihr poetischen Glanz von Kurosawas letz- glück zu stürzen. Reichtum im Kleinen. Sie blüht. tem großen Film „Träume“. Y Wer sagt, man müsse den Schein nicht Falls man Ken Loach glauben darf, wahren, nur weil er trügt? Aber schaut schaut Gott nicht nur nicht auf Details, der liebe Gott, wenn er seine Gnaden sondern drückt in so verqueren Fällen verteilt, wirklich auf Äußerlichkeiten wie dem von Williams sogar ein Auge zu wie das Kleid? Anders gefragt: Wie – deshalb ist „Raining Stones“ komi- kann sich ein Filmemacher für so was in- scherweise fast eine Komödie. teressieren und dabei auch noch hoffen, daß sich ein Publikum dafür interessie- ren könnte? Er kann, es kann. Er nämlich, Ken Loach, erzählt von dem proletarischen Winzbiotop, den er Tod, hau ab! mit seiner Kamera erkundet, so lustvoll, „Madadayo“. Spielfilm von Akira daß auch das Zuschauen Lust macht: Wie sich der Dussel Bob (Bruce Jones) Kurosawa. Japan 1993. und sein Kumpel Tommy (Ricky Tom- linson) abstrampeln auf der Jagd nach s gibt immer was zu lernen. Dies- der Finanzierung eines Wunschobjekts, mal, daß „Madadayo!“ auf japa- das sie so nötig brauchen wie ein Loch Enisch so etwa „Noch nicht!“ heißt im Kopf, ist eine bewegende Geschich- und daß man es zum Beispiel als älterer te: Hinein ins Verbrechen! Mensch möglichst kraftvoll dem japani- Deutsche Filme, so hört man, verir- schen Sensenmann entgegenschmettert, ren sich selten in britische Kinos, falls wenn der kommt und fragt, ob es einem „Madadayo“-Star Matsumura sie nicht zufällig ein Däne in einer por- recht wäre. Exzentriker im Heuhaufen

232 DER SPIEGEL 13/1994 Werbeseite

Werbeseite KULTUR

Architektur „Industrielles Gartenreich“ Wolfgang Pehnt über das Bauhaus Dessau und dessen grüne Erneuerung

Pehnt, 62, lebt als Architekturkritiker Unnütze Frage, ob je ein Verlag sich rer Konzepte und Strategien: heute hü! in Köln. Er veröffentlichte zuletzt „Die mit ähnlicher Ausführlichkeit der Lehr- und morgen hott! Erfindung der Geschichte“ (1989) und und Versuchsateliers Wilhelm von Deb- In Dessau sind die heutigen Insassen eine Monographie über das Goethea- schitz’ in München, der Kunstgewerbe- des Bauhauses ständig mit der mythi- num in Dornach (1991). schulen in Berlin oder Straßburg, der schen Vergangenheit konfrontiert. Kon- Breslauer Akademie, der Frankfurter zentrierter könnte man sich die Bau- aß man die Helden der Legenden Kunstschule annähme – natürlich nicht. erzeugnisse der Moderne nicht auf dem nicht umbringen kann, ist schon An ihnen und einem halben Dutzend knappen Raum einer Mittelstadt ver- Dder ältesten deutschen Heiligen- weiterer Institute ist, vor und neben sammelt wünschen, wohl aber besser in- dichtung zu entnehmen. Sankt Georg, dem Bauhaus, vorzügliche Arbeit gelei- stand gehalten. so dichtete ein alemannischer Poet des stet worden, wurden Lehrwerkstätten Das Bauhaus-Gebäude an der Allee, neunten Jahrhunderts, wurde mit dem und handwerkliche Schulung als unab- die jetzt nach Thälmann den Namen Schwert erschlagen. Aber er stand wie- dingbare Voraussetzung betrachtet, gab Gropius führt, muß für rund zwölf Mil- der auf und predigte weiter. Schließlich es ein Training von Hand zermahlte man ihn und streute seine und Auge, das den be- Asche in alle Winde aus. Aber: „Das rühmten Bauhaus-Vorkurs weiß ich, das ist wirklich wahr: Aufer- von Meister Itten vorweg- stand Herr Georg da.“ nahm, lehrten kaum min- Mit dem Bauhaus und vor allem mit der wichtige Künstler als in seinem Gründer Walter Gropius verhält Weimar oder Dessau. es sich ähnlich. Die Moderne-Kritik hat Aber das Bauhaus ging ihn verbrannt und seine Asche in alle aus der Konkurrenz dank Winde gestreut. Aber was geschah? Des der Berufungspolitik und Hauses und seines Gründers wird aller- der Integrationsleistung orten gedacht. seines Leiters Walter Gro- Allein in Deutschland hat jeder der pius als Sieger der Kunst- drei Wirkungsorte der Bauhäusler eige- geschichte hervor – und ne Kultstätten hervorgebracht: in Wei- dank seiner eigenen Propa- mar, wo das Bauhaus gegründet und ganda für die „ehrliche“ 1925 vertrieben wurde, die Hochschule funktionale Einfachheit als für Architektur und Bauwesen, die sich Jahrhundertlösung. Ein- zu einem neuen Bauhaus entwickeln mal Sieger, immer Sieger. möchte; in Dessau, dem Sitz des Bau- Denn auch die zeitgenös- hauses von 1925 bis 1932, das heutige sischen und die postumen Institut gleichen Namens; in Berlin, der Gegner des Bauhauses tru- letzten Zuflucht bis 1933, das Bauhaus- gen zur wundersamen Ver- Archiv und -Museum. Doch Sammlun- mehrung des Nachruhms gen mit Bauhaus-Beständen gibt es auch bei. Vielleicht haben erst in Weimar und Dessau. Und Kolloquien die Anfeindungen, etwa und Symposien an allen drei Orten. der Nazis, und die kriti- Kein Jahr vergeht, ohne daß sich schen Analysen die Gleich- nicht die lange Reihe der einschlägigen setzung von Bauhaus und Bauhaus-Gründer Walter Gropius*, Bauhaus-Architektur: Publikationen um neue Erzeugnisse ver- Moderne – soweit sie mehrte. Die jüngste, eine Sammlung Kunst und Gestaltung betraf – zemen- lionen Mark saniert werden. Es ist die von Produkten und schriftlichen Äuße- tiert. Die Bauhaus-Debatte, die der zweite nach der seinerzeit so hochge- rungen aus Meister- und Schülerhand, Kölner Architekt und prominente Kir- rühmten von 1976, bei der mehr Improvi- hat der englische Kunsthistoriker Frank chenbaumeister Rudolf Schwarz 1953 sation und Pfusch im Spiele waren als da- Whitford zusammengetragen, ein Kalei- anzettelte (und die jetzt im 100. Band mals in Ost und West zugegeben. Die doskop der hochfliegenden Ideale und der Reihe Bauwelt Fundamente nachzu- Meisterhäuser im nahen Kiefernwald eklatanten Fehlschläge, der Triumphe lesen ist***), verlief insofern repräsen- sind sowieso seit dem Kriege in rampo- und Querelen**. tativ. niertem Zustand. Das Einzelhaus des Di- Ährenlese vom abgeernteten Acker – Was Schwarz bei aller mutwilligen Po- die gibt’s alle paar Jahre, aber so üppig lemik reklamierte, die Traditionsverlu- * 1968 in Stuttgart. ** Frank Whitford: „Das Bauhaus. Selbstzeugnis- dargeboten waren die Feldfrüchte seit ste und die Einbuße an Gestaltreichtum, se von Meistern und Studenten“. Deutsche Ver- langem nicht. Wer bei einem Minimum ging nicht in die Diskussion ein. Ein dia- lags-Anstalt, Stuttgart; 328 Seiten; 148 Mark. an kritischer Verarbeitung ein Maxi- lektischer Prozeß, in dem die Sache sich *** Ulrich Conrads, Magdalena Droste, Winfried mum an Schilderungen aus erster Hand aus ihren inneren Widerständen bewegt Nerdinger, Hilde Strohl (Hrsg.): „Die Bauhaus-De- batte 1953. Dokumente einer verdrängten Kon- schätzt, wird bei Whitford mit Anekdo- hätte, kam nicht zustande. Es blieb bei troverse“. Verlag Vieweg, ; 264 Sei- ten und Details gut bedient. den schroffen Abfolgen jeweils konträ- ten; 48 Mark.

234 DER SPIEGEL 13/1994 Eine andere Kost- Kurz nach der sachsen-anhaltinischen barkeit jener Tage, das Regierungskrise und rechtzeitig zu Arbeitsamt von Gropi- Weihnachten fand der Landtag Zeit, ein us, ist durch einen elf- Gesetz über die Errichtung einer Stif- stöckigen DDR-Plat- tung zu verabschieden. Inzwischen hat tenbau gleich dahinter es Gesetzeskraft erlangt. Das Bauhaus verunstaltet. Am Elb- ist eine Stiftung geworden. knie wartet das Korn- Von Gunst und Ungunst der politi- haus, ein Ausflugsre- schen Stunde, die das Bauhaus von der staurant von Carl Fie- Weimarer Republik bis zur Wende im- ger, auf Restaurierung mer wieder gefährdeten, ist die Instituti- und bessere Tage. on damit endlich unabhängig geworden. Das Erbe der zwan- Der Stiftungsrat erhält laut Gesetz einen ziger Jahre ist ein Ka- Wissenschaftlichen Beirat, der auch zur pital, mit dem die heu- anstehenden Wahl des neuen Direktors tige Institution Bau- gehört wird. Professor Kuhn bewirbt haus leben darf und le- sich wieder. Aber auch im In- und Aus- ben muß. Es ist Chan- land stehen Interessenten parat. ce und Alptraum zu- Bauhaus-Schule in Dessau gleich. Von dem ge- lernten Sozialwissen- Mit Kaffeeservice schaftler Rolf Kuhn, und Kerzenleuchter zu seit 1987 amtierender Direktor, und jedem neuen Ufern seiner potentiellen Nachfolger wird Wi- Das Stiftungsgesetz ist auch insofern dersprüchliches ver- ein Erfolg der jetzigen Mannschaft, als langt. Sie sollen dem es die derzeitigen Tätigkeiten in seinen Anspruch des histori- Paragraphen festschreibt: Werkstatt, schen Bauhauses ge- Sammlung, Akademie. Die „Akade- recht werden – und sie mie“ veranstaltet Kurse und Klassen. müssen ihn vergessen, Die „Sammlung“ kam 1991 mit dem wenn sie ein Pro- rund zwei Millionen Mark teuren An- gramm von heute ma- kauf von Teilen der Kollektion Bröhan, chen wollen. einer Dauerleihgabe des Landes an sei- Meisterhaus (oben), Stahlhaus (unten) in Dessau Die Reihe der Bau- nen Dessauer Zögling, ins Gerede. Nun haus-Direktoren, Gro- umschließt der Sammlerehrgeiz auch ein pius, Hannes Meyer, Kaffeeservice der Wiener Werkstätte, Mies van der Rohe, Kerzenleuchter Joseph Maria Olbrichs mute an wie die Trini- und einen Stuhl Frank Lloyd Wrights. tät von Marx, Engels Der „Werkstatt“ hat Kuhn mit dem und Lenin, meinte Pe- Sinn für Publizität, der auch seinem er- ter Hahn, Leiter des sten Vorgänger im Amt eignete, das Berliner Bauhaus-Ar- „Industrielle Gartenreich“ als Aufgabe chivs, bei einer Bau- gestellt. Die meisten Dessauer Projekte haus-Debatte in Mag- beziehen sich darauf. Das Schlagwort deburg. Die Zumu- knüpft an die Kulturleistungen des 18. tung dieses Vergleichs Jahrhunderts an, als das Anhalt-Dessau möchte er dem Kolle- des guten Fürsten Franz ein Hort patri- gen Kuhn und jedem archalischer Aufklärung war und sich späteren Amtsinhaber mit dem Wörlitzer Park einen der ersparen. schönsten deutschen Landschaftsgärten Traditionsverluste im Namen funktionaler Einfachheit In der Tat ist ei- zulegte. Daraus soll nun eine „grüne“ ne Historisierung des Vision für den finsteren industriellen rektors ist bis auf die Garage nicht mehr Bauhauses angebracht: Was war, ist ge- Raubbau des 20. Jahrhunderts, zumal vorhanden. Bei einem der drei Doppel- wesen. Und doch, welcher namhafte der Region um Wolfen und Bitterfeld, wohnhäuser fehlt die Hälfte. Irgendwann Dozent und welcher ausländische Sti- entwickelt werden. wird die Stadt es ergänzen müssen. pendiat käme nach Dessau, wenn nicht Für die ökologischen Probleme, die In der Siedlung Törten, einem Exem- die Aureole der legendären Tage über hier zu lösen sind, bietet das fortschritts- pel rationalisierter Bauweise, wurden die der Stadt hinge? frohe historische Bauhaus keine Hilfe. Reihenhäuser schon zu Bauhaus-Zeiten Nach dem deutsch-deutschen Zusam- Aber als es nach 1945 wieder gegründet an private Eigentümer verkauft und sind menschluß hat die Institution Bauhaus werden sollte und der Dessauer Stadt- deshalb nur schwer nach einheitlichem mit Erfolg und Selbstvertrauen taktiert. planer Hubert Hoffmann den Land- Plan instand zusetzen. Wenigstens wurde Anders als andere Kultureinrichtungen schaftsarchitekten Hermann Mattern das Stahlhaus von Georg Muche und Ri- ist sie nicht abgewickelt worden. Den zum Direktor machen lassen wollte, chard Paulick, avantgardistisch in der größten Teil ihrer Aufgaben finanzieren zeichnete sich schon einmal die Perspek- Konstruktion bei katastrophaler Bau- der Bund (mit 50 Prozent), das Land tive eines „grünen“ Bauhauses ab. physik, nach seiner weitgehenden De- Sachsen-Anhalt (mit 45 Prozent) und Daß ein Institut wie dieses mit seinen montage anno 1989 nun wiederherge- die Stadt Dessau (mit 5 Prozent) ge- schwachen Kräften Initiativen nur auf stellt. meinsam. den Weg bringen und nur als Vermittler

DER SPIEGEL 13/1994 235 KULTUR

von Gedanken auftreten kann, versteht ten. „Es fliegen gewaltige Junkersflug- sich von selbst. Geht es nach den Des- zeuge über unserm Wäldchen herum“, sauer Wünschen, wird das „Industrielle schrieb der Maler Lyonel Feininger an Gartenreich“ im Jahre 2000 Teil der seine Frau, nicht verärgert, sondern hannoverschen Weltausstellung sein. stolz: „Das ist eine Pracht anzusehen.“ Das Bauhaus, das einst als Hoch- Aber die Vorschläge, Entwürfe und schule für Gestaltung firmierte, wird Projekte müßten auch jenseits der regio- keine Schule mehr sein. Die Annexi- nalen Grenzen angewendet werden kön- onsgelüste der halleschen Kunst- und nen. Designhochschule Burg Giebichenstein Die Idee des „Industriellen Garten- wie der Dessauer Fachhochschule sind reichs“ hat durchaus diesen Modellcha- abgewehrt, und das ist gut so. Eine rakter. Was in den stillgelegten Braun- neue Unterrichtsanstalt für Kunst oder kohlegruben um Bitterfeld und an den Design wird nicht gebraucht, wohl Ufern der Chemiekloaken gelingt oder aber eine bewegliche Agentur der mißrät, betrifft auch die Industriewü- Ideen, ein Ort, an dem unabhängig sten in Lothringen, an Ruhr und Em- kreuz und quer gedacht werden kann scher oder in Mittelengland. und soll. Doch das Grundstück an der Kreu- Das heißt auch: Abschied nehmen. zung der Straße der Deutsch-Polnischen Wo ständige Fluktuation herrscht und Freundschaft mit der Straße der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft zu diskutieren; oder den Dessauer Bahn- „Junkersflugzeuge hofsplatz; oder die Sanierung von Des- über unserm sau-Nord nebst der nötigen Sozialbe- treuung – ist das Sache des Bauhauses? Wäldchen: eine Pracht“ Sollten da nicht Stadtteilsanierer an die Arbeit gehen, die ihr Handwerk gelernt nur ein paar Studenten für längere Zeit haben? an ihren Diplomarbeiten sitzen, wird Das Bauhaus müßte sich zum Ge- sich kaum noch die elektrische Hoch- sprächspartner der ersten Designer-, spannung zwischen täglicher Nähe und Architekten-, Umweltplaner- und Öko- langjähriger Lebensgemeinschaft her- logenadressen der Welt machen. Aber stellen, zwischen schöpferischem Glück es muß nicht Kinderfeste im Kiez orga- und produktivem Krach, wie sie für das nisieren. Es dürfte nichts tun, was ande- alte Bauhaus charakteristisch war. re auch oder besser können. Aber es Eine bestimmte Versuchung liegt dem müßte tun, was die anderen nicht kön- heutigen Bauhaus nahe: Es wird zu oft nen. im lokalen Maßstab gedacht. Zwar wuß- Eine Chance liegt im Versäumnis der ten auch Walter Gropius und Hannes anderen. Der Deutsche Werkbund und Meyer, daß die Bewährung jeweils vor in seinen begrenzten Möglichkeiten Ort stattfand, in Törten oder Bernau. auch das Internationale Design Zen- Es war kein Zufall, daß sich die Bau- trum (IDZ) in Berlin waren Institutio- häusler Dessau als Sitz auserkoren hat- nen, in denen laut gedacht wurde, was anderswo unter der Decke blieb. Von * Im Treppenhaus der Bauhaus-Schule auf Bau- der großen Landzerstörung war 1959 die haus-Stahlrohrstuhl von Marcel Breuer. Werkbund-Rede, während allenthalben

Bauhaus-Direktor Kuhn*: Hoffen auf eine grüne Vision

236 DER SPIEGEL 13/1994 Werbeseite

Werbeseite noch blanke Planungseuphorie herrsch- te. Bis in die siebziger Jahre hinein, als Julius Posener oder Lucius Burckhardt den Vorsitz hatten, wurde im Werkbund öffentlich verhandelt, was das Zusam- menleben aller betraf. Das ist dem Werkbund seitdem nur noch sporadisch gelungen, und dem IDZ aus anderen Gründen auch nicht. Wenn das Bauhaus diese Fehlstelle besetzte; wenn es zu einer Werkstatt der Ideen würde, deren Kompetenz zwar nicht in der Lösung, wohl aber in der Formulierung von Problemen läge; wenn es ein Forum böte, auf dem jede mögliche Zukunft in der Konkurrenz und im Konflikt mit der Vergangenheit der Moderne erörtert wird; dann, ja dann würden auch seine Kritiker gern das Kiezfest in Dessau-Nord mit ihm fei- ern. Y

Autoren Lotte in Helvetia Vom Leben nach dem Tode: Die Schweiz feiert ihren Dürrenmatt, seine unlustige Witwe eifert.

Männer leben vom Vergessen, Frauen von Er- innerungen. T. S. Eliot

änner von Ansehen hinterlassen leider häufig etwas, das gegen sie Mverwendet werden kann: eine Witwe. Namen wie Brandt, Beuys, Kandin- sky tauchen jäh vor dem vertränten Au- ge auf; mit ihnen verruchte Gedanken an einen altindischen Brauch. Nun gerät auch ein Grandseigneur vom Klub der toten Dichter zunehmend in den Hexen- ring: Helvetiens göttlicher Spötter, der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt (1921 bis 1990). Und dies just in jenen Tagen, da die Schweiz, ohne triftigen Grund, von ei- nem heftigen Dürrenmatt-Fieber ge- schüttelt wird. Bern wie Zürich, bei- spielsweise, eröffneten große Ausstel- lungen, hie mit dem literarischen, da mit dem malerischen Nachlaß: Kolloquien grummeln, Filme laufen, „Der Besuch der alten Dame“ bricht wieder herein, auch kurvt eine „Dürrenmatt-Tram“. Eine Frau, 66, ist mittendrin: Charlot- te Kerr Dürrenmatt, wie sie sich binde- strichfrei heißt, die deutsche Witwe und zweite Gattin des Schweizer Heiligtums. Sieben Jahre hatte sie dem Dichter zur

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i Den literarischen ter wert sein; der bauwillige Architekt, Nachlaß, die Manu- der Tessiner Mario Botta, entwarf in- skripte, Briefe und an- zwischen, als Huldigung, einen Stuhl na- deres, schenkte Dür- mens „Charlotte“. renmatt der Eidgenos- Doch gemach. Einer, der Volkes senschaft mit der Auf- Stimme spricht, hält Dürrenmatts lage, ein „Schweizeri- Schweizer Garde für weitaus stärker als sches Literaturarchiv“ die „Ausländerin, die uns unseren Fritz ins Leben zu rufen nehmen möchte“ (sie hat auch die (1991 in Bern gegrün- Schweizer Staatsangehörigkeit). Bitter det). Umfang: allein jedenfalls: Die Posse „Lotte in Helve- „17 Laufmeter“ Manu- tia“ kommt nicht an. skripte. Noch bitterer, daß ein Jungdramati- i Den malerischen Nach- ker aus St. Gallen, Felix Kauf, 25, die laß, über 100 Lithogra- unlustige Witwe wirklich und wenig phien, Zeichnungen, würdig auf die Bretter bringt. Das Werk Gemälde, ließ Dürren- heißt „Dürrenmatts Erbe. Eine Farce“, matt testamentarisch in umfaßt, neben Charlotte, die Personen eine Stiftung einbrin- Dürrenmatt und Kauf und ist bislang gen. Mit im fünfköpfi- immer wieder nicht aufgeführt worden. gen Stifterrat: Charlot- Ort der Handlung: Dürrenmatts te Kerr Dürrenmatt. Weinkeller. Der Dichter, voll Bordeaux Das Kunsthaus Zürich, und misogyner Todeslust, erwartet das, aus Bildern der Stif- Kauf; ihn hat er zum Erben eingesetzt. tung und Privatbesitz der Kauf kommt, nimmt das Testament, Witwe, eine Ausstellung Dürrenmatt die Todespille, Freudentau- auf die Beine stellte, hat- mel. Auf geht die Kellertür, Charlotte, te das Dürrenmatt-Revi- alles unter Kontrolle, erschießt den val entfacht; das Ber- Kauf, verbrennt das Testament und Künstler Dürrenmatt (1988) ner „Literaturarchiv“ zog spricht: „Wenn’s um Geld geht, versteh’ „Ich habe nichts als dich im Sinn“ mit, überall regte sich Bil- ich keinen Spaß.“ dung und Streben, bis hin Kauf, voll Glauben an das Gute im Seite gestanden; danach wurde sie, in zur kurvenden Tram. Und wo blieb die Menschen, hatte das Werk nebst einem Schweizer Augen, sein herrischer Land- (Sonntags-Zeitung) „Vollblutwitwe“? Brief an Charlotte Kerr gesandt; in mit- vogt und Stellvertreter auf Erden. Sie kämpfte, Blütenlese aus der fühlenden Zeilen gab er zu bedenken, Der Witwe hoher Sinn war Liebha- Schweizer Presse, „tapfer gegen Wind- daß sich das Stück womöglich „selbst bern ihrer Prosa bereits nahegegangen, mühlen“, stand im „Streit ums Erbe“, disqualifiziert“. „So ist es“, schrieb die als sie nach des Gatten Tod ein Gedenk- gelobte, sich „nicht auslöschen“ zu las- Witwe an den Rand, schickte den Brief büchlein über sich und ihn veröffentlich- sen und das Werk Dürrenmatts „bis auf zurück und das Stück zum Diogenes te, „Die Frau im roten Mantel“. Es ent- die Zähne zu verteidigen“; einen „Rie- Verlag, an die Rechtsabteilung. Y hüllte sie als eine, die Filme gemacht senwirbel um Charlotte Kerr“ sichtete hat, „die gut sind“, Artikel schrieb, „die gar ein Blatt und fragte bang: „Wer hat gut sind“, und die auch auf der Bühne Angst vor Dürrenmatts Witwe?“ „gut war“. Gut gebrüllt, Löwin. Das alpine Grollen hatte angehoben, Oder „Tigerin“, wie Dürrenmatt als Charlotte Kerr im vergangenen Jahr („Ich habe nichts als dich im Sinn“) sie die theatralische Exekution eines späten anreimte. Als er starb, hinterließ er den Dürrenmatt-Textes, „Midas“, per einst- Erben – der Witwe und den drei Kin- weiliger Verfügung verhinderte; der dern aus erster Ehe – ein Vermögen von Rechtsstreit zwischen Witwe und Dioge- 3,2 Millionen Franken und (Dürren- nes schwelt mittlerweile in juristischen matts letzte Steuererklärung) ein Jah- Gipfelhöhen. reseinkommen von 400 000 Franken. Als sehr unfreundlicher Akt wurde Damit könnte, ganz unter uns, jedwe- sodann vermerkt, daß sie im Katalog de Witwe in stille Heiterkeit versinken zum Revival partout jenen Aufsatz nicht und von der Drei-Häuser-Eremitage des dulden wollte, in dem ein Freund Dür- Verblichenen, hoch über Neuchaˆtel, renmatts aus des Dichters Vor-Charlot- den scharfen Blick über den Neuenbur- ten-Ära berichtete; sie werde nicht zur ger See und die Berner Alpen zucken Vernissage kommen, wenn der Aufsatz lassen. Dies um so mehr, als der welt- erscheine; beide erschienen*. weise Dichter sein künstlerisches Werk, Zum Glühen brachte sie die Alpen das geschriebene wie das gemalte, wohl- schließlich mit dem Projekt, auf dem geordnet und nicht zum Streit anspor- Gelände der Neuchaˆtel-Eremitage eine nend der Nachwelt übergeben hatte: Art Taj Mahal zu errichten, ein Museum i Gedrucktes und Ungedrucktes, Prosa für Dürrenmatts Mal-Werk. Die zehn und Dramen, hütet der Zürcher Dio- Millionen Franken für Bau und Betrieb, genes Verlag – ein Midas-Schatz: meint sie, müssen der Schweiz ihr Dich- Weltauflage rund 20 Millionen, Insze- nierungen von Sri Lanka bis Uru- * Schweizerisches Literaturarchiv und Kunsthaus Zürich (Hrsg.): „Friedrich Dürrenmatt. Schriftstel- guay. Punktuelle Mitsprache: die Er- ler und Maler“. Diogenes Verlag, Zürich; 320 Sei- Dürrenmatt-Witwe Kerr, Stuhl „Charlotte“ ben. ten; 54 Franken. „Bis auf die Zähne verteidigen“

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Autoren Felix im Unglück SPIEGEL-Redakteur Volker Hage über den Niederländer Leon de Winter und seinen Roman „Hoffmans Hunger“

a hockt er, der Botschafter Hoff- was er von seinen Eltern sah, war der man: auf dem Klo. Er liest Spino- Trost, den seine Mutter seinem Vater Dza. Er ist fett. Er fühlt sich unwohl. spendete, ihre Arme um seinen Körper, Seine Verdauung ist träge. Und er kann seinen Kopf auf ihrer Schulter.“ Der nicht schlafen. Seit mehr als 20 Jahren Junge fühlt sich allein gelassen, für im- nicht. mer. Felix Hoffman ist der Held in Leon de Ende 1944 kommen kanadische Sol- Winters Roman „Hoffmans Hunger“, daten, die Zeit des Versteckens ist vor- der jetzt auf deutsch erschienen ist**. bei. Die Eltern sieht er nie wieder, „und Bald ist er auch ein Kinoheld. Der nie- tief im Herzen wußte er, selbst wenn er derländische Schriftsteller Leon de Win- nicht begriff warum, daß er etwas ter, 40, hat sein Werk soeben selbst ver- Schreckliches versäumt haben mußte, filmt. Der Amerikaner Elliot Gould als Van de Pas ihn mitgenommen hatte spielt, an der Seite der Engländerin in eine Welt von sterbenden Schweinen Jacqueline Bisset, die Rolle des Bot- und Gedichten voller Angst“. schafters. Felix, der Glückliche, ist in Er lebt fortan in der Familie eines Wahrheit eine Katastrophenexistenz. Freundes. Später heiratet er eine bild- Der Roman, in den Niederlanden Schriftsteller de Winter schöne Frau. Zwei Mädchen, Zwillinge, 1990 publiziert, zeichnet diese Figur so Scham für viele Leben werden geboren. Woher soviel Glück? lebendig und farbig, daß auch der beste Hoffman kann es kaum fassen. Film nur eine nachträgliche, im Grunde mehr schlafen. Er frißt nachts in sich Das Glück dauert nicht lange. Erst entbehrliche Illustration sein kann. hinein, was der gut gefüllte Kühlschrank stirbt, 1968, mit acht Jahren die kleine Hoffman, 59 Jahre alt, wird im Som- der Botschaft in Prag hergibt, er frißt, Esther an Leukämie – dann, Jahre spä- mer 1989 Botschafter des Königreichs bis er kotzen muß – oder endlich kann. ter, auch ihre Schwester Miriam, die un- der Niederlande, allerdings kann er Und er hält dabei doch die Fassade erreichbar geworden ist für die verzwei- schon seit dem 6. September 1968 nicht aufrecht, vorerst noch. „Du trägst Schu- felten Eltern, drogenabhängig, verwahr- he, weil du kein Vieh bist“, lost, ein Pornomodell. Sie stirbt an einer hat ihm einst die Mutter Überdosis Heroin. Hoffman ahnt, daß eingeschärft, „aber vergiß es Selbstmord ist. nicht: Die Schuhe sind ge- Ergreifend die Szene, in der der Vater putzt, weil du Ehrfurcht den Produzenten des Pornofilms auf- vor der Erde hast.“ sucht und ihn überredet, das Negativ Er hat das nie vergessen, und alle Kopien herauszurücken. Er will und er wird es bis zum En- sie vernichten, behält dann aber doch de seiner Tage nicht ver- ein Exemplar. Sein ganzes Vermögen gessen: Er hat Ehrfurcht gibt er dafür hin. vor der Erde, „denn in der Und verliebt sich noch einmal, in Erde lagen seine Kinder“. Prag: in eine Frau, die etwa das Alter Und er hat Ehrfurcht vor hat, in dem seine Töchter nun wären. Er der Luft, „denn in der Luft weiß, daß er sich auf eine halsbrecheri- schwebte der Staub seiner sche Allianz einläßt und dabei Kopf und vergasten Eltern“. Kragen riskiert. Er soll für die Geliebte Als jüdisches Kind über- spionieren, kurz vor Toresschluß: Auch lebt Felix bei dem nieder- in Prag hocken schon die Ostdeutschen ländischen Schweinezüch- in den Botschaften. Er hat wenig Mitge- ter Van de Pas die deutsche fühl mit ihnen: „Was sollte er von den Okkupation. Der liest ihm Sachsen halten, die ihr Land DDR ge- – furchtlos gegenüber den nannt hatten?“ Nazis – im Schein einer Pe- Er gibt sich seiner Liebe hin, er kann troleumlampe Verse von in den Armen von Irena zum erstenmal Rilke, Morgenstern und seit Esthers Tod wieder schlafen und Hölderlin vor. „Das letzte, träumen. Grausam ist das Erwachen: Die Geliebte hat sich mit ihrem Kind – * Judenviertel in Amsterdam, durch die jäh geöffnete Berliner Mauer 1945. – auf und davon gemacht. ** Leon de Winter: „Hoffmans Hoffmans Geschichte hat autobiogra- Hunger“. Aus dem Niederländi- phische Hintergründe. Der Schriftsteller schen von Sibylle Mulot. Dioge- Roman-Thema Judenverfolgung* nes Verlag, Zürich; 416 Seiten; Leon de Winter lebt in Hilversum, in ei- Zuflucht bei einem Viehzüchter 39 Mark. nem der typisch niederländischen, zwei-

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stöckigen Einfamilienhäuser aus Back- Ein rundes, offenes Gesicht. Schwar- stein und dezentem Fachwerk, erbaut um ze Haare, buschige Augenbrauen, brau- die Jahrhundertwende. Geboren wurde ne Augen. Sanfter, melancholischer er in einer Stadt namens ’s-Hertogen- Blick. Die Brille nimmt de Winter rasch bosch im Süden des Landes, in Brabant. ab, wenn er fotografiert wird. Sein Über seine Kindheit hat er in einer Deutsch ist hervorragend; er spricht es Skizze knapp und klar gesagt: „In meiner so sicher wie seine eigene Sprache. Familie war es nicht nötig, die Deutschen Sein erster Roman, eine „Tauge- schlimmer darzustellen, als sie waren: nichts“-Variation, erschien 1978; die Mein jüdischer Vater war der einzige deutsche Übersetzung wurde 1992 unter Überlebende seiner Familie, meine jüdi- sche Mutter und meine Tante waren die einzigen in ihrer Familie, die der Depor- tation entgangen waren.“ BESTSELLER Der Junge wuchs, in den sechziger Jah- ren, in einer Stadt heran, in der es fast BELLETRISTIK keine Juden mehr gab (von rund 600 vor dem Krieg lebten noch etwa 30 bis 40), in Grisham: Die Akte (1) einer jiddisch sprechenden Familie, de- 1 Hoffmann und Campe; ren Oberhaupt Altwarenhändler war, in 44 Mark einer Schule, die dem Außenseiter nur eine Chance ließ: „Ich mußte der Beste sein!“ 2 Gaarder: Sofies Welt (3) Das gelang ihm. Er schämte sich für Hanser; 39,80 Mark sein Zuhause – und daheim schämte er sich dafür, daß er sich geschämt hatte. Høeg: Fräulein Smillas (4) „Genug Scham für verschiedene Leben“, 3 Gespür für Schnee sagt er heute. Hanser; 45 Mark Und er ist mit einem Cousin aufge- wachsen, der in einem Versteck auf dem Pilcher: Wilder Thymian (2) Land den Krieg überlebt hatte und des- 4 Wunderlich; 42 Mark sen Eltern ermordet worden waren. Die- ser Verwandte gehörte, wie seine Ge- Gordon: Der Schamane (5) schichte, zur Familie. 5 Droemer; 44 Mark Auch die Eltern von Leon de Winter hatten in verschiedenen Verstecken Zimmer Bradley: Die (6) überlebt, waren des öfteren verraten 6 Wälder von Albion worden und in letzter Minute entkom- W. Krüger; 49,80 Mark men. Sie hätten es ohne die Hilfe katholi- scher Priester und Nonnen wohl kaum Pirinc¸ci: Francis – Felidae II (8) geschafft. 7 Goldmann; 38 Mark Feindseligkeit gegenüber den Deut- schen hat der Junge daheim nie erfahren: Atwood: Die Räuberbraut „Die Gewalt der Deutschen war eine ge- (7) 8 S. Fischer; 48 Mark gebene Größe, doch niederländische De- nunzianten und ihr verborgener Antise- mitismus sorgten in den meisten Ge- 9 Pilcher: Die (9) schichten meiner Mutter, mit denen ich Muschelsucher aufwuchs wie andere Kinder mit Grimms Wunderlich; 45 Mark und Andersens Märchen, für die überra- schende Wendung.“ Clavell: Gai-Jin (10) Täglich gab es vier Zeitungen im Haus. 10 C. Bertelsmann; 49,80 Mark Der Vater sagte: „Ihr sollt Zeitungen le- sen! Jeder Tag kann der Tag sein, wo ihr Nooteboom: Rituale (11) die Koffer packen müßt.“ Der Mann war 11 Suhrkamp; 28 Mark nach dem Krieg zu Reichtum gekommen und konnte sich deshalb bei seinen Ret- Walters: Im Eishaus (13) tern bedanken. Der orthodoxe Jude, der 12 Goldmann; 38 Mark jeden Sabbat die Synagoge besuchte, spendierte den armen niederländischen le Carre´: Der Katholiken Pilgerfahrten nach Lourdes – 13 Nacht-Manager und wurde später dafür im Vatikan ge- Kiepenheuer & Witsch; 48 Mark ehrt. Sein Sohn Leon ist in den Niederlan- Morrison: Jazz (12) den längst ein arrivierter Autor. Seine 14 Rowohlt; 36 Mark Bücher sind Schulstoff, und regelmäßig tritt er zu Diskussionen mit Schülern an. Das ist so üblich – und wird übrigens sehr Grisham: Die Firma (15) 15 Hoffmann und Campe; 44 Mark gut bezahlt. Derzeit stehen 30 Schulen auf seinem Programm.

244 DER SPIEGEL 13/1994 dem Titel „Nur weg hier!“ im Berliner wieder drei: „Hoffman’s honger“, Aufbau-Verlag neu aufgelegt – vorher „SuperTex“ und „De ruimte van Soko- hieß das 1986 noch zu DDR-Zeiten pu- lov“ (Sokolovs Raum). blizierte Buch „Die (Ver)Bildung des Die Handlung von „Hoffmans Hun- jüngeren Dürer“, der niederländischen ger“ scheint schnurstracks auf den Fall Originalausgabe entsprechend. des Eisernen Vorhangs hinauszulaufen In den achtziger Jahren schrieb er und gibt sich den Anschein eines aktuel- drei Romane: „Zoeken naar Eileen W.“ len Plots – doch die Grundidee kam de (Suche nach Eileen W.), „La Place de la Winter schon 1980. Er las damals in der Bastille“ und „Kaplan“ – seit 1990 schon Zeitung von einem Diplomaten, der sich in eine junge Frau verliebt hatte, unein- gedenk der – berechtigten – Warnun- gen, sie sei eine Agentin. Der Romancier („Ich mache viele Vorarbeiten“) reiste nach Rom, Prag, in SACHBÜCHER den Sudan. Er notierte, fotografierte, skizzierte. Er sprach mit Botschaftern. Ogger: Nieten in (1) Die Ausflüge ließ er sich von Zeitungen 1 Nadelstreifen bezahlen, für die er Reportagen schrieb. Droemer; 38 Mark Doch dann traute er sich nicht an den Roman heran. Wie sollte er sich in einen Wickert: Und Gott (2) 2 schuf Paris kranken, viele Jahre älteren Mann hin- Hoffmann und Campe; 42 Mark einversetzen? Statt dessen veröffentlichte er 1982 Carnegie: Sorge dich (3) ein Buch, das diese Reisen und das ver- 3 nicht, lebe! meintliche Scheitern beschreibt: „Ver- Scherz; 42 Mark traagde Roman“ (Verspäteter Roman). Filipovic´: Ich bin ein (4) Und er tat noch ein übriges: In seinem 4 Mädchen aus Sarajevo Roman „Kaplan“, vier Jahre darauf, Lübbe; 29,80 Mark schenkt er seinem Alter ego, dem fikti- ven Schriftsteller Leo Kaplan, die Ro- 5 Zachert/Zachert: Wir (6) manidee samt Titel – und der Roman im treffen uns wieder in Roman wird auch noch, vorauseilende meinem Paradies Phantasie, vom Helden selbst verfilmt. Lübbe; 29,80 Mark Damit, so dachte de Winter, sei die Hawking: Einsteins Traum (9) Sache abgetan und abgegolten, die Inve- 6 Rowohlt; 36 Mark stitionen halbwegs gerechtfertigt. Doch da täuschte er sich. Nun plötz- 7 Falin: Politische (5) lich, nachdem er das Vorhaben abge- Erinnerungen schrieben hatte, konnte sich der Schrift- Droemer; 48 Mark steller an die Arbeit machen. In die Ro- Sasson: Ich, Prinzessin (7) manfigur Hoffman hat de Winter alles 8 Sultana, und meine Töchter hineingelegt, was er gehört, gefühlt, C. Bertelsmann; 38 Mark erahnt hat: die Wirrnisse einer Kindheit im Versteck, die Ängste der Eltern um Scholl-Latour: Eine Welt (10) ihre Kinder – und jene tröstende Hoff- 9 in Auflösung nung, die er seinen beschädigten, ange- Siedler; 44 Mark schlagenen Helden trotz aller Niederla- Kelder: Die Fünf „Tibeter“ (8) gen suchen und finden läßt. 10 Integral; 19 Mark Mit traumwandlerischer Sicherheit Hacke: Der kleine (11) balanciert der Autor in diesem Roman 11 Erziehungsberater Distanz und Nähe zu seiner Figur aus. Kunstmann; 19,80 Mark Leon de Winter erzählt Hoffmans Ge- schichte meisterlich schlicht in der drit- Schmidt: Handeln (13) ten Person, dialogreich, eben noch ge- 12 für Deutschland ruhsam, dann mit schnellen Schritten Rowohlt Berlin; 34 Mark und Schnitten. Jedem Kapitel ist ein Tag Gore: Wege zum (12) oder eine Nacht aus dem Jahr 1989 zu- 13 Gleichgewicht geordnet – große zeitliche und geogra- S. Fischer; 39,80 Mark phische Sprünge sind das, aber stets be- hält der Erzähler die Fäden in der 14 Hensel: Glück gehabt (14) Hand, weiß Rückblenden zu plazieren. Insel; 38 Mark Neben- und Parallelhandlungen füh- von Arnim: Staat (15) ren bis nach Amerika, in die Zentrale 15 ohne Diener der Spionageabwehr. Leicht ironisch, Kindler; 38 Mark freilich ohne parodistische Manier, macht der Autor Anleihen bei John le Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Carre´. Fachmagazin Buchreport De Winter erzählt diskret und in- tim zugleich. Und auch ungeheuer ko-

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misch. Er folgt den Figuren aufs Klo und ins Bett – drastisch, niemals auf- Musik dringlich. Er bringt das Kunststück fertig, gleichzeitig die verzehrende Lie- be seines Helden zur Agentin Irena glaubwürdig zu machen – und dabei ei- „Striptease in der Met“ ne ganz andere Liebe, nämlich die zwi- schen Hoffman und seiner Frau Mari- Starsängerin Montserrat Caballe´ über ihre Karriere und die Oper an, still und groß leuchten zu lassen. Nicht die Politik, die Philosophie bietet Hoffman, dem Botschafter, der SPIEGEL: Frau Caballe´, Sie ga- „kein Vaterland hat“, der „ein ewiger stieren fast ausschließlich im Flüchtling“ ist, Halt und Haltung: Konzertsaal, sind Sie opernmü- „Hollands Philosoph spanischer Ab- de? kunft aus dem siebzehnten Jahrhun- Caballe´: O nein! Aber nach dert“. Spinozas Traktat „Abhandlung meinem Herzkollaps in New über die Verbesserung des Verstandes“ York, 1985, haben mir die Ärz- ist der Nährboden für den Roman te von den strapaziösen Opern- „Hoffmans Hunger“ – ein Dialog über rollen abgeraten. Ich singe nur die Jahrhunderte hinweg. noch das, was ich kann und was Das Epos endet mit einer bitter-iro- mein Doktor mich läßt. In mei- nischen Lebenshoffnung des Helden. nem Alter kann ich natürlich Hoffman, fast völlig danieder, aber- nicht mehr alles bringen – also mals gerettet und behütet von seiner nicht mehr die „Traviata“ mit Frau Marian, möchte gern das Jahr ihren Spitzentönen, sondern 2000 erleben. Warum? „Dieses Jahr- Lieder von Brahms oder Ri- hundert muß weg“, sagt er. „Ich will chard Strauss, die mirstimmlich es sterben sehen. Das ist die einzige jetzt mehr liegen. Art, es ihm noch ein bißchen heimzu- SPIEGEL: Die rauschenden Ko- zahlen. Wir haben es überlebt, und loraturfeste mit Ihrer Lieblings- jetzt wollen wir es auch begra- kollegin Marilyn Horne sind ben.“ damit auch passe´? Leon de Winter ist schon wieder auf Caballe´: Nein. Wir treten wei- dem Sprung. Zum Schreiben muß er ter gemeinsam auf und amüsie- weg. Am liebsten in die Filmstadt Los ren uns. Angeles. „Ich muß ein Fremder sein SPIEGEL: Sie haben beide ei- irgendwo. Ich darf mich nur daheim nen ausgeprägten Sinn für Ko- fühlen in dem jeweiligen Roman, an mik. dem ich arbeite.“ Und: „Ich bin jedes- Caballe´: Wir haben herrliche mal davon überzeugt: Die ganze Welt Storys erlebt. Zum Beispiel in wartet auf meine Geschichte!“ Y Paris in Rossinis „Semiramis“. Montserrat Caballe´ Da gab’s einen extrem rutschi- * Mit den Schauspielern Elliot Gould, Jacqueline gen Bühnenboden. Und wir triumphiert seit 30 Jahren auf den internationa- Bisset und Regisseur de Winter (M.). hatten das moniert. Bei dem len Opern- und Konzertbühnen und ist eine der schrecklich langen Duett im letzten aktiven Primadonnen dieses Jahrhun- zweiten Akt standen wir immer derts. Die Spanierin wird wegen ihrer perfekten auf einem Fleck. Nach dem Ap- Stimmtechnik, ihrer unnachahmlich leisen Töne plaus sollte erst Marilyn und verehrt. Die humorbegabte Diva, 60, geht neuer- dann ich abgehen. Plötzlich flü- dings aus gesundheitlichen Gründen fast aus- sterte sie: „I can’t move.“ Ich: schließlich auf Konzerttournee. „Warum?“ Marilyn: „Meine Schuhe kleben fest.“ SPIEGEL: Ihre Beschwerde hat wohl je- Caballe´: Nein, aber die 20 Prozent von mand sehr ernst genommen. uns, die ständig zanken und keine Freun- Caballe´: Das kann man sagen. Ich woll- de haben, machen so viel Lärm, daß alle te ihr helfen, konnte mich aber auch denken, die restlichen 80 Prozent wären nicht rühren. Das Publikum wurde genauso verzickt. schon unruhig, am Pult ruderte hilflos SPIEGEL: Aber das entspricht doch den der Dirigent. Wir rafften die Röcke und Erwartungen, die das Publikum in eine zogen, bis wir endlich freikamen. Vollwertprimadonna setzt. SPIEGEL: Wie kam es denn nun zu der Caballe´: Diese Diven, das sind doch ge- unverhofften Bodenhaftung? nau die 20 Prozent, von denen ich eben Caballe´: Die Bühnenarbeiter hatten, in sprach. Ich hab’ schon so viele überdreh- bester Absicht, Coca-Cola auf die Büh- te Primadonnenauftritte erlebt, die nicht ne gegossen. Unter unseren Füßen war zur Rolle paßten. Ich will mich in die Mu- während der endlosen Singerei das Zuk- sik versenken. Nach einer aufwühlenden kerzeug getrocknet. Vorstellung kann ich nicht gleich wieder SPIEGEL: Solche standfesten Freund- als Montserrat auf die Füße kommen. Dreharbeiten zu „Hoffmans Hunger“* schaften sind wohl eher rar im interna- SPIEGEL: Und wenn die Caballe´ mal ganz „Weg mit diesem Jahrhundert!“ tionalen Gesangsbetrieb? lustlos zur Arbeit geht?

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Caballe´: Das kommt sehr selten vor. Beim Liederabend kriege ich mich leicht in den Griff. Ich sage dann zum Piani- sten: „Heut’ geben wir die Zugabe am Anfang.“ Das ist meist ein Lieblings- stück von mir und bringt mich in Stim- mung. SPIEGEL: In der Oper aber hilft dann nicht einmal Ihr humoristisches Na- turell. Caballe´: Nein, da nicht. Früher habe ich ja Mozarts komisches Blondchen in der „Entführung“ gesungen. Blond steht mir überhaupt gut, mit so einer Perücke war ich auch Wagners Isolde. SPIEGEL: Ein Fall von akutem Haaraus- fall hat Sie ja in New York in die Schlag- zeilen gebracht. Caballe´: O Gott, das war wirklich unfrei- willig komisch. Ich sang die Titelrolle in der „Ariadne“ von Strauss. Stellen Sie sich vor: In großer Robe und mit rötli- cher Perücke hatte ich gerade meine Auftrittsarie hinter mir. Nun war die Zerbinetta mit ihrem Rezitativ dran, ich mußte von der Bühne. Zu meinem Ent- setzen aber stand die Kollegin nichtsah- nend auf meiner langen Schleppe. SPIEGEL: Sie leiden an chronischen Ab- gangsbeschwerden. Wie haben Sie diese denn bewältigt? Caballe´: Diesmal ging’s total daneben. Ich mußte etwas erfinden. Und so rief ich: „Zerbinetta, warum frisierst du mich nicht?“ Und dann ist es passiert: Statt sich zu bewegen, griff sie einfach mit langem Arm in meine Haare. In dem Moment stand ich aber auf, und ratsch: Da hatte sie meine Perücke in der Hand, und mein Kostüm sauste herunter. Die Zeitungen waren begeistert: „Caballe´ macht Striptease in der Met“. SPIEGEL: Als Gag könnte eine solche Enthüllung auch einem Avantgarde-Re- gisseur einfallen. Caballe´: Nicht mit mir. Jeder hat seine Grenzen. Regieexperimente sollte man nur mit moderner Musik machen. Eine „Tosca“, die in der Mussolini-Zeit spielt, lass’ ich mir noch gefallen, aber was mir, 1983 in Bonn, dieser Jorge Lavelli in Bellinis „Norma“ zumuten wollte, ging einfach zu weit. SPIEGEL: Was wollte er? Caballe´: Die Inszenierung spielte in ei- ner Munitionsfabrik, und ich sollte eine Guerilla-Kämpferin sein, mit einer MP in einen Panzer springen und die be- rühmte Cavatine „Casta Diva“ singen. SPIEGEL: Fürs Kunstturnen sind Sie nicht geschaffen. Caballe´: Es war einfach unmöglich für mich. Der Regisseur wollte nur Ein- druck schinden. Das paßte weder zum Text noch zur Musik. Man darf das Werk eines Komponisten nicht verraten. Ein Regisseur sollte nie so eitel sein, die Meister übertrumpfen zu wollen. SPIEGEL: Wer leistet sich denn noch die- se Bescheidenheit? Caballe´: Die wirklich Großen, Franco Zeffirelli etwa. Regisseure, die selbst vom Blatt singen, können gar nicht ge- gen die Musik inszenieren. SPIEGEL: Sie sind in einer Zeit groß ge- worden, in der Werktreue oberstes Ge- bot war. Wie waren denn Ihre Lehrjahre in der Theaterprovinz? Caballe´: Basel und Bremen waren ein phantastisches Fundament für meine Karriere. Ich finde, jeder Sänger sollte unbedingt drei, vier Spielzeiten an einer deutschen Bühne arbeiten. Das ist toll. Nur so kann man sich in Ruhe entwik- keln und bekommt Routine. „Wir wußten nicht, daß Oper so lustig ist“

SPIEGEL: Wie sind Sie als spanische Gastarbeiterin empfangen worden? Caballe´: Herzlich. Ich war niemand und trotzdem jemand. Meine Bremer Nach- barn in der Parkstraße haben mir und meiner Familie immer geholfen. Wir sind noch heute mit einigen befreundet. Aber es ist ja jetzt überall kälter gewor- den in der Welt. Zu mir als Sängerin sind die Leute nett, aber meinen die auch den Menschen Caballe´? SPIEGEL: Sie sind einmal, sehr erfolg- reich, ausgebrochen aus der Opernwelt – in die Rockmusik. War das ein lustvol- ler Ausflug? Caballe´: Ja, das war sehr schön. Der „Barcelona“-Song, den ich 1986 mit Popstar Freddie Mercury für die Olym- pischen Spiele aufgenommen habe, hat mir außerdem ein neues, erfreuliches junges Publikum beschert. SPIEGEL: Haben Sie die Popfans auch zur Oper bekehrt? Caballe´: Einige schon. Als wir in Wien Rossinis „Viaggio a Reims“ aufführten, kamen tatsächlich 80 junge Leute mit dem Bus aus Bayern, um endlich die Frau zu bestaunen, die auf der Platte so laut mit Freddie schreit. Nachher woll- ten sie alle ein Autogramm von mir und schwärmten: „Wir wußten nicht, daß Oper so lustig ist. Wir kommen wieder.“ Als sie weg waren, scherzte Claudio Ab- bado, unser Dirigent: „Gut, daß es heu- te nicht ,Parsifal‘ gab. Dann wären die nie wiedergekommen.“ SPIEGEL: Wie lange singen Sie noch? Caballe´: Bis zu meinem Ende, zum En- de meines Lebens oder meiner Stimme. SPIEGEL: Wollen Sie sich vorher noch einen Traum erfüllen? Caballe´: Ja, unbedingt. Ich will 1996 in Griechenland, in diesem grandiosen Freilichttheater von Epidaurus, die Elektra singen. Die Musik von Richard Strauss ist für mich das Allerschönste. Er ist der wirklich letzte Romantiker, ei- ne Welt in sich selbst, ein Ozean. Y KULTUR

vermag: die Heitmann-Posse etwa, eine Satire sich von Sketch zu Sketch steigernde Nummernrevue über einen Mann, der es fertigbrachte, im Zeitalter des Gere- des über seine Sprache zu stolpern. Old Und hätte ein Autor einem Sender vorab den Honecker-Prozeß als humori- stisches TV-Spiel erfolgreich anbieten miesmaker können? Schon wegen der Szenen mit der öffentlichen Erörterung der Leber- Spaßexperten suchten den qualität des SED-Greises und des kindi- Humor im deutschen Fernsehen schen Autogrammwunsches seines Richters hätte der Schreiber eine Ableh- und wurden traurig. nung wegen Plattheit fürchten müssen. Die wachsende Konvergenz zwischen n Tutzing am Starnberger See liegt ein Politik und Entertainment, so klang es wunderschönes Schloß. Darin resi- in Tutzing beunruhigt, befördere bereits Idiert eine Evangelische Akademie ein physiognomisches Einerlei. Ein und veranstaltet Medientage. Vergange- Wolfgang Lippert könne ohne Gesichts- ne Woche hieß das Thema: „Das Fern- verlust das Auswärtige Amt leiten und sehen und der Humor“. ein Klaus Kinkel eine ZDF-Show – die An diesem malerischen Ort könnte es Sendung würde kaum weniger Pep ha- gewesen sein, wo sich Seine Majestät, ben. Auch daß es Norbert Blüm ins Ar-

Amateur-Entertainer Kohl*, Berufs-Entertainer Schmidt, Feuerstein: Konvergenz

Bayerns Märchenkönig Ludwig II., des beitsministerium, einen Dirk Bach aber Irdischen überdrüssig, ertränkte, ob- aufs Brettl verschlagen habe und nicht gleich es damals weder Fernsehhumor umgekehrt, wirke wie Zufall. noch Medientagungen gab. Wo Politik zur Posse wird, verliert die Ludwig ist tot. Wir müssen leben. Satire ihren Gegenstand. Kein Wunder, Und das fällt seit vergangener Woche wenn sich politische Spaßmacherei im- nicht leichter: Scherz und Satire stecken mer öfter darin erschöpft, die Mächti- in einer bedrohlichen Krise. gen zu imitieren. Doch die Kopie bleibt Diesmal, so die Klage der Experten, hoffnungslos hinter dem Original zu- haben nicht zensursüchtige Fernsehan- rück. „Zak“ mit Friedrich Küppers- staltsleiter oder ein borniertes Publikum busch, die allwöchentliche satirische schuld, daß die Narren am liebsten ihre Nachbereitung aktueller Themen im Er- Kappe abgäben. Es sind die Politiker. sten, läßt den Kanzler als fuchtelnde Sie liefern – unfreiwillig – Kabarett, wie Puppe herumpfälzern – aber was ist die es sich besser kein Dieter Hildebrandt Show gegen die Wirklichkeit, wenn der oder Harald Schmidt samt Herbert Feu- leibhaftige Helmut bei Hans Meiser erstein ausdenken könnten. nach Datenautobahnen von einem Ex- Der Publizist Henryk M. Broder be- perten gefragt wird und so antwortet: schrieb voller Ehrfurcht all die Realsati- „Da sind wir ja mitten in der Diskussi- ren, die kein Humorist zu überbieten on, das weiß kaum einer besser als Sie. Und Sie wissen auch, wie heftig umstrit- * 1986 in der Lüneburger Heide. ten das ist. Die Zukunft läuft in diese

250 DER SPIEGEL 13/1994 Richtung, aber wirbrauchen dafür Mehr- heiten, und wirsind ein föderal geglieder- tes Land, und Autobahnen sind elemen- tar auch in der Oberhoheit der Länder.“ Nicht nur Politiker, so beklagen die Spaßexperten, profilierten sich immer mehr alsEntertainer. Auch der politische Journalismus „hat einen zarten Hauch von Infotainment aufgelegt“, wie es ein Teilnehmer formulierte. Wirklich einen sehr zarten. Bei Klaus Bednarz oder Ste- fan Aust herrscht ungebrochen investiga- tiver Starrblick. Sie haben das neue Land des Lächelns noch nicht betreten. Dafür Peter Hahne. Mit gußeiserner Aufgeräumtheit präsentiert der „Heu- te“-Mann auch einen schlimmen Flug- zeugabsturz, der zwinkernde Blick ge- hört inzwischen zum selbstverständli- chen Repertoire der früher tiefgefroren wirkenden Sabine Christiansen. Schlimmer noch: Dem rot-schwarzen „Frontal“-Moderatoren-Doppel Ulrich

zwischen Politik und Posse

Kienzle und Bodo H. Hauser istihre poli- tischeDifferenz nur nochAnlaßzuScher- zen. Als sei Ex-Bundespräsident Hein- rich Lübke noch der Englischlehrer der Nation, juxt Hauser: „I think, I hear not right, you red old miesmaker.“ Und be- kommt zurück: „Equal goes it loose, you bloody black papertiger.“ Wo Politik und ihre Präsentation zum Entertainment werden – Gerhard Polt fordert zur Erhöhung des Amüsements einen Politikerkanal mit Statements non stop –, gibt es für seriöse Spaßmacher im- mer weniger zu tun. Es zeigt sich, wie stark die deutsche Humorkultur darauf angewiesen war, daß das Publikum dem falschen Pathos der Politiker glaubte. Nun ist der Glaube dahin. Die Politik- verdrossenheit bedroht die Hofnar- ren. Es scheint, als hätten sie ihre Schul- digkeit getan. Sie können gehen. Bloß wohin? Y

DER SPIEGEL 13/1994 251 KULTUR

res Publikum erspielte, dümpelte Re- schmäht. Doch mit „An einem Sonntag Pop geners Gruppe zunächst ein paar Jahre im April“ wird klar: Element of Crime auf dem falschen Dampfer: Das Berli- sind die auch musikalisch höchst intelli- ner Quartett startete mit englischspra- gente Antwort der neunziger auf den chiger Rockmusik, die so übermächti- deutschen Schlager der fünfziger und Gefrorenes gen Vorbildern wie „Velvet Under- sechziger Jahre. ground“ und „R.E.M.“ nacheiferte – „Eine Art Seelenkino“ nennt der bri- das Resultat waren Platten, die unter tische Produzent David Young, der den Hühnchen merkwürdigen Titeln wie „Try To Be Berliner Herzschmerz-Vierer schon seit Mensch“ depressive Gruftstimmung zu Jahren betreut, die Musik seiner Schütz- Mit deutschsprachigen Chansons schleppenden Gitarren verbreitete. linge. Mit Saxophon und Violinen- haben es die einstigen „You fucked up your life“ lautet ein ty- schmalz veredelt Young die ansonsten pischer Kehrreim aus jener Zeit, und es eher gebremst sentimentalen Arrange- Gruftrocker von „Element of Crime“ sah ganz so aus, als gelte das auch für ments, Regeners rauher Stimme aller- in die Hitparaden geschafft. die „Element of Crime“-Musiker. dings würde der Tonmeister niemals ei- Erst 1991 wagte sich die Band an das nen Tort durch Weichzeichnerei antun: erste Album mit ausschließlich deut- Gerade auf den „menschlichen Faktor“ ie Tage des deutschen Großstadt- komme es ihm an, sagt poeten beginnen depressiv. „Lei- Young, „es geht nicht Dchen im Keller“, beklagt Sven Re- darum, Schwächen und gener beim Anblick der ersten Morgen- Fehler zu verstecken“. röte, dazu spürt er „Beton im Gemüt“ Von Regeners Texten und fühlt sich „viel zu lang schon allein“. läßt sich ähnliches sa- Was bleibt dem Mann da übrig, als die gen. Neben lyrischen wenigen Freuden des Lebens im Unmaß Glanzleistungen – „Ihr zu genießen, „beim Essen ein Schwein, Herz ist kalt wie ein ge- beim Trinken ein Loch ohne Grund“? frorenes Hühnchen“, So sind die Texte, die Regener, 33, sei- sagt er schon auf „Wei- ner Dichterseele in einsamen Stunden ßes Papier“ von einer entlockt: großkotzige Jammertiraden, kühlen Angebeteten – mit verwegenem Ingrimm abgesonderter findet sich auch Abge- Männerweltschmerz, kaltschnäuzige An- droschenes wie ein leitungen zum Unglücklichsein, Tristesse „Sommerschlußverkauf satt. „Melancholie“, behauptet der Poet der Eitelkeit“ in seinen kühn, „isteinsehr produktives Lebensge- Versen. Doch wenn er fühl.“ auf der neuen Platte in Würde Regener seine Männerlyrik in gewagten Metaphern Buchläden vortragen, so fürchtet er, („ein Faden, der im „kämen keine 25Leute, um sich das Zeug Wasser sich verliert“) anzuhören“. Doch Regener sieht sich aus seinem melancholi- „überhaupt nicht als Dichter“, sondern schen Alltag erzählt, alsRockmusiker. Und wenn er zur Musik dann folgt gleich ein seiner Band „Element ofCrime“ von ver- mutig selbstkritisches geigten Liebschaften und durchzechten Dichterwort: „Das ist Nächten singt, dann sind die Konzertsäle zwar nichts als Blöd- voll, und auch auf Platte verkaufen sich sinn, doch es hält die dieKummernummern gut: Mit ihrer 1993 Welt in Atem.“ erschienenen CD „Weißes Papier“glück- Nur selten gibt sich te Element of Crime zum erstenmal der Regener in seinen Lie- Sprung inRadio-Charts und Verkaufshit- dern frohgemut oder gar paraden. richtig zornig wie in dem Von Kritikern und Musikerkollegen Rechtsradikalen-Song werden Regener und seine Kumpane „Element of Crime“-Sänger Regener „Unter Brüdern“, mei- schon seit Jahren als „Berlins beste „Blödsinn hält die Welt in Atem“ stens ergeht er sich in Band“ gepriesen, „wunderbar verschro- den Posen des ewigen ben, melancholisch, melodiös und schen Texten, und auch das musikalische Verlierers und einsamen Wolfs. Und schräg“ diktierte ihnen Pop-Oberlehrer Konzept wurde umgemodelt: MitAkkor- möglicherweise ist Element of Crime ge- Herbert Grönemeyer ins Zeugnis. Nun deon- und Streicherklängen, Keyboard- rade wegen dieser allgegenwärtigen Tri- soll der kommerzielle Durchbruch fol- georgel und Trompetenwucht trieben die stesse die Band des Augenblicks: Vier gen: In diesen Tagen kommt die neue Berliner den alten Gitarrenmuff aus. Jahre nach dem Ende der Spaßdekade, Platte „An einem Sonntag im April“ auf Das Resultat war eine Mischung aus den achtziger Jahren, klingt „An einem den Markt, für Mai ist eine ausgedehnte französischem Chanson-Charme und Sonntag im April“ wie der Soundtrack Tour durch deutsche Konzerthallen an- herzerweichendem Variete´-Gedudel, zum Rezessionsjahrzehnt. gesetzt. Bandchef Regener glaubt sich für das Element of Crime mittlerweile mit Vielleicht liegt der Reiz all der poeti- den Aufstieg in die Pop-Bundesliga gerü- schönem Eigensinn perfektioniert ha- schen Trübsalblaserei gerade in der an- stet: „Schließlich haben wir uns lange ge- ben. Nach „Damals hinterm Mond“, so ästhesierenden Wirkung dieser Musik. nug Zeit gelassen.“ der Titel des Deutschpop-Experiments Denn in härteren Zeiten gilt, was Karl Element of Crime gibt es seit neun Jah- von 1991, wurde Regener von Veräch- Kraus so formuliert hat: „Bevor man ren. Bevor sie sich mit deutschen Titeln tern noch als Kurt-Weill-Epigone und das Leben über sich ergehen läßt, sollte wie „Schwere See, mein Herz“ ein größe- früh vergreister Dreigroschenopa ge- man sich narkotisieren lassen.“ Y

252 DER SPIEGEL 13/1994 Werbeseite

Werbeseite PERSONALIEN

eidemarie Wieczorek- sischen Worten, die künftig HZeul, 51, stellvertretende das „franglais“ (so der fran- SPD-Vorsitzende und Chefin zösische Ausdruck für die im Parteibezirk Hessen-Süd, Sprachvermengung) ersetzen brachte die hessischen Partei- sollen, heißt Marketing en um viel Geld. Als Leitar- „Mercatique“ – ein Wort, das tiklerin der Bezirkspostille dem Durchschnittsfranzosen Der Sozialdemokrat hatte sie unbekannt ist. Doch auch in in der jüngsten Ausgabe die den Reihen seiner konserva- hessische Lotto-Gesellschaft tiven Kabinettskollegen muß heftig gegeißelt („Raffke- Toubon noch Überzeugungs- Mentalität“), dabei aber arbeit leisten. Innenminister übersehen, daß Hessen-Lot- Charles Pasqua bezeichnete to auf der letzten Seite des die Kantonalwahlen vom Monatsblatts wieder einmal vorvergangenen Sonntag im- die größte Anzeige plaziert mer wieder als „test“. Ginge hatte. Jetzt müssen Wieczo- es nach der Toubon-Liste, rek-Zeul und die Herren von dann hätte Pasqua franzö- der CDU und FDP für ihre sisch korrekt „e´preuve“ sa- Parteiblätter neue Finanziers gen müssen. suchen. Denn als Reaktion auf die Philippika der Politi- alai Lama, 58, im Exil le- kerin hat der oberste Lotto- Dbendes geistliches und Aufseher des Landes, Fi- weltliches Oberhaupt des seit nanzminister Ernst Welteke 1959 von China besetzten Ti- (SPD), der Glücksspielfirma bet, pries beim Pilgerbesuch weitere Annoncen in Partei- in Israel „Harmonie und uni- zeitungen, auch in denen der verselle Verantwortung“ als CDU und FDP, strikt unter- Lösung für die Krisenregion sagt. Nahost. Dennoch mieden ihn die Spitzen des jüdischen urt Krenn, 57, streng kon- Anzeigenmotiv Krabbe (Ausriß) Staates aus Furcht vor dem Kservativer Bischof der nie- Zorn Chinas. Die offizielle derösterreichischen Landes- „Almdudler“-Poster mit dem atrin Krabbe, 24, wegen Kontaktsperre der Israelis hauptstadt Sankt Pölten, ist „Limonaden-Bischof“. An- Kunerlaubten Dopings aus aus Sorge um die Beziehun- wieder einmal aufgefallen. dererseits kritisierten sogar der Bahn getragene deutsche gen zu Peking konnte den Diesmal nicht mit ultramon- Krenn-Gegner die Kampagne Sprinterin, macht mit ihrem tanen Ansichten zur Emp- als geschmacklos. Auch der Verstoß gegen die Fairness fängnisverhütung oder Jung- Bischof ist von seiner landes- auch noch Werbung. Unter frauen-Geburt Jesu Christi, weiten Plakat-Präsenz nicht der bekenntnishaften Über- sondern als feister Blickfang begeistert. Als ihm die Firma schrift „Ich schlucke wieder“ auf einem Werbeplakat. Der einen Getränkekarton mit posiert die – inzwischen Oberhirte wirbt als beleibte „Almdudler light“ samt Po- schwangere – Sportlerin für Karikatur für ein kalorien- ster überreichen wollte, lehn- ein Diätmittel. Slogan: armes Erfrischungsgetränk. te er ab: „Sie sollen sich nicht „Denn schlank ist schön.“ Das Plakat ist begehrt. Gan- bemühen, ich kenne das Ge- Angeblich reichen der ehe- ze Pfarreien bestellten bei tränk gar nicht und wurde maligen Weltmeisterin im der Getränkefirma das auch vorher nicht gefragt.“ 100- und 200-Meter-Lauf die Einkünfte aus, „um das Trai- ning zu bestreiten, kaum aber für Auslandstrainingsla- ger“.

acques Toubon, 52, Kul- Jturminister in Frankreich, verhedderte sich in seinem eigenen Regelwerk, mit dem er die französische Sprache Dalai Lama vor Anglizismen schützen will. Nach dem richtigen Friedensnobelpreisträger je- französischen Begriff für doch nicht verdrießen. Auf „Marketing“ gefragt, antwor- dem Gipfel des Joasch-Ber- tete der oberste Hüter der ges, von wo aus Israels Nach- französischen Sprache in ei- barländer Jordanien, Saudi- ner politischen Diskussions- Arabien und Ägypten zu se- runde: „Promotion“. Das hen sind, verkündete das war falsch. In der Anfang des Oberhaupt der sechs Millio- Monats veröffentlichten offi- nen Tibeter lächelnd: „Gren- Limonaden-Werbung ziellen Liste von 3500 franzö- zen sind meist ärgerlich.“

254 DER SPIEGEL 13/1994 ilvio Berlusconi, 57, ita- Slienischer Medienmogul (Panorama, Epoca) und Das Gründer der neuen rechten Partei Forza Italia, weckte schönere Wort bei Konservativen Frank- reichs Zweifel an seiner Treue zum vereinten Europa. Aufsehen hatte beim franzö- sischen Figaro der Satz des Verlegers erregt, der auch Ei- gentümer des Fußballklubs AC Mailand ist: „Ich habe in meinem Beraterstab Marga- ret Thatcher.“ Die aber habe, daran erinnert das Blatt, ein- mal gesagt: „Wir sind die wahren Europäer, die in Brüssel sind die Feinde.“ Ber- lusconis Thatcher ist der Ökonomieprofessor Antonio Martino, der Mitglied in der „Brügger Gruppe“ ist, einer Vereinigung, die, so der Figa- Sadat, Herzog ro, von der ehemaligen briti- schen Regierungschefin sehr hristiane Herzog, 57, Frau des geschätzt werde. CBundesverfassungsgerichtsprä- sidenten und Bewerbers für das elmut Schmidt, 75, Alt- Bundespräsidentenamt, Roman HBundeskanzler und Zeit- Herzog, verblüffte mit Kinder-Kü- Herausgeber, fand sich che-Kirche-Sprüchen. Vor 1500 Gä- schlecht getroffen. Der Ham- sten im Karlsruher Kongreßzentrum burger Senat hatte Ehefrau hatte Frau Dschihan el-Sadat, 60, Loki und den Ehrenbürger Witwe des vor zwölf Jahren ermor- ins Rathaus geladen und da- deten ägyptischen Staatspräsiden- bei ein Senatsgeschenk aus- ten, zum Thema „Frauen im Nahen Osten“ gesprochen. Im Schlußwort, das Christiane Herzog halten durf- te, belehrte die Deutsche die ägyp- tische Frauenrechtlerin und promo- vierte Literaturwissenschaftlerin, die seit Jahren für mehr Ausbildung der Frauen, für Familienplanung und Gleichberechtigung wirbt. Erst- mals habe sie von Dschihan Sadat, die sonst von Gleichstellung spre- che, den Begriff „Emanzipation“ ge- hört. „Ich finde Gleichstellung das schönere Wort“, so die Präsidenten- gattin und gelernte Lehrerin, denn es betone die Gleichheit der Part- ner, „wie sie auch vor Gott gleich sind“. Überhaupt sei das wichtigste im Leben, einen Glauben „als fe- Schmidt-Porträt (Ausschnitt) sten Pfahl zu haben“. Hingegen sei die schönste Aufgabe, die „wir Frau- gestellt, ein Helmut-Schmidt- en überhaupt haben, Kinder zu er- Porträt. Doch das Werk des ziehen und für das Leben vorzube- angesehenen Künstlers Klaus reiten“. Viele Gäste waren von dem Fußmann, der mit Land- Schlußwort „überrascht“, auch ein schaftsbildern reüssierte, anwesender Ex-Verfassungsrichter, fand keinen Beifall. „Das der sich auf die altbackenen Her- Bild sollen sie hier im Keller zog-Sprüche „keinen Reim machen“ des Rathauses anbringen“, konnte und vorsichtig kommentier- empfahl der verschnupfte te: „Es war eine Panne.“ Schmidt, „und wenn ich tot bin, dann können sie es bei mir zu Hause aufhängen.“

DER SPIEGEL 13/1994 255 REGISTER

Gestorben dete – machtbewußte, einflußreiche und umstrittene Organisation in der ka- Giulietta Masina, 73. Ohne sie war Fe- tholischen Kirche, deren Mitglieder derico Fellini nicht vorstellbar, und sie sich einer Sammlung von 999 Merksät- nicht ohne ihn. Fast 50 Ehejahre lang haben sie zusammengehalten, zusam- men gearbeitet und einander zu ein biß- chen Kino-Unsterblichkeit verholfen, vor allem durch jenen Film, der sie bei- de berühmt machte, „La Strada“ von 1954: Das strubbelköpfige Clownsmäd- chen Gelsomina (Foto) gehört zu jenen Kinogeschöpfen, deren Einzigartigkeit auch nach Jahrzehnten noch in der Erin- nerung lebendig ist. Giulietta Masina hat keineswegs nur in Fellini-Filmen ge- spielt und hatte doch nur mit ihm Er- folg, als einfältiges Straßenmädchen („Die Nächte der Cabiria“, 1957) oder als staunende Traumreisende („Julia und die Geister“, 1965). In Fellinis anar- zen unterwerfen. Dazu gehört, „die chischem Leben bedeutete sie Bürger- Namen der anderen Mitglieder zu ver- schweigen und niemandem ihre eigene Zugehörigkeit“ zu verraten. Fast alle der knapp 80 000 „Opus Dei“-Mitglie- der sind katholische Laien, meist in lei- tenden Positionen in Politik, Wirtschaft und Medien. In Spanien – wo die eher rechtsgerichtete Organisation am stärk- sten ist – heißt sie auch „Heilige Ma- fia“. Portillo lenkte von Rom aus diese „Kampftruppe“, auf die sich der Papst stets verlassen konnte, und schwor sie zur Pflichterfüllung mit „heiliger Un- verschämtheit“ ein. Alvaro del Portillo starb vergangenen Mittwoch in Rom an Herzversagen.

Günter Mittag, 67. Er war der mächtig- ste Mann der DDR-Wirtschaft in der Ära Honecker und einer der härtesten lichkeit und Dauer, in seiner Phantasie- Verfechter der SED-Politik. Der Stetti- welt repräsentierte sie die Frau, vor der ner Arbeitersohn trat 1945 mit 19 Jah- man sich nicht fürchtet. Deshalb hatte ren in die KPD und ein Jahr später in sie keinen Raum in jenen Filmen, in die neu gegründete SED ein. Nach denen sich Fellinis Alter ego Marcello einer Tätigkeit als Reichsbahnin- Mastroianni mit den Dämonen von spektor stieg Mittag Frauenangst und Lust herumschlug. 1951 zum hauptamt- Erst spät, in „Ginger und Fred“ (1985), lichen Mitarbeiter führte er die beiden als altes Paar zu- des SED-Zentralko- sammen: Da durfte zart die Unbeirr- mitees auf. Von Mit- barkeit der Frau über den Größenwahn te der siebziger Jah- des Mannes siegen. Fünf Monate nach re an verfocht er Fellini ist Giulietta Masina am vergan- als Sekretär des ZK genen Mittwoch in Rom gestorben. für Wirtschaftsfra- gen kompromißlos Alvaro del Portillo, 80. Ganz hoch in Honeckers ruinösen der Gunst des amtierenden Papstes Kurs gegen Wider- stand der spanische Prälat. Johannes stände aus Betrieben. Noch im Septem- Paul II. weihte den ursprünglich mit ber 1989 verkündete Mittag, zu dieser Brückenbauten befaßten Ingenieur aus Politik gäbe es „keine Alternative“. Madrid vor drei Jahren sogar zum Bi- Nach dem Zusammenbruch der DDR schof. Er wertete damit gleichzeitig ei- bilanzierte der Planwirtschaftslenker, ne Organisation auf, für die sich Porti- das „sozialistische System“ sei „insge- llo zeitlebens eingesetzt hatte: die samt falsch“ gewesen. Günter Mittag, „Priestergemeinschaft vom Heiligen den das PDS-Blatt Neues Deutschland in Kreuz“ – bekannter unter ihrem nicht- einem Nachruf als „befähigten Organi- offiziellen Namen „Opus Dei“. Alvaro sator“ rühmt, starb am vorvergangenen del Portillo leitete diese – 1928 gegrün- Freitag in Berlin.

256 DER SPIEGEL 13/1994 Werbeseite

Werbeseite 28. März bis 3. April FERNSEHEN

MONTAG 21.45 – 22.20 Uhr ARD 17.00 – 17.30 Uhr RTL Mobbing Wer ist hier der Boß? Personalpolitik von Büro- Angela Bower (Judith Light) Guerillas, Kollegenschwei- ist eine erfolgreiche Werbe- nen und sadistischen Vorge- managerin in einer New Yor- setzten – Reportage über den ker Marketingagentur. Für Bürgerkrieg am Arbeitsplatz. den Superjob lassen sie die Autoren dieser US-Sitcom 22.25 – 23.10 Uhr ZDF allerdings kräftig büßen: Der Geschiedenen tanzen ihre Zündstoff: Das Risiko Mutter und der Haushälter fliegt mit Tony auf der Nase herum. Drei Jahre recherchierten die Ihr Sohn verläßt sie und Experten, dann stand fest: schließt sich dem Mann an. Szenenfoto aus „Der Konformist“ mit Trintignant Der Absturz eines norwegi- Erfolgreiche Kerle hätten schen Flugzeugs im Jahr 1989 sich das nicht gefallen lassen. Eishexe Tonya Harding diese 21.45 – 23.35 Uhr Arte ist auf die Verwendung von Billigersatzteilen zurückzu- Damit ist auch die Titelfrage US-Serie zum Vorbild ge- Der Konformist beantwortet. nommen und statt Kurven führen. Tim van Beveren Kufen gelesen. Bernardo Bertoluccis Spiel- versucht in seiner Reportage, film (Italien/Frankreich/ das Risiko abzuschätzen. 19.25 – 21.00 Uhr ZDF BRD 1969) über einen Mann 23.00 – 23.30 Uhr RTL (Jean-Louis Trintignant), der Ein starkes Team 23.40 – 1.10 Uhr Pro 7 Sie, die Spezialfahnderin Ve- 10 vor 11 so sein will wie alle anderen rena (Maja Maranow), ist un- Das Kluge-Fernsehen gibt und zum Mitläufer des Fa- Roger Cormans erfahren, aber Wessi. Er, dem Rätsel eine Heimstatt. schismus wird, eröffnet einen Frankenstein „Mein Idealzustand ist jung Themenabend über „Archi- Seinen Platz in der Filmge- und weiblich“, heißt es in er- tektur und Macht“. Zwei Do- schichte hat Roger Corman ratischer Schönheit – Filme- kumentationen ergänzen die- als Entdecker und Förderer macher Christoph Schlingen- sen „Blick auf die moderne junger Talente wie Martin sief („Terror 2000“) zu Be- rationalistische Architektur Scorsese, Francis Ford Cop- such bei dem Entertainer in Italien und ihre Verein- pola, Jonathan Demme oder Helge Schneider, der als Sän- nahmung durch den Faschis- James Cameron – und als ger und Lyriker die Haribo- mus“. schnellster Filmemacher der Reimtechnik letztgültig über- Welt: Sein Film „The Little boten hat: „Katzeklo, Katze- 22.30 – 23.00 Uhr West III Shop of Horrors“ (1960) gilt klo, ja das macht die Katze froh.“ Am Ende ihres Pala- Unser Marsch ist eine vers stimmen die beiden kon- gute Sache sequenterweise ein Duett an. Mitläufer müssen sich nicht verstecken: Eine Erinnerung 0.00 – 1.15 Uhr ZDF an die Ostermärsche, die bis- Maranow, Martens her größte und ausdauernd- Body Beautiful ste Friedens- und Demokra- Kollege Otto (Florian Mar- Drei Kurzfilme über den tiebewegung in der Bundes- tens), kennt das Polizei-Me- Körperkult der neunziger republik. tier, kommt aber aus dem Jahre und die Sehnsucht nach Osten. Die Autoren dieses Vollkommenheit: Schön- Fernsehkrimis, das starke heitsidol Barbie, Reize der MITTWOCH Team Krystian Martinek und Androgynie, Beschwernisse 20.15 – 22.20 Uhr RTL Neithardt Riedel, haben eines Fotomodells. schon mit den Vorlagen zu Fußball „Schulz & Schulz“ bewiesen, Champions League: Bremen daß sie aus dem Ost-West- DIENSTAG – Porto. Werders letzte Gegensatz spannende TV- 19.25 – 21.00 Uhr ZDF Chance. Unterhaltung machen kön- nen. Zärtliche Chaoten 20.15 – 22.05 Uhr Sat 1 Drei Männer (Michael Wins- Durst nach Rache 20.15 – 21.20 Uhr RTL 2 low, Thomas Gottschalk, Szenenfoto Helmut Fischer), eine attrak- Nichts funktioniert bei den Scharfe Waffen – Heiße tive Frau (Dey Young), die Weißkitteln im TV besser als als beste in zwei Tagen ge- Kurven ein Baby im Bauch hat: Wer der hippokratische Neid. drehte Horrorkomödie. Für Holly (Michael Michels) und ist der Vater? Der Wiederbe- Frau Doktors (Gila von Wei- diese Neuverfilmung (USA Gina (Lise Cutter) klären als lebungsversuch (BRD 1987) tershausen) Rivalin (Anja 1990) des Frankenstein-The- Undercover-Agenten üble der Komödie aus Opas Kino- Kruse) muß sich einer Blind- mas, nach einem Roman von Machenschaften bei einem zeiten erwies sich wegen sei- darmoperation unterziehen. Brian W. Aldiss, ließ sich der Bodybuilding-Wettbewerb ner abgedroschenen Späße Die eifersüchtige Ärztin Meister etwas mehr Zeit. auf. Vielleicht hat sich ja die als Fehlgeburt. rächt sich. Man wird ja nicht jünger.

258 DER SPIEGEL 13/1994 DONNERSTAG Ihre telefonischen Stellung- für die verlorene Zeit jugend- 15.30 – 16.00 Uhr ZDF nahmen werden am Freitag, licher Ungebundenheit. Or- MEDIEN 22.05 Uhr in einer Live-Ge- son Welles Regiedebüt (USA Basta sprächsrunde zum Film auf- 1941) über äußeren Glanz Goldfinger: Renditestärk- Warum sollen es Kinder bes- gegriffen. und inneres Elend des Kapi- ster Film des vergange- ser haben als Erwachsene talisten gehört zu den besten und einfach im Fernsehen nen Jahres war nicht Ste- 21.45 – 22.30 Uhr Nord III Filmen aller Zeiten. ven Spielbergs „Jurassic miteinander reden dürfen? Park“, sondern Ang Lees Trendbewußt erfanden die Ein Todesengel namens „Hochzeitsbankett“. Je- Mainzer eine „Redeshow“, Stella FREITAG bei der junge Zuschauer Stella Goldschlag war blond, 14.00 – 16.00 Uhr Viva (heutiges Thema: Popstars – blauäugig, schauspielerisch Kinohits ’93 alles Kohle oder was?) um begabt und Sängerin in einer Was geht ab? Was ein investierter Dollar die Wette argumentieren. Ei- Swingband: Ihr Name, ihr Dem deutschen Musiksender einspielte (in US-Dollar): ne Jury vergibt am Ende den Foto waren stadtbekannt. vorläufig ein eigenes Profil. rhetorischen Lorbeer. Schu- Beide kursierten bei den so- Die auffälligsten Unterschie- 1. Das Hochzeitsbankett le, willst du nicht mal am genannten U-Booten, den de zur Konkurrenz MTV be- 23,6 Nachmittag enden? untergetauchten Juden in stehen derzeit noch darin, Berlin, denn für jeden von ih- daß bei Viva deutsch gespro- 20.40 – 2.15 Uhr Arte nen bedeutete eine Begeg- chen wird und die Regisseure nung mit ihr: Auschwitz. der Videoclips genannt wer- 2. Jurassic Park Near Death Stella Goldschlag, die Jüdin, den. 13,8 Vier Patienten in der Inten- haßte alles Jüdische. Von der sivstation eines Bostoner Gestapo durch Folter erpreßt 19.00 – 23.15 Uhr Sat 1 Krankenhauses stehen im und „umgedreht“, machte sie Der mit dem Wolf tanzt 3. Aladdin Mittelpunkt dieser fünfein- als deren Agentin 1943/44 halbstündigen Dokumentati- in Hinterhöfen, brennenden Kevin Costners mit sieben 12,1 on (USA 1989) von Frede- Straßen und Trümmern Jagd Oscars prämierter Western rick Wiseman. Vier Patien- auf die letzten überlebenden ten, die nur durch intensive Juden. Eine Dokumentati- 4. Das Piano medizinische Maßnahmen on von Renate Zilligen. am Leben erhalten werden Der SPIEGEL veröffentlich- 9,4 und sich, sofern noch bei Be- te 1992 Auszüge aus Peter wußtsein, über ihre Situation Wydens Buch, auf dem der völlig im klaren sind. Es ist Film beruht. eine privilegierte Klinik: Bei der Dollar, der in diese den Beratungen der Medizi- 23.30 – 1.25 Uhr ZDF taiwanisch-amerikani- ner geht es weniger um Be- sche Komödie – ein New handlung oder Heilmittel, Citizen Kane Yorker Gay tarnt seine sondern zuallererst um den Kein Wunder, daß Verleger Homosexualität mit einer „Komfort“ des Kranken. und andere große Bosse mit Scheinehe – investiert Fordert dieser Komfort, die ihren Untergebenen gern wurde, verdiente 23,6 medizinischen Maßnahmen Schlitten fahren, verbergen weitere Dollar. Die Sau- einzustellen, um den Weg für sie doch hinter exzentrischem Costner rier, mit einem Budget den Tod freizumachen? Wer Getue ihre Kinderseele. Im von 63 Millionen Dollar, soll entscheiden? Die Ärzte? Falle des Medienmoguls (USA 1990) läßt den Unter- erwiesen sich als weni- Die Familie? Der Patient? Charles Foster Kane (Orson gang der indianischen Kultur ger kräftige Goldene-Ei- Die Zuschauer können sich Welles) heißt der Kindheits- als schmerzlichen Verlust er- er-Leger: Die Rendite- an der Debatte beteiligen: traum „Rosebud“, Symbol leben und zeigt, welch eine marke erreicht, aller- Bereicherung der offene, in- dings bei einem viel hö- teressierte Umgang mit dem heren Umsatz, nur 13,8 – Fremden bedeuten kann. das langte nur für Platz zwei. Walt Disneys Zei- 21.00 – 22.00 Uhr West III chentrickfilm „Aladdin“ holte mit 12,1 pro einge- Brandheiss setztem Dollar den dritt- Der WDR versucht erneut, höchsten Gewinn aus der mit schnell produzierten Wunderlampe; „Das Pia- Fernsehspielen auf aktuelle no“ von Jane Campion, Themen einzugehen. In die- keine amerikanische Pro- sem Stück (Buch: Fred Brei- duktion, steht mit der nersdorfer, Regie: Peter 9,4-Dollar-Rendite an Ristau) geht es um Versu- vierter Stelle. Spitzen- che westlicher Geheimdien- flops bescherten Inve- ste einschließlich des BND, storen dagegen über den „Russen-Hitler“ Schiri- 80 Cents Verlust pro Dol- nowski zu stoppen. Andere lar. Dritte übernehmen das TV- „Citizen Kane“-Szenenfoto mit Dorothy Comingore, Welles Spiel.

DER SPIEGEL 13/1994 259 FERNSEHEN

22.00 – 24.00 Uhr RTL arbeitet, fühlt sich zu Höhe- zenegger) her, welche die einmal auf Nummer Sicher: rem berufen. Nach zähem atemberaubenden elektroni- mit Karl Dall, dem einäugi- Terminator und listenreichem Kampf er- schen Tricks wirkungsvoll gen König unter den Blinden Weiche Schale, harter Kern: reicht sie es auch: ein eigenes präsentieren. der TV-Unterhaltung, erör- Arnold Schwarzenegger in Büro, eine Etage höher. tert sie dessen Kindheit, die seiner größten Rolle als ky- Mike Nichols („Die Reife- natürlich schwer gewesen ist. bernetischer Killer aus der prüfung“) inszenierte diese SONNTAG Zukunft (USA 1984). bescheidene Version (USA 15.45 – 16.30 Uhr 3Sat 3.15 – 3.20 Uhr ARD 1988) des amerikanischen 22.55 – 23.55 Uhr West III Traums ganz im Stil der acht- Bilder jenseits der Zuschauen – Entspannen ziger Jahre. Dank der Dar- Fantasie – Nachdenken Strafsache 4 Ks 2/63 steller (Harrison Ford, Si- Bericht von der „Imagina“, Gute Idee. Warum erst so Eine interessante historische gourney Weaver) bleiben die der wichtigsten europäischen spät? Ergänzung zu Spielbergs Konzessionen an das Yuppie- Leistungsschau für Compu- „Schindlers Liste“: Rolf Bik- Jahrzehnt in einem erträgli- tergrafik und -animation in kel und Dietrich Wagner re- chen Rahmen. Monte Carlo. DIENSTAG konstruierten den Frankfur- 23.10 – 23.40 Uhr Sat 1 ter Auschwitz-Prozeß, der SPIEGEL TV 1963 gegen 22 ehemalige An- REPORTAGE gehörige der Waffen-SS ge- führt worden war. Bei der Im Dorf der Schwerverbre- Erstausstrahlung gab es viel cher – ein Blick hinter die Lob. Die Frankfurter Allge- Mauern des Psycho-Kna- meine: „Die Autoren des stes von Düren, einer Films bringen die Geschichte Gefängnisklinik für psy- wieder zum Sprechen in ih- chisch kranke Sexual- ren vielen übereinanderlau- straftäter. fenden Stimmen – und ihrer Doppelzüngigkeit, für die MITTWOCH der Prozeß damals exempla- 22.05 – 22.50 Uhr Vox risch war. Die Tonbandmit- schnitte des Prozesses finden „Jenseits von Afrika“-Szenenfoto mit Streep, Redford SPIEGEL TV THEMA durch die Kunst dieses Doku- Kurden in Deutschland: mentarfilms wieder einen 22.10 – 0.45 Uhr RTL 20.15 – 22.50 Uhr ARD Militante Terroristen oder Nachhall, der die Zeittiefe verfolgte Minderheit? vom Lager über den Prozeß Terminator 2 – Tag der Jenseits von Afrika bis heute überwindet. Auf Abrechnung Zum Heulen schön, wenn die FREITAG neumoralisches Pathos wird Der teuerste Experimental- belegte Frauenstimme mit 21.10 – 21.50 Uhr Vox dabei ebenso verzichtet wie film, der je gedreht wurde: dem Satz anhebt: „Ich hatte auf spektakuläre Bilder oder Die eigentliche Sensation in eine Farm in Afrika.“ Meryl SPIEGEL TV Schnitte.“ Weitere Folgen: diesem 94-Millionen-Dollar- Streep als tapfere Farmerin INTERVIEW Ostersonntag, 23.15 Uhr, Spektakel (USA 1991, Re- zwischen luschigem Ehe- Im Sterbehospiz – Begeg- Ostermontag, 23.10 Uhr. gie: James Cameron) sind die mann (Klaus Maria Bran- nung mit Gisela Schulte, aufwendigen Computerani- dauer) und schönem Jäger einer unheilbar Kranken, mationen. Damit das High- mit eigenem Flugzeug die sich trotz aller Leiden SAMSTAG Tech-Spektakel auch mit Si- (Robert Redford). Es ist die ihre Lebensfreude be- 20.15 – 22.30 Uhr Pro 7 cherheit genügend Neugieri- Welt Afrikas am Beginn die- wahrt hat. ge an die Kinokassen lockt, ses Jahrhunderts, wie sie die Die Waffen der Frauen mußten noch zusätzlich eine dänische Schriftstellerin Ta- Eine junge Sekretärin (Mela- Geschichte (wir verhindern nia Blixen in ihren Erinne- SAMSTAG nie Griffith), die in einem den nuklearen Holocaust) rungen beschrieben hat. Sie- 22.15 – 24.00 Uhr Vox Großraumbüro in Manhattan und ein Star (Arnold Schwar- ben Oscars gab es für die SPIEGEL TV SPECIAL Verfilmung (USA 1985) von Sydney Pollack. Im Rausch des Dreiviertel- takts: Blick hinter die Ku- lissen eines inszenierten 21.55 – 22.55 Uhr RTL 2 Märchens der feineren Gesellschaft, des Wiener Wenn die Putzfrau Opernballs. zweimal klingelt

. . . bekommt sie eine Chan- SONNTAG ce, auf den Bildschirm zu- 21.55 – 22.35 Uhr RTL rückzukommen. Hella von Sinnen mit „Alles Nichts. SPIEGEL TV MAGAZIN Oder?!“ beim Thoma-Sender Zwischen Bett und Parla- untergegangen, startet beim ment – Sex, Politik und kleinen Bruder als schriller Medien: Politiker und ihre Scheuerteufel diese neue intimen Affären. „Terminator“-Darsteller Schwarzenegger Fernsehreihe und geht erst

260 DER SPIEGEL 13/1994 Werbeseite

Werbeseite HOHLSPIEGEL RÜCKSPIEGEL

Aus der Hohenloher Zeitung: „Wer war Der SPIEGEL berichtete . . . es? Wann war es? Und wie stieß der Einhunderttausendste zu den Hohenlo- . . . in Nr. 11 und 12/1994 über neu hern hinzu? Wurde er geboren, ist es ein aufgetauchte Dokumente, die den Ver- Aussiedler? Wohl ewig wird das ein Ge- dacht erhärten, daß der brandenburgi- heimnis bleiben. Tatsache aber ist, daß sche Ministerpräsident und frühere DDR- im Landkreis nun knapp über 100 000 Kirchenjurist Manfred Stolpe (SPD) am Menschen leben.“ 21. November 1978 aus den Händen zweier Stasi-Offiziere die DDR-Verdienst- Y medaille erhalten und über diesen Sach- verhalt vor dem parlamentarischen Un- tersuchungsausschuß des Potsdamer Landtags falsch ausgesagt hat.

Aus dem Viernheimer Tageblatt Vergangene Woche kündigten SPD und FDP die Ampelkoalition mit der Bünd- Y nis-Fraktion auf, weil sich deren Vorsit- zender Günter Nooke weigerte, den Vorwurf zurückzunehmen, Stolpe habe den Ausschuß belogen. Am Mittwoch morgen wollte Stolpe mit einem Min- derheitskabinett noch bis zu den regulä- ren Landtagswahlen im September durchhalten. Doch nachdem sich bereits bei der ersten Abstimmung eine Nieder- lage der Regierungsfraktionen abge- zeichnet hatte, erklärte sich die SPD be- reit, Anträge von CDU und PDS auf Aus Blickpunkt Main-Taunus vorgezogene Neuwahlen am 12. Juni, zeitgleich mit der Europawahl, zu unter- Y stützen. In einer Sondersitzung am 13. April wird der Landtag über seine vor- zeitige Auflösung entscheiden. Ob die dafür erforderliche Zweidrittelmehrheit erreicht wird, ist jedoch fraglich, weil ein großer Teil der CDU-Abgeordneten und auch einige Sozialdemokraten, die nicht wieder in den Landtag kommen, möglicherweise wegen des Verlusts von Diäten nicht zustimmen.

. . . in Nr. 11/1994 SPENDEN – DANK AUS VALLETTA über den Versuch des Bonner Innenministeriums, Erlöse aus dem Verkauf von NVA-Schiffen in die Bildunterschrift aus der Süddeutschen Kasse einer privaten Stiftung zu leiten. Zeitung: „Schwebetricks gehören zum Schönsten der Zauberei. Doch bei Weil die von Innenminister Manfred ,Spellbound‘ wirkt das wie eine mit Kanther (CDU) angeordneten „inner- Kondom erledigte Pflichtübung.“ dienstlichen Überprüfungen“ der Ver- käufe „keine hinreichende Klarheit“ Y brachten, übergab das Ministerium „den Vorgang“ vergangene Woche an die Bonner Staatsanwaltschaft. Dabei wur- den die Ermittler ausdrücklich auf „möglicherweise weitere Beschaffungs- vorgänge“ hingewiesen.

. . . in Nr. 12/1994 UNGARN – KAMPF UM DIE PRESSEFREIHEIT über die Krise Aus dem Kölner Stadt-Anzeiger der Medien in Ungarn.

Y Der für die Massenentlassungen von re- Aus dem Lilienthaler Anzeiger: „Das gierungskritischen Journalisten mitver- Seminar richtet sich an Frauen ohne antwortliche Rundfunkchef La´szlo´ Vorkenntnisse, die herausfinden möch- Csu´cs verbot – nachdem sein Sender ten, was sonst noch alles in ihnen zweimal den SPIEGEL-Artikel erwähnt steckt.“ hatte – jede weitere Verbreitung.

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