DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 06.04.2012 Redaktion: Marcus Heumann 11.05 – 12.00 Uhr

Die letzten ihrer Art Wie US-amerikanische Fans das Radiohörspiel zu Grabe tragen Von Christian Blees

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 Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript -

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O-TON: COLLAGE AUS VERSCHIEDENEN OLD TIME RADIO SHOWS

O-TON: GUNSMOKE (Hufgetrappel, Pistolenschuss, Musik) Sprecher: GUNSMOKE – brought to you by L & M filters. This is it. L & M is best, stands out from all the rest. (Musik) Around Dodge City in the West there is only one way to handle the killers and the spoilers, and that’s with the U.S. Marshal and the smell of…GUNSMOKE!

ANSAGE Die letzten ihrer Art Wie US-amerikanische Fans das Radiohörspiel zu Grabe tragen Ein Feature von Christian Blees

O-TON (Fortsetzung): GUNSMOKE Sprecher: GUNSMOKE – starring William Conrad. A transcribed story from the violence that moved West with young America. And the story of a man who moved with it. Matt Dillon: I’m that man: Matt Dillon, United States Marshal. The first man they look for and the last they want to meet. It’s a chancy job, and it makes a man watchful – and a little lonely.

O-TON: FOTR CONVENTION Jay Hickerson (singt): Thanks for the memory, the stars who used the microphone, from Ken Akback to Ezra Stone. Their talents did all apply from Superman, The Counterspy. We thank you so much…

ERZÄHLER Ein plüschiger 1970er-Jahre-Ballsaal in einem Hotel vor den Toren New Yorks. An gedeckten Tischen haben an diesem Samstagabend im Oktober 2011 insgesamt rund 250 Personen Platz genommen. Die Stimmung ist festlich, hat aber auch etwas von einem gemütlichen Familientreffen an sich. Am Klavier sitzt ein älterer, grauhaariger Mann. Er ist hager und trägt ein dunkelblaues Hemd mit Krawatte. Zur Melodie von „Thank you for the memories“ singt er einen selbst geschriebenen Text. 3

Musik

ERZÄHLER Das Lied weckt bei den Anwesenden wehmütige Erinnerungen. Denn an diesem Abend gilt es, einen Abschied zu feiern. Die vorwiegend älteren Gäste, die sich im Ballsaal versammelt haben, werden sich in diesem Rahmen nie wieder sehen. Sie nennen sich selbst „Friends of Old Time Radio“. Seit fast vier Jahrzehnten treffen sie sich jedes Jahr im Herbst, um sich an die Goldenen Zeiten des US-amerikanischen Radios in den 1930er und 1940er-Jahren zu erinnern. Doch nach diesem Wochenende, das steht fest, ist ein für alle Mal Schluss.

O-TON: JAY HICKERSON This is our 36 th year.

VOICE OVER: Dies ist die sechsunddreißigste Auflage unseres Jahrestreffens. Im vergangenen Jahr haben die Friends of Old Time Radio beschlossen, dass dies die letzte Covention ihrer Art sein sollte – aus verschiedenen Gründen. Zum einen ist es im Laufe der Zeit immer schwieriger geworden, Stargäste einzuladen, die die goldenen Zeiten des Radios noch selbst aktiv miterlebt haben. Bis auf diejenigen, die damals als Kinder im Radio aufgetreten sind, sind inzwischen alle tot. Und auch wir Fans werden immer älter. Weil ich das Ganze jetzt 36 Jahre lang organisiert habe, schien es mir an der Zeit, damit aufzuhören. Die anderen sahen das im Grunde genauso. Es kommen zwar immer wieder Fans, die uns bitten, weiterzumachen. Aber dies ist definitiv unsere letzte Convention.

ERZÄHLER Das Herzstück der Friends of Old Time Radio Conventions sind vor allem die Wiederaufführungen alter Radiohörspiele. Live und vor Publikum – so, wie es damals, in der Hoch-Zeit des US-amerikanischen Radios, gang und gäbe war. Darum tummelt sich auch heute Abend auf einer improvisierten Bühne gut ein halbes Dutzend älterer Männer. Keiner von ihnen ist jünger als 65 Jahre. Auf dem Programm steht diesmal eine Episode aus der berühmten Westernserie 4

GUNSMOKE, zu Deutsch: RAUCHENDE COLTS. Was heutzutage kaum noch jemand weiß: GUNSMOKE ist nur eine von insgesamt rund 450 US-Fernsehserien, die alle ihre Premiere ursprünglich im Radio feierten.

O-TON: FOTR CONVENTION – GUNSMOKE RECREATION (Dialog, Gelächter)

ERZÄHLER Am Bühnenrand haben sich neben den verschiedenen Sprechern - auch dies hat Tradition – noch zwei andere Männer postiert. Einer von ihnen übernimmt die Rolle des Geräuschemachers. Der andere ist dafür zuständig, an den entsprechenden Stellen verschiedene Musiken einzuspielen. Allen Beteiligten ist vor allem eines anzumerken: Sie geben sich größte Mühe, eine perfekte Vorstellung hinzulegen.

O-TON (Fortsetzung) FOTR CONVENTION - GUNSMOKE RECREATION (Dialog)

ERZÄHLER Jay Hickerson hat 45 Jahre seines Lebens als Klavierlehrer gearbeitet. Noch heute tritt der Pensionär mit seinem Piano als Alleinunterhalter in Krankenhäusern und Altersheimen auf. Die Musik war es auch, die ihn vierzig Jahre zuvor zum ersten Mal überhaupt in Kontakt mit alten amerikanischen Hörspielen brachte.

O-TON: JAY HICKERSON I used to play theme songs of old time radio programs and television programs...

VOICE OVER: Ich habe schon immer Titelmelodien aus älteren Radio- und Fernsehserien gespielt. Und als ich das 1970 mal auf einer Party gemacht habe, sprach mich eine Frau an. Sie sagte, sie kenne da jemanden, der würde Aufnahmen genau jener Programme besitzen, deren Melodien ich spielte. Also nahm ich Kontakt mit demjenigen auf. Er gab mir damals vier Tonbandspulen, auf denen sich insgesamt einhundert alte Radiosendungen befanden. Und diese einhundert Sendungen fing ich dann an, mit anderen Fans zu tauschen. Anfang der siebziger Jahre musste man die Aufnahmen 5 alle noch mühsam von einem Tonbandgerät auf ein zweites überspielen. Anschließend schickte man auf Vertrauensbasis dem Tauschpartner seine Kopien zu, und im Gegenzug bekam man dann von ihm die Aufnahmen aus seiner Sammlung, die man selbst gerne haben wollte.

ERZÄHLER Lange vor dem Aufkommen des Internets war es relativ aufwendig, mit anderen Personen in Kontakt zu bleiben, die dasselbe Hobby teilten – vor allem dann, wenn diese über die gesamte USA verstreut waren. Jay Hickerson hatte Glück: Ein paar Hörspiel-Fans, die er kennen lernte, lebten ganz in seiner Nähe.

O-TON: JAY HICKERSON Well, we got to talking, and in 1970 we found other people in the area of Connecticut, where we lived, and we had a little backyard party…

VOICE OVER: Wir sprachen darüber, ob wir uns nicht irgendwie zusammentun könnten, und so kam es 1971 zur ersten kleinen Convention. Wir nannten uns damals die „Low-Fi Radio- Fans“. Weil wir im Vorfeld der Veranstaltung in unserer Fan-Zeitschrift dafür geworben hatten, kamen auch einzelne Sammler aus anderen Bundesstaaten. Auch schauten schon ein paar Stargäste vorbei, wie zum Beispiel Jackson Beck, der Ansager der „Superman“-Radiohörspiele. Er ist von da an bis zu seinem Tod regelmäßig auf unseren Conventions aufgetreten. Insgesamt fanden von 1971 bis 1975 fünf derartige Fantreffen statt, alle im Raum New Haven, und alle federführend organisiert von Sal Trapani – jenem Sammler, der mich mit meinen ersten einhundert Aufnahmen versorgt hatte. Ende 1975 kehrte Sal seinem Hobby den Rücken. Der Rest von uns aber blieb am Ball und benannte sich um in „Friends of Old Time Radio“. 1976 fand dann die erste Versammlung unter der neuen Bezeichnung statt.

ERZÄHLER Ken Stockinger aus Cliffwood Beach im Bundesstaat New Jersey ist 48 Jahre alt. Damit zählt er zu den jüngeren Teilnehmern der Friends of Old Time Radio Convention. Zum ersten Mal sei er 1999 dabei gewesen, sagt Ken. Und das, obwohl seine erste Begegnung mit alten Radiohörspielen noch viel, viel länger zurückliegt. 6

O-TON: KEN STOCKINGER This is going to sound like something out of a very bad movie, a very badly written script...

VOICE OVER: Das Ganze klingt wie der Plot eines ziemlich miesen Films. Aufgewachsen bin ich in Bloomfield, einer Kleinstadt im Norden von New Jersey. Wir wohnten damals im Erdgeschoss eines zweistöckigen Hauses. Unsere Vermieterin lebte über uns. Hinten im Hof standen diese großen, alten Mülleimer aus Metall. Eines Tages ging ich raus in den Hof – und sah dort, in einer der Mülltonnen, eine leere Cornflakes- Verpackung liegen. Sie war völlig unbeschädigt und lag mit der Rückseite nach oben. Eine Werbeaufschrift besagte, man könne die Deckel der Verpackung, zusammen mit ein paar Dollars, an die Firma Kellogg’s einsenden. Im Gegenzug erhielte man dann vier Langspielplatten mit den Radio-Abenteuern von Superman zugeschickt. Kellog‘s hatte in den vierziger und fünfziger Jahren die Radiohörspiele gesponsert. Meine Mutter und mein Onkel hatten schon öfters von diesen alten Radioshows erzählt, und ich hatte so etwas schon immer mal mit eigenen Ohren hören wollen. Also bat ich meine Mutter, die Kellogg’s-Schallplatten zu bestellen – und als ich dann den ersten Minuten lauschte, war’s um mich geschehen. Das war 1974, damals war ich elf. Für mich war das der Start als Sammler. Im Laufe der Jahre sind bis heute rund 60 000 Sendungen zusammen gekommen.

O-TON: SUPERMAN RADIO SHOW Sprecher: Faster than a speeding bullet, more powerful than a locomotive, able to leap tall buildings at a single bounce. Look – up in the sky! It’s a bird, it‘s a plane, it’s Superman! (Musik) Sprecher: Kellogg’s PEP, the sunshine cereal, presents THE ADVENTURES OF SUPERMAN. (Musik)

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ERZÄHLER Im Vergleich zu manch anderen Sammlungen ist Ken Stockingers Kollektion mit 60 000 Sendungen noch verhältnismäßig übersichtlich. Zumal es im Zeitalter des Internets kein Problem ist, sich in kürzester Zeit komplette Serien mit mehreren hundert Einzelfolgen auf den eigenen Rechner zu laden. Wie sehr sich die Lage im Laufe der vergangenen vier Jahrzehnte gewandelt hat, zeigt sich exemplarisch auch an diesem Abend. Einer der Sammler, Jo Web, hat eine interessante Berechnung aufgestellt.

O-TON: FOTR CONVENTION Sammler: It’s been a tribute to everyone that the convention has gone this long – and actually lasted longer than the Golden Age of Radio…

VOICE OVER: Ich habe mal ausgerechnet, wie sich das Sammeln im Vergleich von damals zu heute verändert hat. Wenn man Anfang der siebziger Jahre 80 000 Shows auf Tonband konservieren wollte – was für heutige Verhältnisse dem Umfang einer ordentlichen Sammlung entspricht -, dann hätte das Ganze rund 2700 Kilogramm gewogen und – auf die heutige Kaufkraft umgerechnet – 23 000 Dollar gekostet. Hätte man die Sendungen auf Audiokassetten gesammelt, hätte man 40 000 Kassetten gebraucht und dafür 100 000 Dollar ausgeben müssen.

ERZÄHLER Die eigentliche Pointe seiner Berechnungen präsentiert Jo Web, indem er Jay Hickerson auf der Bühne eine externe Computer-Festplatte überreicht – als Dankeschön für 36 wundervolle Conventions. Auf ihr befinden sich über 80 000 Radiohörspiele – bei einem Gewicht von höchstens einem halben Kilogramm und zum aktuellen Anschaffungspreis von einhundert Dollar. Viele der darauf gespeicherten Shows gibt es mittlerweile kostenlos zum Download im Internet.

O-TON (Fortsetzung): FOTR CONVENTION (Applaus)

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ERZÄHLER Die Audio-Dateien dieser Festplatte repräsentieren die gesamte Bandbreite dessen, was das US-amerikanische Radio zwischen 1935 und 1955 zu bieten hatte. Egal, ob Krimi, Western, Science Fiction, Horror, Seifenoper, Comedy oder Kinderhörspiel: Für jeden Geschmack ist etwas dabei. Und so mühsam und kostspielig das Sammeln in den Anfangsjahren auch war – Fans wie Ken Stockinger erinnern sich gerne an die alten Zeiten zurück.

O-TON: KEN STOCKINGER I had a wonderful mother who is now deceased who made sure that we were a comfortable middle class family...

VOICE OVER: Ich hatte eine wundervolle Mutter, die inzwischen leider verstorben ist. Per Post bestellte sie für mich damals Schallplatten mit Hörspielen der Westernserie LONE RANGER und der Krimireihe THE GREEN HORNET. Und dann entdeckte ich eines Tages eine Firma namens Radio Yesteryear, die viele alte Radioserien auf Cassette und LP verkaufte. Ich war damals siebzehn und arbeitete als Kellner in einem Café. Und immer, wenn ich wieder einmal genügend Trink- und Taschengeld beisammen hatte, stöberte ich gemeinsam mit meiner Mutter im Katalog von Radio Yesteryear. Für zwölf Dollar bekam man damals eine Stunde Hörspiel – also zum Beispiel entweder zwei halbstündige Episoden oder vier Folgen von je fünfzehn Minuten. Auf diese Weise bauten meine Mom und ich nach und nach eine richtige Hörspielsammlung auf. Und so kam ich auch zum ersten Mal in Kontakt mit in der Rolle des SHADOW. Diese Serie habe ich auf Anhieb geliebt.

O-TON: THE SHADOW (Musik) Sprecher: Who knows what evil lurks in the hearts of men? THE SHADOW KNOWS! Ansager: Ladies and gentlemen, as we’re near the start of the Happy Holidays season, the Blue Coal dealers of America wish you, the members of their vast unseen audience, the merriest Christmas ever. And they present their special Christmas gift to you: a new, warm-hearted adventure of THE SHADOW. 9

(Musik)

ERZÄHLER Für Orson Welles war die Rolle des SHADOW der Auftakt zu einer rasanten Radio- Karriere. Und für Millionen US-amerikanischer Familien hatten die verschiedenen Hörspielserien, abgesehen vom reinen Unterhaltungswert, auch einen sozialen Nebeneffekt: schafften sie es doch, die verschiedenen Generationen vor den Radioapparaten zu vereinen. Ken Stockinger weiß dies von seinem mittlerweile 82- jährigen Vater.

O-TON: KEN STOCKINGER The main thing he remembers about radio was not so much the program content but from a family basis…

VOICE OVER: Er sagt öfters: “Weißt du, wenn heutzutage eine Familie gemeinsam vor dem Fernseher sitzt, dann starrt jeder auf den Bildschirm, und niemand sagt etwas. Beim Radio war das früher ganz anders. Obwohl es eigentlich sehr wichtig war, genau zuzuhören, gab es doch in den Hörspielen immer wieder kleine musikalische Brücken zwischen den einzelnen Szenen oder auch Werbeunterbrechungen, in denen man sich kurz über das eben Gehörte unterhalten konnte. Und wenn es mal eine besonders spannende Szene gab, dann schaute man sich gegenseitig aufgeregt an.“ Mein Vater hat mir erzählt, dass er als Junge immer bäuchlings auf dem Boden vor dem Radio lag, das Kinn in die Hände gestützt. Mein Großvater aß dann oft einen Becher Eiscreme, und Großmutter nähte irgendetwas.

ERZÄHLER Der Filmemacher Mike Kacey arbeitet an einer Dokumentation über die Golden Days of Radio. Auch für ihn gehört der Besuch der 36. und letzten Friends of Old Time Radio Convention gewissermaßen zum Pflichtprogramm. Vor allem aber kennt sich Kacey sehr gut aus mit den Anfängen der US-amerikanischen Radiolandschaft, der die Fans heutzutage nachtrauern.

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O-TON: MIKE KACEY The very first network of stations was in 1926, and that was NBC, the National Broadcasting Corporation…

VOICE OVER Das erste Network, die National Broadcasting Corporation, wurde 1926 gegründet. Dahinter steckte die Idee, Radiosendezeit an Sponsoren zu verkaufen. Diese konnten dann mit einzelnen Sendungen ihre Produkte bewerben. Einer der ersten Stars war Rudy Vallee, der mit seiner Sendung für Fleischmans Hefe Werbung machte. Die Sendungen kamen alle zentral aus New York. Kleinere Radiostationen konnten sich der NBC anschließen und hatten dadurch den Vorteil, ihren Hörern vor Ort berühmte Stars wie Rudy Vallee oder Eddie Cantor präsentieren zu können. Ihre eigenen Einnahmen konnten sie dadurch aufbessern, indem sie vor Ort selbst lokale Sendungen produzierten, die sie dann an Sponsoren vor Ort verkaufen konnten.

ERZÄHLER CBS, das Columbia Broadcasting System, ist damals neben NBC das größte Radio Network der USA. Beide Senderketten produzieren ihre Programme jeweils zentral in New York. Verbreitet werden diese über tausende lokaler Radiostationen im ganzen Land. Das heißt: Je mehr Stationen ein Network als Abnehmer für das eigene Programm gewinnen kann, desto höher sind die Einschaltquoten – und damit auch die Einnahmen. Denn Mitte der 1930er-Jahre beginnen immer mehr Firmen in den USA damit, ihre Werbeetats umzuschichten: von den Tageszeitungen ins Radio.

O-TON: MIKE KACEY Radio in the 1930s was also important because of the economic depression that we had in the United States.

VOICE OVER Das Radio war in den 1930er-Jahren auch deshalb wichtig, weil viele Menschen ihre Arbeit verloren hatten. Für den Preis eines Radioapparates konnten sie sich plötzlich unterhalten lassen, Musik und Nachrichten hören. Vorher musstest du ins Theater gehen, um Künstler wie Jack Benny oder Eddie Cantor zu erleben. Jetzt kamen sie 11 zu dir nach Hause. Dadurch wurde das Radio zu einem wichtigen Mittel, um mit der Welt außerhalb der eigenen vier Wände Kontakt aufzunehmen.

ERZÄHLER Ein Jahr später als die Konkurrenz von NBC nimmt das CBS seinen Sendebetrieb auf. Zunächst befindet sich das Network dadurch im Kampf um die Gunst des Publikums klar im Nachteil. Hinzu kommt, dass die National Broadcasting Corporation 1929 die „Victor Talking Machine Company“ aufgekauft hat, den größten Schallplattenkonzern der Welt. Deshalb sind die meisten der großen Schallplattenstars auf NBC zu hören. Bei CBS muss man sich also einiges einfallen lassen, um auf Dauer wettbewerbsfähig zu sein.

O-TON: MIKE KACEY CBS therefore had to be more of an experimental kind of radio network. And that was a show on Sunday nights where they would run radio dramas…

VOICE OVER Bei CBS wurde mehr herum experimentiert. Sie hatten ganz einfach nicht die ganzen Talente, über die NBC verfügen konnte. Eines ihrer größten Experimente war eine Sendung mit dem Titel „Der Columbia Workshop“, in der sonntagabends immer Hörspiele liefen – von unterschiedlichen Autoren, mit unterschiedlichen Regisseuren und in völlig unterschiedlichen Stilrichtungen.

ERZÄHLER Bei CBS bekommen auch junge Radiotalente ihre Chance. Eines von ihnen ist der 23-jährige Regisseur und Schauspieler Orson Welles. Er hat bei einem kleineren Network zunächst die Rolle des SHADOW übernommen. Ab Sommer 1938 darf er bei CBS mit einer eigenen Hörspielreihe auf Sendung gehen. An Halloween desselben Jahres gelingt ihm eine Sensation.

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O-TON: WAR OF THE WORLDS Ansager: The Columbia Broadcasting System and the affiliated stations present Orson Welles and The Mercury Theater On The Air in “The War of The Worlds” by H. G. Wells. (Musik)

ERZÄHLER Orson Welles präsentiert mit seiner Schauspielertruppe vom „Mercury Theater“ auf CBS einmal pro Woche ein Hörspiel. Die Übertragung vom „Krieg der Welten“ am 30. Oktober 1938, basierend auf der Romanvorlage von H. G. Wells, ist inszeniert wie eine dokumentarische Live-Reportage. Geschildert wird die Invasion der Erde durch Marsbewohner. Wie jeden Sonntagabend haben auch diesmal deutlich mehr Hörer das Konkurrenz-Programm der NBC eingeschaltet: Die „Chase and Sanborn Hour“, eine bunte Unterhaltungsshow.

O-TON: EDGAR BERGEN SHOW (Musik) Sprecher: The makers of Chase & Sanborn coffee, the superb blend you know it’s fresh present THE CHASE & SANBORN HOIUR. And your host, Don Ameche.

ERZÄHLER Doch als es dort nach etwa einer viertel Stunde zu einer ersten musikalischen Unterbrechung kommt, schalten mehrere Millionen Menschen aus Neugierde um auf CBS.

O-TON: EDGAR BERGEN SHOW Sprecher: A few years ago a song about the couple of people who are very, very tired swept the country. Remember “Put out the lights and get to sleep”? Now, another one has come along, and it looks like just as a big hit. It’s by Hoagy Carmichael, and it’s called, simply enough, “Two sleepy people”. Dorothy L’Amour shows how it goes - and very nicely, too. Dorothy? (Musik)

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O-TON: WAR OF THE WORLDS Sprecher: Wait a minute - something is happening. Ladies and gentlemen, this is terrific!

ERZÄHLER An dieser Stelle des Hörspiels sind die Raumschiffe vom Mars gerade gelandet. Dass es sich dabei um eine Fiktion handelt, ist vielen Hörern nicht klar. In zahlreichen Städten kommt es zur Massenpanik. Denn in den USA des Jahres 1938 gilt das Radio nicht nur als wichtigste, sondern vor allem auch als absolut zuverlässige Informationsquelle.

O-TON: MIKE KACEY The role of the radio in America in the 1930s and 1940s was supreme…

VOICE OVER Das Radio war das mächtigste Massenmedium in den dreißiger und vierziger Jahren. Man kann das mit der Bedeutung vergleichen, die das Internet für uns heutzutage hat. Das Web ist schlichtweg DAS Mittel, über das wir kommunizieren und Informationen beziehen.

ERZÄHLER Ken Stockinger ist mit seinen 48 Jahren viel zu jung, um die von Orson Welles ausgelöste Panik selbst miterlebt zu haben. Seine Mutter aber lebte im Oktober 1938 in New York City.

O-TON: KEN STOCKINGER My mother, who grew up in New York City, was...

VOICE OVER: Ihre Familie gehörte damals zu denen, die in Panik gerieten und die mit Taschentuch über dem Mund raus auf die Straße liefen. Als sie dann mitbekamen, dass es sich nur um ein Radiohörspiel handelte, waren sie richtig sauer. Den Ort Grover‘s Mill, an dem die Marsianer im Hörspiel zuerst landen, gibt es wirklich. Zum siebzigsten Jahrestag des Hörspiels bin ich mit vielen anderen Fans dorthin gefahren, um mir 14 den Ort des Geschehens mal mit eigenen Augen anzuschauen. Wir haben auch mit ein paar Einheimischen gesprochen. Und einer von ihnen verriet uns, warum die Einwohner von Grover‘s Mill ganz und gar nicht daran interessiert waren, das berühmte Hörspiel mit irgendwelchen Jahrestagen zu feiern. Das liegt vor allem daran, dass es an jenem besagten Abend auch in Grover‘s Mill zu einer Panik kam. Denn in der Sendung ist die Rede von der „Willmouth-Farm“, und im realen Grover‘s Mill gab es einen Farmer namens Wilson. Und all die, die in Grover‘s Mill am Radio saßen, dachten, der Reporter habe bloß den Namen falsch ausgesprochen. Der Mann, der uns diese Anekdote erzählte, sagte, sein eigener Großvater sei also abends aus der Kneipe gekommen. Überall standen die Haustüren offen, die Radios liefen – und kein Mensch war zu sehen. Fast alle Einwohner hatten den Ort verlassen. Als sie später erfuhren, was wirklich passiert war, hatten sie das Gefühl, als Leute vom Dorf von den Großstädtern aus New York an der Nase herumgeführt worden zu sein. Darum wollte nie jemand aus Grover‘s Mill über diesen legendären Abend sprechen.

O-TON: THE WAR OF THE WORLDS Orson Welles: This is Orson Welles, ladies and gentlemen, out of character, to assure you that THE WAR OF THE WORLDS has now further significance than as a holiday offer it intented to be…

ERZÄHLER Anders als die Bewohner von Grover’s Mill verbinden Fans wie Ken Stockinger und sein Vater die alten Radiohörspiele durchweg mit positiven Assoziationen. An Faszination und Wirkung hätten die verschiedenen Sendungen bis heute nichts eingebüßt, sagt Ken.

O-TON: KEN STOCKINGER My mother passed away, and my father and I became even closer…

VOICE OVER: Nachdem meine Mutter gestorben war, kamen mein Vater und ich uns näher. Dabei halfen uns unter anderem die alten Radiohörspiele. Wir saßen oft zusammen und haben uns diese gemeinsam angehört. Er ist jetzt 82 Jahre alt und immer noch 15 ziemlich fit. Ab und zu macht er sich per Auto auf den Weg zu seiner Schwester. Die Fahrt dauert zweieinhalb Stunden, und im Wagen hat er einen CD-Wechsler, in den sechs CDs passen. Und immer einen Tag, bevor er losfährt, kommt er zu mir und sagt: "Okay, was hast Du diesmal für mich? Gib mir sechs Stunden!". Und weg ist er.

O-TON: FOTR CONVENTION - GUNSMOKE RECREATION (Lachen, Dialog)

ERZÄHLER Wer sich auf dem Treffen der Friends of Old Time Radio umhört, merkt sehr schnell: Unter den Tausenden von Serien, die in Fankreisen im Umlauf sind, gibt es etwa ein Dutzend, die US-amerikanische Hörspielgeschichte geschrieben haben. Eine davon ist GUNSMOKE, RAUCHENDE COLTS. Martin Grams ist einer der führenden Old Time Radio-Experten. Er hat mehr als zwei Dutzend Bücher zum Thema verfasst – und erklärt, was an GUNSMOKE so besonders ist.

O-TON: MARTIN GRAMS GUNSMOKE originally started out as an idea by Norman Macdonnell...

VOICE OVER: Das Ganze basiert auf einer Idee von Norman Macdonnell. Er war ursprünglich Regisseur und Produzent der Serie .

O-TON: ESCAPE (Musik) Sprecher: You are face to face with the fierce Patan warriers, trapped into a hopeless fight from where seems no ESCAPE. (Musik) Ansager: We offer you ESCAPE, designed to free you from the four walls of today, for a half hour of high adventure. (Musik) Tonight we escape to the north of India…

VOICE OVER (Fortsetzung) ESCAPE brachte jede Woche eine spannende Geschichte aus allen möglichen verschiedenen Genres. Einigen seiner damaligen Autoren gegenüber sprach 16

Macdonnell immer wieder davon, er würde am liebsten die ultimative Western- Hörspielreihe fürs Radio entwickeln. Ein wichtiger Bestandteil sollten dabei absolut originalgetreue Geräuscheffekte sein. Bis dahin hatte sich niemand allzu große Gedanken darüber gemacht, wie sich in einem Western Schritte oder Pistolenschüsse anhörten. Macdonnell aber sagte: „Ich will, dass man das Leder hören kann, wenn jemand in den Sattel steigt. Ich will nicht das übliche Geklapper der Pferdehufen hören, sondern hören können, wie jemand den Staub aufwirbelt.“ Versuchsweise produzierte er daraufhin zunächst zwei Western-Episoden für die Reihe ESCAPE. Daraufhin gab ihm das Network CBS schließlich grünes Licht für eine GUNSMOKE-Pilotfolge. Auch die kam bei CBS gut an. Also stellten sie Macdonnell Sendezeit zur Verfügung und sagten: „Schauen wir mal, wie es die Hörer finden.“ Die neue Serie bekam den Titel GUNSMOKE – RAUCHENDE COLTS.

O-TON: GUNSMOKE (Hufgetrappel, Pistolenschuss, Musik) Sprecher: GUNSMOKE – brought to you by L & M filters. This is it. L & M is best, stands out from all the rest. (Musik) Around Dodge City in the West there is only one way to handle the killers and the spoilers, and that’s with the U.S. Marshal and the smell of…GUNSMOKE! (Musik)

ERZÄHLER Der offizielle Startschuss für GUNSMOKE fällt am 26. April 1952. Im Mittelpunkt der Handlung steht U.S. Marshall Matt Dillon. Er kämpft im Western-Städtchen Dodge City für Recht und Ordnung. Gesprochen wird die Rolle von dem Schauspieler William Conrad, der Jahre später als dickbäuchiger Privatdetektiv Cannon auch eine TV-Karriere machen wird. Zuvor aber spielt er in insgesamt 480 wöchentlich ausgestrahlten Radio-Episoden den Marshall. GUNSMOKE ist dermaßen erfolgreich, dass die Serie – wie viele andere auch – schon bald parallel im Fernsehen läuft.

O-TON: MARTIN GRAMS It started out on radio three years before it premiered on television, on CBS…

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VOICE OVER: Die Serie war drei Jahre im Radio gelaufen, bevor sie ihre Fernsehpremiere hatte. Die GUNSMOKE-Hörspiele wurden innerhalb kürzester Zeit zu einem riesigen Erfolg. Alle Radiomacher sagten damals: So realistisch, wie GUNSMOKE gemacht ist, müssen wir unsere Hörspielserien in Zukunft auch produzieren. Vor allem aber wurde die Serie zum ersten Radio-Western, der sich gezielt an erwachsene Zuhörer richtete. Bis dahin galten Western-Hörspiele als Kinder- und Jugendunterhaltung. Das änderte sich mit GUNSMOKE schlagartig. Plötzlich ging es in den Geschichten um Indianer, die Weiße skalpieren oder einem Maultier die Ohren abschneiden. Die Episoden waren sehr bildhaft gestaltet und auch brutal – aber nie so brutal, dass nicht auch Kinder hätten unbeschadet zuhören können.

ERZÄHLER Im Schatten von GUNSMOKE schießen plötzlich auch andere Western- Hörspielserien für Erwachsene wie Pilze aus dem Boden. Da ist zum Beispiel der FRONTIER GENTLEMEN. Als englischer Zeitungsreporter ist er per Pferd für die „London Times“ im Wilden Westen unterwegs. In einer anderen Serie, FORT LARAMIE, spielt Raymond Burr die Hauptrolle. Burr wird später im Fernsehen als Perry Mason ebenso Karriere machen wie als der an den Rollstuhl gefesselte Polizist namens Ironside in der Serie DER CHEF.

Die einzige andere Westernserie, die einen ähnlichen Kultstatus erreicht wie GUNSMOKE, heißt THE SIX SHOOTER. Und das liegt vor allem an ihrem Hauptdarsteller.

O-TON: THE SIX SHOOTER (Musik) Sprecher: James Stewart as THE SIX SHOOTER. A transcribed series of radio dramas, based on the life of Britt Ponset, the Texas plainsman, who wandered through the western territories, leaving behind a trail of still remembered legends. (Musik)

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ERZÄHLER Dass ein berühmter Filmschauspieler – hier James Stewart – die Hauptrolle in einer Hörspielserie übernimmt, ist damals keine Seltenheit. Ab Ende der dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts ist es völlig normal, dass im Radio praktisch alle zu hören sind, die in Hollywood Rang und Namen haben. Eine wichtige Rolle spielt dabei die wohl erfolgreichste Hörspielserie des US-amerikanischen Radios überhaupt: Das LUX RADIO THEATER – benannt nach seinem Sponsor, dem Seifen-Hersteller Lux. Da schon seit den frühen 30er-Jahren hauptsächlich Seifen- und Waschmittelkonzerne derartige Radioshows sponsern, etabliert sich für das Genre rasch der Begriff "Soap Opera". Das LUX RADIO THEATER präsentiert jeden Montagabend ein einstündiges Hörspiel, das auf einem bekannten Film basiert. Gesendet wird live aus Hollywood. Bis zu 60 Millionen Hörer sitzen dann gebannt vor ihren Radios. Dass die Reihe derart erfolgreich ist, liegt vor allem an dem Mann, der sie präsentiert: Filmproduzent Cecil B. DeMille.

O-TON: LUX RADIO THEATER Sprecher: Lux presents Hollywood! (Musik) The LUX RADIO THEATER brings you Cary Grant, Carole Lombard and Kaye Francis in the play “In Name Only”. Ladies and gentlemen, your producer: Mr. Cecil B. DeMille! (Musik, Applaus)

ERZÄHLER Im Mai 1936 geht das LUX RADIO THEATER zum ersten Mals von Los Angeles aus auf Sendung. Die Hauptrollen im Hörspiel übernehmen in der Regel genau jene Schauspieler, die auch schon in der Filmvorlage mitgemacht haben.

O-TON: MARTIN GRAMS Some people originally thought in Hollywood that this would actually kill the ratings.

VOICE OVER: In Hollywood befürchtete man, die Leute würden nicht länger ins Kino gehen, um einen Film zu sehen, wenn sie zuhause bleiben konnten, um ihn zu hören. Doch Cecil B. DeMille glaubte genau das Gegenteil. Er sagte: „Es gibt auch Menschen, die körperlich behindert sind, die das Haus nicht verlassen können, die blind sind – die können nicht ins Kino gehen. Insofern ist die Radiofassung eines Films für sie eine 19 gute Alternative.“ Also hat man aus dem LUX RADIO THEATER eine riesige, prestigeträchtige Show gemacht. Früher oder später hat jeder Hollywood-Star mindestens einmal in einem der LUX-Hörspiele mitgemacht. Die Reihe wurde zu einem großen Erfolg, und es ist heutzutage sehr schwierig, einen Hollywood-Film jener Zeit zu finden, der nicht fürs Radio adaptiert wurde.

ERZÄHLER Im US-amerikanischen Radio werden die meisten Sendungen durch Sponsoren finanziert. Diese können selbst darüber entscheiden, wie sie die Eintrittskarten für die Live-Hörspiele unters Volk bringen.

O-TON: MARTIN GRAMS LUX RADIO THEATER was one of the handful radio programs that were very popular, and in fact they gave away tickets. They never sold them.

VOICE OVER: Die Tickets für das LUX RADIO THEATER wurden nicht etwa verkauft, sondern verschenkt. Die Anzahl war begrenzt, denn in dem Theater, von dem aus die Hörspiele ausgestrahlt wurden, gab es nur eine bestimmte Anzahl Sitzplätze. Immerhin verdoppelte sich die Menge der angebotenen Karten dadurch, dass es pro Hörspiel an dem betreffenden Abend jeweils zwei Übertragungen gab: Zuerst live für die Ostküste, und zwei Stunden später noch einmal live für die Hörer an der Westküste. Sobald das Publikum Platz genommen hatte, wurde es genau darauf hingewiesen, was während der Sendung gestattet war und was nicht. Husten war genauso unerwünscht wie das Mitbringen von Babies, weil die eventuell anfangen, zu schreien. Wer an bestimmten Stellen lachen muss, soll sich damit kurz halten, weil die Zeit sehr knapp bemessen war. Wenn es dann endlich losging, kamen sämtliche Schauspieler und auch die Geräuschemacher auf die Bühne, die Männer alle mit Anzug und Krawatte bekleidet. Das Ganze war eine wirklich festliche Angelegenheit. Außerdem konnte ein solches LUX-Hörspiel die Karriere eines jeden Schauspielers in Hollywood genauso fördern wie ruinieren: Wer in der Live- Radioübertragung keine Schwächen zeigte, durfte auf weitere Hörspielaufträge hoffen – und auch darauf, dass ihn die Hollywood-Bosse wohlwollend im Auge 20 behielten. Wer dagegen auf der Hörspielbühne versagte, hatte anschließend schlechte Karten.

O-TON: MARTIN GRAMS Today historians look back on the show for a number of intruiging reasons…

VOICE OVER: Das LUX RADIO THEATER ist heutzutage aus verschiedenen Gründen sogar für Filmwissenschaftler interessant. Einmal wurde zum Beispiel DER MALTESER FALKE fürs Radio adaptiert. Man beschloss, auf die Hauptdarsteller aus dem Film – Humphrey Bogart, Peter Lorre und Cindy Greenstreet – zu verzichten. Stattdessen übernahm Edward G. Robinson die Rolle des Detektivs Sam Spade. Damit zeigte das Filmstudio den Hörern gewissermaßen: „Schaut mal – so wäre es gewesen, wenn wir statt Bogart diesen anderen Hauptdarsteller genommen hätten, der auch bei uns unter Vertrag steht!“ Und auch in anderer Hinsicht sind diese Radiofassungen für Forscher interessant: Manche Filme sind nämlich komplett verschollen. Insofern lässt sich manchmal nur anhand der erhaltenen Radiofassung überhaupt noch nachvollziehen, wie die Handlung ursprünglich einmal ausgesehen hat.

ERZÄHLER Nicht nur Film- und Medienwissenschaftler wissen das Hobby der Friends of Old Time Radio zu schätzen. Auch die Akteure aus der goldenen Ära des US- amerikanischen Rundfunks sind laut Jay Hickerson vom Engagement der leidenschaftlichen Sammler sehr angetan.

O-TON: JAY HICKERSON Early on, all the special guests were on radio…

VOICE OVER: In den Anfangsjahren stammten alle unsere Stargäste aus dem Radio, und fast jeder von ihnen wurde irgendwann einmal mit einer Trophäe ausgezeichnet. Das hatten sie zu ihrer aktiven Zeit zuvor nie erlebt: dass ihnen jemand für ihre Radioarbeit 21 einen Preis überreichte. Viele von ihnen sind darüber sehr gerührt und fühlen sich - bis auf ganz wenige Ausnahmen – sehr geehrt.

ERZÄHLER Auf den Old Time Radio Conventions werden aber nicht nur alte Hörspiele wieder aufgeführt oder ehemalige Radio-Schauspieler ausgezeichnet. Ganz wichtig sind auch die so genannten Dealer Rooms. Hier finden die Fans alles, was ihr Herz begehrt: vergilbte Radiomagazine, nostalgische Rundfunkempfänger, spezielle Fachbücher – und natürlich eine unendliche Zahl von Radiohörspielen, oft in opulent aufgemachten CD-Schubern und versehen mit aufwändig gestalteten Booklets. Trotz seiner umfangreichen Sammlung ergattert auch Ken Stockinger auf den Tischen der verschiedenen Händler durchaus noch das eine oder andere Schnäppchen.

O-TON: KEN STOCKINGER I store them in several ways.

VOICE OVER: Zum einen habe ich immer noch Audiokassetten und auch Langspielplatten mit Hörspielen. Dann habe ich normale Audio-CDs, genauso wie mp3-CDs. Und dann habe ich noch eine externe Festplatte, die mit Radio Shows vollgestopft ist. Das alles befindet sich in einem kleinen Zimmer im zweiten Stock meines Hauses. Das Problem dabei ist nur, dass ich die Regale zum Aufbewahren selbst zusammengebaut habe – und dass sie vor kurzem eingestürzt sind, weil ich sie viel zu voll geladen hatte. Also werde ich demnächst alles neu sortieren müssen. Irgendwie hat das Sammeln etwas von einer Krankheit – allerdings im positiven Sinne: Man kann damit einfach nicht aufhören. Ich selbst besitze weitaus mehr Sendungen, als ich mir jemals anhören könnte – selbst dann, wenn ich drei Leben hätte. Aber ich höre trotzdem nicht auf. Es macht einfach viel zu viel Spaß.

ERZÄHLER Auch Jack French aus Wisconsin sammelt mit Leidenschaft alte Hörspiele. Der 76- Jährige ist seit Jahren Stammgast auf den Conventions – und hat dabei schon früh eine interessante Beobachtung gemacht.

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O-TON: JACK FRENCH When I first started going to these conventions I’m looking around, and it’s basically caucasian males over fifty…

VOICE OVER: Als ich zum ersten Mal dabei war, ist mir auf Anhieb etwas aufgefallen. Man sieht bei diesen Treffen sehr wenige Frauen und auch nur wenige Menschen afro- amerikanischer oder asiatischer Herkunft. Und von den wenigen Frauen, die diese Conventions besuchen, sind die meisten von ihren Ehemännern quasi mitgeschleift worden. Sie gehen an diesen Wochenenden dann in der Regel irgendwo in der Nähe shoppen. Ich habe keine Ahnung, wie es früher in anderen Ländern war, in denen das Radio eine wichtige Rolle gespielt hat. Aber in den USA haben kleine Jungs Radio gehört, sobald sie nur alt genug waren, den Einschaltknopf zu finden. Mädchen dagegen hatten am Radio kein Interesse. Sie lasen lieber Bücher und spielten mit ihren Haustieren oder Puppen. Meine eigene Frau ist nur zwei Jahre jünger als ich und in derselben Gegend aufgewachsen wie ich. Und das Einzige, an das sie sich aus ihren Kindertagen noch erinnern kann, ist, dass ihre Eltern vor dem Radioapparat gesessen haben. Wenn sie mich zu diesen Conventions begleitet, hat sie darum immer etwas Besseres zu tun.

ERZÄHLER Einer der wenigen weiblichen Gäste, die sich mit ganzem Herzen für die alten Hörspiele interessiert, ist Lea Biehl. Mit ihren 27 Jahren zählt sie außerdem zu den jüngsten Convention-Teilnehmern überhaupt. Mit dem Old Time Radio-Virus infiziert wurde sie durch ein Familienmitglied.

O-TON: LEAH BIEL That would have to be my father.

VOICE OVER: Das war mein Vater. Ich war Schülerin der Oberstufe, als er mich mit auf eine kleinere Old Time Radio Convention in Cincinatti mitnahm. Das Jahr davor war er schon einmal alleine da gewesen und hatte sich gedacht: „Das könnte etwas sein, das auch meine Tochter interessiert.“ Also bin ich beim nächsten Mal mitgekommen. 23

Wir fuhren an einem Freitagnachmittag, gleich nach der Schule, los. Die Convention dauerte von Freitag früh bis Samstagabend. Anschließend hatten wir beide das Gefühl, zu viel verpasst zu haben. Also habe ich bei allen folgenden Besuchen freitags immer die Schule geschwänzt, um so die komplette Convention erleben zu können. So hat alles angefangen.

ERZÄHLER Bei Leah Biel ging das Interesse an dem ungewöhnlichen Hobby schließlich so weit, dass sie sich zur Radio- und Fernsehtechnikerin ausbilden ließ. Einen Draht zu anderen Frauen zu finden, die sich auf den Conventions tummeln, fällt ihr schwer.

O TON: LEAH BIEL I happened to see something as far as a lot of the women that are there are either – for the most part but not completely – relatives like the wife that will be going with her husband or the girlfriend to satisfy her boyfriend’s likes…

VOICE OVER: Die älteren Frauen kommen offenbar eher aus Solidarität zu ihren Ehemännern mit, und die Jüngeren, um ihren Freunden einen Gefallen zu tun. Mich persönlich interessieren die alten Hörspiele aber wirklich. Und das, was mir an den Conventions mit am besten gefällt, ist, dass es wie ein Treffen alter Bekannter ist. Einmal pro Jahr sehe ich auf diese Weise Leute, zu denen ich sonst nur über Email oder Telefon Kontakt habe. Wir unterhalten uns dann über alles Mögliche – natürlich vor allem über Old Time Radio, aber auch über andere Dinge, die uns Spaß machen.

ERZÄHLER In ihrem persönlichen Freundes- und Bekanntenkreis stößt Leah Biel meist auf Ratlosigkeit – oder auch auf völliges Desinteresse.

O-TON: LEAH BIEL I gain a lot of “That’s nice.”…

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VOICE OVER: Wenn ich erzähle, welche bekannten Radiostars ich auf den Conventions treffen werde, heißt es meistens: “Klingt nett“ oder „Wer ist das?“ Das tut im ersten Moment schon irgendwie weh. Aber dann mache ich mir klar, dass die, die so reagieren, viel zu jung sind. Sie sind halt nicht mit dem Radio aufgewachsen, sondern mit dem Fernsehen.

ERZÄHLER Genau dieses Problem bekommen ab Mitte der 1950er-Jahre auch die Radio Networks in den USA zu spüren. Die Werbewirtschaft steckt ihr Geld nun viel lieber ins Fernsehen. Von manchen Sendungen - wie etwa dem LUX RADIO THEATER - gibt es schon bald erfolgreiche Fernsehableger. Aus immer mehr Zuhörern werden Zuschauer. Außerdem verschmilzt die Film-Firma Paramount Pictures im Februar 1953 mit dem Network ABC zu einem Mediengroßkonzern. Paramount will in Zukunft ganz gezielt Eigenproduktionen im Fernsehen unterbringen und bietet dem Konkurrenten von MGM, Disney und Warner ebenfalls Sendezeiten auf einem neuen Fernsehkanal an. So kommt, stellvertretend für viele andere Serien, im Juni 1961 und nach insgesamt 432 Episoden, auch für RAUCHENDE COLTS das Aus im Radio. Im Fernsehen dagegen wird die Serie noch 14 weitere Jahre laufen.

MUSIK: GUNSMOKE TITELMELODIE

ERZÄHLER Ein ganzes Jahrzehnt lang liegt das Radiohörspiel in den USA im Tiefschlaf. Stattdessen dominieren jetzt billig zu produzierende Musik- und Talkformate die Ätherwellen. Erst im Sommer 1973 startet das Network CBS ein Aufsehen erregendes Comeback.

O-TON: MARTIN GRAMS Sometime in the summer of 1973 Hyman Brown, who produced and directed a lot of radio programs – INNER SANCTUM MYSTERY, THE ADVENTURES OF THE THIN MAN -, he decided he wanted to do old radio dramas again…

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VOICE OVER: Damals kam Hyman Brown mit der Idee, die Hörspiele neu aufleben zu lassen. Er war früher Produzent und Regisseur bekannter Hörspielserien gewesen. Brown nahm das berühmte Türenquietschen aus seiner alten Radioserie INNER SANCTUM und etablierte eine neue Reihe mit dem Titel CBS RADIO MYSTERY THEATER. Diese ging im Januar 1974 zum ersten Mal auf Sendung und lief ohne Unterbrechung bis Dezember 1982. Fast jeden Abend gab es ein neues Hörspiel. So gingen in neun Jahren insgesamt rund 1600 neu geschriebene Hörspiele über den Äther.

O-TON: CBS RADIO MYSTERY THEATER Sprecher: The CBS RADIO MYSTERY THEATER presents… (Türenquietschen, Musik) Sprecher: Come in! Welcome – I’m E. G. Marshall….

ERZÄHLER Auf Dauer aber bleiben die Einschaltquoten bescheiden. Auch finden sich immer weniger Autoren, die bereit sind, für wenig Geld ansprechende Hörspielmanuskripte zu verfassen. Mit der letzten Folge des CBS RADIO MYSTERY THEATER ist das Ende erfolgreicher Radio-Hörspielserien in den USA gekommen. Und obwohl auch die 36. Convention der Friends of Old Time Radio die unwiderruflich letzte ihrer Art gewesen ist: Fans wie Jack French blicken optimistisch in die Zukunft.

O-TON: JACK FRENCH I think there is still a future, and it’s going to be the internet saving it...

VOICE OVER: Das Internet hat unser Hobby auf Dauer gerettet. Man kann sich die Shows jetzt ganz bequem herunterladen und auch sammeln, wenn man will. Und wenn man sich in der Szene umschaut, dann ist Martin Grams der wohl bekannteste aller Autoren, die Bücher über Old Time Radio Shows veröffentlichen. Er ist erst Mitte dreißig und insofern ganz und gar nicht mit Old Time Radio groß geworden. Bei ihm hat alles ganz einfach damit angefangen, dass er irgendwann übers Internet mal Shows 26 gehört hat. Und bis heute hat er 28 Bücher zu diesem Thema veröffentlicht, die alle sehr sorgfältig recherchiert sind.

ERZÄHLER Martin Grams gilt mit seinen 34 Jahren nicht nur aufgrund seiner vielen Fachbücher als Hoffnungsträger innerhalb der Szene. Auch haben er und seine Frau schon vor ein paar Jahren damit begonnen, eine eigene Fan-Veranstaltung auf die Beine zu stellen: Die so genannte Mid Atlantic Nostalgia Convention.

O-TON: MARTIN GRAMS My wife and I put on every year the Mid Atlantic Nostalgia Convention...

VOICE OVER: Sie hat bislang sechsmal stattgefunden, mit ständig wachsenden Besucherzahlen. Bei dieser Veranstaltung geht es aber – im Gegensatz zum Treffen der Friends of Old Time Radio - nicht nur um alte Radiohörspiele, sondern auch um Fernsehserien, Kinofilme, Comics und Groschenromane. Darum nennen wir das Ganze auch eher allgemein „Nostalgie-Treffen“. Auf diese Weise ist es uns gelungen, auch solche Leute für das Thema „alte Radio-Hörspiele“ zu interessieren, die zuvor noch nie davon gehört hatten und die eigentlich wegen der Fernseh-Serien oder Kinofilme gekommen waren. Sie erfahren dann oft zum ersten Mal, dass ihre Lieblings- Hollywoodstars früher auch in Serien wie dem LUX RADIO THEATER aufgetreten sind.

ERZÄHLER Ken Stockinger weiß noch nicht, ob auch er demnächst die Nostalgia Convention besuchen wird, um seinen Abschiedsschmerz von den Friends of Old Time Radio zumindest etwas zu lindern. Denn er ist vor kurzem arbeitslos geworden. Das knappe Geld steckt er lieber nach wie vor in seine Sammlung.

O-TON: KEN STOCKINGER I have trouble sleeping and will toss and turn…

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VOICE OVER: Ich habe in letzter Zeit Probleme beim Einschlafen. Da tun mir die Radiohörspiele richtig gut. Mein Vater hat sein Schlafzimmer neben meinem, und manchmal kommt er dann nachts an, setzt sich in den Sessel neben meinem Bett und hört einfach mit zu. Meine Hunde springen dann zu mir ins Bett, und irgendwie fühle ich mich in diesem Moment zurückversetzt in das Wohnzimmer meines Vaters – zu einer Zeit, als er selbst noch ein Kind war. Mir wird dann bewusst, welche magische Kraft das Radio besitzt, um Familien zusammenzubringen – so, wie es das Fernsehen nie hinbekommen wird. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich liebe das Fernsehen. Aber noch mehr liebe ich die Antwort, die mal jemand auf die Frage gegeben hat, warum er das Radio dem Fernsehen vorziehe. Er sagte: Das Radio hat ganz einfach die besseren Bilder.

ERZÄHLER Das 36. und definitiv letzte Jahrestreffen der Friends of Old Time Radio neigt sich dem Ende entgegen. Jay Hickerson, der die Veranstaltung von Anfang an federführend organisiert hat, bleibt bei aller Wehmut gelassen. Für ihn werde sich die Welt auch ohne die Convention weiterdrehen, sagt er.

O-TON: JAY HICKERSON I’ll continue what I’m doing.

VOICE OVER: Ich werde nach wie vor Klavier spielen und das Buch weiter aktualisieren, an dem ich seit Jahren schreibe. Darin beschreibe ich den Fans, welche Radio Shows noch erhalten sind und wo sie diese finden.

O-TON: FOTR CONVENTION Jay Hickerson spielt und singt „We’ll meet again“.

ABSPANN Die letzten ihrer Art Wie US-amerikanische Fans das Radiohörspiel zu Grabe tragen Ein Feature von Christian Blees 28

Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2012. Es sprachen: Daniel Berger, Nicole Engeln, Walter Gontermann, Richard Hucke, Hans-Gerd Kilbinger, Volker Niederfahrenhorst, Isis Krüger und Ernst August Schepmann

Ton und Technik: Daniel Dietmann und Angelika Brochhaus Regie: Anna Panknin Redaktion: Marcus Heumann

Musik