Johannes Ismaiel-Wendt

post_presets Kultur, Wissen und populäre MusikmachDinge

Johannes Ismaiel-Wendt

post_presets Kultur, Wissen und populäre MusikmachDinge

Universitätsverlag Hildesheim Georg Olms Verlag Hildesheim Hildesheim . Zürich . Ne w York

2016 Diese Publikation entstand in Zusammenarbeit von Georg Olms Verlag und Universitätsverlag der Stiftung Universität Hildesheim.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Dieser Band ist als Open Access-Angebot verfügbar https://www.uni-hildesheim.de/bibliothek/publizieren/ open-access-universitaetsverlag/

ISO 9706 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Lektorat: Nele Al-Osman und Marina Schwabe Satz: Jan Jäger und Mario Müller, Universitätsverlag Hildesheim Umschlaggestaltung: Inga Günther, Hildesheim Umschlagabbildung: Johannes Ismaiel-Wendt, Stiftung Universität Hildesheim Herstellung: Docupoint GmbH, 39179 Barleben Printed in © Georg Olms Verlag AG, Hildesheim 2016 www.olms.de © Universitätsverlag Hildesheim, Hildesheim 2016 Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-487-15479-4 Inhalt

Lockartikel/Teaser VII Einleitung 1 Methoden kulturwissenschaftlicher und kultursoziologischer MusikmachDing-Studien 15 Drum Machine Soundlecture: Delinking AfricC 39

The Sound of Science. Forschung als ästhetische Praxis. Eine Antrittsvorlesung 57 Mehr Theorie. Substanzielles in Kendrick Lamars «Wesley’s Theory» 77 ein Audio-Loop ist noch kein Theorem. Livelooping vs. dezentriertes Sampling-Wissen 101 session im Formular. Über Liveness und Improvisation, Verwaltungsakte, panoptische Tabellen, wohltemperierte Audiofiles, Musik-Fertig-keiten und also auch Ableton Live 117 electronic Dance Music’s Ghost Track. Preset-Narrative über das Unbehagen gegenüber dem «sauberen Sound» aus «deutschen» Tonstudios 155 Anmerkungen zum Rechtsstreit über Musik-Sampling – «Kraftwerk (Ralf Hütter) vs. Moses Pelham» – und zur Frage nach rassismuskritischer, semiotischer Demokratie 171 Djiie-söös! Sonische Materialitäten des Glaubens. Über die Soundscape-Komposition «L’amplification des Âmes» von Gilles Aubry 185

Quellenverzeichnis 205

Abbildungsverzeichnis 222

Lockartikel/Teaser

In den frühen 1980er Jahren lässt sich der Jazz-, Funk- und Fusion-Musiker Herbie Hancock das erste portable, auch mit Batterien betreibbare, noch nicht auf den Markt gebrachte Sampler-Keyboard, ein Ensoniq Mirage, nach Gambia schicken. In Westafrika wird er mit dem Sampler in Beglei- tung der Puppen Kermit und Miss Piggy, die Frosch- und Schweinfiguren aus der Muppet Show bzw. der Sesamstraße, in ein Boot steigen und den Gambia-Fluss entlangschippern. Hancock wird mit dem Ensoniq Mirage in «a remote African environment»1 Stimmen und Geräusche sampeln und Kermit und Miss Piggy vor laufender Kamera erklären, wie er Sounds auf- nehmen oder bearbeiten kann und wie der digitale 8-Bit-Sampler auch mit seinen analogen Filtern funktioniert. Vielleicht wird Herbie Hancock den Puppen auch Sounds präsentieren, die ab Werk gespeichert sind, oder es ist sein Auftrag, Sounds zu sammeln, die später als Presets mit dem Gerät vertrieben werden können. Diese Episode oder dieser Teaser für den Ensoniq Mirage ist zwar tat- sächlich vorproduziert, aber leider nie ausgestrahlt worden.2 Hancock war durchaus einmal Gast in der Sesame Street, aber er stellte in einer im Fern- sehstudio produzierten Sendung Kindern den nicht so mobilen Fairlight CMI vor. Die Afrikareise Herbie Hancocks mit Kermit, Miss Piggy und dem Ensoniq Mirage wäre eine ganz besondere Vorstellung für die Muppet Show oder die Sesamstraße und weit darüber hinaus gewesen. Sie exemplifiziert – ausgestrahlt oder nicht – viele der Begriffe, die unter dem Titel post_PRESETS. Kultur, Wissen und populäre MusikmachDinge verhandelt werden. In wunderbarer und in sich widersprüchlicher Weise irritiert die Episode beispielsweise dominante Inszenierungen von Musik, Kultur, Technik/Technologie: Eine Person of Color, die mit dem allerneu- sten – es ist der einzig existierende Prototyp –,3 damals höchsttechnisier- ten Aufnahme- und Spiel-Ding nach Afrika reist, um Klänge zu sammeln, gehört in der Geschichtserzählung der Phonographie und in den Narra- tiven der Technologieerrungenschaften zu den Ausnahmen.4 Gleichzeitig passiert etwas Klischeehaftes oder das, was immer passiert, wenn scheinbar

1 Herbie Hancock with Lisa Dickey (2014): Possibilities, New York: Penguin, S. 262. 2 Ebenda. 3 Ebenda. 4 Weheliye, Alexander G. (2005): Phonographies. Grooves in Sonic Afro-Moder- nity, Durham and London: Duke University Press, S. 23.

vii Aura durch Reproduktionstechnologien bedroht wird: Es wird nach etwas «Authentischem», den «Eingeborenen» oder dem «Natürlichen» gesucht.5 Afrika und seine Sounds bleiben die schon lange beliebten Referenzpunkte. Entlang der Begebenheit mit der Gruppe Ensoniq Mirage, Hancock, Kermit, Miss Piggy und Gambia-Fluss lassen sich viele Fragen aufwerfen, die mit dem Begriffskomplex des Titels des vorliegenden Bandes zu verbin- den sind. Wie werden Kultur und Wissen durch Sound und Musikmach- Dinge vermittelt? Wo und wie lassen sich kulturalisierte, ethnisierte oder nationalisierte Repräsentationen in den Dingen, Narrativen, Technologien und der Technik finden?

«Who consumes and produces the texts for the ‹post-colonial› world, who canonizes them, who acquires them and has them available as physical ob- jects?»6 Auch die falsch gestellten Fragen, die immer noch im Zusammenhang mit MusikmachDingen mitschwingen, kommen zum Vorschein: Wie ist ein au- thentischer Sound oder Wiedergabetreue zu erreichen? Wie klingt Afrika? Sind Musikinstrumente und -technik nicht erst einmal unschuldige Medien? Erfrischend verwirrt wird der anklingende Kulturalismus in der oben erzählten Geschichte durch die mitreisenden grünen und pinken non-hu- man Puppets of Color, denen der Sampler erklärt wird. Auf beinahe zu vie- len Ebenen wird in dieser Episode etwas transmediatisiert oder transkul- turalisiert: Da ist zwar etwas Altbekanntes, aber es ist auch immer schon als erfundene Figur und überdeckende Maske offenbart. Mit dem Ensoniq Mirage kann nicht Afrika imitiert werden. Der Name des Geräts ist pro- grammatisch als Trug-Sound- oder Illusionsmaschine zu lesen. Und Han- cock begibt sich auch nicht zurück zu seinen Wurzeln in Afrika, sondern ist erstmalig dort am Fluss, um Abstand zum heimatlichen Geschehen in den USA zu gewinnen.7 Das andersartige Prozessieren dieses Mu­sik­tech­no­lo­ gie­nar­ra­tivs und dieser Kulturalisierungstechnik ist bemerkenswert.

5 Bergermann, Ulrike und Heidenreich, Nanna (2015): «Embedded Wissen- schaft. Universalität und Partikularität in post_kolonialer Medientheorie», in: Dies. (Hg.): total. Universalismus und Partikularismus in post_kolonialer Me- dientheorie, Bielefeld: transcript, S. 9–44, hier S. 21. Die Autorinnen beziehen sich bei dieser Feststellung auf Rey Chows Forschungsarbeiten. 6 Ashcroft, Bill; Griffiths, Gareth und Tiffin, Helen (2006): «Production and Consumption, Introduction Part Fifteen», in: Dies. (Hg.): The Post-Colonial Studies Reader, New York: Routledge, S. 397, 398, hier S. 397. 7 Hancock, Possibilities, S. 262. viii

Einleitung

Einleitung

Emulationen und zu kurze (negative) Definitionen post_PRESETS. Kultur, Wissen und populäre MusikmachDinge: POST meint nicht nur ein «Danach», sondern ein «Mittendrin» und «Überall». Das Prä- fix steht in dem vorliegenden Buch wenig in Verbindung mit Vorstellungen von Postmoderne, sondern vor allem mit Postkolonialität.8 Dass die Vorsilbe «Post-» nicht nur «danach» meint, ist eigentlich auch schon ein etabliertes PRESET. PRESETS sind demnach nicht nur werksmäßig gespeicherte Vor- einstellungen von Parametern und Vorgaben in Musikgeräten oder -me- dien, sondern Regulationssysteme, Standardisierungen, etablierte Mecha- nismen, die auch in wissenschaftlichen Denkweisen vorherrschen können. Damit interessiert im Zusammenhang mit WISSEN auch nicht so sehr was, sondern eher wie gewusst wird. KULTUR meinte noch nie das, was immer wieder mit dem Begriff kurzschlussartig natio-ethnisiert beschwört wurde und wird. Und der vorliegende Band wird auch das zeitgenössische Preset «Kulturen sind dynamisch» im üblichen Format nicht weiter mantraartig wiederholen. Vielmehr wird exemplarisch das Prozessieren von kultureller Differenz – auch in MUSIKKULTUREN – reflektiert. Das POPULÄRE soll gleichbedeutend sein mit allen möglichen Definitionen, die dazu sowie zur Kurzform POP gefunden werden können. Es kann epochal gedacht werden (auch als das Jüngere in der Geschichte) oder es meint etwas, das von Massen konsumiert wird, genauso wie etwas, das auch in kleinen Musikszenen sehr beliebt ist oder fetischisiert wird. MUSIK im engeren Sinne eines organisier- ten Klanggeschehens spielt in diesem Buch nur selten eine Rolle – so wie es nicht um Mehr-WISSEN als Vermittlung eines Informationsbestandes geht. Im Fokus stehen eher mehr oder weniger formalisierte Möglichkeiten, Mu- sik zu produzieren, und Routinen im Sprechen über sie. Die holprige Sub- stantiv-Verb-Verbindung MUSIKMACHDINGE begründet sich zum einen offensichtlich darin, dass damit Dinge, Apparate, Audio Workstations und ähnliches gemeint sind, mit denen heute oftmals Musik GEMACHT werden kann. Um nicht den Eindruck zu erwecken, diese seien nur als Klangwerk- zeuge im Sinne der Verlängerung des menschlichen Arms zu verstehen, wird der Begriff Musikinstrument vermieden. Mit MUSIKMACHDINGE soll be- tont werden, dass diese auch als eigenständige Musikmachende wahrzuneh-

8 Appiah, K. Anthony (1997): «Is the ‹Post-› in ‹Postcolonial› the ‹Post-› in ‹Postmodern›?», in: Anne McClintock; Aamir Mufti und Ella Shohat (Hg.): Dangerous Liaisons: Gender, Nation, and Postcolonial Perspectives, S. 420–444, Minneapolis: University of Minnesota Press.

3 Emulsionen und zu kurze (negative) Definitionen men sind. Sie rastern, bestimmen die Formung von Klang oder Rhythmus, sie archivieren oftmals dermaßen viel MUSIK(-KULTUR) und geben diese aus, sodass eher davon ausgegangen werden muss, dass sie in bestimmten Kompositions- und Aufführungsmomenten mehr MUSIK MACHEN als etwa involvierte humane Akteur*innen. Auch wenn die zusammengeführten Worte des Titels nie eine Bedeu- tung wirklich treffen und die vorangestellten Kennzeichnungen und Ab- grenzungen zirkulär wirken, so ist die Überschrift dennoch nicht tautolo- gisch gedacht. Die Begriffe sind Emulationen. Sie scheinen andere Systeme nachzuahmen, erscheinen wie «Post-», «Preset», «Kultur», «Wissen», «Po- puläres», «Musik», «Musikkultur», «Kulturtechnik» oder «Musikinstru- mente», sie re-präsentieren manchmal fast Gleiches, sie funktionieren aber nicht analog und vielleicht auch in ganz unterschiedlicher Weise. Sie sind in dieser Schrift anders generiert als das, was sie auf den ersten Blick emu- lieren. Sie durchlaufen andere Operationen, Organisationen von Perspekti- ven, Gedächtnisse und Speicher als die üblichen. Eine Qualität, die das Konzept der Emulation transportiert, liegt darin, dass es immer schon auf Erfindungen und Konstruktion verweist. Emuliert wird, was es schon gibt oder einmal gab.9 post_PRESETS. Kultur, Wissen und populäre MusikmachDinge kann nicht einfach das Gleiche meinen wie «Post-», «Preset», «Kultur», «Wissen», «Musik», «Musikkultur», «Kultur- technik» und so weiter, weil die Begriffe keine authentischen sind. Die ima- ginierten Konzepte waren immer schon unmöglich eindeutig referenzier- bar, deshalb wird in diesem Buch auch nicht suggeriert, es finde nur eine «Migration» der Daten in ein anderes Format statt. post_PRESETS. Kultur, Wissen und populäre MusikmachDinge sind nicht Kopien und imitieren nicht Funktionsweisen. Etwas, auf das es keinen Zugriff (mehr) gibt, kann eben höchstens emuliert werden. Warum die Begriffe dann nicht einfach ignorieren und nicht mehr gebrauchen? Weil nicht der Anschein erweckt werden soll, es gäbe irgendeine authentische Terminologie.

9 Nun wäre sicherlich «Prozessieren» ein Terminus, der viele Dimensionen der Formveränderungen, des Werdens statt des Seins, ebenso verdeutlichen kann (Winkler, Hartmut: Prozessieren. Die dritte, vernachlässigte Medienfunktion, München: Wilhelm Fink, S. 28). Dass die Daten, die prozessiert werden, auch schon prozessierte sind, stellt sich meines Erachtens allerdings noch deutli- cher im Konzept der Emulation heraus. Es entsteht nicht der Eindruck, eine naturgegebene Praxis, unbedeutende Codes, etwas analog Erfahrbares oder ein einfach irgendwie bestehendes Wissen würde in der Verarbeitung trans- formiert werden.

4 Einleitung post_PRESETS = Vor-stellungs-vermögen

In bester Manier musikalischer und populär-kultureller achronistischer Erzählweise erscheint das Buch post_PRESETS. Kultur, Wissen und popu- läre MusikmachDinge noch vor einem Sammelband, in dem das Konzept «Presets» enger definiert und ausführlich gekennzeichnet wird. Der Mu- sikwissenschaftler Alan Fabian und ich geben erst nach der vorliegenden Publikation das Sammelwerk Musikformulare und Presets. Musikkulturali- sierung und Technik/Technologie heraus,10 in dem wir Presets wie folgt cha- rakterisieren:

«Presets im Kontext der Musikproduktion meinen unter anderem Vorein- stellungen von Parametern zur Klangbildung, Filtern, vorgegebenen Quan- tisierungsrastern und so weiter. Sie kommen zum Beispiel in Geräten und Programmen als werksmäßig vorgefertigte Musikpattern, Sounds, Rhythmen sowie Effekte (vorbereitete Hallräume, Echo-Wiederholungszeiten u. Ä.) vor. Zunächst einmal erscheinen Presets also rein ‹technischer Natur› zu sein. Sie wirken zumeist unauffällig und hintergründig, verkürzen vielleicht Arbeits- schritte und verschwinden als Selbstverständlichkeiten. Presets – positiv begriffen – befriedigen Bedürfnisse und vereinfachen das Musikmachen. Presets, eher pessimistisch aufgefasst, standardisieren und sind ästhetisch hochgradig suggestiv. Die einschränkende Kodierung und formsprachliche Bestimmtheit bedeuten buchstäblich ‹Regelung› von präfixierten, präfigurierten ‹Vor-stellungen›. Wie Formulare erwerben sie tragfähige Selbstverständlichkeit und ‹Formautorität›.11 […] Da sich hinter Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung und ästhetischen Vorstellungen immer Wissenshierarchien verbergen, sind Presets auch als symbolische und kulturelle (Kapital‑)‹Steuerungen› zu verstehen.»12

10 Für das eingefügte Zitat von Alan Fabian und Johannes Ismaiel-Wendt kann noch kein Quellennachweis angegeben werden, weil das Sammelwerk noch in Vorbereitung ist. 11 Brendecke, Arndt (2002): «Tabellen und Formulare als Regulative der Wis- senserfassung und Wissenspräsentation» online unter: http://www.sfb-fruehe­ neuzeit.uni-muenchen.de/archiv/2002/langtexte/brendecke1.pdf,­ zuletzt ge- prüft am 06.01.2014, S. 12. 12 Vgl. zur Frage der Wissenshierarchien zum Beispiel in Spielekonsolen, die inzwischen häufig auch (mit subversiver Absicht) zum Musikmachen ge- nutzt werden: Fron, Janine; Fullerton, Tracy; Morie, Jaqueline und Cearce, Celia (2007): «The Hegemony of Play», in: Akira Baba (Hg.): Proceedings of

5 post_PRESETS = Vor-stellungs-vermögen post_PRESETS. Kultur, Wissen und populäre MusikmachDinge steigt nicht in einen Schwanengesang präfigurierter, ordinärer Kulturindustriekritik und das Ende der Kreativität ein. In Bezug auf Musikproduktion etabliert sich seit Jahren ein Lamentieren über «schöpferische[] Nullpunkt[e]»,13 die wegen des Überflusses an Presets erreicht werden und Feststellungen wie «[d]ie Industrie will verkaufen und erzieht sich ihre Kunden in Richtung Presets.»14 In mehr oder weniger verkappt elitären Künstler*innenverständ- nissen erheben Musiker*innen und Labelbetreiber*innen Vorwürfe gegen Produktionsverfahren, die durch mangelnde Komplexität geprägt seien. Über MusikmachDinge heißt es dann:

«Es sind triviale Maschinen, wo alles, was herauskommen kann, im Prinzip vorhersehbar ist; nicht-trivial kann nur der Umgang damit sein, die Aus- einandersetzung.»15 Diese gesamte Preset-Kultur beklagende Diskussion sei für dieses Buch mit einer kurzen ironischen Einfügung abgetan. SUSI schreibt in einem On- line-Kommentar zu einer Radiosendung mit dem Titel «Generation Preset: Wie digitale Voreinstellungen die Popmusik prägen»:

«Ach, waren das noch Zeiten, als wir einen Kamm in die Hand bekamen und Pergament darüber spannten. Außerdem räumten wir den Küchenschrank aus und probierten mit dem Kochlöffel (HOLZ nichtP lastik) alle Schlagzeug- varianten aus […].»16 post_PRESETS sind als Paradigma gedacht, das sich von einer zu engen «Früher-war-alles-besser»-Haltung löst. Über zu begrenzte Fragen im Kontext von Musikproduktion hinausgehend wird die Rolle von Presets

Digital Games Research Association: Situated Play, Tokyo, online unter: http:// ict.usc.edu/pubs/The%20Hegemony%20of%20Play.pdf, zuletzt geprüft am 14.01.2014. 13 www.sequencer.de (mehrere Daten): Online Diskussion zu «Presetkultur. Am schöpferischer Nullpunkt» unter http://www.sequencer.de/synthesizer/view- topic.php?t=105727, zuletzt geprüft am 15.03.2016. 14 Waldorfer (17. Mai 2008): Kommentar zum Forumsthema «Yamaha Motif», online unter: http://www.musiker-board.de/threads/yamaha-motif-roland- fantom.269424/page-6, zuletzt geprüft am 15.03.2016. 15 Werner, Jan St. und Sander, Klaus (2005): Vorgemischte Welt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 26. 16 sUSI (2016): Online-Kommentar unter: https://netzpolitik.org/2016/gene- ration-preset-wie-digitale-voreinstellungen-die-popmusik-praegen/, zuletzt geprüft am 15.03.2016.

6 Einleitung viel weiter und auch metaphorisch im Zusammenhang mit dem Prozes- sieren von Wissen ermittelt. Im Sinne postkolonialer Studien werden Pre- sets als Matrizen verstanden, die Wahrnehmung mitbestimmen und mit denen beispielsweise Kulturen differenziert werden. Nicht die Frage, ob Presets in MusikmachDingen zum schöpferischen Ende führen, soll be- handelt werden, sondern beispielsweise für wen die Idee des schaffenden humanen Künstler*innensubjekts überhaupt wann und wo relevant ist. Die post_PRESETS-Perspektive entrollt: «[T]here is also a cultural registry that draws heavily on preset European Models of imagination.»17 Die post_PRESTS-Analysen suchen in MusikmachDingen und stere- otypen Denk- und Redetechniken/-technologien über das Musikmachen nach «Avatars of Whiteness», wie David R. Dietrich das zum Beispiel in Computer Games tut. Kulturalistische Vor-einstellungen sind manchmal so offensichtlich, dass der sprichwörtliche Wald vor lauter Bäumen nicht mehr gesehen wird. Der Musiklehrer und Musikmedienwissenschaftler Adam Patrick Bell zeigt musterhaft entlang des weltweit beliebten, mit Apple Computern vertriebenen Musikproduktionsprogramms «GarageBand», wie die Software über Bildchen von virtuellen Schlagzeugern Klischees re- produziert: «GarageBand reinforces racial stereotypes reminiscent of the segregation-era label ‹race records› by associating musical styles with mela- nin. The caricatured drummers are symptomatic of the music the user is led to make.»18 Die post_PRESETS-Analysen suchen aber auch unter weniger augenscheinlichen Oberflächen nach Matrizen der Wissensgenese und kul- turellen Vor-stellungen. Die post_PRESET-Bergungsarbeit bedeutet dann mitunter die Re-Lektüre von Diskursen, die vielleicht schon breit diverse Post-Interpretationsmethoden verinnerlicht haben, zum Beispiel solche wie poststrukturalistische Sampling-Fantasien.

17 Choudhury, Bibhash (2016): Reading Postcolonial Theory: Key texts in context, New York: Routledge, S. 97. 18 Bell, Adam Patrick (2015): «Can We Afford These Affordances? GarageBand and the Double-Edged Sword of the Digital Audio Workstation», in: Action, Criticism, and Theory for Music Education, 14(1), S. 44–65, hier S. 58, online unter: http://act.maydaygroup.org/articles/Bell14_1.pdf, zuletzt geprüft am 15.03.2016. Bell macht ebenso auf die Reproduktion von Gender-Stereotypen in solchen Programmen aufmerksam.

7 Aufbau des Buches

Aufbau des Buches

Die vorliegende Schrift ist ein Fachbuch, zudem im Sinne des Wortes ein Sachbuch über MusikmachDinge und trotzdem möchte es gerne in vielen Passagen auch «Sonic Fiction» sein.19 Der Terminus «Sonic Fiction» wird hier von Kodwo Eshun übernommen und unter anderem auch so verstan- den, wie Diedrich Diederichsen beschreibt:

«Eshun vermischt nämlich Beschreibungen von zu Maschinenklängen verbrei- teten Semantiken, von individuell oder kollektiv assoziierten Bildern mit Be- schreibungen der technischen Protokolle, die diese Klänge hervorbringen.» 20 Meine vielleicht merkwürdige Buch-Klassifizierung meint zudem, dass mehrere Wahrnehmungsdimensionen eines Buches bespielt werden und dass offensichtlich ein Spiel mit Wahrheitenfindung geschieht. Zum ei- nen gibt es, wie es sich für ein Fachbuch gehört, eine unmittelbare wissen- schaftsinhaltliche Ausrichtung. Zum anderen gibt es die Ausrichtung, die auch Text- und Schreibformate, also Formungen und Wissenschaft als Ge- nre erkundet. Wissenschaftliche Analysen sind in einigen Kapiteln in For- maten wie verschriftlichten Audio-Treks/Tracks (assoziative Track-Ana- lysen, subjektive Hörreisen), Manuskripten zu Vortragperformances ver- sinnlicht und genauso werden Wissenschafts- oder Theoriebegriffe gezielt erweitert. Die auf die Einleitung folgenden neun Kapitel sind tatsächlich eine Sammlung aus seit 2010 von mir betriebenen Soundlecture Perfor- mances, geschriebenen Handbuchartikeln, Begehungen von Audio-In- stallationen, Lektüren von Musik-Magazinen, gehaltenen Vorträgen und imaginierten Armchair-Ethnographien unter Kopfhörern. Auch wenn das alles disparat erscheinen mag, so entspringen diese Produktionen alle dem gleichen strengen wissenschaftlichen Interesse, das von Anfang an einen roten Faden hatte und ursprünglich unter der vereinigenden Überschrift «post-PRESETS. Populäre Musik, verdrahtete WissensWelten und Kultur- Technologien» entstand. Das erste Kapitel «Methoden kulturwissenschaftlicher und kultursozio- logischer MusikmachDing Studien» ist als Handbuchkapitel konzipiert. Es konturiert zunächst – und das steht für dieses Buch noch an –, was Musik-

19 eshun, Kodwo (1998): More Brilliant Than The Sun. Adventures In Sonic Fic- tion, London: Quartet Books. 20 Diederichsen, Diedrich (2014): Über Pop-Musik, Köln: Kiepenheuer & Witsch, S. 317.

8 Einleitung machDinge überhaupt sein können. Das Methodenkapitel trägt auch For- schungsstände zusammen und stellt vor, welche Disziplinen und Fachper- spektiven sich unter anderem mit MusikmachDingen beschäftigen. Damit werden Legitimationen dafür gefunden, dass MusikmachDingen Agens zuzuschreiben ist. Kulturelles Wissen ist diesen Aktanten eingeschrieben und sie bewegen humane «Nutzer*innen» dazu, auf sie zu reagieren. Für methodische Ansätze werden erste Fragenperspektiven zur Auseinander- setzung mit kulturellen Bedingtheiten von sogenannten Musiktechniken, Musikinstrumenten oder Musikmedien skizziert. Diese Annäherungsmög- lichkeiten an die Dinge werden exemplarisch entlang von Drum Machines, Groove Boxes und Drum Software vorgestellt. Beifolgend ist in der verschriftlichten «Drum Machine Soundlecture: Delinking AfricC», dem zweiten Kapitel, genau das umgesetzt, was im Kapitel über methodische Zugänge von MusikmachDing-Studien vorge- schlagen wird. Die Soundlecture ist darüber hinaus eine Mixing-Choreo- grafie über ein Preset-Pattern eines Drum-Computers. Sie basiert inhaltlich wesentlich auf Erkenntnissen aus meiner Studie «tracks’n’treks. Populäre Musik und Postkoloniale Analyse» und fasst vieles zusammen.21 Während in der Studie aus den Jahren 2006 bis 2010 aus Track-Arrangements und Sounds postkoloniale Weltauslegungen und Weltaneignungen heraus- und hineingehört werden, sind die Ansatzpunkte in «Delinking AfricC» kon- krete MusikmachDinge, Technologien und Techniken. Im dritten Kapitel «The Sound of Science. Forschung als ästhetische Pra- xis» ist das ursprüngliche Vortragsformat noch erkennbar. Es beleuchtet das Verhältnis zwischen Wissensgenese und Performance. Vornehmlich entlang des Komplexes Musikwissenschaft und Inszenierung sind Ver- flechtungen zwischen forscherischer, theoriebildnerischer und ästhetischer Praxis dargelegt. Gefragt wird, ob tatsächlich klare Grenzen zwischen bei- spielsweise MusikmachDing-Entwicklung, Forschung und Ding zu ziehen sind. Einerseits zielt der Beitrag auf die Anerkennung von Wissenschaft und Forschung als kulturpoetische Akte, andererseits peilt der Text auch eine Rationalisierung der mystifizierten ästhetischen und musikalischen Praxis an. Diese Perspektive wird auch im sechsten Kapitel «Session im Formular» aufgegriffen. «Mehr Theorie. Substanzielles in Kendrick Lamars ‹Wesley’s Theory›» ist entsprechend der Ausführungen im vorangegangenen Kapitel eine recht radikale Behauptung, die aufzeigt, dass Funk und Hip-Hop theoretisch

21 Ismaiel-Wendt, Johannes (2011): tracks’n’treks. Populäre Musik und Postkolo- niale Analyse, Münster: Unrast.

9 Aufbau des Buches sind, und zwar nicht nachträglich zu populären Kulturtheorien, sondern sie betreiben mindestens gleichzeitig Theoriegenese. Das Format des Textes entwickelt sich aus dem, was oben als imaginierte Armchair-Ethnographie unter Kopfhörern beschrieben ist. Ich höre das einleitende Stück von Ken- drick Lamars 2015 erschienenen Album To Pimp a Butterfly22 und halte Assoziationen fest, die vor allem durch die medienmusikalische und mu- sikmachdingliche Arbeit der Produzenten gelenkt werden. Sound- und Ge- nre-Presets werden genauso diskutiert wie Theorie-Presets. Im fünften Kapitel «Ein Audio-Loop ist noch kein Theorem. Liveloo- ping vs. dezentriertes Sampling-Wissen» werden kritische Perspektiven auf paradoxe Entwicklungen zwischen dekonstruktivistischen Ansätzen und Post-Autor*innenschaftskonzepten versus neuen Virtuos*innenkonzepten und Rehumanisierungstendenzen aufgezeigt. Im Fokus der genauen Analyse stehen sogenannte Phrase Sampler oder Livelooping-Technologien und -Per- formances, mit denen die in zeitgenössischen Kulturtheorien oftmals gefei- erten Dezentrierungserfahrungen durch Cut’n’Mix nur schwerlich gemacht werden können. Stattdessen ist eine Rückkehr zu modernistischen Inszenie- rungen der Bravourleistungen von starren Künst­ler*innen­ iden­ ­ti­tät­en zu er- leben. Das Kapitel «Session im Formular. Über Liveness und Improvisation, Verwaltungsakte panoptische Tabellen, wohltemperierte Audiofiles, Mu- sik-Fertig-keiten und also auch Ableton Live» nimmt nur vom Umfang und wegen seiner Platzierung in der Mitte des Buches einen zentralen Platz ein, soll aber im Vergleich zu den anderen Beiträgen keine hervorgehobene Rolle spielen. Der dem Buch zugrunde gelegte Preset-Begriff wird in die- ser Studie differenziert. Presets sind als Standardisierungen zu verstehen, die Unterkategorien dessen bilden, was Alan Fabian als «Formulare» der Musik erkennt.23 In ausfüllbaren Formularen sind Presets gleichsam Drop- Down-Menus, die Vorbereitetes zur Auswahl anbieten. Den musikmach- dinglichen Ausgangspunkt zu dieser Differenzierung bildet im sechsten Kapitel die sogenannte «Session View» der Digital Audio Workstation «Ab- leton Live». Die Forschungsfrage, die ich stelle, bezieht sich auf ein mög- liches Spannungsverhältnis zwischen den Ideen von spontanem Musizieren oder Improvisieren in Sessions und den in der Software dominierenden Kulturtechniken der Verwaltung (aus Ordnern wählen, Tabellen ausfül-

22 (2015): , . 23 Fabian, Alan (2014): «Foucaults Archäologie, informierte Musikanalyse und Musikmedienarchäologisches zu Musiknotaten», in: Andreas Holzer und Annegret Huber (Hg.): Musikanalysieren im Zeichen Foucaults, Wien: Mille- Tre-Verl., S. 110–137, hier S. 127.

10 Einleitung len, Gleichmachung, Simplifikation, Einblenden und Ausblenden). Das post_PRESETS-Konzept, das umkreist wird, rankt um die Frage, inwiefern Erfüllung und Abweichung vielleicht nicht zwingend als Gegensätze zu ver- stehen sind. Den möglicherweise beklemmenden Moment, der mit verwaltungsähn- lichen Strukturen in MusikmachDingen, Automatismen und Gestaltungs- imperativen einhergeht, habe ich bei der Lektüre von Magazinen zu Elec- tronic Dance Music aus Statements von Produzent*innen immer wieder herausgelesen. Im siebten Kapitel «Electronic Dance Music’s Ghost Track. Preset-Narrative über das Unbehagen mit ‹sauberen Sounds› aus ‹deut- schen Tonstudios›» sind eine Vielzahl solcher Aussagen gesammelt. Der Beitrag ist insofern ein postkoloniales Re-Reading, weil er eine Kritik an imperialistischen Ursprungsnarrativen elektronischer Musik und Electro- nic Dance Music ist. Zugleich wird deutlich, wie problematisch Kontinu- umsgeschichten mit der Hervorhebung der Rolle Deutschlands innerhalb Deutschlands aufgefasst werden und mit welchen ästhetischen Strategien sowie Parolen sich dagegen gewehrt wird. Unmittelbar an die Kritik der Ursprungsnarrative und Kontinuumser- zählungen schließt das achte Kapitel inhaltlich an. Die «Anmerkungen zum Rechtsstreit über Musik-Sampling – Kraftwerk (Ralf Hütter) vs. Moses Pel- ham – und zur Frage nach rassismuskritischer, semiotischer Demokratie» machen sichtbar, wie Sampling uns Weltengeschehen eigentlich achroni- stisch wissen lässt, bzw. Chronologie nicht braucht und das darin eine be- sondere Erfahrungsqualität liegt. Sicherlich wird in diesem Buch ein viel zu enger Musikbegriff etabliert, der zudem gar nicht definiert ist. Mit dem letzten Kapitel im Buch ist es hoffentlich nicht zu spät, um gesetzte Terminologien sowie beschränkte Felder wieder weit zu öffnen. Mit «Djii-söös: Sonische Materialitäten des Glaubens. Über die Sondscape-Komposition ‹L’amplification des Âmes› von Gilles Aubry» geschieht noch einmal eine über typische Musikfach- buchformate hinausweisende Erweiterung – zum einen durch die vorge- stellte Audio-Installation und Komposition des Sound Artist Gilles Aubry und zum anderen durch die Verschriftlichungsform meiner Begehung und Hörweisen des Sound Essays. Aubry komponiert unter anderem Audioauf- nahmen vom Umgang mit PA-Technik in Evangelisierungskampagnen in Kinshasa. Herausgearbeitet werden sonische Signifizierungen wie Spaziali- sierungsstrategien und die Bedeutung von Effekten wie Sound-Verzerrung. Damit erinnere ich mich auch selbst daran, Konzepte wie Kultur, Wissen und MusikmachDinge ebenso jenseits von standardisierten Vor-stellungen und den dominierenden Räumen zu verhandeln.

11 Verzeichnis vorab veröffentlichter Artikel

Verzeichnis vorab veröffentlichter Artikel

Das Kapitel 2, «Drum Machine Soundlecture Delinking AfricC», ist eine gekürzte Version des Artikels «Eine Drum Machine für das Übersee-Mu- seum. Delinking AfricC: Eine Soundlecture», erschienen in: Susanne Bi- nas-Preisendörfer und Melanie Unseld (Hg.): Transkulturalität und Musik- vermittlung, Wien: Peter Lang, S. 131–148. Das Kapitel 5, «Ein Audio-Loop ist noch kein Theorem. Livelooping vs. dezentriertes Sampling-Wissen», ist mit gleichlautendem Titel als Beitrag erschienen in: Ulrike Bergermann und Nanna Heidenreich (Hg): total. Uni- versalismus und Partikularismus in post_kolonialer Medientheorie, Bielefeld: transcript 2015, S. 163–173. Das Kapitel 9, «Djiie-söös! Sonische Materialitäten des Glaubens», ist in englischer Sprache mit dem Titel «Ghee-Zuss: The Sonic Materialities of Belief» erschienen in: Jochen Becker; Katrin Klingan; Stefan Lanz und Ka- thrin Wildner (Hg.): Global Prayers, Contemporary Manifestations of the Re- ligious in the City, Zürich: Lars Müller Publishers 2013, S. 542–555. Dieser Artikel ist 2014 ebenfalls erschienen in: Gilles Aubry (Hg.): The Amplifica- tion of Souls (Buch/CD), Hamburg: adocs publishing, ohne Seitenangaben. Ich bedanke mich bei den Herausgeber*innen und Reihen-Herausge- ber*innen vielmals für die freundliche Genehmigung zur Wiederveröffent- lichung.

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Methoden kulturwissenschaftlicher und kultursoziologischer MusikmachDing-Studien

Methoden kulturwissenschaftlicher [...] MusikmachDing-Studien

Dieser Beitrag vermittelt Fragenperspektiven zur Annäherung an kulturelle Bedingtheiten in und im Zusammenhang mit zeitgenössisch beliebten und massenhaft gebräuchlichen Musiktechniken/-technologien, -instrumenten oder -medien. Es werden Schritte für eine poststrukturalis- tisch informierte Fokussierung von Apparaten und Software zum Musizie- ren und Musikproduzieren, wie Sampler, Effektgeräte, Digital Audio Work- stations und ähnlichem vorgeschlagen. Ein Ausgangspunkt ist die Annah- me, dass in Musikgeräten und Tools zur Musikproduktion kulturelles Wis- sen eingeschrieben ist. Fragen, die beispielsweise an sie gerichtet werden, lauten: Welche Vorstellungen von Harmonie oder Kreativität herrschen vor? Wie und was wird erinnert oder repräsentiert? Zum anderen werden die Mu­sik­ar­te­fakte auch als Aktanten angesehen und gehört. Sie speichern nicht nur Wissen, sondern erzeugen auch welches. Sie bieten eigene Nar- rationsmöglichkeiten und Ordnungssysteme an. Sie sind kulturkonstitutiv. Für ein Kapitel, das auf die Explikation von Methoden zielt, wäre es sinnvoll, Forschungsstände und methodische Spektren vorzustellen so- wie überhaupt erst einmal disziplinäre Theoriegerüste, auf welche sich die Methoden beziehen, zu kennzeichnen. Unter Zwang der Erfüllung dieser Maßgabe kann es unter einem Titel, der so viele vage Begriffe wie «kul- turwissenschaftliche/kultursoziologische MusikmachDing-Studien» an- häuft, schlicht nicht einmal zu einem Minimum der Vermittlung eines methodischen Ansatzes kommen. Nachfolgend wird also darauf verzichtet zu kennzeichnen, was «kulturwissenschaftlich» oder «kultursoziologisch» meint und was alles die Gegenstände oder Methoden dieser Disziplinen sind. Zudem wird nicht gefragt, welche Beiträge gegebenenfalls musikwis- senschaftliche oder musiksoziologische Forschungen in diesem vermeint- lichen musikalischen Feld leisten. Dingtheorien werden nicht ausgebreitet und die Bedeutungen der Begriffe wie Musiktechnik/-technologie oder Me- dialitätsforschung, die auch passend wären, werden nur angedeutet. Dies ist letztlich das Vermittlungsziel: möglichst konkrete kulturwissenschaftlich/ kultursoziologisch informierte Fragenperspektiven zusammenzutragen und anzubieten, mit denen eine Annäherung an etwas, das unter anderem auch (digitale) Audiotechnologie, (virtuelle) Instrumente oder (Musik-) Medien genannt wird, möglich ist.

17 Vom Wesen der MusikmachDinge

Vom Wesen der MusikmachDinge

Kulturwissenschaftliche/kultursoziologische MmD24-Studien brauchen letzt- lich wenig bis nichts von einer musikwissenschaftlichen und mu­sik­ethno­ ­ logisch­ ­en «Systematik der Musikinstrumente»25. Sie verfolgen auch nur be- dingt musiktechnologische Entwicklungserzählungen, wie etwa die «von der Knochenflöte bis zum MIDI-fizierten Windcontroller, von der Handtrommel zum elektronischen Drumpad»26. Eine Auffassung von Instrumenten und Apparaten, die diese nur als Werkzeuge (tools) mit unterschiedlichen Poten- zialen für den musikalischen Umgang oder für die Klang­erzeu­ gung­ versteht, ist zu einengend, wenn die materielle und symbolische Dimension im Sinne einer kulturwissenschaftlichen/kultursoziologischen Forschung anvisiert wird. Die durch verschiedene Bestimmungsmerkmale kategoriale oder auch chronologische Klassifikation und Ordnung von Musikinstrumenten kann selbst als so etwas wie eine Technologie erfasst werden und damit Gegen- stand kulturwissenschaftlicher/kultursoziologischer MmD-Studien bzw. MusikmachTechnologie-Studien sein. Der Terminus «Technologie» steht demnach zum einen für technische Artefakte, Dinge und sozial-technische Netzwerke. Letzteres heißt, dass Technologien auch als soziotechnische oder kulturelle Konstruktionen be- trachtet werden. Zum anderen soll das Suffix «-logie» andeuten, dass es auch um die Lehre oder Wissenschaft von den Techniken gehen kann. Ein abgewandelter Terminus «MusikmachTechnologie-Studien» könnte somit als unnötige Tautologie verstanden werden. Es soll damit jedoch angedeu- tet sein, dass durchaus auch die Lehre, (wissenschaftliche) Wissensgenese und das Sprechen/Schreiben über MmD als Technologie in die Blick- und Hörfelder der kulturwissenschaftlichen/kultursoziologischen Studien rü- cken können. Die Erkenntnis, dass Technologien und im Speziellen MmD soziotech- nische oder kulturelle Konstruktionen sind, ist in gewisser Weise banal und

24 MmD wird nachfolgend in vorliegendem Kapitel als Abkürzung für Musik- machDing, MusikmachDinge, MusikmachDings gebraucht. 25 Von Hornbostel, Erich M. und Sachs, Curt (1914): «Systematik der Musikin- strumente. Ein Versuch», in: Zeitschrift für Ethnologie, 46, Nr. 4–5, S. 553–590. 26 enders, Bernd (2013): «Vom Idiophon zum Touchpad. Die musiktechnolo- gische Entwicklung zum virtuellen Instrument», in: Beathe Flath (Hg.): Mu- sik Medien Kunst. Wissenschaftliche und künstlerische Perspektiven, Bielefeld: transcript, S. 55–74, hier S. 69.

18 Methoden kulturwissenschaftlicher [...] MusikmachDing-Studien dass wissenschaftliches Wissen über zum Beispiel Dinge das Ergebnis sozi- aler Prozesse darstellt, ebenso. Die Aussagen sind insoweit trivial,

«als dies lediglich bedeuten soll, dass […] Menschen beteiligt sind, die kom- munizieren und interagieren, d. h. […] die sozialkonstruktivistische Kritik [hält] wenig Aufregendes bereit. Ihr Verdienst liegt darin, wissenschaftliches Wissen und Technologie für sozialwissenschaftliche Analysen verfügbar ge- macht und sie damit in Untersuchungen von Herrschaft und sozialer Ord- nung eingebettet zu haben.»27 Karin Bijsterveld fordert aus einer technikgeschichtlichen Perspektive mit einem Sound-Studies-Fokus, dass die klassische Frage beantwortet werden müsse: «[H]ow does technology shape society».28 Der Erkenntnisgewinn, auf den kulturwissenschaftliche/kul­tur­so­zio­lo­ gische MmD-Studien über diese bloß reflektierende Perspektive hinaus- gehend zielen, liegt unter anderem in Folgendem: Damit Technologien menschliche Probleme lösen können, müssen oftmals die kulturell verin- nerlichten Konzepte losgelassen und es muss auf andere Symbolsysteme (informatisch gesehen sogar buchstäblich) zugegriffen werden.29 Das Erkennen dieser anderen Zugriffe, Lösungs- und Prozessierungsmög- lichkeiten lässt wiederum ein Erkennen von möglicherweise kaum noch wahrgenommenen kulturellen Vor-ein-stellungen zu und rüstet außerdem vielleicht sogar für neue Justierungen im Denken und Wissen aus. Diese Perspektive, die letztlich auf ein weit gefasstes «Prozessieren», also die Ver- arbeitung und Formveränderungen von Daten, Information oder Wissen ausgerichtet ist,30 meint methodisch nicht nur die Beforschung von MmD

27 Niewöhner, Jörg; Sørensen, Estrid und Beck, Stefan (2012): «Einleitung. Sci- ence and Technology Studies – Wissenschafts- und Technikforschung aus kulturanthropologischer Perspektive», in: dies. (Hg.): Science and Technology Studies. Eine Sozialanthropologische Einführung, Bielefeld: transcript, S. 9–48, hier S. 23. 28 Bijsterveld, Karin (2006): ‹A Few Critical Remarks on the Circulation and Appropriation Approach in Comparative Research›, online unter: http:// www3.lut.fi/eki/toe2006/files/28.pdf, zuletzt geprüft am 11.11.2015, S. 1 pdf. 29 Bath, Corinna (2009): De-Gendering informatischer Artefakte. Grundla- gen einer kritisch-feministischen Technikgestaltung, online unter: Open- Access-Veröffentlichung der Dissertation (Informatik), Staats- und Universitätsbibliothek Bremen, online unter: http://nbn-resolving.de/ urn:nbn:de:gbv:46-00102741-12, zuletzt geprüft am 11.11.2015, S. 4. 30 Winkler, Hartmut (2015): Prozessieren. Die dritte, vernachlässigte Medien- funktion, München: Wilhelm Fink, S. 18, 20.

19 Kulturwissenschaftliche/kultursoziologische Perspektiven entlang zum Beispiel kulturwissenschaftlicher Konzeptionen. Darüber hi- naus verbirgt sich in dieser Perspektive in gewisser Weise ein wohlverstan- dener, nicht esoterisch gemeinter «Zukunftsglaube», der sogar Einsichten in Möglichkeiten eines anderen Weltenfunktionierens oder von anderen Welt-Vor-Stellungen erhofft. Das vorangestellte Statement für eine vage Perspektive in MmD-Studi- en ist von Belang, um zu verdeutlichen, dass es sich bei diesen Studien, auch wenn der Begriff «Ding» darin vorkommt, um geisteswissenschaft- liche und sozialwissenschaftliche bzw. (de-)konstruktivistische Ansätze handelt. Wenn Technik/Technologie oftmals als etwas gekennzeichnet ist, das durch sehr klare Verschaltungen oder Abläufe funktioniert, oder auch als etwas Apparatives und Dinghaftes aufgefasst wird, sollte sich von einer Auseinandersetzung damit nicht «mehr Konkretheit und Sachlichkeit»31 erhofft werden. Im Gegenteil sind die buchstäblichen Sachlichkeiten oder Dinge – metaphorisch formuliert – gerade auch nach allem zu befragen, was sie ausblenden.

Kulturwissenschaftliche/kultursoziologische Perspektiven auf MmD

Die Kennzeichnung von MmD als wirkmächtige Artefakte und Aktanten sowie der Fokus auf Wissensproduktion und Technologien verweisen be- reits darauf, dass für die Annäherung an sie sozial- und kulturanthropo- logische Perspektiven methodisch nutzbar gemacht werden können. Vor- stellungen von MmD in soziotechnischen Netzwerken schließen klar an die diversen Ansätze der sich in den letzten Jahrzehnten entwickelnden «Science and Technology Studies» an. Studien zur «Social Construction of Technology» (SCOT), Laborstudien und durch Akteur-Netzwerk-Theorien (ANT) gestützte Ausrichtungen von MmD-Studien liegen nahe.32

31 Düllo, Thomas (2008): «Material Culture – zur Neubestimmung eines zentra- len Aufgaben- und Lernfelds für die Angewandte Kulturwissenschaft», online unter: http://www.ovgu.de/didaktik/cms/upload/cont_content_1219679742/ File/Habil_SchlussVortrag_MC.pdf, zuletzt geprüft am 11.11.2015, S. 3. 32 Für SCOT vgl. Huges, Thomas; Bijker, Wiebe und Pinch, Trevor (Hg.) (1989): The Social Construction of Technology Systems. New Directions in the So­cio­lo­ gy and History of Technology, Cambridge: MIT Press. Für Laborstudien vgl.

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Ganz unmittelbar ins wissenschaftliche Blick- und Hörfeld sind die hier sogenannten MmD auch in ethnologischen/ethnographischen Studi- en genommen worden. Mit ethnographischen Methoden, durchaus auch teilnehmender Beobachtung in im Wesentlichen auf Musiktechnologien bezogenen Netzwerken, forscht beispielsweise Louise Meintjes über «The Recording Studio as Fetish».33 MmD werden dann nicht nur als Artefakte verstanden, sondern als «strategic, intentional, deeply felt forms of perfor- med cultural activity, and living embodiments of multiple local epistemo- logies»34 wahrgenommen. Jan-Michael Kühn greift für seine Forschung im Feld der -Musikproduktion die Methode «Fokussierte Ethnogra- phie» Hubert Knoblauchs auf und stützt diese unter anderem durch An- sätze aus den «Workplace Studies» oder der «Technographie» nach Werner Rammert und Cornelius Schubert.35 Zuvorderst nehmen sich selbstverständlich medienwissenschaftlich aus- gerichtete Forscher*innen dessen an, was hier als MmD bezeichnet wird. Insbesondere die von Friedrich Kittler und Wolfgang Ernst vorangetriebene Medienarchäologie fokussiert explizit Audiotechnologien, Technologien und das Sonische. Die medienwissenschaftliche Beschäftigung mit MmD ist ansonsten zumeist historisch, technisch oder (medien-)künstlerisch ori- entiert. In Hinblick auf eine ausdrücklich kulturwissenschaftliche Ausei- nandersetzung mit (vornehmlich digitalen) Musik-Medien, in der tatsäch- lich einzelnen Musikgeräten oder -programmen im oben beschriebenen Sinne eine eigene Performativität oder Autorschaft zugestanden wird, sind

Clarke, Adele und Fujimura, Joan (Hg.) (1992): The Right Tools for the Job. At Work in Twentieth-Century Life Sciences, Oxford: Princeton University Press. Für ANT vgl. Latour, Bruno (2005): Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford: Oxford University Press. und Bellinger, Andréa und Krieger, David (Hg.) (2006): ANThology. Ein einführendes Hand- buch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: transcript. 33 Meintjes, Louise (2003): Sound of Africa! Making Music Zulu in a South Afri- can Studio, Durham: Duke University Press, S. 81. 34 porcello, Thomas (2003): «Tails Out: Social Phenomenology and the Ethno- graphic Representation of Technology in Music Making», in: René Lysloff und Leslie Gay (Hg.): Music and Technoculture, Middletown: Wesleyan Uni- versity Press, S. 264–289, hier S. 279. 35 Kühn, Jan-Michael (2011): «Eine Frage der Methode: Fokussierte Ethnografie als Forschungsmethode am Beispiel der Untersuchung von Technomusik- Produzenten in Homerecording-Studios», in: Soziologiemagazin 4, 1, S. 52– 63, online unter: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-400189, zu- letzt geprüft am 11.11.2015, hier S. 63.

21 Fragenperspektiven unter anderen als deutschsprachige Vertreter Rolf Großmann und Michael Harenberg zu nennen. Die erwähnten Forschungsperspektiven mit ihren Theoriegerüsten kön- nen in diesem Beitrag nicht einmal in Ansätzen vorgestellt werden, Dif- ferenzen und Kontroversen werden zudem gar nicht berücksichtigt. Die Frage, die gestellt wird, lautet: Ist diesen Denkrichtungen oder Schulen etwas gemein, das für die Strukturierung eines methodischen Zugangs zu MmD erschlossen werden kann? Die Frage nach kulturwissenschaftlichen/ kultursoziologischen oder medienwissenschaftlichen Methoden ist selbst- verständlich nicht zu beantworten und allzu oft wird sie mit einem vagen Hinweis auf irgendeine multidisziplinär ausgerichtete, diskursiv-analy- tische Vorgehensweise umschifft. Auch kann oder soll nicht einmal geklärt werden, was der Unterschied zwischen Theorien und Methoden ist. Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) beispielsweise wird trotz ihres Namens von mir weniger als «Theorie» wahrgenommen (nur als solche verstanden wäre sie, wie oben angedeutet, eben auch trivial), sondern viel eher als Me- thode. Die eigensinnige Terminologie (Theoriebildung) der ANT er­mög­ licht es, im Forschungsfeld bestimmte Perspektiven einzunehmen (Metho- de). Zu beobachten oder nachzuvollziehen, wie etwas geschieht, ist nicht das Gleiche, wie erklärende Aussagen zu machen. Methode wird in diesem Beitrag und in Bezug auf die zahlreichen genannten sozial- und kulturan- thropologischen oder medienwissenschaftlichen Ansätze also nicht als eine zu entwerfende Systematik erwartet, sondern «Fragenperspektiven» wer- den gesammelt.

Fragenperspektiven. Oder: MusikmachDing- Studien brauchen Kulturbegriffe

Trotz aller Uneindeutigkeit dessen oder besser: bei allen Möglichkeiten dessen, was kulturwissenschaftliche/kultursoziologische Forschungsge- genstände und Methoden sein können, wird in den folgenden Absätzen versucht, handhabbare Leitkonzepte und -fragen auszusuchen, entlang derer MmD-Studien gestaltet werden können. Egal ob eher techno-eth- nographisch oder medienarchäologisch ausgerichtet, ähneln sich die auf- gezählten Ansätze insofern, als sie eine symbolisch-kommunikative und praktisch-materielle Dimension in den Technologien, Dingen oder Medien

22 Methoden kulturwissenschaftlicher [...] MusikmachDing-Studien aufeinandertreffen sehen und hören. Exemplarisch seien drei Abfassungen dieser Analysedimensionen, die schließlich auch Methoden der Annähe- rung bestimmen, vorgestellt. Wolfgang Ernst erklärt sein Medienverständnis kurz in dieser Weise: «Medien sind der Ort, wo sich Technologien, Operativität und kulturelle Semantik treffen.»36 In dieser Definition geht es also um einen Zusam- menblick auf Apparate, Prozesse der Signalverarbeitung und -übertragung sowie kulturtechnische Epistemologie.37 Eine ähnlich geartete dreiteilige Perspektive, allerdings allgemeiner als «Weltanschauungs-Interpretation» ausgerichtet, findet sich auch schon bei dem Soziologen Karl Mannheim (1921/1922 [1964]).38 Karl-Heinz Braun und Konstanze Wetzel fassen Mannheims drei analysierbare Sinn-Qualitäten wie folgt zusammen und explizieren:

«[Der objektive Sinn]: Dieser besteht in der inneren Struktur des jeweils the- matisierten ‹Gegenstandes› […]. [Der intendierte Ausdruckssinn]: Der ist […] an das Subjekt gebunden, ohne aber auf reine Innerlichkeit reduziert werden zu können; vielmehr geht es darum, die Innenperspektive der Entstehung des Sinnes, also seinen In- nenweltbezug zu verstehen. [Der Dokumentensinn]: Dieser ist Höhepunkt und Abschluss der Sinn- rekonstruktion, weil nun die Ergebnisse der Analyse des objektiven wie des Ausdruckssinns in die umfassenden epochalen Zusammenhänge gestellt werden»39. Gleiche ich die auch sehr unterschiedlichen Aussagen Ernsts und Mann- heims bzw. Brauns und Wetzels dennoch an, um sie für Perspektiven auf und in MmD nutzbar zu machen, ergeben sich ineinander zu verschrän- kende Analyseschritte: von einer Objektbetrachtung über die Analyse «in- nerer», operativer Abläufe zu kulturellen Sinnkonstruktionen, Be­deu­tungen

36 ernst, Wolfgang (2003): «Medienwissen(schaft) zeitkritisch», online unter: http://edoc.hu-berlin.de/humboldt-vl/ernst-wolfgang-2003-10-21/PDF/ Ernst.pdf, zuletzt geprüft am 11.11.2015, S. 6. 37 Ebenda. 38 Mannheim, Karl (1964): «Beiträge zur Theorie der Weltanschauungs-Inter- pretation», in: Kurt Wolff (Hg.): Wissenssoziologie – Auswahl aus dem Werk, : Luchterhand, S. 91–154, hier S. 91. 39 Braun, Karl-Heinz und Wetzel, Konstanze (2009): «Sozialreportage – Zur kommunikativen Aneignung von historischen Sozialräumen», in: Ulrich Deinet (Hg.): Methodenbuch Sozialraum, Wiesbaden: VS Verlag für Sozial- wissenschaften, S. 213–234, hier S. 215 [Hervorhebungen JIW].

23 Fragenperspektiven oder Einschreibungen (tauschbare Reihenfolge). Diese Betrachtungsweise «[t]echnische[r] Artefakte in ihrer symbolisch-kommunikativen und prak- tisch-materiellen Dimension»40 fächert Holger Braun-Thürmann im Prin- zip für Technographien weiter auf. Seine Gliederung ist eine ganz typische. Sie könnte in ähnlicher Form als medienwissenschaftliche oder für diverse «Science-Technology-Studies» vorgestellt werden. Braun-Thürmann kenn- zeichnet zunächst die «symbolisch-kommunikative Dimension der Arte- fakte»41 wie folgt:

«Allein durch die Außenstruktur der technischen Artefakte wird die Nut- zungsweise mehr oder weniger unmissverständlich kommuniziert […] Technische Artefakte werden für die NutzerInnen […] zum Bedeutungs- träger […] Zu Zeichen kommunizierenden Medien werden technische Artefakte dann, wenn sie NutzerInnen über andere Dinge informieren. Technische Dinge stehen in Wechselwirkung mit anderen Dingen […] Die praktisch-materielle Wirksamkeit von technischen Artefakten ent- wickelt sich – ähnlich wie die symbolisch-kommunikative – auf mehreren Ebenen: [D]urch technische Artefakte [wird] in bestimmten Fällen eine politische und soziale Ordnung repräsentiert und stabilisiert […]. In einem engen Zusammenhang mit dem eben genannten Argument der ‹strukturierenden-regulativen› Wirksamkeit steht der Effekt, dass technische Artefakte als kommunikative Medien ‹Raum-Zeit-Verhältnisse› einrichten. […] Technische Artefakte können eine praktisch-materielle Wirksamkeit ent- falten, weil Arbeitsaufgaben an sie ‹delegiert› werden können»42. Die drei kurzen Darstellungen der «Ansichtsweisen» aus der Medienarchä- ologie, Soziologie und Technographie sollen exemplarisch verdeutlichen, dass Methoden kulturwissenschaftlicher/kultursoziologischer MmD-Stu- dien sowohl technische Konfigurationen als auch kulturelle Manifestati- onen abfragen.43 «[I]ntegrative Methoden der Wissensorganisation, die der

40 Braun-Thürmann, Holger (2006): «Ethnografische Perspektiven: Technische Artefakte in ihrer symbolisch-kommunikativen und praktisch-materiellen Dimension», in: Werner Rammert und Cornelius Schubert (Hg.): Technogra- fie. Zur Mikrosoziologie der Technik, Frankfurt a. M.: Campus Verlag, S. 199– 222, hier S. 214. 41 ebenda, S. 215. 42 ebenda, S. 216 f. 43 Ernst, «Medienwissen(schaft) zeitkritisch», S. 13.

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Verknüpfung, Abgleichung und Systematisierung des heterogenen Wissens dienen»44, sind notwendig und diese fokussieren möglichst viel: von Na- mensgebungen für Geräte über Formatierungen, Schaltungen und Schalt- pläne bis zu Taxonomien. «Methode» kann in dieser Breite also nicht ein systematisches Vorgehen bedeuten und es ist sicherlich von den Kenntnis- sen der Forschenden abhängig, ob sie sich eher auf kulturell kommunizierte Inhalte oder auf technische Operationen des MmD konzentrieren können. Ein symmetrisches Forschungsdesign verspricht gewiss den größten Er- kenntnisgewinn.45 Nachstehend schlage ich fünf Fragenperspektiven vor, die auf MmD ge- richtet werden können. Der leitende Begriffskörper oszilliert bewusst ge- wählt zwischen kulturwissenschaftlicher und medientechnischer Termino- logie. Das ist zum einen so ausgesucht, um zu verdeutlichen, dass Begriffe auch erst aus der Beforschung der MmD heraus als relevante Konzepte ausgemacht bzw. (zirkulär) zur Sprache für die methodische Dokumenta- tion genutzt werden sollen. Zum anderen lehnen sich die vorgeschlagenen Fragenperspektiven an eine Begrifflichkeit beispielsweise der (queer-femi- nistischen) Wissenschaftskritik und des Konstruktivismus an, um auch die kulturellen Bedingtheiten von MmD hervorheben zu können. Die Fragenperspektiven, die unten im Einzelnen noch expliziert werden, lauten: ȤȤ Performativität des MmD ȤȤ Kulturelle Sedimentierungen, (musik-)kulturelle Gedächtnisse und Erinnerungen im MmD ȤȤ (Musik-)kulturelles Wissen, Konventionen, kulturelle Logiken/ Werte des MmD ȤȤ Codierungen, Operationen, Prozessierung im MmD ȤȤ Inter- und transkulturelle Logiken, idiosynkratische Welterzeu- gungen durch das MmD Die Reihenfolge ist eigentlich beliebig, ohnehin sind diese Fragenper- spektiven analytische Hilfsmittel, die in der Anwendung überschneidend gedacht werden müssen. Die nachstehende Kennzeichnung der Frageper- spektiven wird entlang von Beispielen wie Drum Machines, Grooveboxes,

44 ropohl, Günter (2001): «Das neue Technikverständnis», in: ders. (Hg.): Er- träge der interdisziplinären Technikforschung. Eine Bilanz nach 20 Jahren, Ber- lin: Erich Schmidt, S. 11–30, hier S. 28 [Hervorhebungen im Original]. 45 Zum Begriff der «Symmetrie» vgl. Latour, Bruno (2008): Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

25 Performativität des MmD

Drum-Software – also Beat-MachDingen – vorgenommen. Die ausschnitt- hafte Betrachtung von Details der MmD zur Rhythmuskreation, zur Schlag- zeugsimulation und zum Drum-Beat-Sampling soll veranschaulichen, wo- rauf die Frageperspektiven im Konkreten abzielen können, und trotzdem die Transferierbarkeit für andere MmD-Studien verdeutlichen.

Performativität des MmD

Als was stellt sich das MmD vor? Wie und mit welchen Funktionen wird es (sich) vorgestellt? Wie zeigt sich das MmD? Welche Probleme oder Ziele er- kennt oder inszeniert es? Die erste Fragenperspektive, die auf das Erscheinen des MmD gerichtet werden kann, ist mit dem Performativitätsbegriff überschrieben, wie er in der ANT verstanden oder, das ist genauso möglich, auch in Judith Butlers Lesart von Austins Sprechakttheorie gekennzeichnet wird.46 Ein MmD ist nicht von sich aus – gleichsam naturgemäß – was es ist, sondern es wird zu diesem vor allem durch den Vollzug ritueller Benennungen, Bezeich- nungen und sein Design. Eine Drum Machine oder ein Drum-Computer beispielsweise muss nicht selbstverständlich als Drum Machine oder Trommelsimulator wahr- genommen werden, sondern ist ein analoger Klangerzeuger, auch ein Syn- thesizer oder digitaler Sampler:

«The drum machine isn’t a drum machine, there’s no drums in it – it’s pulses and signals synthesized into new pulses and new signals. […] You’d listen and they’d sound utterly different from drums. The movement from funk to drum machines is an extremely incredible one: people’s whole rhythmic perception changed overnight. And people of course pretended that nothing had happe- ned but it was a major shift, hearing bleeps and signals and different kinds of alternating current as sound. It was a huge kind of shift»47. Alle Drum-Machine-Generationen haben wenig mit dem zu tun, was viel- leicht gemeinhin als Schlagzeug verstanden wird. Dennoch werden diese MmD immer wieder als solche kommuniziert. Als was etwas kommuni-

46 sørensen, Estrid (2012): «Post-Akteur-Netzwerk Theorie», in: Jörg Niewöhner; Estrid Sørensen und Stefan Beck (Hg.): Science and Technology Studies. Eine So- zialanthropologische Einführung, Bielefeld: transcript, S. 327–345, hier S. 337 ff. 47 eshun, Kodwo (1998): More Brilliant Than The Sun. Adventures in Sonic Fic- tion, London: Quartet Book, S. 186.

26 Methoden kulturwissenschaftlicher [...] MusikmachDing-Studien ziert wird, ist höchst bedeutsam, denn das bestimmt in erheblicher Weise Vorstellungsvermögen – nicht nur im musikalischen Nutzungszusammen- hang, sondern sogar Weltvorstellungen. Andreas Fickers, der unter ande- rem zur Mediengeschichte der Senderskalen auf Radiogeräten forschte, auf denen internationale Städtenamen nebeneinander genannt werden, schreibt über diese Darstellungen,

«[dass] das ‹Lesen› der Senderskala als symbolische Aneignung der Sender- standorte oder des imaginären Ätherraumes gedeutet werden. Die Senders- kalen spiegeln symbolisch die Vernetztheit der Welt wider, sie erzeugen beim Rundfunkhörer – der gleichzeitig Geräteseher ist – eine geistige Landkarte, deren Legende nur jeder einzelne Hörer zu dechiffrieren weiß. Die Stadtna- men auf den Senderskalen erzeugen beim Hörer eine ‹mental map›, die als symbolische Aneignung der Welt verstanden werden kann. Senderskalen wa- ren in diesem Sinne ein früher Atlas der Globalisierung»48. Die «historisch gewachsene, sozial vermittelte und symbolisch aufgeladene Kulturleistung»49, die Performativität, lässt sich beispielhaft an sogenannten «Grooveboxes» zeigen, die nicht nur musikinstrumentelle Werkzeugkästen sind, sondern darüber hinaus ein Künstler*innen- und Autor*innenkon- zept spiegeln und ermöglichen. Grooveboxes sind Sampler und Synthe- sizer, es sind Sequenzer und mit den gespeicherten Drum-Samples auch Drum Machines, die in den 1990er Jahren auf den Markt kamen und heute in dieser apparativen oder Hardware-Form kaum noch genutzt werden. Die Namen «Groovebox MC 303», «Electribe» oder «Monomachine» kommu- nizieren, was das MmD sein soll: ein Kasten, aus dem Beats und Samples für diejenigen musikkulturellen Szenen kommen können, in der elek­tro­ nische oder maschinenhafte Grooves eine besondere Relevanz haben. Auch die Bedienoberfläche deutet an, zu welchem Zweck die Boxen da sind: eine Miniatur-Klaviatur, die gleichzeitig zum Beispiel einen 16-Step-Sequenzer und Drumpads darstellt. Die Knöpfe und ihre Gruppierungen veranschau- lichen, dass mit dem MmD Melodien gespielt oder Beats generiert werden können. Gleichzeitig ist die Tastatur nicht so ausladend wie die eines Kla- viers, was verdeutlicht, dass es nicht um virtuoses Live- oder Echtzeit-Spiel

48 Fickers, Andreas (2007): «Design als ‹mediating interface›. Zur Zeugen- und Zeichenhaftigkeit des Radioapparates», in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 30, S. 199–213, online unter: https://www.academia.edu/1018685/Design_als_ mediating_interfaceZur_Zeugen_und_Zeichenhaftigkeit_des_Radioapparates (zuletzt geprüft am 11.11.2015), hier S. 12 pdf [Hervorhebungen im Original]. 49 Ebenda.

27 Performativität des MmD mit unmittelbarem Zugriff auf viele Oktaven und ein großes harmonisches Spektrum, Anschlagdynamiken und so weiter geht. Design und Formgebung der Grooveboxes bedeuten Abbildungen von Technikgeschichte im Kontext elektronischer Musik bzw. von Electronic Dance Music. Sie zeigen sich mit ihren Tastern zum Ein- und Ausschal- ten einzelner Tonspuren als Multi-Track-Recorder, mit Potenziometern zur Veränderung der Hüllkurven, Sägezahn- oder Rechteck-Icons, die die Auswahlmöglichkeiten von Analog-Strom-Spannungsverläufen darstellen. Sie sollen kompakte Synthesizer und Tonstudios in einem sein. Probleme, die durch aufwendiges Verkabeln diverser MmD auftauchen könnten, bzw. Kenntnisse, die für das Verschalten und Synchronisieren von Effektgerä- ten, Synthesizern und Drum Machines notwendig sind, bleiben mit den kompakten Grooveboxes weitgehend erspart. Die Tischgeräte scheinen die komplette Welt der Electronic-Dance-Music-Produktion und -Perfor- mance zu vereinen. Diese MmD spiegeln aber nicht nur Technikgeschichte und -bedürf- nisse in Electronic-Dance-Music-Szenen. Sie generieren «Feldstrukturen […], Werkkonzept[e] […], Arbeitsethos […], erwartete Kompetenzen»50. Sie sind beteiligt an der Auflösung und Neuordnung von in manchen Feld- ern etablierten Aufteilungen zwischen Komponist*innen, Instrumenta- list*innen, Tontechniker*innen, Performer*innen. Die Nutzer*innen und ganz sicher auch die Grooveboxes kommen als das daher, was Rainer Di- az-Bone wie folgt kennzeichnet:

«[Es sind] Künstlerunternehmer […,] ‹Netzwerkknoten› mit multiplen Rol- len in unterschiedlichen, nicht notwendig auf Dauer angelegten Kooperati- onen. Der DJ/Produzent ist künstlerischer Bastler, Improvisator und Stifter; der ‹Autoreffekt› tritt im Netzwerk hervor durch Bezugnahme auf andere, deren Sam­ples eingearbeitet werden oder deren Stücke geremixt werden»51. Diaz-Bone fokussiert in seiner soziologischen Studie nicht Dinge und Technologien. Seine auf humane Akteur*innen konzentrierte Aussage muss ergänzt werden. Grooveboxes und ihre aktuell beliebten Verwand- ten, die Digital Audio Workstations mit angeschlossener Groove-Produc- tion-Hardware (Controller wie «Ableton Push» oder «Natives Instruments

50 Diaz-Bohne, Rainer (2002): Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil. Eine diskurs- theoretische Erweiterung der bourdieuschen Distinktionstheorie, Opladen: Les- ke und Budrich, S. 421 ff. 51 ebenda, S. 421.

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Maschine» oder das sogenannte «Plugout» «Roland TR 8»52), bedeuten und kreieren im Sinne Diaz-Bones Kulturwelten und Lebensstile.

Kulturelle Sedimentierungen, (musik-)kulturelle Gedächtnisse und Erinnerungen im MmD

Worauf nimmt das MmD Bezug oder verweist es? Welcher Metaphern wird sich bedient? Wie archiviert das MmD und welcher Archive bedient es sich? Die Fragen nach sedimentiertem Wissen sind unmittelbar verknüpft mit der Fragenperspektive zur Performativität. Es geht in dieser Fokussierungs- ebene um die Ermittlung eingeschriebenen Wissens im Sinne «vernetzter Beobachtung»53. Welche Verkettungen zu anderen Technologien oder Ak- teuren im Netz werden hergestellt? Dazu lohnt es sich, Bezeichnungen und Icons genau zu untersuchen. Mit der kleinen Abbildung einer Plattenkiste als Symbol für den virtuellen Ort, an dem nach Samples und Breaks zu suchen ist, rekurriert eine Software-Maske beispielsweise vielleicht auf eine DJ-Tätigkeit, Techniken des Turntablism oder bildet, allgemeiner formu- liert, etwas Phonographiegeschichte ab. Eine graphische Darstellung eines Stiftes im sogenannten Zeichenmodus einerP roduktionssoftware, mit dem in einem gewählten Rhythmusraster Schläge, Töne und Sounds markiert werden können, erinnert an vor-phonographische Kompositions- und No- tationsarbeit mit Stift und Papier. Oftmals sind MmD gespickt mit Ding-, Praxis- oder Raummetaphern – auch Verweise auf Kulturtechniken. Es gibt im Umgang mit Software die Praxis des «cut & paste» (und dazugehörige Ding-Metaphern wie «Schere» und «Lupe») oder den Verweis auf die Praxis des spontanen Zusammen- tuns musikalischer Ideen, Improvisation und Session, die beispielsweise für das Programm Ableton Live in der Bezeichnung «Session View» aufge- griffen wird. Es gibt Programmnamen für Digital Audio Workstations wie «Ubuntu Studio» oder «Bitwig Studio», «GarageBand» oder «Mu.LAB».

52 Amazona.de: «Die neue Roland TR-8», online unter: https://www.amazona.de/ leser-artikel/die-neue-roland-tr-8/6/, 29.03.2014, zuletzt geprüft am 11.11.2015. 53 Moser, Sibylle (2001): «Vernetzte Beobachtungen, gesetzte Differenzen. Wis- senschaftstheorie im Schnittpunkt von Feminismus und Konstruktivismus», in: Theo Hug (Hg.): Wie kommt Wissenschaft zu Wissen? Band 4: Einführung in die Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung der Sozial- und Kul- turwissenschaften, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 226– 245, hier S. 226.

29 Kulturelle Sedimentierungen

Solche Namen verknüpfen sich sprachlich mit typischen Räumen, in denen mehr oder weniger professionell Musik produziert oder mit Sounds expe- rimentiert wird. Die reichliche Verwendung von Metaphern und die Ima- gination oder Assoziation anregender Bezeichnungen im Zusammenhang mit MmD ist als Hinweis darauf zu lesen, dass MmD eben zu dem werden, das sich unter ihnen auch vorgestellt werden kann. Der Medientheoretiker Erhard Schüttpelz erklärt allgemeiner: «[S]chließlich werden Medien nur in ihrem operativen Gebrauch zu Medien»54. Die Fragenperspektive, die auch Erinnerungen und Gedächtnisse fo- kussiert, kann in engem Bezug auf Musik, auditive Gestaltung und MmD aufschlussreich sein. Das Studium von Sound Libraries in Drum Machi- nes fördert beispielsweise leicht zu Tage, was als Fetisch in Rhythmus- oder Breakbeat-Kulturen Geltung hat. Genres und stilistische Kennzeichnungen werden durch MmD als Wissen verhärtet. Zur Wahl stehen in einer Drum Machine zum Beispiel «Snare Rock» und «Snare Jazz» und nur minimale Musikerfahrung ist notwendig, um zu ahnen, wie die Sound-Eigenschaf- ten der jeweiligen «Snare Drum» sind. Auf die analogen Drum Machines «Roland TR 808» aus dem Jahr 1981 und «TR 909» (1983) wird, wenn auch mit verfremdeten Namen oder in veränderter Optik, in zahlreichen neue- ren Rhythmusmaschinen oder Software diverser Hersteller in unterschied- licher Weise verwiesen. Das sechs Sekunden dauernde Schlagzeugsolo aus dem The-Winstons-Stück «Amen Brother» aus dem Jahr 1969,55 auch «Amen Break» genannt, taucht ebenso regelmäßig in den Sample Libraries oder als «Amen Break Generator»-App für Smartphones geradezu wie ein «Totem»56 auf. Kulturelle Sedimentierungen werden auch weit über Musikkulturen hi- nausgehend durch MmD offenbar. Nicht selten reproduzieren Listen, in denen Preset-Beats geordnet sind, flach natio-ethno-kulturalisierte Ste­reo­ type. In der Bedienungsanleitung der «Roland MC 303»-Groovebox fin- det sich in der Aufzählung der gespeicherten Sounds beispielsweise in der Soundbank «20: Drum Percussion 26», in der üblichen Art musikalischer

54 schüttpelz, Erhard (2006): «Die medienanthropologische Kehre der Kul- turtechniken», in: Lorenz Engell; Joseph Vogl und Bernhard Siegert (Hg.): Kulturgeschichte als Mediengeschichte (oder vice versa?), Weimar: Bauhaus, S. 87–110, hier S. 92. 55 The Winstons (1969): Amen Brother, 7 Inch Metromedia Records. 56 Whelan, Andrew (2009): «The ‹Amen› Breakbeat as FratriarchalT otem», in: Beate Neumeier (Hg.): Dichotonies. Gender and Music, Heidelberg: Universi- tätsverlag, S. 111–133, hier S. 111.

30 Methoden kulturwissenschaftlicher [...] MusikmachDing-Studien

Verortung die Bezeichnung «Latin Menu*1».57 Viel weiter als nur musi- kalisch die Welt kartierend geht die Bezeichnung, die in der Soundbank «28: Bass Drum 06» zu finden ist: «Afro Feet BD».58 Damit soll ein kurzer, dumpfer, perkussiver Klang beschrieben sein, der barfüßigem Stampfen auf weichem Sandboden sehr ähnlich klingt. Der Stereotyp des barfußtan- zenden Afrikaners oder afrikanischen Tiers ist über das Manual in dem MmD eingeschrieben. Für die kulturwissenschaftliche/soziologische Ana- lyse zeigt sich mit diesen Beispielen, dass Technologie- und Sound-Ver- weise, Metaphern sowie Ordnungssysteme aufschlussreich sind, weil sich hinter ihnen kulturell anerkannte Praxen, Normvorstellungen, Konventi- onen, Logiken und Werte verbergen.

(Musik-)kulturelles Wissen, Konventionen, kulturelle Logiken/Werte des MmD

Welche Narrative werden mit dem MmD gepflegt? Was ist schon zur Abfrage oder als Angebot vorbereitet? Was wird bereitgestellt? Werksmäßig angebotene Presets oder Automationen, die möglichst leicht an MmD eingestellt werden können, erzählen kulturelle Vor-ein-stellungen. Hinter ihnen verbergen sich Schlüsselwerte, Ideal- und Qualitätsvorstel- lungen und Kunstbegriffe, die in bestimmten Kulturen so selbstverständ- lich zu sein scheinen, dass sie oftmals kaum noch Beachtung finden. Post- strukturalistische kulturwissenschaftliche und kultursoziologischeS tudien zielen auch auf das Erkennen solcher Konstruktionsprozesse. Funktionen und Ausstattungen von MmD erscheinen einerseits als Angebot für Nutzer*innen und vielleicht infolge der Nachfrage von Nut- zer*innen. Andererseits sind die Funktionen, Ausstattungen und die MmD selbst als Formautoritäten nicht zu unterschätzen. In Bezug auf elektro- nische Beat-MachDinge sind (musik-)kulturelle Idealvor-ein-stellungen der Taktung und Synchronisation omnipräsent. Polymetrik oder ambivalentes Rhythmuserleben mit Drum Machines erlebbar zu machen, ist nicht ein- fach. Schon früh in der Geschichte der Entwicklung von Rhythmusmaschi- nen sind «Quantize»-Funktionen zentral gesetzt, um maschinenhaft genau Rhythmen im gewählten Raster einspielen zu können. Und umgekehrt oder

57 Roland, «Owner’s Manual MC 303», online unter: https://archive.org/details/­ ­ synth­manual-roland-mc-303-owners-manual (zuletzt geprüft am 11.11.2015), S. 88. 58 ebenda, S. 89.

31 (Musik-)kulturelles Wissen paradoxerweise sind mit ihnen auch Kontrolleinheiten wie «Humanize» eingeführt worden, mit denen zumeist die dynamischen Ungleichmäßig- keiten oder Timing-Schwankungen menschlicher Performer*innen simu- liert werden können sollen. Es gibt zudem in fast allen Drum Machines «Shuffle»-Funktionen, die einzelne Schläge in einem gleichmäßig program- mierten Beat so verschieben, dass der Rhythmus «Swing»-ähnlich klingt. Tap-Delays legen Einstellungen von Echo-Wiederholungszeiten nahe, die den Widerhall der Sounds exakt als punktierte Achtelnote oder triolisch erklingen lassen. Ausstattungen von Beat-Generatoren sind suggestiv in Hinblick auf Klangideale: Ein eingebauter «externer 6,3 mm Stereo Klin- keneingang mit Mix-Modus inkl. Sidechain für Ducking»59 oder ein «One- Knob»-Plugin für «Sidechain Compression» versprechen einfaches Produ- zieren eines idealisierten, pumpenden Bass-Drum-Sounds und so fort. Diese Fragenperspektive zielt darauf, kulturelle Logiken und gesell- schaftliche Schlüsselwerte zu identifizieren. MmD machen Versprechungen und diese verweisen auch auf kulturelle Werte. Wie oben mit dem Beispiel der Grooveboxes angedeutet, (re-)artikulieren MmD in ihrer Performativi- tät Weltvorstellungen, Künstler*innenkonzepte und Werte. Sie geben sich kompakt oder als «Complete Solutions», versprechen Wiedergabetreue und ihre Effekt-Sektionen «true Bypass». Sie sind möglichst kabellos, mo- bil oder minimalistisch, grenzenlos einsetzbar, versprechen umgekehrt mit möglichst viel Ausstattung kreative Freiheit, erlauben Experimentierfreu- digkeit ohne Destruktion und vermitteln letztlich so genau die Seins-For- men, die auch für viele humane Akteur*innen angestrebt sind oder sein sollen. Die (Selbst-) Technologien humaner Akteur*innen und der MmD korrelieren (sich).60

59 Thomann,zur TR-8, online unter: http://www.thomann.de/de/roland_tr_8. htm, zuletzt geprüft am 11.11.2015. 60 prinz, Sophia (2012): «Büros zwischen Disziplin und Design. Postfordisti- sche Ästhetisierungen der Arbeitswelt», in: Stephan Moebius und Sophia Prinz (Hg.): Das Design der Gesellschaft. Zur Kultursoziologie des Designs, Bielefeld: transcript, S. 245–271, hier S. 265.

32 Methoden kulturwissenschaftlicher [...] MusikmachDing-Studien

Codierungen, Operationen, Prozessierung im MmD

Welchen Techniken/Technologien ähnelt das MmD? Nach welchen Prin- zipien, mit welchem Wissen funktioniert es eigentlich auch? Welche Arbeits- modi kennt das MmD? Diese Fragenperspektive fokussiert nicht wieder die metaphorische Ebe- ne, sondern die zumeist nicht mehr unmittelbar kommunizierten mecha- nischen oder elektronischen Abläufe, Prozessierungen und Steuerungen. Wobei es selbstverständlich unsinnig ist zu versuchen, eindeutig zwischen den Ebenen «Oberflächen» und «Operationen» zu unterscheiden. Ein Source-Code oder ein Sinuston-Generator ist nicht per se als etwas Wahr- haftigeres oder Nichtkulturalisiertes zu vermuten als ein Interface und eine Maske, die nur die Auswahl von vorbestimmten Möglichkeiten erlauben. Diese Frageperspektive soll helfen, Operationen zu identifizieren, die nicht ausdrücklich, nicht unbedingt sichtbar oder hörbar und unmittelbar Teil der MmD-Performativität sind. Einleitend ist bereits formuliert, dass kulturell verinnerlichte Konzepte losgelassen werden müssen und auf andere Symbolsysteme zugegriffen wird, damit MmD einen gewünschten Effekt erzielen. Um dies zu veran- schaulichen, sei weiter das Beispiel Drum Machine angeführt. Eine Drum Machine verfügt, trotz aller erwähnten Einschreibungen, nicht über das gleiche rhythmische Wissen, über das vielleicht humane Musiker*innen verfügen. Für Drum Machines sind Regeln über die Gruppierung von Schlägen und Betonungen in Takten oder von relativen Notenwerten irre- levant, auch wenn Nutzer*innen beim Editieren von Drum Pattern manch- mal Taktarten und zwischen 32tel-, 16tel- oder Viertelnoten oder Pausen wählen können. Drum Machines funktionieren zumeist wie Step-Sequen- zer: Nacheinander werden «Instrumente» an und ausgeschaltet. Steue- rungsparameter etwa bei einer analogen Drum Machine sind Lautstärke, Dauer (präziser ADSR-Regelung), Geschwindigkeit und eine zu wählende Rasterung. Um also kreisende Betonungs- und Rhythmusmuster erlebbar zu machen, finden eigentlich aneinandergereihte Schaltungen und/oder Schwingungsaufladungen und -entladungen statt. Das heißt, die Operati- onen, die im MmD stattfinden, scheren sich nicht um beispielsweise eu- ropäische musikwissenschaftliche Lehre über Taktarten und Betonungs- verhältnisse. In Drum Machines gibt es keine unmittelbar vermittelten Fi- guren, Motive oder Phrasen. Gespeicherte digitale Preset-Drum-Beats sind zum Beispiel nur hintereinander geschaltete Samples. Die Operationen von Drum Machines ähneln dann eher in Europa kaum beachteten additiven

33 Inter- und transkulturelle Logiken

Rhythmussystemen und die Rasterungen in Drum Machines gleichen eher Rhythmuskonzepten, denen eine oder mehrere (nicht unbedingt hörbare) Elementarpulsationen zugrunde liegen.61 Diese Erläuterungen sollen entfalten, dass der operative Nachvollzug der Beat-Genese deutlich werden lässt, welche kulturellen Leistungen hinter musikalischem Rhythmuserleben stehen oder hinter dem, was anschei- nend selbstverständlich als Rhythmus, Metrum, Beats oder Breakbeats wahrgenommen wird. Auf Operation und Prozessierung zu fokussieren, ermöglicht einen Perspektivwechsel weg von der oft starken «Rhetorik des Performativen».62

Inter- und transkulturelle Logiken, idiosynkratische Welterzeugungen durch das MmD

Welche Ansichten bieten die MmD? Welche Welten können mit den MmD inszeniert und imaginiert werden? Welche neuen oder unüblichen Erzähl- formen werden angeboten? Vor allem unter den Fragenperspektiven «Performativität» sowie «(Mu- sik-)kulturelles Wissen, Konventionen, kulturelle Logiken/Werte» ist be- reits angedeutet, dass MmD Etabliertes oder Welt- und Wertvorstellungen reproduzieren und verhärten. Diese letzte Fragenperspektive «Welterzeu- gungen, Inter- und transkulturelle Logiken, Idiosynkrasien» soll deshalb vor allem unterstützen, «Ansichten» – buchstäblich und metaphorisch verstanden – des MmD erkennbar zu machen, die eher ungewohnt sind. Ein unmittelbares Beispiel für die buchstäblich durch ein MmD verän- derte Ansicht ist das «Akai MPC» (Music Production Center), ein Sampler und Beat-MachDing, auf dem 16 Taster zum Abspielen einzelner Samples in einem Quadrat (vier mal vier Taster) angeordnet sind. Unter anderem «Akais MPCs» sind, laut Rolf Großmann folgendes:

61 Ismaiel-Wendt, Johannes (2012): «Eine Drum Machine für das Übersee-Mu- seum. Delinking AfricC: Eine Soundlecture», in: Susanne Binas-Preisendör- fer und Melanie Unseld (Hg.): unter Mitarbeit von Sophie Arenhövel: Trans- kulturalität und Musikvermittlung. Möglichkeiten und Herausforderungen in Forschung, Kulturpolitik und musikpädagogischer Praxis, Frankfurt a. M.: Pe- ter Lang, S. 131–148, hier S. 145. 62 posselt, Gerald (2005): Katachrese. Rhetorik des Performativen, München: Wilhelm Fink.

34 Methoden kulturwissenschaftlicher [...] MusikmachDing-Studien

«Hardware-Spielgeräte der digitalen Phonographie jenseits der Simulation von Chören, Streichern und Schlagzeugen. Sie markieren historisch gesehen den Punkt des eigenständigen popkulturellen Umbruchs der Nutzung digi- taler Schriftlichkeit. Zu einer Zeit, als die DJs im Hiphop bereits mittels der Zweckentfremdung analoger Ab’spiel’geräte die Medienarchive künstlerisch neu erschließen, sind sie die digitalen Instrumente dieses Umbruchs, einer Praxis der Dekonstruktion und Rekombination, der Komposition und Auf- führung phonographischer Musik. […] Die gewandelten ‹Vorräte von Un- terscheidungsmöglichkeiten› […] sind an den Interfaces dieser Maschinen abzulesen, in denen die diatonische Ordnung nebensächlich wird (SP 1200) oder ganz verschwindet (MPC)»63. Diese Möglichkeiten zur Dekonstruktion, Rekombination und Neu- oder Andersordnung kann nicht nur schlicht als ein anderes Umgehen mit tra- dierten musikalischen Ordnungen oder phonographischem Material ver- standen werden. MmD unterstützen, so gewünscht, auch die Erweiterung des Vorstellungsvermögens, das über das unmittelbare klangliche oder rhythmische Geschehen hinausgeht. Dystopisches Komponieren oder Edi- tieren wird möglich und Räume können akustisch möbliert werden, die bisher vielleicht unvorstellbar waren: Durch Sampling- sowie «cut & pas­ te»-Verfahren können Drum Sounds unterschiedlichster Quellen zusam- mengesetzt und in einen rhythmischen Bezug zueinander gebracht werden. Analoge Drum Machines können mit digitalen Sounds kombiniert werden, Samples aus schnell abgespielten Breakbeats mit kurzem Nachhall können ausgeschnitten werden und mit extrem langsam abgespielten Klängen in einem großem Echoraum gepaart werden. Innerhalb eines Beats sind ge- genläufige oder gleichzeitige Vor- und Rückwärtsbewegungen möglich und so weiter.64 So können unmittelbar gleichsam «unmögliche» virtuelle Setups oder Drum Kits verdichtet werden, die aus herkömmlichen Trom- meln nicht zusammenstellt werden könnten. Damit können mittelbar auch idiosynkratrische Klangräume und -welten neben kulturell sedimentiertes Wissen gestellt werden. Tradierte und stereotype Kartierungen (vgl. oben Beispiel «African Feet»), Ordnungssysteme, Autor*innenschaftskonzepte können irritiert werden. Neue Genealogien und achronistische Narrative können inszeniert werden.

63 Großmann, Rolf (2013): «303, MPC, A/D. Popmusik und die Ästhetik digitaler Gestaltung», in: Marcus S. Kleiner und Thomas Wilke (Hg.): Performativität und Medialität Populärer Kulturen, Wiesbaden: Springer, S. 299–315, hier S. 310 f. 64 Ismaiel-Wendt, Johannes (2011): tracks’n’treks. Populäre Musik und Postkolo- niale Analyse, Münster: Unrast, S. 176–181.

35 Conclusio

Conclusio

Obschon die fünf vorgestellten Fragenperspektiven einen Zugang für kul- turwissenschaftliche und kultursoziologische Studien bieten, vernachläs- sigt das Vorangestellte eindeutig und unstatthaft Rezeptionskontexte. Au- dio-Produktion müsste eigentlich immer auch als «production by an Au- dience»65 verstanden werden. Das Spannungsfeld zwischen Nutzung und Technik-Bedeutung gestaltet sich sehr komplex.66 Dieser Beitrag stellt die Rolle zum Beispiel Musizierender hintan und das Versäumnis, Nutzungs- und Rezeptionskontexte darzustellen, wird in Kauf genommen. Ziel ist eben, eine oftmals wenig berücksichtigte Seite im Netzwerk von Musik- machenden in den Vordergrund zu spielen oder auch andere (Hard- und Software-) «Anschlussstellen» für eine kulturwissenschaftlich/kultursozio- logisch informierte Musikwissenschaft zusätzlich vorzuschlagen. Es wird von mir eine Art durchaus positiv verstandene «armchair ethnography» ak- zeptiert, die am heimischen Computer, im Internet, mit Fachzeitschriften über Music Tools oder im eigenen Proberaum stattfinden kann. Ambiguität, Analogie, Binarismus, Code, Dispositiv, Gedächtnis, Hy- brid, Maske, Medienwechsel, Raum, Realismus, Spur, Zeichen, Zeitstruk- tur, … – dies sind Begriffe, die in Lexika zur Kulturtheorie aufgelistet wer- den.67 Sie muten zum Teil auch als informatische oder (medien-)technische Konzepte an. So oder so – diese kulturwissenschaftlichen/kultursoziolo- gischen Begriffe können als erste Ansatzpunkte populärer Musikmach- Ding-Studien trefflich stützen. Das meint nicht, sie sind den MmD überzu- stülpen, sondern sie sind in und mit den MmD zu finden.

65 Fiut, Ignacy Stanislaw (2002): «The Ontology of the Creative Process», in: An- na-TheresaT ymieniecka und Analecta Husserliana (Hg.): The Creative Ma- trix of the Origins Book II, LXXVII Yearbook of Phenomenological Research, S. 327–339, hier S. 337. 66 Morat, Daniel (2013): «Zur Historizität des Hörens. Ansätze für eine Ge- schichte auditiver Kulturen», in: Axel Volmar und Jens Schröter (Hg.): Audi- tive Medienkulturen. Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung, Bielefeld: transcript, S. 131–144, hier S. 140 f. 67 siehe zum Beispiel Metzler Lexikon (2004): Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler.

36

Drum Machine Soundlecture: Delinking AfricC68

68 transkription der Soundlecture in Kooperation mit Sophie Arenhövel. Zum Konzept «Delinking» siehe Mignolo, Walter (2007): Delinking. The rhetoric of modernity, the logic of coloniality and the grammar of de-coloniality. Zuerst er- schienen in: Cultural Studies, 21:2, online verfügbar unter http://waltermignolo. com/txt/publications/WMignolo_Delinking.pdf (Stand vom 28.02.12).

Drum Machine Soundlecture

Auf dem «Yamaha Drum Computer RY 30», gebaut in den 1990er Jahren, fand ich in der Liste der vorprogrammierten Rhythmen ein Pre- set Drum Pattern, das den Namen «AfricC» trägt.69 Dieses Pattern bildet die Basis des Tracks70, der nach einer kurzen, kritischen theoretischen Ein- führung dann unten, einem Lead Sheet ähnlich, als Anleitung für eine Li- ve-Soundlecture abgedruckt ist. Einige Grundstrukturelemente des Patterns AfricC habe ich für diese Soundlecture, um ein technologisches Fortschrittsnarrativ beabsichtigt zu stören, auf eine noch ältere Drum Machine übertragen – so gut ich konn- te und so gut die Maschine kann.71 Die Drum Machine «RY 30» löste die erste, in den frühen 1980er Jahren von Yamaha für den breiten Markt pro- duzierte Drum Computer-Reihe namens «RX» ab. Ich gebrauche für die Soundlecture einen «RX 15 Drum Computer» aus dem Jahr 1984 und habe AfricC, wie von mir gehört, darin einprogrammiert. Die RY-Reihe der 1990er Jahre gehörte zu einer neuen Generation von Drum Computern, bei denen man aus deutlich mehr Sounds auswählen konnte. Funktionen wie Anschlagdynamik und Raumeffekte ermöglichten das Programmieren von Drum Beats, die echter, natürlicher klingen, ganz so als würde ein menschlicher Schlagzeuger die Felle seiner Trommeln an- spielen. Eine Anschlagdynamik hat der von mir genutzte Drum Computer, der «Yamaha RX 15», nicht. Es gibt noch einen weiteren wichtigen Unter- schied, den ich im Folgenden in gewisser Weise kulturphilosophisch be- arbeiten werde. Der «RY 30» hat, im Unterschied zum alten «RX 15», eine Erneuerung, die ich für einen fatalen kulturellen Rückschritt halte: Der «RY 30» hat ein Display mit zwei Zeilen. Die alte Maschine «RX 15» hat nur eine Zeile im Display. Daher konnten die alten Maschinen für verschiedene Pat- tern lediglich Nummern von 00 bis 99 anzeigen. Die neueren Generationen

69 Die vollständige Liste der Presets kann im Operating Manual des Yamaha RY 30 (Seite 52) nachgelesen werden. Diese Bedienungsanleitung ist unter http:// www.yamaha.co.jp/manual/english/index.php (Stand vom 29.12.11) abrufbar. 70 Der Begriff «Track» wird in der Musikproduktion für einzelne Tonspuren wie auch für den Mix aus Tonspuren, also für das fertiggestellte Musikobjekt verwandt. Für eine kulturtheoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff siehe Ismaiel-Wendt, Johannes (2011): tracks’n’treks. Populäre Musik und Postkoloniale Analyse, Münster: Unrast, S. 208. 71 Die ungenaue Übertragung von AfricC soll bereits verdeutlichen, dass eine Konzentration auf eine Essenz oder auf einen Original Track für das Spiel relativ unbedeutend ist und beinahe beliebige Rhythmen als Grundlage für die Soundlecture dienen könnten.

41 AfricC haben in ihrem zweizeiligen Display ausreichend Platz, um die Pattern auch mit Namen abzuspeichern und abzurufen. Die Preset Beats heißen dann: «Funk», «Jazz», «Samba», «Bossa», «Reggae», «AfricV», «AfricF», «Af- ricC», «House», «Latin» usw. Es gibt sogar, und das hat mich verwundert, sechs verschiedene Presets, die «Euro» im Namen tragen. Worauf möchte ich in Bezug auf diese Technologie hinaus? Die Zwei-Zei- len-Anzeige stattet eine Rhythmusgestalt, die zuvor höchstens eine Num- mer hatte, jetzt noch weiter als audio-visuelles Zeichen aus. Diese scheinbar minimale Zusatzfunktion ist von kulturanalytischem Interesse bzw. als Teil eines nicht zu unterschätzenden kulturpolitischen Projekts relevant. Mit dem Namen wird der Beat, der selbstverständlich auch vorher schon als Semiose zu verstehen war, kulturell noch stärker aufgeladen und determi- niert. «AfricC» steht in der Liste der Beats als Platzhalter, als Repräsentant für einen ganzen Kontinent, so wie die anderen Beats zu Repräsentanten für europäische Beatkultur oder Latin-Beatkultur gemacht werden. In «The darker side of Renaissance» erkennt Walter Mignolo folgendes exzessiv betriebenes Prinzip des europäischen Kolonialismus: «Namen re- präsentieren Dinge und Karten Territorien»72. Entsprechend ist für eine transkulturelle Musikvermittlung herauszuarbeiten, dass die Kartierung von Pattern, Beats oder Musik nicht einfach unschuldige Orientierungshilfe in der Liste der 100 gespeicherten Beats des «Yamaha RY 30», sondern tief im Denken des europäischen Kolonialismus verhaftet ist. So wie die Ord- nungssysteme der Musikinstrumente und Audioaufnahmen in den völker- kundlichen oder ethnologischen Museen nicht unschuldige Orientierungs- hilfen sind. Auf den kleinen Objekttext-Kärtchen, die in den Schaukästen beiliegen, werden den Instrumenten «Ursprungsorte» oder «Fundorte» zu- gewiesen. Die inflationäre Verortung von Musik ist Folge und häufig auch Instrument kolonialistischen Denkens und Handelns in Repräsentationssy- stemen.73 Wenn ich durch die gespeicherten Beats des «Yamaha RY 30» klicke und ihre Namen, «Latin», «House», «Afric», «Euro» lese, fällt mir auf, dass dies eigentlich räumliche oder geographische Metaphern sind. Auch wenn ich Namen wie «Samba», «Bossa», «Tango», «Reggae» in der Liste lese, liegen wahrscheinlich nicht nur für mich Assoziationen zu Brasilien,

72 Vgl. Mignolo, Walter (2003): The darker side of the Renaissance. Literacy, ter- ritoriality, and colonization Ann Arbor: The Univ. of Michigan Press, S. 332 [Übersetzung: JIW]. 73 Vgl. Said, Edward W. (1995): Der wohltemperierte Satz. Musik, Interpretation und Kritik, München: Hanser, S. 98.

42 Drum Machine Soundlecture

Argentinien, Jamaika nahe. Die «Weltkarte der Musik»74, so wie sie An- fang des 20. Jahrhunderts der Traum des Musikethnologen und Direktors des Phonogramm-Archivs in Berlin, Erich von Hornbostel, war, lässt sich heute von A, wie Afrobeat, bis Z, wie Hip-Hop von Zulu Nation, durch- buchstabieren. Ich bezeichne dieses obskure Phänomen der musikalischen Verortung als die «Topophilie der Agent*innen populärer Musik». Die enge Verbindung zwischen Orten und Musik geht auf all diejenigen zurück, die in die popmusikalische Praxis eingebunden sind. Musizierende, Produzie- rende, Rezipierende, Archivierende, Ausstellende und Forschende scheinen eine Sehnsucht nach der Kopplung von musikalischen Gestaltungsmitteln, Instrumenten und Stilen an Territorien und damit indirekt an Kulturen zu haben. Das Begehren nach Verortung ist die Topophilie der Agent*innen populärer Musik. Und das sei noch erwähnt: Auch Konzepte wie Weltmusik und ande- re musikalische Grenzüberschreitungsideen sind zumeist nur die andere Seite der gleichen Medaille, denn die Weltkarte und der unkorrigierbare Wille zur kulturellen Differenz75, wie Kofi Agawu das in seiner Arbeit zur afrikanischen Musikforschung herausstellt, werden ja nicht aufgegeben. Es geht immer noch um die imaginierte translokale Begegnung von Malinke Rhythmen mit Hip-Hop, Crossover zwischen arabischer Musik und Jazz und ähnlichem. Der «Topophilie der Agent*innen populärer Musik» stelle ich die Mu- sik selbst, die musikalischen Gestalten gegenüber. Die musikalische Gestalt selbst ist, im Unterschied zu ihren Agent*innen, topophob. Sie kann nicht bestehen, wenn sie irgendwo, irgendwie fixiert wird. Musik entspringt in vielerlei Hinsicht Bewegungen: den körperlichen Spielbewegungen der Mu- siker*innen und den mechanischen Schwingungen der Musikinstrumente und Lautsprechermembrane, den sich wellenartig ausbreitenden Bewe- gungen der Luftteilchen und den Bewegungen der Basilarmembran im In- nenohr.76 Musik funktioniert nicht in der Starre. Deshalb ist also die «Topo- phobie der musikalischen Gestalten» anzuerkennen. Die Topophobie meint hier ein Unbehagen in Bezug auf die Verortung und Fixierung von Musik.

74 Werkmeister, Sven (2009): Hornbostels Musikalische Weltkarte. Über zivili- sierte und unzivilisierte Geographien der Musik, in: Jörg Döring und Tristan Thielmann (Hg.): Mediengeographie. Theorie – Analyse – Diskussion, Biele- feld: transcript, S. 219–249, hier S. 219. 75 Vgl. Agawu, Victor Kofi (2003): Representing African music. Postcolonial notes, queries, positions, New York: Routledge, S. 181. 76 Vgl. Pfleiderer, Martin (2006): Rhythmus. Psychologische, theoretische und stil- analytische Aspekte populärer Musik, Bielefeld: transcript, S. 94.

43 AfricC

Den «topophilen Agent*innen populärer Musik» werden also die Ge- stalten populärer Musik gegenüber gestellt und damit wird die Musik zur Aktivistin. Ich gestehe den ästhetischen Formen und Formationen Agens und vor allem auch eigenes Wissen zu.

Soundlecture77

Verkabelt: Yamaha Drum Computer RX 15 Das Signal des linken Ausgangs des RX 15 wird durch ein Echo Effekt Pedal (zum Beispiel Boss DD 7 oder Behringer Echo Ma- chine EM 600) in den 1. Kanal eines mindestens 3-Kanal-Misch- pults (zum Beispiel Yamaha 82cx) geleitet. Zwischen dem rechten Ausgang des Drum Computers und Kanal 2 des Mischpults wird ein «Korg Monotron» Analog Synthesizer ge- schleift, um Filter beziehungsweise um die Drum Machine als Im- pulsgeber für den Niedrigfrequenzoszillator nutzen zu können. Zwischen dem Phones-Ausgang des Drum Computers und Kanal 3 des Mischpults wird ein Multieffektprozessor (hier «Behringer Virtualizer 3D FX2000») geschaltet.

77 Der folgende Text ist eine Übertragung einer auf das akustische Erlebnis ausgelegten Präsentation. Damit zumindest angedeutet sei, was in dieser Soundlecture technisch, klanglich und rhythmisch inszeniert wird, ist das Nachstehende in einer Art Zwei-Kanal-Text formatiert: Linksbündig findet sich der Text, der sich als Lesung vorzustellen ist. Rechtsbündig ist skizziert, wie das Pattern AfricC durch Effekte modifiziert wird. Es sind zum Teil An- weisungen für die Mix-Einstellungen. Diese technischen und klanglichen Be- schreibungen sind als ein eingeschränkter Verbildlichungsversuch zu lesen, der zahlreiche Nachteile gegenüber dem sonischen Erleben birgt: Die Ver- schriftlichung hat beispielsweise zur Folge, dass akustische Gleichzeitigkeiten in ein Nacheinander gesetzt werden. Die Inszenierung von Gleichzeitigkeiten ist eigentlich ein wichtiges Element dieser Soundlecture. Durch die Reihung der Sätze im Text entsteht zudem oftmals der Eindruck, das Akustische diene der Illustration des Gelesenen/Gesprochenen, dabei zielt die Soundlecture an vielen Stellen gerade auf das Hörbarmachen des dem sprachlich vorgelager- ten Wissens in der Musik. Die Soundlecture zielt in ihrer Form, auch wenn sie kultur- und musik- wissenschaftlich fundiert ist, nicht darauf, die Standards wissenschaftlicher Texte zu erfüllen. Viele Termini bleiben undefiniert und sind als metapho- rische Figuren an das musikalische Spiel angelehnt. In seiner Form deutet der Text, parallel zu seinem Inhalt, auf einen Konstruktionsmodus statt auf einen Erklärungsmodus.

44 Drum Machine Soundlecture

Das Ausgangssignal des Mischpults wird durch eine beliebige Musikanlage verstärkt, die mindestens so ausgestattet sein muss, dass sie auch niedrige Frequenzen (sehr tiefe Bässe) deutlich hörbar wiedergeben kann. Das Lautstärkeverhältnis zwischen Lesung und Soundmix wird vom Lesenden permanent über die einzelnen Lautstärkeregler oder den Master-Regler am Mischpult so angepasst, dass die Stimme des Lesenden gut hörbar bleibt. Eine wichtige Vorbemerkung: Die musikalische Ausgangsquelle wird im Folgenden immer die Drum Machine «RX 15» (und ihr Gerätegrund- rauschen) sein. Das Pattern AfricC wird das permanent zu bearbeitende Signal sein. Die Musik, die zu hören sein wird, wird immer irgendwie Af- ricC sein. Lediglich durch Einschleifen anderer Geräte, durch Effekte, Ein- und Ausblenden, durch Filterung, Frequenz- und Phasenverschiebungen werde ich demonstrieren, dass es darauf ankommt, wie AfricC gehört wird. Es kommt nicht darauf an, was es ist. Ich möchte in den Zeiten, in denen das Palaver über Identität und Kultur wieder einmal so laut gewor- den ist, gerne noch lauter beweisen, dass es keinen Kern gibt und keinen Ursprung, dass AfricC auch keine Identität hat, sondern dass AfricC, wie jeder musikalische Track, ein «tool» ist.78 Ich möchte das Denken in Tracks als alternatives Kulturverstehen und -erleben vorstellen und als ein geeignetes Konzept transkultureller Musikvermittlung vorschlagen.

«Yamaha RX 15»: «Start» Pattern «AfricC» Das ist AfricC.

Es ist nicht wichtig, dass AfricC tatsächlich so klingt wie auf dem Yamaha Drum Computer «RY 30». Eigentlich kann ein be- liebiger Vier-Viertel-Beat gespielt werden, in dem eine Bass Drum auf jeder Zählzeit klingt und eine HiHat als Sechs-Ach- tel-Figur darüber gelegt wird. Snare und Handclaps spielen Akzentuierungen auf der zweiten und vierten Zählzeit des Vier-Viertel-Patterns. Rimshots (Clave) werden auf die Zähl- zeiten Eins, ZweiUnd, Vier gesetzt. Für den Shaker wird eine beliebige 16tel-Figur programmiert und die Toms spielen zum Beispiel eine Figur mit Roll. Die Lautstärke aller Percus- sion-Spuren der Drum Machine kann über die «Instrument Le- vel»-Funktion am Drum Computer auf «12» gesetzt werden. Für die Bass Drum-Spur bietet sich eine höhere Aussteuerung (In- strument Level 22) an.

78 Butler, Mark J. (2006): Unlocking the groove. Rhythm, meter, and musical de- sign in electronic dance music, Bloomington: Indiana Univ. Press, S. 256.

45 AfricC

Zu komponieren ist irgendein Rhythmus, der das Klischee des polyrhythmisch trommelnden Afrikas anruft. Als Tempo wird zunächst eine Geschwindigkeit von 115 Schlägen pro Minute (115 bpm) festgelegt. Das ist AfricC, so wie ihn der Drum Computer «RX 15» ausspuckt. Oder zumindest wie das Pattern über diese Lautsprecher und diesen Verstärker und nach meiner Übersetzung klingt. Als Musiker in Deutschland trainiert und musikwissenschaftlich an einer deutschen Universität ausgebildet, weiß ich, warum die Yamahas dieses Pattern AfricC genannt haben. Weil wir aus den Archiven wissen, dass «der Afrikaner-an-sich» polyrhythmisch trommelt. Polyrhythmisch im Sinne von «er vermag ungerade Figuren und Taktarten mit geraden Fi- guren zu kombinieren». Hören Sie den Vierer-Puls der Bass Drum.

Bass Drum Level anheben. Hören Sie den Sechser-Puls der HiHat.

HiHat Level anheben, dann Bass Drum und HiHat Level wieder auf Ausgangslautstärke bringen. Hören Sie beides zusammen. In der Musikwissenschaft und -praxis wird dieses Phänomen mit «Six against four» bezeichnet. Das Ganze wird kom- biniert mit einer ein-taktigen Clave-Figur.

Rimshot (Clave) Level kurz anheben und dann wieder senken. So kennen wir zum Beispiel die Rhythmen der Malinke, der Yorouba, … Wir wissen, warum die Yamahas dieses Pattern AfricC genannt haben: Weil man sich der sozialen Resonanz – einer Entschlüsselung, so wie sie beabsichtigt war – sicher sein konnte, weil alle wissen, dass «der Afrika- ner-an-sich» Shaker und Kalebassen zum Rasseln benutzt – diese Ur-In- strumente aus Naturmaterialien, die hier nur noch Babys in die Hand gedrückt werden.

Shaker Level kurz anheben und wieder senken. Claps Level anheben. Und die natürlichsten und ursprünglichsten Instrumente sind nicht zu überhören: Das sind natürlich die Hände, in die geklatscht wird. Aber AfricC hat es nicht nur unter die von den Yamahas vorprogram- mierten Beats geschafft, weil es so schön natur-traditionell ist, sondern auch weil das Pattern mit seiner «Four on the Floor» Bass Drum, «Boom

46 Drum Machine Soundlecture

Boom Boom Boom», und den Claps gleichzeitig so wunderbar Club-taug- lich bleibt.

Alle Instrumente/Drum Machine-Spuren auf Level Null. Nur noch Claps, Snare und Bass Drum bleiben laut hörbar und sie ru- fen das Klischee eines typischen Disco- oder House-Beats auf. Nach einigen Takten werden Rimshot, HiHat und Shaker bis zur Ausgangslautstärke wieder eingeblendet. Im topophoben Ungehorsam, wider die An-gehörig-keit schicke ich AfricC, die kulturalistische Simulation Afrikas, den Blood Track durch die Delinking Machine, den De-Colonizer, den De-Naturalizer … Ich drehe zwei Mal am Knopf und die akustischen Atmosphären verwan- deln sich in Kathedralen und Stadien, in Unorte.

Spiel mit diversen Hall- und Echo-Effekten sowie den Nach- halllängen. Durch Zwischenschleifen des Monotron Analog Syn- thesizers kann AfricC ein helles Piepsen beigemischt werden. Durch das Spiel mit der «rate» (Wellengeschwindigkeit) vari- iert der «Vogelgesang» zwischen langen und sehr kurzen Tönen. Wird die Geschwindigkeit stärker herabgesetzt, verwandelt sich das akus­tische Anaphon «Vogelgezwitscher» in stärker synthetisch anmutende Sounds, die an Laserwaffen in Computer- spielen erinnern (Monotron im Cutoff Mode: rate 11h, int. 2h, cutoff 3h, peak2h. Spiel mit rate zwischen 11 und 1h). Im De-Naturalisierer liegt zwischen der Möglichkeit der Imitation von Vogelgezwitscher und der Imitation von zerschneidendem Cybersound nur ein Millimeter Potentiometer-Drehung. Die Delinking Machine setzt der musealen, archivarischen und poli- tischen Kartographie und der Topophilie die Passage, den Trek, die Reise, den Pfad oder die Spur entgegen. Die Track-Maschinen brauchen keine musikalischen Gemeinplätze und Reservate, wie ich sie nenne, oder aku- stischen «Artenschutz», wie Susanne Binas-Preisendörfer und Thomas Burkhalter sie genannt haben.79 Die Maschinen inszenieren U-topien und Science Fiction.

Eine extrem synthetische, also bewusst unnatürlich klingende Sound-Textur kann durch Einschleifen eines Vocoder Effects

79 Binas-Preisendörfer, Susanne (2005): «Klänge, die verzaubern – Sehnsucht nach Unversehrtheit und Verständigung in der Weltmusik», online verfüg- bar unter http://www.musik.uni-oldenburg.de/medien/download/Susanne- Binas-Preisendoer­fer_Klaenge-Weltmusik_2005.pdf (Stand vom 28.02.12), S. 23.

47 AfricC

und durch das mechanisch-rhythmische Spiel mit Geschwindig- keiten am Stereo Delay hergestellt werden (Virtualizer Preset Effect: U 58, dann U.013 rhythmisches Spiel mit Edit A). Ich greife das Signal AfricC gleich drei Mal ab. Es gibt nicht ein AfricC. Ich schicke AfricC und das Geräterauschen hier durch einen analogen Monotron Synthesizer in den Mixer, da durch die digitale Echo-Maschine und dort durch einen digitalen Multieffektprozessor mit dem Namen «3D Virtualizer». Aber das ist Unsinn: War nicht AfricC immer schon virtuell? Warum braucht man einen «3D Virtualizer», wenn man schon mit dem Namen AfricC so viel Räumlichkeit transportieren kann? Das beweist doch nur, was von Eric Hobsbawm und Terence Ranger (1983), über Ed- ward Said (1978) bis Stuart Hall (1992)80 schon viele gesagt haben, dass die Geo­gra­phien beliebig imaginiert werden. Von AfricC aus können unend- lich viele performative Räume imaginiert werden.

Neue Echo- und Hallräume werden durch Flanger-, Delay- und Pitch-Effekte evoziert (Virtualizer Preset I.098, dann I.093). Insbesondere der Flanger-Effekt, der dem «Original- signal» Teile mit verhältnismäßig langen Verzögerungszeiten beimischt, erlaubt vielfache akustische Raumkonfigurationen. Ein rhythmisierter Einsatz vom Pitch-Effekt (Tonhöhen-Ver- änderung) ermöglicht das Andeuten kurzer Melodiephrasen und zwingt zu immer neuen Wahrnehmungsweisen von AfricC. Unendliche Atmosphären können akustisch möbliert werden81 – nur kon- krete Orte nicht. Und es gibt schon gar nicht einen Ort: AfricA. AfricA gibt es nicht einmal in der Liste der gespeicherten Beats des «Yamaha RY 30». AfrikA erklingt zumeist als Trommel-Pattern. Das ist das Narrativ, das wir immer und immer wieder zu hören bekommen. Aber in der Delinking Machine können wir uns nicht mehr sicher sein, dass AfricC ein Drum Pattern ist und die Drum Machine eine Drum Machine. Die Wahrneh- mung täuscht. AfricC war immer schon ein melorhythmisches Hybrid.

AfricC wird mit Chorus-Effekten belegt, die die kurzen per- kussiven Signale der Drum Machine voller wirken und sie so-

80 Hobsbawn, Eric und Ranger, Terence (1983): The Invention of Tradition, Cam- bridge: Cambridge University Press; Said, Edward W. (2006 [1978 ]): Orien- talism, New York: Vintage Books sowie Hall, Stuart (1992): «The Question of Cultural Identity», in: Stuart Hall; David Held und Tony McGrew (Hg.): Modernity and its futures, Cambridge: Polity Press, S. 273–316. 81 Vgl. Böhme, Gernot (2006): Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 35.

48 Drum Machine Soundlecture

mit mehr als Töne anklingen lassen. Durch automatisierte Pitch-Effekte (Virtualizer Preset U.063), die das Signal in vorprogrammierten Intervallen springen lassen, ergeben sich Melodien. Alle Spuren, bis auf die Bass Drum-Spur, werden zunächst ausgeblendet und dann nach und nach wieder überei- nander gelagert. Ein mehrstimmiger Satz, in dem 16tel-Signale hell tänzeln und Viertel-Figuren im Bassbereich begleiten, entsteht. Es ist eher eine Melodie als ein Drum Pattern.

Nur noch die Melodie am Kanal 3 (Virtualizer) ist zu hören. Es ist eine mehrstimmig arrangierte und verschachtelte Symphonie eines Welten-Ensembles oder Welten-Orchesters – wenn wir denn unbedingt alle Musik an einer solchen Begrifflichkeit vermessen wollen.

Kanal 1, AfricC ohne Effekte, dazu einblenden. AfricC ist polymporph. Sechs gegen vier: Hat der Track nun eine Identität als Sechser- oder als Vierer-Figur? Seine Gestalt ist ambiguos und damit un-heimisch/unheimlich.

Dem Beat von Kanal 1 Effekt der Echo Machine beimischen (Mix auf mittlere Position). Die Echomaschine kann im Verhältnis zum «Originalsignal» so eingestellt werden, dass die Wie- derholungen genau als punktierte Achtelnoten «antworten» (Tap-Funktion). Ein sehr rhythmischer, «swingender» Eindruck wird erweckt. Durch minimales Spiel am Repeat-Rädchen der Echo Machine, das die Anzahl der Wiederholungen/Delays be- stimmt, wird dieser Swing arhythmisiert. Durch ständige Ver- schiebungen der Echos können Räume akustisch nicht mehr ver- messen werden. Eine geradezu paranoide «Traumwelt» lässt sich so inszenieren: «Wo bin ich jetzt? Was kommt da gleich um die Ecke?» Sechs gegen Vier ist ein sogenannter Crossrhythm. Es ist nicht die Begeg- nung von einem westlichen Vier-Viertel-Club-Beat mit dem afrikanischen ternären, triolischen oder synkopischen Feeling. Es ist in sich ein eigen- ständiges Riddim Concept.

Monotron Fade in: rate nur ungefähr dem Beat anpassen (rate 11h, int. 3h, cuttoff 9h, peak 4h). Das Signal des Yamaha Drum Computers wird wieder durch den Monotron Synthesizer ge- schleift (Kanal 2). Mit dem Low Frequenzy Oszillator des Mo- notron wird AfricC ein eigenständiger Puls beigemischt, der durch entsprechende Einstellungen des Low-Pass-Filters und der Resonanz (Peak) wie eine zusätzliche, sehr tiefe Bass

49 AfricC

Drum klingt. Dieser Puls wird so eingestellt, dass er minimal neben den Bass Drum Schlägen des Ausgangspatterns liegt. So entsteht eine unbequeme, störrische Rhythmustextur. Was soll das heißen: «AfricC – typisch afrikanischer Rhythmus»? Das hier ist, wie die Jungle Brothers sagen:

«Maschinenpsychedelik. Wir haben nicht einen Takt geloopt, vier Beats, sondern sechs Beats [...] [a]rhythmisch, asymetrisch, alinear. Was wir die ganze Zeit gemacht haben, war, dein Hirn absichtlich entgleisen zu lassen […] [K]eine Arrangements, sondern Derangements».82 Vielleicht steht das «C» in AfricC auch für Cyber Riddim? Klingt nicht gerade nach «Eingeborene in Afrika spielen einen Stammesrhythmus». AfricC deutet vielleicht auf die Beziehung zwischen Von-Außerir- dischen-entführt-Werden und den Ereignissen aus der Zeit der Sklaverei hin.83 AfricC steht jetzt in der Tradition des Sun Ra.

Monotron: Siehe oben. Die Töne, die vom Monotron ausgehen, werden verlängert (cutoff Spiel zwischen 10h und 11h). Die Sounds erinnern stark an den Klang des Minimoog , den Sun Ra gerne zur Imitation seiner extraterrestrischen Welten eingesetzt hat. Wir hören statt des idiomatischen AfricC, dem Soundlogo, mit dem «Afrika» kommuniziert werden soll, einen idiosynkratischen Raum. Mit diesen Maschinen und dieser Musik können wir das anthropogene Prinzip vernachlässigen.84 Es geht um das Erfinden neuen Lebens oder anderer Lebensformen.85 Und dies geschieht aus einem Befreiungswillen und Re- voltedenken heraus – gegen einen europäisch geprägten Humanismus, der auch Sklaverei, Kolonialismus und Genozide rechtfertigte.86 AfricC ist kämpferischer Lärm, ein Akt akustischer Agitation gegen jegliche Katego- risierung.

Jetzt für einige Sekunden sirenenartige Sounds produzieren und dem Ausgangsignal AfricC lautstark beimischen, indem an der Echomaschine «Repeat» auf das Maximum und «Time» auf Mi-

82 eshun, Kodwo (1999): Heller als die Sonne: Abenteuer in der Sonic Fiction, Berlin: ID-Verlag, S. 105. 83 ebenda, S. 211. 84 Vgl. Fink, Robert (2005): Repeating ourselves. American minimal music as cul- tural practice, Berkeley: University of California Press, S. 44. 85 Vgl. Kelley, Robin D. G. (2002): Freedom dreams. The black radical imagina- tion, Boston: Beacon Press, S. 158. 86 Vgl. ebenda, S. 160.

50 Drum Machine Soundlecture

nimum geregelt werden. Die Echo-Ereignisse überschlagen sich buchstäblich, wenn an den Rädchen gedreht wird, weil Echos von Echos erzeugt werden.

Im topophoben Un-gehör-sam, wider die Ange-hörig-keit, schicke ich AfricC durch die Delinking Machine, die De-Colonizer, die De-Natura- lizer, die Postcolonial Machine … Die Drum Machine ist eine Chronotopie – so wie der Mixer eine Chro- notopie ist, in dem alles zusammenläuft – aus allen Zeiten. Es gibt keine Chronologie – analog oder digital. Die Tracks kreuzen sich und die Zeiten kreuzen sich. Die Maschinen produzieren, wie Alexander Weheliye in An- lehnung an Murray Schafer schreibt, eine Schizophonie.87 Es ist ein schi- zophoner Auto- und Soziomat, mit dem gleichzeitig existierende Stimmen hörbar gemacht werden können.

Am Mischpult alle belegten Kanäle so einblenden, dass sowohl das Ausgangssignal ohne beigemischte Effekte als auch möglichst viele Modulationen hörbar werden (Echomachine, Monotron, Reso- nator Effekt [Virtualizer: I.087 Spiel mit Edit D]). Die Spur ist immer da und nie weg. Sie hat keinen Anfang und kein Ende. Vielleicht gibt es Augenblicke, wo wir die Spur nicht hören, aber sie ist trotzdem da.

Am Mischpult wird der Lautsärkepegel an Kanal 1, der mit dem unmodulierten «Originalsignal» belegt ist, abgedreht. Als Erkenntnis ist gesetzt, was bei Jaques Derrida nachzulesen ist, nämlich dass es, «selbst wenn alles mit der Spur beginnt, eine ursprüngliche Spur nicht geben kann»88. Jede Spur führt nur wieder zu einer weiteren Spur89, zu einer weiteren Spur,

Kanal 1 wieder etwas lauter, zu einer weiteren Spur,

dann Kanal 2 wieder etwas lauter, zu einer weiteren Spur,

87 Vgl. Weheliye, Alexander G. (2005): Phonographies. Grooves in sonic Af- ro-modernity, Durham: Duke Univ. Press, S. 90. 88 Derrida, Jacques (1983): Grammatologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 108. 89 Vgl. Linz, Erika und Fehrmann, Gisela (2005): «Die Spur der Spur. Zur Tran- skriptivität von Wahrnehmung und Gedächtnis», in: Gisela Fehrmann; Erika Linz; Cornelia Epping-Jäger und Ludwig Jäger (Hg.): Spuren, Lektüren. Prak- tiken des Symbolischen, München: Fink, S. 89-104, hier S. 94.

51 AfricC

dann Kanal 3 wieder etwas lauter regeln. Der Track ist ein Anti-Telos. Ein Non-Telos-Telos. Er ist ein Erzähler, dessen Geschichte nicht auf einen Plot ausgerichtet ist. Es gibt, wie Jochen Bonz schreibt, nicht die eine achtungsgebietende Melodie, in der alles auf- geht.90 Der dekolonisierte Track ist nicht nur «Repetition with a Difference»91, der Prozess des Delinking kommt auch im Stottern, als Anti-Flow-Flow zustande. Das vorgestellte Narrativ wird förmlich liquidiert.

Virtualizer Preset U.03 (Gated Ambience), rhythmisches Spiel mit Edit D und A. Mit einem Gate-Effekt lässt sich einstel- len, dass ein Signal erst mit einer gewissen Dynamik zum Mischpult «durchgelassen» wird. Dadurch, dass diese Einstel- lungen am Multieffektprozessor verändert werden, entsteht eine abgehackte Klang- und Rhythmustextur. Im topophoben Un-gehorsam, wider die An-gehör-igkeit erzeuge ich mit AfricC in der Delinking Machine, dem De-Colonizer, einen ‹Ma- ster-Slave-Short-Circuit› … AfricC und die Drum Machine sind erfunden worden, um die Tromm- ler*innen mit ihren aufwendig herumzuschleppenden und auszusteu- ernden Instrumenten zu ersetzen. AfriC und die Drum Machine sind Teil des kolonialen und imperialen Verdinglichungsprozesses.92 Es sind Tech- nologien, die der Logik des Kapitalismus folgen sollen. Die automatischen Rhythmusmaschinen, so schreibt Kodwo Eshun, sind «das präzise ökono- mische Äquivalent der Sklavenarbeit»93. Aber der De-Colonizer produziert hier einen Kurzschluss im Master-Slave-Circuit. Hier ist das Ende der Lo- gik «Haupt- und Nebenschaltung». Und ausgeschlossenes Wissen dringt wieder in die westlich kolonisierten Hirne und Hüften ein. Gehorsam erbringt der Drum Computer die Leistung, die von ihm verlangt wird. Die Drum Pattern erscheinen vielleicht im Vier-Viertel-Takt, aber der Computer hat sein altes Wissenssystem nicht über Bord geworfen. Heim- lich arbeitet er nicht nach einem Taktschema sondern durch Addition: Er reiht die Schläge einzeln aneinander – ein System, das in vielen Musiken

90 Vgl. Bonz, Jochen (2008): Subjekte des Tracks. Ethnografie einer postmoder- nen/anderen Subkultur, Berlin: Kulturverlag Kadmos, S. 127. 91 Danielsen, Anne (2006): Presence and Pleasure. The funk grooves of James Brown and Parliament, Middletown: Wesleyan University Press, S. 159. 92 Césaire, Aimé (1955): Discours sur le colonialisme, Paris: Présence Africaine. 93 Eshun, Heller als die Sonne, S. 102.

52 Drum Machine Soundlecture existierte (und existiert), bevor die Idee von Takten dominant wurde. Die Drum Machine hat die europäischen Regeln der Gruppierung von Schlä- gen und Betonungen in Takten und die Idee der relativen Notenwerte nur scheinbar angenommen. «RX 15» ist ein Meister der Mimikry.

Kanal 2 und 3 etwas leiser drehen. Im topophoben Ungehorsam, wider die An-gehörig-keit schicke ich AfricC durch die Delinking Machine, den De-Colonizer, den De-Natu- ralizer, die Erotik-Hör-Maschine … … denn sie ist auf die musikalische Form ausgerichtet. AfricC deutet vielleicht bekannte Vorstellungen an, wieder-holt/holt klischeehafte Vor- stellungen von AfricA wieder, dann aber kontrastieren die Maschinen. Deshalb muss das Gehör stark auf die Form ausgerichtet sein, weil von ihr letztlich die Kraft zur Erweiterung ausgeht.94 Die Sensation, die über die Repräsentationsebene hinaus wirkt, macht den Moment aus, wo ein tiefer, kollabierender Bass nicht nur als Sound-Logo berührt, sondern die Bauch- decke zum Wabern bringt. Aus Race Politics wird Bass Poetics.

Das Signal des eingeschleiften Monotrons wird so moduliert, dass er auf einer Länge von beinahe 10 Sekunden von einem hellen Laser Sound zu einem extremen Sub Bass herunterrutscht (rate 8h, int. 3h. cutoff 11h, peak 5h). Kanal 3 zusätzlich mit Reverse-Effekt (Virtualizer Preset U.090) einblenden. Mit Sensation meine ich: Die Musik vermag etwas zu stimulieren und nicht nur zu simulieren.

Zur Inszenierung förmlicher Gegenbewegungen und multipler wahr- zunehmender Klimax wird die Spielgeschwindigkeit von AfricC an der Drum Machine schrittweise heraufgesetzt (von 115 bpm auf 140 bpm), während extrem langsam in die Tiefe sinkende Töne des Monotron Synthesizers die Lautsprecher an ihre Leistungsgrenze bringen. Boxengehäuse und Gegenstände im Raum werden erschüt- tert. Die Echos (Pedal) sind mit der Tap-Funktion an das neue Tem- po anzupassen und dem Ausgangssignal leise beizumischen (die Echos antworten exakt als punktierte Achtel-Noten). Die Echos lassen das Pattern noch schneller wirken. Kanal 3 (Virtualizer) ausblenden. Monotron Kanal (2) ebenso ausblenden. Am «RX 15» alle Instrumentalspuren bis auf Clap, Snare und Rim ausblen- den. In Kombination mit den punktierten Echos entsteht zwischen den auf dem Beat spielenden Snare/Clap-Schlägen und den auch

94 Vgl. Sontag, Susan (1978 [1964]): Against Interpretation and other Essays, New York: Octagon, S. 14.

53 AfricC

im Off-Beat platzierten Rim (Clave-)Schlägen ein interessantes synkopisches Spiel. Durch Veränderungen der Lautstärkepegel, des Mix an der Echomaschine und durch Spiel am Equalizer kann mit dem scheinbar gefrorenen Pattern AfricC an den Maschinen geradezu virtuos improvisiert und soliert werden. Afric See (engl. sehen) – nein. Können Sie in diesem Ding noch «Afric» sehen? Ich nicht, aber ich habe in ein Preset eines Drum Computers neue, andere, pluriversalisierte Afro-Cosmologien hinein gehört.

Nach einigen Takten «RX 15» «Stop» – die Echos klingen noch nach.

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The Sound of Science Forschung als ästhetische Praxis Eine Antrittsvorlesung

The Sound of Science

Im Sommer 2012 sah ich die sich geradezu frevelhaft gerierende Punk-Reggae-Metal-Band SKINDRED in Hamburg bei einem Open Air Festival. Zur Eröffnung ihres Auftritts ließen die Musiker lautstark «The Imperial March» aus den STAR WARS-Filmen spielen und tausende Men- schen im Publikum jubelten ihnen zu. Ohne dass die Band in diesen ersten Sekunden auch nur irgendeine eigene musikspielerische Leistung voll- bracht hatte, zollte ich ihr allein wegen der Auswahl dieses Soundtracks zum Auftritt bereits Respekt, hielt sie für pompös, machtvoll, potent. Und: Ich entwickelte die heimliche Phantasie, in naher Zukunft einen wissenschaftlichen Vortrag, den ich in universitären Kontexten halten sollte, auch mit «The Imperial March» aus STAR WARS zu eröffnen. Ich würde das Podium besteigen und mich mit diesen Fanfaren feiern und be- jubeln lassen. Allein die martialische akustische Inszenierung würde mich als großartigen Wissenschaftler erscheinen lassen. Ich hab es getan – bei der Antrittsvorlesung im Rahmen meiner Beru- fung auf eine Juniorprofessur im Studiengang Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim. In aller Regel stehen einem solchen Auftritt die Konventionen des Wis- senschaftsbetriebs entgegen: Ein*e Wissenschaftler*in oder Forscher*in in Deutschland, der*die als solche*r ernst genommen werden möchte, tut so etwas nicht. Er*sie beeindruckt mit ermittelten Fakten und Fleißarbeit und nicht mit Mitteln der Inszenierung. Oder vielleicht doch? Dass Forschung nicht in dieser populären Weise praktiziert wird, heißt noch nicht, dass sie nicht ihre eigenen Formen ästhetischer Praxis hat. Dies ist daher das Feld, das nachstehend in den Blick genommen wird: das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Inszenierung, Wissensgenese und performativer und ästhetischer Praxis. Insbesondere soll dabei die Frage fokussiert werden, wie auf diversen Ebenen musikalische und forscherische Praxis tatsächlich korrespondieren.95

95 Absichtlich werde ich nachfolgend keine begrifflichen Abgrenzungsversuche unternehmen bzw. nicht versuchen, «Wissensproduktion», «Wissenschafts- betrieb», «wissenschaftliches Arbeiten», «Forschung» oder «Theoretisieren» zu definieren. Genauso wenig werde ich ästhetische Praxis definieren oder im Konkreten das Musizieren. Das heißt, Begriffe werden miteinander ver- wechselt, gleichgestellt, übergeneralisiert. Zwischenzeitlich wird Forschung schlicht an Universitäten verortet oder bedeutet vielleicht auch einfach Tech- nologie – die Lehre von der Technik. Auch der Terminus «ästhetische Pra- xis» wird mal mit «Kreativ-Sein» oder «kreativem Denken» gleichgesetzt, mit «Kunst-» oder «Musikmachen», mit «Proben-Praxis» und sogar mit «Ästhe-

59 Einleitung

Wie es scheint, gibt es für Musikwissenschaftler*innen lediglich wissen- schaftliche Praxis. Zugleich wird diese nicht als ästhetische Praxis wahrge- nommen. Manchmal kommt es vor, dass Leser*innen auf meine Beiträge zur Popmusikforschung verächtlich reagieren und meinen, das sei wieder mal «Elfenbeinturm-Geschreibsel» von jemandem, der mit der musika- lischen Praxis nichts zu tun habe. Mein erster Impuls ist dann, dass ich in- nerlich versuche, mich zu rechtfertigen, und mich als Praktiker, als Musiker und Performer legitimieren möchte. Dann aber erkenne ich eine Dimensi- on, die im Folgenden dargestellt sein soll: Dieses wissenschaftliche «Getue», vom wissenschaftlichen Vortrag zurück bis ins fensterloseste Innerste des Elfenbeinturms, erkenne ich als ästhetische Praxis an. Ästhetische Praxis und Praxen innerhalb von Forschung und wissen- schaftlicher Arbeit sollen hier fokussiert werden. Das meint wahrscheinlich den gleichen und noch einen anderen Schritt als jenen wichtigen, den Mie- ke Bal mit «kulturelle Analyse» beschreibt.96 Bal plädiert für eine «Praxis des Theoretisierens».97 Sie meint damit die enge Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk.98 Im Sinne der in der Einleitung vorgeschlagenen Systema- tisierung würde es Bal um eine kulturwissenschaftliche Forschung zu äs- thetischer Praxis gehen; mir geht es hingegen um eine kulturwissenschaft- liche Forschung mit ästhetischer Praxis. In meinem vorliegendem Beitrag gibt es zunächst einmal kein als solches bezeichnetes Kunstwerk. Gesucht werden stattdessen Dimensionen des Kunstähnlichen im Akt des Theoretisierens. Beispielhaft werden der Wis- sensgenese inhärente kreative Umgangsweisen mit dem Auditiven gekenn- zeichnet. Dies geschieht, weil mein Forschungs- und Praxisschwerpunkt im Bereich der Populären Musik liegen. Das Plädoyer für das Theoretisieren als ästhetische Praxis wird an dieser Stelle verfasst, weil sich hinter einer Trennung Bewertungsstrukturen ver- bergen: Die Unterscheidung zwischen Forschung und ästhetischer Praxis, Wissenschaft und Musik provoziert und reproduziert Stereotype. In der dualistischen Vor-Stellung schwingen Fragen wie die folgenden mit: Wer

tik» selbst verwechselt. Mir ist bewusst, dass das im Wissenschaftskontext ein beinahe unverzeihlicher Fehler ist, aber ich ziele im Nebeneffekt auf ein Spiel der Verwischung von Grenzen und das Aufzeigen der hybriden Struktur der Akte in Wissenschaft und ästhetischer Praxis. 96 Bal, Mieke (2001): «Performanz und Performativität», in: Jörg Huber (Hg.): Kultur – Analysen, Zürich: Voldemeer, S. 197–242, hier S. 198. 97 Ebenda. 98 Ebenda.

60 The Sound of Science vermag Wahrheiten zu ermitteln und zu vermitteln? Wer präsentiert nur subjektive Befindlichkeiten? Die Idee einer Umkreisung des Komplexes «Theoretisieren und Forschen als ästhetische Praxis» bringt mich zugleich in eine fast aussichtslose Situati- on. Ich finde mich mit diesem Ansatz in einem Feld wieder, in dem auch die ästhetische Praxis disziplinär institutionalisiert, definiert und vereinnahmt wird. Die Intention ist allerdings nicht vergleichbar mit dem in den letzten Jahren auszumachenden und vielleicht auch schon wieder abgeebbten Hype um «Artistic Research». In dessen Mittelpunkt stehen oftmals Verwertungs- interessen an ästhetischen Praxen, also die Frage, wie etwa Populäre Musik oder Kunst für Forschung und Wissensgenese brauchbar gemacht werden können.99 Die Absicht hier ist aber weder die Objektivierung der Kunst, noch die Subjektivierung der Wissenschaft, sondern die Betonung des äs- thetisch Ge-formten in wissenschaftlichen Objektivierungsprozessen.

Imaginierte Wissenschaft und Forschung/ Performative Wahrheit

Die Einleitung dieses Textes mit der Frage nach «The Imperial March» für einen wissenschaftlichen Vortrag mag als allzu flach und banal gelesen wer- den, um zu verdeutlichen, dass Vorträge immer auch Performances sind. Es sei deshalb noch weiter gezeigt, dass nicht nur im Kontext der wissen- schaftlichen Präsentation das Theoretisieren als ästhetische Praxis zu er- kennen ist. Einmal angenommen, es sei so, wie sich die wissenschaftliche Praxis gibt, und es gäbe die zwei unterschiedlichen Prozesse: 1. Sachorien- tierte Forschung und 2. Forschungspräsentation oder Darstellung der For- schung.100 Was wäre zu entdecken, wenn einmal die offensichtlich perfor- mativen Teile, die Präsentationsformate, unberücksichtigt blieben und der

99 Meine Skepsis in diesem Zusammenhang geht nicht in die Richtung, dass Wissensgenese durch vor allem kritische Künste bezweifelt wird, sondern sie ist eher verbunden mit einem Unbehagen gegenüber der alles umfassen- den Aufforderung zur Wissensproduktion unter einem «postfordistischen Paradigma des kognitiven Kapitalismus» («Creating Worlds», online unter: http://eipcp.net/projects/creatingworlds/files/about-de, zuletzt geprüft am 31.03.2015). 100 Peters, Sibylle (2011): Der Vortrag als Performance, Bielefeld: transcript, S. 184.

61 Imaginierte Wissenschaft und Forschung

«reine» Forschungsteil als ästhetische Praxis fokussiert wird? Was passiert im musikwissenschaftlichen Elfenbeinturm? Es wird sich zeigen, dass auch die oder der für sich allein in seinem stillen Kämmerlein, zum Beispiel über Büchern und Statistiken grübeln- de Wissenschaftler*in kreativ und gestalterisch arbeitet. Als Beispiele für solche ästhetisch-praktischen Prozesse seien gerade die als wissenschaft- lich-objektivst daherkommenden Methoden der Analyse von visuellen Darstellungen von Musik angeführt: Frequenzanalyse, Spektralanalyse, Schalldruckpegel-Darstellungen in Dezibel usw. Sie erscheinen so physikalisch sowie naturgesetzmäßig fundiert, und doch ist auch die Praxis der Physik, betrieben als Fach oder Disziplin, eine ästhetische. Jede visuelle Darstellung von Musik, so hält unter anderem der Soundscape Forscher R. Murray Schafer fest, ist willkürlich.101 Dass beispielsweise bestimmte Wellenformen gezeichnet werden und wie groß Pegelausschläge ausfallen, welche Farbe oder Grauschattierung irgendwel- chen Druck- oder Schwingungsregelmäßigkeiten zugeordnet werden, ist faktisch regellos. Die Regel muss erst festgelegt werden. Vor diesem Hinter- grund sind visuelle Darstellungen von Musik als Metaphern zu lesen. Wenn jemand im digitalen Audio-Schneide-Programm mit der digitalen Lupe in eine Schwingung zoomt, ist das keine «Reise ins Innere der Klänge», wie Rolf Großmann richtig feststellt.102 Es ist höchstens als Reise in die Techno- logie oder genauer als Umgehen mit grafischen Metaphern (Lupen, bunten Wellenzeichnungen) zu verstehen.103 Theoretisieren ist eine Praxis des Treffens von Vereinbarungen. Auch das, was als technische Realität und damit als natur-gegeben erscheint, entspringt ausgehandelten Prozessen, die sich nur dann durchsetzen lassen, wenn sie ästhetisch überzeugen. Sie müssen, wie zum Beispiel die Spektralanalyse, für das ungeschulte Auge vielleicht besonders komplex wirken und sich nicht auf den ersten Blick erschließen lassen, damit sie gerade deshalb von den entsprechend ausgebildeten Wissenschaftler*innen akzeptiert werden. Oder sie müssen, ganz im Gegenteil, den Laien relativ schlicht irgendwelche Aus- schläge anzeigen. Die meisten Menschen, die an ihrer Hifi-Anlage irgend-

101 schafer, R. Murray (1988): Klang und Krach. Kulturgeschichte des Hörens, Frankfurt am Main: Anthenäum, S. 166. 102 Grossmann, Rolf (2003): «Spiegelbild, Spiegel, leerer Spiegel. Zur Mediensi- tuation der Clicks & Cuts», in: Marcus S. Kleiner (Hg.): Soundcultures. Über elektronische und digitale Musik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 52–68, hier S. 61. 103 Vgl. ebenda.

62 The Sound of Science welche Leuchtdioden blinken sehen oder die Displays digitaler Audioplayer öffnen, wissen wahrscheinlich nicht, was genau da eigentlich angezeigt wird. Irgendeine grafische Darstellung von Frequenzen oder Dezibel scheint ein- fach so etwas wie guten Sound und Wiedergabetreue zu bezeugen. Die scheinbare Notwendigkeit der Kreation vielfältiger Formen der Visualisierung von Musik verdeutlicht buchstäblich ihre Perspektiviert- heit. Die grafischen Darstellungsversuche sind selbst der wissenschaftliche Beweis dafür, dass die sachliche, allgemeingültige Analyse nicht nur eine informierte, sondern auch eine ästhetisch geformte Wahrheit bleibt. Der Versuch, Visualisierung von Musik als eine ästhetische Praxis vorzustellen, soll der Annahme entgegenwirken, die sogenannten harten oder exakten Wissenschaften hätten mit dem in den Kulturwissenschaften ausgerufenen ‹performative Turn› nichts zu tun. Theorien, Wissen, Forschungsergeb- nisse, Wahrhaftigkeiten werden zwischen Forscher*innen und/oder einem anderen Zielpublikum ausgehandelt.,104 Jens Ruchatz schreibt in seinem Ar- tikel «Der Text ist meine Party»:

«Dass der Erfolg von Theoriebildung nicht ausschließlich durch Rationalität reguliert wird, sondern mit den irrationalen Diffusionsmechanismen des Po- pulären gewisse Züge teilt, äußert sich beispielsweise in der sinnfälligen Rede von ‹Theoriemoden›».105 Als solche Theoriemoden sind sicherlich «Artistic Research», «künstle- rische Forschung» oder auch die an dieser Stelle betriebene Zusammen- führung von Forschung und ästhetischer Praxis anzusehen. Mit diesem Zitat von Ruchatz sei jedoch der Aspekt hervorgehoben, dass nicht aus- schließlich Rationalität Wissen generiert. Die Art und Weise, wie Wissen vermittelt wird und von wem, ist bestimmend dafür, was sich als Denk- und Wissensform in einer Kultur durchsetzt. Die Feststellung, Theorie verbreite sich ähnlich kontingent wie das Populäre, bedeutet auch, dass eine Erkennt- nis, die keiner oder nur einer kennt, eben noch kein Teil der Wissenschaft, noch nicht im «Raum des Wahren» ist. Spätestens an dieser Stelle muss ich

104 Meixner, Uwe (1999): «Metaphysische Begründung oder: ‹Wie Rational ist Ockhams Rasiermesser›?», in: Julian Nida-Rümelin (Hg.): Rationalität, Rea- lismus, Revision, Berlin: Walter de Gruyter, S. 407–416, hier S. 413. 105 ruchatz, Jens (2011): «‹Der Text ist meine Party› – sechs Punkte zum Theo- riebedarf der Erforschung des Populären», in: Christoph Jacke; Jens Ruchatz und Martin Zierold (Hg.): Pop, Populäres und Theorien. Forschungsansätze und Perspektiven zu einem prekären Verhältnis in der Medienkulturgesellschaft, Berlin: LIT, S. 64–78, hier S 65.

63 Imaginierte Wissenschaft und Forschung für eine gute Performance als Kultur- und Musikwissenschaftler ein Zitat von Michel Foucault einbauen: «Es ist immer möglich, daß man im Raum eines wilden Außen die Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven ‹Polizei› gehorcht, die man in jedem sei- ner Diskurse reaktivieren muß».106 Diese Aussage traf Foucault in seiner Inauguralvorlesung am Collège de France (2. Dezember 1970), die Sibylle Peters in ihrem Buch Der Vortrag als Performance sicher ganz treffend selbst als Reflexion des Theaters «Antritts- vorlesung» versteht.107 Wir wissen spätestens infolge von Foucaults Wille zum Wissen (1977), dass Wissenschaftler*innen Interpret*innen sind. Sie betreiben in scheinbarer Distanz eine «Hermeneutik des Verdachts».108 For- schung, Theoretisieren, aber eben auch Musikkomponieren als ästhetische Praxis sind dementsprechend als kreative Zukunftsantizipation aufzufas- sen. So ist zum Beispiel die Musiksoziologie damit beauftragt, Prognosen über den Umgang mit Audio-Medien zu liefern, Rezeptionsverhalten nach Klassen, Geschlecht, Alter vorherzusagen und einzuschätzen – das bedeu- tet kreative Zukunftsantizipation. Darüber hinaus legen diese Anmerkungen zum wissenschaftlichen Vor- trag genauso wie zur wissenschaftlichen Analyse nahe, dass es höchst un- terschiedliche Räume und Orte der Wissensdarstellung wie -vermittlung gibt: den wissenschaftlichen Kongress, die Vorlesung vs. die Bibliothek, das Podium vs. der Schreibtisch. Für Musikwissenschaftler*innen gilt zudem: Der Kopf-hörer vs. das Konzert. Die unterschiedlichen Technologien und Techniken sind ästhetische Praxis: Wellen zeichnen und Projektionsfolien erstellen, Analyse bedeutet in Samples zerklüften oder im Flow Samples live mixen. Es gibt, wie sich zeigt, im Akteurs-Netzwerk Musik niemals einen Raum des nicht-ästhetischen Praktizierens.

106 Foucault, Michel (1974): Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France, 2. Dezember 1970, München: Hanser, S. 25. 107 Peters, Vortrag als Performance, S. 115. Sibylle Peters weist Ebenda. darauf hin, dass der Grund für die Anstellung einer Forscherin oder eines Forschers zu einem nicht unerheblichen Teil von ihren performativen Qualitäten, die sie*er in einer Probevorlesung und im Vorstellungsgespräch unter Beweis stellen, liegt. 108 Dreyfus, Hubert L. und Rabinow, Paul (1994): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Weinheim und Basel: Beltz, S. 212.

64 The Sound of Science

Wissenschaft und Forschung als kulturpoetischer Akt

So wie heutzutage in Kontexten der populären Musik etwa die Technolo- gien nicht mehr nur als Speicher- und Wahrnehmungsmedium gedacht werden können und der*die DJ nicht mehr einfach als Abspieler von fixen Werken agiert, so sind wissenschaftliche Forschung und Theoriebildung nie einfach nur nachträgliches Nachvollziehen und Präsentieren. Wissen- schaftler*innen agieren immer als multifunktionale Kommunikator*innen und arbeiten zu einem nicht zu unterschätzenden Teil kulturpoetisch – er- schaffend, hervorbringend.109 Wissenschaft und Forschung wirken kulturpoetisch und die wissen- schaftliche Praxis ist als ästhetische Praxis zu beforschen. Diese Praxis zu erforschen, ist im Sinne Bruno Latours und Steven Woolgars genau so sinnvoll, wie die Erforschung der Praxen der «exotischen Völker».110 Als Beispiel möchte ich ein Phänomen vorstellen, das ich beim «deutschspra- chigen Stamm der Wissenschaftler*innen für Populäre Musik» beobachtet habe. Es ist ein sich unter ihnen etablierender Kompositionsstil, der den überaus schlichten Platzierungsstrategien in Populärer Musik ganz ähnlich ist: Unter diesen Popmusik-Akademiker*innen hat sich inzwischen ein ganz schlichtes Muster, eine Ästhetik zur Komposition von Überschriften für wissenschaftliche Artikel etabliert. Sie haben die Bedeutung des Sounds der Überschriften, gleichsam Hooklines in Tracks, erkannt. Um diese Pra- xis zu veranschaulichen, habe ich mir für den vorliegenden Artikel erlaubt, einen derart anbiedernden Titel, nach dem typischen Populäre-Musikwis-

109 Was wäre die Musikwissenschaft oder Musiksoziologie ohne Adorno? Und was wäre 12-Ton-Musik ohne Adorno? Der Kulturindustrie-Kritiker müsste heute bei «The Voice of Germany» in den Pausen easy listening spielen, um seinen eigenen Einfluss auf Musik zu relativieren, den er mit seiner in Worte der Analyse getarnten Dauerwerbesendung für (Post-)Schönberg-Musiken gewonnen hat. Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen bilden die Stile mit: Was wäre Punk und semiotische Guerilla ohne Dick Hebdige? Was wäre Hip Hop ohne Tricia Rose, die Blackness in den Party-Rap vehement mit eingelesen hat? Was wäre Bass Music, diese elektronischen Tanzmusiken, die ohne Lyrics auskommen, ohne eine ganze Akademiker*innen-Generation, die tagesaktuell versucht, Sinn in sie hineinzuschreiben? 110 Latour, Bruno und Woolgar, Steven (1986): Laboratory Life. The construction of scientific facts, Princeton: University Press, S. 17.

65 Wissenschaft und Forschung als kulturpoetischer Akt senschaft-Muster zu komponieren: «The Sound of Science. Forschung als ästhetische Praxis». Hier folgt ein Überblick über meine Vorlagen (Über- schriften deutschsprachiger, wissenschaftlicher Artikel der Online-Publi- kation SAMPLES des Arbeitskreis Studium Populärer Musik (ASPM) von 2007 bis 2011 sowie dort zitierter deutschsprachiger Literatur):111 ȤȤ «‹Real Niggaz Don’t Die›: Männlichkeit im HipHop»; ȤȤ «Metal Matters. Heavy Metal als Kultur und Welt»; ȤȤ «Riot Grrrl Revisited. Geschichte und Gegenwart einer femini- stischen Bewegung»; ȤȤ «Swingin’ his hands faster than Karate Kid. Der Gehörlose Rap- per Signmark und Gebärdensprache im HipHop»; ȤȤ «Talkin’ all that Jazz – Ein Plädoyer für die Analyse des Sam- pling im HipHop»; ȤȤ «Diggin’ in the Crates – Genrehybridität im HipHop»; ȤȤ «Somewhere in Time – Zum Verhältnis von Alter, Mythos und Geschichte am Beispiel von Heavy Metal-Festivals»; ȤȤ «‹My Name Is Nothin›. Bob Dylan: Nicht Pop, nicht Kunst»; ȤȤ «‹Taking it to the Streets› Psychotherapie, Drogen und Psycho- delic Rock: Ein Forschungsüberblick». Es ist also offensichtlich wichtig, mit Titeln nicht nur sachlich Inhalte zu ver- mitteln, sondern diese auch als Attraktoren einzusetzen. Diese Überschriften verdeutlichen eine für manche mehr oder weniger wohlklingende Textkom- positionsart, in jedem Fall aber eine gelernte ästhetische Praxis. Der Wissen- schaftshistoriker Ernst Peter Fischer spricht auch von «Wissenschaftsgestal- tung», denn er stellt fest, dass auch in den sogenannten Naturwissenschaften Stil zu erkennen sei. Ein geübter Physiker könne erkennen, ob er eine Arbeit von Einstein oder von Boltzmann lese. Das Ziel der Erforschung der Wis- senschaftsgestaltung ist es, «dem Wissenschaftswerk so gegenüber treten zu können, wie man einem Kunstwerk gegenüber treten kann, wie man einem Drama im Zuschauerraum des Theaters gegenübersitzen kann».112 Forschung, Theoretisieren, Theoriebildung und wissenschaftliches Ar- beiten sind auch ästhetische Praxis. Dabei lassen sich viele Parallelen zur

111 Auf genaue Quellen und Autor*innenangaben sei verzichtet, weil es hier nicht um Inhalte geht, sondern lediglich um die Gestaltungsart der Überschriften. Das Online-Magazin des ASMP ist hier einzusehen: http://www.aspm-samples.de/. 112 Fischer, Ernst Peter (2003): «Wissenschaft ist eine Ansammlung von Geheimnis- sen», in: Klaus Heid und John Ruediger (Hg.): Transfer: Kunst Wirtschaft Wissen- schaft, Baden-Baden: [sic!] – Verlag für kritische Ästhetik, S. 69–86, hier S. 72.

66 The Sound of Science musikalischen Praxis finden, auch wenn Forschung und Theoriebildung als Praxis begriffen keineswegs identisch mit der Praxis des Musizierens sind. Es ist allerdings unvermeidbar, Theoretisieren als ästhetische Praxis zu be- treiben, insbesondere dann, wenn ihr Gegenstand Musik ist. Gerade die Musikwissenschaft ist eine ästhetische Praxis. Nicht etwa in dem Sinne, wie sie oftmals in falschen Formulierungen erscheint, zum Beispiel als «mu- sikalische Analyse»113. Die Musikwissenschaft ist deshalb ästhetische Pra- xis, weil sie ihren Gegenstand in etwas anderes als Musik trans-form-­ieren muss. Sie muss Musik zum Beispiel in die Form des Textes verwandeln oder, wie oben beschrieben, Visualisierungen kreieren und damit bildhafte oder zeichenhafte Formen nutzen.114 Wenn es vor allem im letzten Jahrzehnt eine Tendenz gab, von künstle- rischer Forschung, «Art as Knowledgeproduction» oder «Performance as Research» zu sprechen, so kann auch «Knowledgeproduction as Art» ge- dacht werden. Weil Wissenschaft eine Praxis ist, gibt es auch eine Wissen- schaftstheorie. Noch wird die Wissenschaftstheorie als Teil der Philosophie betrieben, wenn aber klar wird, dass es um die Formen des Erkenntnisge- winns geht, also um «The Erotics of Knowledgeproduction» oder ästhe- tisch geformte Formen, heißt das, dass sich die Wissenschaftstheorie mit der Wissenschaft und Theoriebildung als ästhetische Praxis beschäftigen muss. Es kann sogar zu meta-«erotischen» Praxen kommen, so sich mit der Wissenschaftstheorie als ästhetische Praxis beschäftigt wird. Ein kleiner Exkurs zur Erstellung wissenschaftlicher Begriffe und deren Ranking bei Google mag dies veranschaulichen: Die Suche bei Google unter den Stichworten «Forschung als ästhetische Praxis» in Anführungsstrichen ergibt am 5. Januar 2013 zwölf Treffer. Elf davon verweisen auf ein Tanzpro- jekt und einer auf meine Antrittsvorlesung unter diesem Titel an der Uni- versität Hildesheim. Weil ich den Vortrag mit gleichem Titel auch noch an der Universität der Künste in Berlin gehalten habe, stieg die Zahl der Treffer im Verlauf des Jahres 2013 aufgrund der Vorankündigungen im Netz noch einmal an. Letztlich ist genau dieser Akt, «Forschung als ästhetische Praxis» zu bezeichnen, bereits mehr als nur eine bloße Benennung: Er ist eine krea- tive Praxis und ein theoriebildnerischer Akt zugleich. Der Akt, «Forschung

113 eggebrecht, Hans Heinrich (2004): «Verstehen durch Analyse», in: Christoph von Blumröder; Wolfram Steinbeck und Simone Galliat (Hg.): Musik und Verstehen, Laaber: Laaber-Verl., S. 18–28, hier S. 18. 114 Kramer, Lawrence (2011): «Subjectivity Unbound: Music, Language, Cultu- re», in: Martin Clayton; Trevor Herbert und Richard Middleton (Hg.): The Cultural Study of Music, New York: Routledge, S. 395–406, hier S. 397.

67 Verflechtungen zwischen forscherischer und musikalischer Praxis als ästhetische Praxis» zu bezeichnen, ist dabei zum einen ein poetischer Akt. Es wird etwas geschaffen und kommt in die Welt oder Suchmaschinen. Zum anderen ist er theoretisch in dem Sinne, dass er in Differenz zu etwas anderem geschaffen wird, dass für diese Kennzeichnung Argumente gefun- den werden können, dass darüber philosophiert werden könnte, wann, wie und von wem diese Argumente akzeptiert werden, oder auch, eher im ma- thematischen und physikalischen Sinne, dass danach gefragt werden kann, nach welchen speziellen Gesetzen sich «ästhetische Praxis» ergibt.

Verflechtungen zwischen forscherischer und musikalischer Praxis

Um wieder zu konkreteren, praktischeren Verflechtungen der oftmals von- einander getrennt gedachten Felder Forschung und ästhetische Praxis zu- rückzukehren, möchte ich nachfolgend weitere Beispiele aus der Auseinan- dersetzung mit Musik einbringen: Zunächst sei als Nachtrag zur gewählten Überschrift «The Sound of Science» vermerkt, dass viele der heutigen Musikinstrumente ursprünglich als wissenschaftliche Messinstrumente entwickelt worden sind. Unter ande- rem kann die Entwicklung des Mikrofons mit der des Mikroskops oder des Fernglases als akustisches Vergrößerungs- oder Verstärkungsinstrument kulturgeschichtlich relativ parallel verortet werden.115 Auf der Internet- seite http://www.thesoundofscience.com werden zahlreiche medizinische Mess- und Hilfsgeräte als Neuheiten vorgestellt, die über akustische Signale funktionieren.116 Früher oder später werden diese neuen Technologien auch als Musikinstrumente eine Rolle spielen, so wie etwa die Entwicklung des Herzschrittmachers und des Metronoms nicht getrennt voneinander denkbar sind. Mit einer anti-essentialistischen Auffassung von Forschung und ästhetischer Praxis einher geht auch die Auflösung von starren Zu- ordnungen zwischen Technologie, Messinstrument und Musikinstrument. Im «Magazin für Musik, Medien, Kultur und Selbstbeherrschung» De:- Bug war in der Ausgabe 7/8.2012 ein interessantes Beispiel zu lesen, das

115 Schafer, Klang und Krach, S. 151. 116 Der Zugriff auf die Internetseite www.thesoundofscience.com war am 27.10. 2012 noch möglich. Die Netzseite existiert in dieser Form und mit den ge- nannten Inhalten seit 2015 nicht mehr.

68 The Sound of Science auch die Verflechtung zwischen forscherischer, musikalischer Praxis und Theorie sowie mit Technologien verdeutlicht. Der Journalist und Medien- kritiker Sascha Kösch führte für das Magazin ein Interview mit dem Elec- tronic-Dance-Music-Produzenten Stuart Walker in Berlin.117 Walker hat für oder mit der Firma Native Instruments ein digitales MusikmachDing entwickelt, das zum Remixen, Soundfile-Bearbeiten, Live-DJing und für Ähnliches genutzt werden kann. Es sei eine Passage aus dem Interview zi- tiert:

De:Bug: Würdest du einen speziellen Workflow für das Erstellen von Remix Decks empfehlen?

Walker: Ja. Ganz von vorne anfangen. Mein eigener Approach kommt natür- lich von meiner Art des Produzierens. Stems aus der DAW sind bei mir die Grundlage. Ich schreibe erst mal alles in Live oder Logic, dann bounce ich die Loops von acht Takten. Oft hebe ich den Gain noch in einem Audio-editor an und fülle damit meine Remix Decks. Mit den Live-Resampling-Funktionen habe ich mich nicht so sehr beschäftigt, weil ich einfach selber schon so viel Material habe und es sowieso mag, von mir selbst zu samplen.118 Die performative Dimension dieser Satzbauten und des Sprachenmixes sei durch den Wiederabdruck dieses Zitates veranschaulicht, aber nicht weiter vertieft. Das von Walker mitentwickelte Gerät, es heißt «Traktor F1», bietet unter anderem die Möglichkeit, eine Oberfläche mit 64 Sample-Zellen zu definieren, und weil Mensch sehr leicht die Übersicht verlieren kann, sagt Walker selbst: «Ja, deshalb habe ich mich von Anfang an auch auf 16 oder 32 [Samples] beschränkt».119 Walker hat diese Maschine mitentwickelt, die theoretisch mehr könnte, als er in der Praxis zu verwenden vermag, und die er, so zeigt sich, im Verlauf des Gesprächs, zum Zeitpunkt des Interviews live noch nie zum Einsatz gebracht hat. Der Grund für die Auswahl dieser Passage liegt darin, dass sich entlang dieser für den Zusammenhang «Forschung als ästhetische Praxis» leicht ir- ritierende oder kritische Fragen entwickeln lassen: Was ist als ästhetische und was als technische Praxis in der Arbeit Walkers zu bezeichnen? Ist die Entwicklung des MusikmachDings Teil des Prozesses des Musikmachens, der Technologie oder der Forschung? Ist die Entwicklung eines solchen Re- mix Decks von jemandem aus der sogenannten Praxis als Forschung zu

117 Kösch, Sascha (2012): «Native Instruments F1. Remix, DJ, Live!», in: De:Bug 164, S. 64–65, hier S. 65. 118 Ebenda. 119 Ebenda.

69 Imaginierte ästhetische Praxis bezeichnen? Eine eindeutige Trennung zwischen Forschung, Entwicklung und ästhetischer Praxis ist meines Erachtens im Fall Walker und «F1» auf- zugeben. Es ist nicht einmal mehr festzustellen, ob Walkers Intention bei der Konstruktion von «F1» allein das Musikmachen war. Er schafft am Mu- sikmachDing Funktionen, die er zum Musikmachen nicht brauchen wird. Sie sind einfach Teil der entwicklerischen Praxis, die selbstverständlich Teil einer theoretischen, technischen wie ästhetischen Auseinandersetzung ist. Worauf möchte ich hinaus? Es ist nicht feststellbar, wo musikalische Praxis oder auch Forschung anfängt und wo sie aufhört.120 Stuart Walker reagiert offenbar auf Prozesse in ästhetischer und forscherischer Praxis und stößt auch solche selbst an. Es kann behauptet werden, dass – und diese sat- zeinleitenden Worte signalisieren wohl den Versuch der Genese einer The- orie –, wenn im Kompositions- oder Musikmachprozess zum Beispiel die Auseinandersetzung mit der Technik und technischen Metaphorik zuerst stattfindet (und das tut sie in zeitgenössischer Electronic Dance Music sehr häufig), sogar das Forschen und Theoretisieren als so etwas wie eine me- ta-ästhetische Praxis zu bezeichnen ist. Es sei damit auch dargestellt, dass es nicht nur performative, imaginierte Forschungs- und Wissenschaftspra- xis gibt, sondern auch ästhetische Praxis imaginierte, nicht klar abgesteckte Prozesse bedeutet. Theoretisieren und Populäre Musik Machen bedeutet heute «abstrahierte Modellierung von Wirklichkeiten zu liefern», so zumin- dest erklärt und parallelisiert Jens Ruchatz zeitgenössische musikalische Minimal-Tendenzen und die Leistungen theoretischer Beschreibung.121

Imaginierte ästhetische Praxis

Infolge der poststrukturalistischen Theorien, infolge der Diskursanalyse, Gender und Postcolonial Studies waren und sind nicht zuletzt die Wissen-

120 Die Frage nach Anfängen von Forschung oder musikalischer Praxis ist in etwa dem Sinne zu verstehen, in dem auch Bruno Latour seine Leser*innen bittet «für eine bestimmte Zeit ihren Glauben an irgendeinen realen Unter- schied zwischen Mikro- und Makro-Akteuren beiseite zu legen». Latour, Bru- no (2006): «Gebt mir ein Laboratorium und ich werde die Welt aus den An- geln heben», in: Andréa Belliger und David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: transcript, S. 103–134, hier S. 105. 121 Ruchatz, Der Text ist meine Party, S. 67.

70 The Sound of Science schaften selbst damit beschäftigt, die Perspektiviertheit der Forschungen zu dekonstruieren. «The making of» des «Theaters des Wissens» wurde von Foucault wie von Bourdieu jeweils in den Antrittsvorlesungen vorge- führt.122 Um die Künste und insbesondere die Musik wabern aber weiterhin weniger dekonstruierte Mythen. Die vermeintliche «Praxis» inklusive ihres apodiktischen Arguments der «Subjektivität», zu der es deshalb auch ent- sprechende Theoriedisziplinen geben muss (Kunstwissenschaft, Musikwis- senschaft etc.), wird von ihren Agent*innen (Musiker*innen, Musikwissen- schaftler*innen, Konsument*innen usw.) aber genauso imaginiert wie die Objektivität der Wissenschaften. ÄsthetischeP raxis ist genauso eine ima- ginäre Praxis wie das Theoretisieren und das Sich-im-Raum-der-Wahrheit- Befinden. In Bezug auf das ästhetische Praxis-Phantasma ist festzustellen: 1. Die ästhetischen Praxis-Betreiber*innen pflegen einen ähn- lichen Wahrheitsdiskurs wie die Wissenschaft. 2. Die ästhetische Praxis ist genauso langweilig wie die Forschung. Schwingen in der gesellschaftlichen Imagination des Theoretisierens die «Objektivität» und Regelerkenntnis mit, so ist es im Zusammenhang mit der ästhetischen Praxis die «Kreativität». Ich möchte aber behaupten, dass die ästhetische Praxis in den meisten Phasen häufig unkreativ ist und stumpfes Regellernen bedeutet. Als Beispiel sei der mehr oder weniger didaktisch ausgeklügelte Musikunterricht angeführt: Er bedeutet für die Instrumentalschüler*innen Nachahmen. Der Grundstein dieser ästhe- tischen Erziehung ist eine konformitätsfördernde Handlungsanweisung.123 Eine Reflexion auf Seiten der Lernenden findet oft nicht statt und allzu oft ist festzustellen, dass sich Musiker*innen schwer von der Spielweise ihrer Lehrer*innen lösen können. Beim Blick auf die Programme der meisten Konzerte, seien es klassische oder auch die scheinbar durch freie Impro- visation geprägten Jazz- und Neue-Musik-Veranstaltungen, wird deutlich, dass die Schüler*innen sich oft noch nicht einmal vom Repertoire ihrer Lehrer*innen trennen. Mit der Formulierung der These, die ästhetische Praxis sei genau so langweilig wie die Forschung, ziele ich auf eine Entmystifizierung a) der Praxis als dauerhaft kreative Handlung bzw. der Forschung als unkreative Handlung und b) der Praxis als forschungs- und theoriefreies Etwas. Des- halb lautet meine komplementäre These, dass die ästhetischen Praxis-Be-

122 Peters, Der Vortrag als Performance, S. 10. 123 Vgl. Lingner, Michael (1993): «Theorie als Praxisform», in: Kunst + Unter- richt 176, S. 24–27.

71 Imaginierte ästhetische Praxis treibenden einen ähnlichen Wahrheitsdiskurs wie Wissenschaft-Betrei- benden pflegen. Die Agent*innen der ästhetischen Praxis pflegen oftmals einen «ästhetischen Essenzialismus».124 Vielleicht ist in den letzten Jahrzehnten erreicht worden, dass ein Ne- beneinanderbestehen unterschiedlicher Musikkulturen (zum Beispiel soge- nannter Klassik und sogenannter Popmusik) akzeptiert wird. Der stilistische, epochale Essentialismus ist in vielen Köpfen möglicherweise überwunden. Die sogenannten Praktiker*innen leugnen aber weiterhin regelmäßig die Praxis des Theoretisierens in ihrem musikalischen Tun. Es gibt kaum ein Interview in einem Populäre-Musik-Magazin, in dem nicht in irgendeiner Weise behauptet wird: «Ich mache einfach Musik, ich denke da wirklich nicht drüber nach», so Cooly G. in der gleichen De:Bug-Ausgabe wie Wal- ker.125 Acid Pauli sagt in derselben Ausgabe zu seinem neuen Album:

«Ich liebe es einfach [sic!] Sachen zum ersten Mal zu machen. […] Dieses komplett Unbefangene gefällt mir».126 Er mache seine Musik nicht für eine akademische Minderheit, die alles ana- lysieren und interpretieren müsse.127 Eine solche Aussage ist sicher nicht einfach als naiv abzutun, sondern solch ein Akt im Interview muss eben selbst als meta-diskursive Performance verstanden werden. Dem sehr er- fahrenen Musiker Acid Pauli (unter anderem Mitglied von The Notwist) dürfte klar sein, dass seine ästhetische Praxis von einer Theoretisierung und damit einhergehenden Literarisierung, sogar in Form dieses Interviews, profitiert. Dass über Populäre Musik in Wissenschaftskontexten reflektiert und geschrieben wird, hat sie erst wichtig werden lassen – zumindest in bestimmten Kreisen und vielleicht auf eine Art, die die Erfahrung von Pop nur miserabel kommuniziert. Der Popmusikforscher Ole Petras verweist auf die Kastelruther Spatzen, die zum Beispiel im Kontext des Konsums Populärer Musik höchst relevant sind, die aber in der Forschung kaum eine Rolle spielen, im Gegensatz zum Beispiel zu «Die Goldenen Zitronen», über die es nach Petras beinahe mehr diskursive Auseinandersetzungen in Büchern zu geben scheint, als sie Schallplatten verkauft haben.128

124 Ich erweitere hier den Terminus des Soziologen Ludwig Bühl. Bühl, Ludwig (2004): Musiksoziologie, Bern: Peter Lang, S. 90. 125 Döringer, Michel und Dröner, Alexandra (2012): «Cooly G. Willkommen in meiner Welt», in: De:Bug 164, S. 6–8, hier S. 8. 126 Laier, Philipp (2012): «Acid Pauli Volksmusikant», in: De:Bug 164, S. 16. 127 Ebenda. 128 petras, Ole (2011): Wie Popmusik bedeutet. Eine synchrone Beschreibung pop- musikalischer Zeichenverwendung, Bielefeld: transcript, S. 270.

72 The Sound of Science

Der Essentialismus der ästhetischen Praxis bedeutet in populärkultu- rellen Zusammenhängen das Abstreiten einer ihr inhärenten Praxis des Theoretisierens. Ein sich gegenseitiges Abstoßen und Verdrängen in der Be- stimmung der Prozesse und Strukturen der ästhetischen Praxis und der Welt der Wissenschaft ist also zu erleben. Dieses gegenseitige Abstoßen wird aber nicht nur von den vermeintlichen Praktikern betrieben. Die Praxis ist auch in den wissenschaftlichen Akademien irgendetwas, was «da draußen» ohne sie – und oftmals ökonomisch sehr viel lukrativer als sie selbst – vor sich zu gehen scheint. Die Universitäten schleudern sich selbst aus dem Praxis-Boot, in dem es eigentlich zu rudern gilt. Dass die Praxis irgendwo da draußen, Wissenschaft und Forschung keine Praxis – und schon gar keine ästhetische Praxis – zu sein scheint, darauf verwiesen auch die beiden Popmusik-For- scher Christoph Jacke und Martin Zierold mit ihrem Beitrag: «Das Theorie/ raxis-Missverständnis» im Rahmen der Tagung «Pop Transfers».129 Ein Blick auf zwei Passagen von der Homepage des Studiengangs an der Universität Paderborn, in dem Christoph Jacke lehrt, verdeutlicht diese Wi- dersprüchlichkeiten. Dieser Blick auf eine andere Universität sei erlaubt, weil Jacke dieses Thema selbst bearbeitet und diese Passagen auf das Leich- teste auf die von Verwertungsinteressen gesteuerten Studiengänge an vielen deutschen Universitäten übertragbar sind, die Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis in irgendeiner Weise in Kombination anbieten.

«Studieninhalte in den ersten 4 Semestern: – Einführung Populäre Musik und Medien; Grundlagen der Musikwissenschaft – Musikgeschichte und (Pop-)Musiklehre I und II – Musikproduktion/Songwriting – Musik und soziale Kontexte/Gender Studies – Berufsfeldbezogene Sprachkompetenz (English for Special Purposes) – Medientheorie/-geschichte – Medienanalyse – Grundzüge der BWL und VWL oder Studium Generale»130 Ein paar Zeilen tiefer auf der gleichen Homepage ist zu möglichen Tätig- keitsfeldern zu lesen:

«Das Studium bereitet mit seinen musik-, medien-, wirtschafts- und kultur- wissenschaftlichen sowie medienpraktischen Studienanteilen auf Tätigkeiten in der Popmusik- und Medienbranche vor, z. B.:

129 Die Tagung «Pop Transfers» fand am 14.01.2012 in Oldenburg statt. 130 http://www.uni-paderborn.de/studium/studienangebot/details/populaere- musik-und-medien-bachelor/ zuletzt gesehen am 27.09.2012.

73 Parallelen und Schlüsse

– Musikjournalismus in Print, Radio, Online und TV – Artist & Repertoire/Promotion in der Musikindustrie – Konzert- und Club-Veranstaltungen, Booking-Agenturen, Künstler-Betreuung – Planung, Organisation und Durchführung von Events – Werbung und Marketing – Musik- und Kulturmanagement –Live-Sektor und Studio»131 Irritierenderweise ist infolge der oben beschriebenen kultur- und medien- wissenschaftlichen sowie der theoretisch ausgerichteten Studieninhalte die Universität selbst als Tätigkeitsfeld nicht erwähnt. Es dürfte eine Folge von eher pseudo-wirtschaftlichen Evaluationsprozessen sein, dass die Universi- täten so erscheinen, als seien sie kein Praxisfeld. Festzustellen ist aber, dass zum Beispiel die «Szenewirtschaft elektronischer Tanzmusik»132 ganz stark darauf setzt, sich mit ihren theoretischen Arbeiten etwa über gerade diese prekären Wirtschaftsformen in den Universitäten zu platzieren versucht. Zum Überleben in den trendigsten Musikszeneökonomien und zur musi- kalischen Praxis gehören auch in der ausdifferenziertesten, kapitalistischen Gesellschaft selbstverständlich und seit jeher Forschungsstipendien und Lehrstühle.

Parallelen und Schlüsse

Wissenschaft und Forschung werden zumeist als frei von ästhetischer Pra- xis imaginiert. Die ästhetische Praxis des Theoretisierens oder «ästhetische Rationalität»133 besteht genauso wie das Musizieren darin, einen Resonanz- raum zu kreieren. «The Sound of Science» weist darauf hin, dass Forschung immer auch versucht, mit ästhetischen Mitteln Widerhall in den Commu- nities zu finden.

131 Ebenda. 132 Kühn, Jan Michael (2011): «Die Szenewirtschaft elektronischer Tanzmusik – eine explorative Skizze», in: Journal der Jugend Nr. 17, online unter: http:// www.berlin-mitte-institut.de/text-die-szenewirtschaft-elektronischer-tanz- musik-eine-explorative-skizze/, zuletzt gesehen am 03.12.2013. 133 stierle, Karlheinz (1997): Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff, München: Wilhelm Fink.

74 The Sound of Science

Wissenschaft und Forschung sind als kulturpoetische Akte anzuerken- nen. Sie sind als etwas wahrzunehmen, das seine Untersuchungsgegenstän- de und Fragestellungen selbst generiert.134 Das klingt vielleicht praxisfremd, ist aber sicherlich die ehrlichere Performance und nicht verwerflicher, als etwa Kunst zu betreiben. Wenn Wissenschaft ohnehin ihre Gegenstände zumindest immer auch selbst mitproduziert, kulturpoetisch wirkt, warum sollten sich Wissenschaftler*innen und Forscher*innen nicht als Ästhe- tisch-Praktizierende begreifen? Damit ist im Umkehrschluss noch nicht gemeint, dass Forschende selbstverständlich auch Künstler*innen sind. Verflechtungen zwischen forscherischer und musikalischer Praxis sind oben exemplarisch dargestellt. Wenn Dualismen aufgegeben werden, weil Wesensbestimmungen und normative Wahrheiten aufzugeben sind, so müsste auch der Dualismus Wissenschaft/Forschung vs. ästhetische Pra- xis aufgegeben werden – und zwar in beide Richtungen. Im Sinne Walter Benjamins pflege ich demnach eine Utopie oder halte ein Plädoyer für die «profane Erleuchtung»,135 bei der es mir auch um eine Rationalisierung der mystifizierten ästhetischen Praxis geht.

134 Bonz, Jochen (2010): «Kommentar», in: Brunner, Anja und Parzer, Michael (Hg.): Pop:aesthetiken. Beiträge zum Schönen in der populären Musik, Inns- bruck: Studien-Verl, S. 204. 135 Benjamin, Walter (1995): Profane Erleuchtung und rettende Kritik, Würzburg: Königshausen + Neumann.

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Mehr Theorie Substanzielles in Kendrick Lamars «Wesley’s Theory» Skit

Mehr Theorie

Seit dem Frühjahr 2015 drängt sich wieder stärker etwas in mein Ohr und damit in meine Erinnerung, das ich in den letzten Jahren in kul- turwissenschaftlicher Ausbildung und eigener Popmusikforschung wahr- scheinlich nicht immer ausreichend stark gemacht habe. Oder: Ich höre eine Erfahrung, die ich retrospektiv gerne genau so erlebt haben möchte, um jetzt das Nachstehende erzählen zu können. Mit dem ersten Track auf Kendrick Lamars Album To Pimp a Butter- fly,136 der den Titel «Wesley’s Theory» trägt, erinnere ich mich daran, dass mein Theoriebegriff und -verständnis wesentlich und zuvorderst durch ei- nige Funk- und Hip-Hop-Tracks geprägt wurden und nicht durch den Stoff an der Universität. Tief verinnerlicht hatte ich Parliaments «Big Bang Theo- ry», Bootsy Collins «Pinocchio Theory», George Clintons «Cinderella The- ory».137 Während dieses auditiven oder ganzheitlich orientierten Studiums nickte ich auch heftig mit dem Kopf zu Roots’ «Game Theory» oder A Tribe Called Quests «Low End Theory».138 Das war die Musik- und Kulturwis- senschaft, die ich zuerst kennengelernt habe. Mit diesem Rüstzeug glich ich anschließend Kulturkonzepte und -theorien ab, die in den Zeiten meines Studiums (Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre) in der Academia Konjunktur hatten und zum Teil noch haben. Und nun kommt «Wesley’s Theory» als Eröffnungsstück des sehr breit wahrgenommenen Albums To Pimp a Butterfly und Kendrick Lamar kollaboriert in dieser Produktion un- ter anderem mit George Clinton. Vor dem Hintergrund dieser Theory-Track-Sozialisation sind mir Ein- stellungen, wie beispielsweise die des Medienwissenschaftlers Marcus S. Kleiner, ziemlich unverständlich, wenn sie behaupten, die in wissen- schaftlichen und journalistischen Kontexten geführte Rede von Pop-Theo- rie sei haltlos, denn es gäbe bisher keine eigensinnige Pop-Theorie.139

136 Kendrick Lamar (2015): To Pimp a Butterfly, Top Dawg Entertainment. 137 parliament (1979): Big Bang Theory auf Gloryhallastoopid, Casablanca. Boot- sy’s Rubber Band (1977): Pinocchio Theory (Single), Warner Bros. George Clinton (1989): Cinderella Theory auf The Cinderella Theory, Paisly Park/ Warner Bros. 138 A Tribe Called Quest (1991): Low End Theory, Jive Records. The Roots (2006): Game Theory, Def Jam Records. 139 Kleiner, Marcus S. (2008): «Pop fightsP op. Leben und Theorie im Wider- streit», online unter: http://www.medienkulturanalyse.de/wp/wp-content/ uploads/2013/06/Kleiner-Pop-fight-Pop-2008.pdf, zuletzt geprüft am 09.03.2016, S. 2 [Hervorhebungen im Original].

79 Einleitung

«Vielmehr gibt es eine Reihe unterschiedlicher, theoretischer Ansätze zu ver- schiedenen popkulturellen Gegenstandsbereichen. Hierbei werden allerdings Konzepte aus unterschiedlichsten Theorie-Traditionen, zumeist ungefiltert, dem Gegenstandsbereich Pop-Kultur übergestülpt.»140 Ich höre wieder und wieder «Wesley’s Theory», meistens laut, um so viel wie möglich herauszuhören und zu spüren, dass gerade medienwissenschaft- liche Theorien auf Funk- und Hip-Hop-Theorien basieren – mit Sicherheit. Ich kenne die Gefahr eines Denkens, das Theoriegenese ausschließlich in der Universität wähnt, aber für mich gibt es nicht diese zwei völlig getrenn- ten Sphären, in denen die eine der anderen übergestülpt wird. Ich konnte und kann eher etwas bei den Wissenschaftler*innen Donna Haraway oder Paul Gilroy finden, das zum Parliafunkadelicment Thang passt,141 als bei David Bowie. Einer der ersten kulturtheoretischen Texte, den ich – durch Jochen Bonz begleitet – in der Universität studieren durfte, war Kodwo Eshuns «Heller als die Sonne. Abenteuer in der Sonic Fiction».142 Eshuns Sätze brannten sich fest:

«[E]s ist immer diese groteske Sache: Zuerst kommt Heidegger und dann Ge- orge Clinton, es ist NIE umgekehrt. Aber es war Clinton, der die Idee mit der Mixadelik hatte: die Theorie der Mixologie als Psychedelik, die Theorie des Mischpults als etwas Psychedelisches. Schon 1979 gibt es das: Mixadelik. Das ist seine Idee […]. Also BRAUCHT man Heidegger nicht, denn Clinton ist schon theoretisch.»143 Die Gunst der späten Geburt im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, nach dem vehementen Kampf, Einsatz oder der Performance der musikalischen,

140 Ebenda. 141 In diesem Text wird nicht beschrieben, was das «Parliafuncadelicment Thang» oder «P-Funk» ist, weil in Pop-Musikstudienkontexten erwartet wer- den darf, dass die Begriffe bekannt sind. Diese Auslassung folgt einem Im- puls, den ich von Rowan Oliver übernehme. Er schreibt in einer Fußnote über den Funky-Drummer-Break: «I trust that it is no more necessary to preface this section with an explanation of the origins or meaning of the ‹drum break› than it would be to always describe the inner workings of the piano prior to discussing Chopin!» (Oliver, Rowan [2013]: Familiarity with Time, in: Eliane King und Helen M. Prior [Hg.]: Music and Familiarity. Listening, Musicology and Performance, Farnham: Ashgate, S. 239–252, hier S. 241, Fußnote 4). 142 eshun, Kodwo (1999): Heller als die Sonne. Abenteuer in der Sonic Fiction, Berlin: ID Verlag. 143 ebenda, S. 228 [Hervorhebungen im Original].

80 Mehr Theorie feministischen, postkolonial und poststrukturalistisch informierten Ak- teur*innen und Theoretiker*innen, erlaubt es, dass ich Heidegger bis heute nicht gelesen habe. Ich könnte aber Heidegger lesen, und ich könnte sicher etwas für mich verstehen, weil ich mich in Mixologie eingearbeitet habe. Eshun würde ich deshalb gerne mitteilen: Erst Clinton hören und dann vielleicht Heidegger lesen – das geht jetzt!

Zur Materie «Wesley’s Theory»

Schwarzes Vinyl knistert unter der Nadel eines Plattenspielers. Stehe ich vor einem Raum, in dem Musik spielt? Ja, als ob die Tür zu diesem Raum langsam geöffnet wird, lässt ein Filter immer mehr mittlere und hohe Fre- quenzen an mein Ohr dringen. Es ist klar, dass das keine Live-Musik ist. Es ist eine Aufnahme, fertige Musik und das schwarze knisternde Vinyl ist genauso ein Statement wie die gesungene Textzeile, die zu hören ist:

0’10” Every N****** is a Star Every N****** is a Star Every N****** is a Star Every N****** is a Star Every N****** is a Star Every N****** is a Star Every N****** is a Star, Star, Star144 – sieben Mal das N-Wort und dieser gesungene Ausruf, das ist in jeder Hin- sicht so überbordend, dass die Aussage und der Tonfall sofort von mir als

144 Die Transkription der Lyrics aus «Wesley’s Theory» übernehme ich, bis auf das N******-Wort und einige Groß- und Kleinschreibungen weitgehend von der Internet-Plattform songtexte.com (http://www.songtexte.com/ songtext/­kendrick-lamar/wesleys-theory-4372eb6f.html), zuletzt geprüft am 09.03.2016. Durch die Schreibweise des N******-Wortes mit Sternchen möch- te ich kennzeichnen, dass von Belang ist, wer das Wort gebraucht, und in dem vorliegenden von mir verfassten Text halte ich es nicht für sinnvoll, das Wort auszuschreiben, auch wenn es «nur» ein Zitat wäre. Ich gebrauche außerdem den englischen Begriff «Lyrics» für sprachliche Elemente im Track, wie gesun- gene Texte oder Rap-Texte, um diese von dem breiteren Begriff «Klangtextur», der auch gesungene Teile oder Raps miteinschließen kann, zu unterscheiden.

81 Zur Materie «Wesley’s Theory»

Hörer reflektiert werden. Das Intro ist geradezu ein akustischer Wink mit dem Zaunpfahl, ein mindestens dreifacher, auch rückbezüglicher medialer Hoheitsverweis auf Schwarze Musik-Mediengeschichte: a) auf die Invol- viertheit und Wegbereitung Schwarzer Subjekte in der Phonographie- und Audio-Technologiegeschichte,145 b) auf Soul Music und für diejenigen, die den Kontext des Stückes kennen oder dazu recherchieren, auch auf Blaxplo- itation-Filme und deren zum Teil sehr berühmt gewordene Soundtracks146 sowie schließlich c) auf Sampling als musikalische Praxis und als Kultur- technik. Durch das vorab eingespielte Knistern und die Klangqualität, die verra- ten, dass es sich um die Wiedergabe durch einen Schallplattenspieler han- delt, ist die Funktion des Einsatzes der Musik als Zitat offenkundig. Das ist nicht als banale Information vorschnell abzutun: Das Plattenknistern und der Sound des abgespielten Vinyls sind tatsächlich zwei Dinge oder Zei- chen. Das Knistern ist nicht das Knistern der abgespielten Platte, sondern es ist ein extra eingespieltes Knistern. Wer nicht aufmerksam ist, überhört leicht den kleinen produktionstechnischen Trick: Das Öffnen der Filter wirkt zwar auf die Musik, nicht aber auf das Knistern. Im Zentrum steht nicht allein das Zitat «Every N****** is a Star», sondern auch das Hantieren mit dem Material oder der Materie Vinyl. Am Ende der letzten Wiederho- lung der Zeile springt die Abspielung zurück bzw. wird «Star, Star, Star» hintereinander geschnitten. Es ist deutlich zu hören, dass diese Wiederho- lungen nicht in der Originalfassung vorkommen, sondern eine Sample-Be- arbeitung sind. Der Duktus in den ersten Sekunden steht im Zeichen von Autoritätsmarkierung in Sachen «phonographische[r] Arbeit».147

0’45” Hit me! When the four corners of this cocoon collide You’ll slip through the cracks hoping that you’ll survive

145 Weheliye, Alexander G. (2002): «‹Feenin›. Posthuman Voices in Contempo- rary Black Popular Music», in: Social Text, 20 (2), 33–47. Weheliye, Alexander G. (2005): Phonographies. Grooves in sonic Afro-moder- nity, Durham: Duke Univ. Press. 146 Gardiner, Boris (1973): Every Nigger is a Star. Original Motion Picture Sound Track, Leal Productions. 147 Großmann, Rolf (2013): «303, MPC, A/D. Popmusik und die Ästhetik di- gitaler Gestaltung», in: Marcus S. Kleiner und Thomas Wilke (Hg.): Perfor- mativität und Medialität Populärer Kulturen. Theorien, Ästhetiken, Praktiken, Wiesbaden: Springer VS, 299–315, hier S. 303.

82 Mehr Theorie

Gather your wind, take a deep look inside Are you really who they idolize? Mit dem «Star, Star, Star»-Zaunpfahl-Wink im Ohr ist der anschließende Ausruf «Hit me!» etwas überflüssig. Dass nach dem Episodenkennzeichen «Plattensprung» bzw. dem dreimaligen Backspin auf «Star», das schon ei- ner Art des Band-Einzählens gleicht, etwas deutlich anderes kommen wird, dass das Tempo sprunghaft gesteigert wird, ist nicht überraschend. Das durch den einleitenden Filter erzeugte Begehren nach mehr Volumen und Frequenzspektrum ist ohnehin noch nicht effektiv befriedigt. Es ist bis zu dieser Sekunde zu erahnen, dass da noch etwas kommen muss, damit die Musik, das Sample zum Track werden kann. Die predigenden Worte einer sonoren Stimme sind das Präludium. Die Gemeinde wird, bevor es richtig losgeht, mit einem kurzen Vorspiel zur Andacht aufgerufen: «… you’ll … you’ll … you …!» Ich weiß, dass dem Begriff Präludium etwas Klassisches anhaftet. Es scheint, als hätte ich ihn aus dem Musiklexikon herausgeblättert, aber das ist es, was ich mit «Mehr Theorie» zum Ausdruck bringen möchte: Musiklexika basieren ebenfalls auf Funk und Hip-Hop, auch wenn vielleicht noch nichts Funk oder Hip- Hop genannt wurde, als Definitionen für Präludium aufgeschrieben wur- den. Diese klassischen Formen und in Begriffe gefassten Konzepte wurden immer schon in stilprägenden Stücken gebraucht. «Prelude» auf dem Par- liament-Album The Clones of Dr. Funkenstein aus dem Jahr 1976:

«Funk upon a time in the days of the Funkapus the concept of specially-designed Afronauts capable of funkatizing galaxies […]»148 Das Aufgreifen solcher klassischer Konzepte wie des Präludiums kann als Aneignungsstrategie aufgefasst werden oder auch als Kolonisation dieser Formen und Medien.

«Good evening Do not attempt to adjust your radio, there is nothing wrong We have taken control as to bring you this special show We will return it to you as soon as you are grooving […]»149

148 parliament (1976): «Prelude» auf The Clones of Dr. Funkenstein, Casablanca. 149 parliament (1975): «P-Funk (Want’s to get funked up)» auf Mothership Con- nection, Casablanca.

83 Zur Materie «Wesley’s Theory»

Genauso möchte ich aber auch in eine andere Richtung argumentieren: Funk ist eine klassische Form, die nicht nur appropriiert, sich nicht nur irgendwo etwas holt und zu eigen macht. Wenn Stile oder Kompositions- strategien allzu oft als widerständig gedacht werden, dann ergibt sich so etwas wie eine Reihenfolge: Funk ist dann zum Beispiel eine nachträgliche Reaktion auf andere Musiken. Diese chronologischen Erzählungen, in de- nen dann auch immer wieder von den gleichen Vorvätern erzählt wird, möchte ich gerne irritieren. Deshalb behaupte ich, das Präludium sei auch eine Erfindung des Funk – wie die Theorie, und wie der eine synthetische Hand-Clap in Sekunde 0’54”, der mit der Prediger-Stimme durch den ka- thedralengroßen Raum hallt:

1’01” To Pimp a Butterfly, flaayi, flaayiii – der Titel des Albums. So wird – ich gebrauche erneut einen Begriff, der aus dem Musiklexikon gesucht zu sein scheint – eine Ouvertüre kompo- niert. Pompös bietet «Wesley’s Theory» einen Vorgeschmack auf das kom- plette Werk. Einige Themen werden kurz angedeutet und vor allem wird das Audio Engineering, die Art, wie das Album musikmachdinglich arran- giert und codiert ist, vorgestellt. Erst nach mehrmaligem Lauschen auf das Intro von «Wesley’s Theory» begreife ich, dass es nicht nur ein Potpourri ist, sondern dass ich ein Narra- tiv in diese erste Minute hineinhören kann. Das Knistern der Schallplatte in den ersten Sekunden, der sich öffnende Filter und schließlich der Ansager/ Sprecher, der irgendetwas von «Cocoon» und «slip through the cracks» und «Butterfly» sagt – all das ergibt zusammen ein Hörspiel:

«Dann knabberte sie [Die kleine Raupe Nimmersatt, JIW] sich ein Loch in den Kokon, zwängte sich nach draußen und … war ein wunderschöner Schmetterling!»150 Oder:

«Every N****** is a Star!» Jede*r, der sich To Pimp a Butterfly besorgt hat, bringt wahrscheinlich über kurz oder lang in Erfahrung, dass Kendrick Lamar auf dem Album irgendet- was mit Schwarz-Sein, erfolgreicher Rapper-Sein, Geld, Steuern (Tax Pro- tester Theory) und so fort verhandelt. Samy Alim erklärt in «Hip Hop Nation

150 Carle, Eric (1981 [1969]): Die kleine Raupe Nimmersatt, München: Deutscher Taschenbuch Verlag [ohne Seitennummerierung].

84 Mehr Theorie

Language» den Begriff «pimpin» wie folgt: «[S]uffering from record compa- ny pimpin (‹the means by which record companies take advantage of young Black artists lacking knowledge of the music industry›).»151 Mir schießt im Zusammenhang mit der Metamorphose von der Raupe zum Schmetterling jedoch noch ein ganz anderes Konzept in den Sinn: «Funkentelechy» aus dem Parliament-Stück aus dem Jahr 1977.152 Das Beispiel, mit dem der phi- losophische Begriff Entelechie nämlich oftmals erklärt wird, ist der Schmet- terling als «die Entelechie der Raupe, da der Schmetterling im Verhältnis zur Raupe die vollendete Gestalt erreicht hat.»153 Ich suche nach Erläuterungen, die mir den Begriff «Entelechie» nach Aristoteles begreiflich machen sollen:

«Bei den Lebewesen bezeichnet die ‹Form› die bewegende Kraft, durch die der ‹Stoff› zu einem lebendigen Organismus wird. Für die substantielle Form eines lebendigen Körpers gebraucht Aristoteles auch den Begriff der ‹Seele›, die er als bewegendes Lebensprinzip im Unterschied zum anorganischen Sein allem organischen Sein von der Pflanze über das Tier bis zum Menschen zu- spricht. Die Seele führt ein Lebewesen als Form-, Zweck- und Bewegungsur- sache zu dem von seiner Natur vorgegebenen Endzustand […] und vergeht anschließend gemeinsam mit diesem. Als ‹Entelechie› ist die noch zu ver- wirklichende Form eines Organismus als antizipiertes Ziel bereits in der Seele präformiert und bestimmt diese in ihrem Gestaltungsprozess.»154 Wenn nun der im Intro aufgerufene mediale und musikmachdingliche Wust – der «Stoff» – durch die «Form» zu einem lebendigen Organismus wird, dann folgt – Theorie. Den von Parliament eingeführten Begriff «Fun- kentelechy» hatte ich mir vorher schon multisensuell als etwas, das sein Ziel in sich selbst hat, unter anderem im «Prelude» auf The Clones of Dr. Fun- kenstein, erschlossen: «Funk is its own reward.»155 Funk ist entelechisch. Eine Zeile in Funkentelechy lautet: «[P]rogram, reprogram, deprogram»156,

151 Alim, Samy H (2009): Roc the Mic Right. The Language of Hip Hop Culture, New York, London: Routledge, S. 75. 152 parliament (1977): «Funkentelechy» auf Funkentelechy vs. The Placebo Syn- drome, Casablanca. 153 Wikipedia Suchbegriff «Entelechie»: https://de.wikipedia.org/wiki/Entele- chie, zuletzt geprüft am 09.03.2016. 154 Lenzig, Udo (2006): Das Wagnis der Freiheit: der Freiheitsbegriff im philoso- phischen Werk von Hans Jonas aus theologischer Perspektive, Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer, S. 145 [Hervorhebungen im Original]. 155 Parliament, Prelude. 156 Parliament, Funkentelechy.

85 Zur Materie «Wesley’s Theory» und die Theorien, die entworfen werden, sind ebenso entelechisch. Gefeiert werden Logiken, die fusselig und zirkulär sind.

1’04”

At first, I did love you But now I just wanna fuck Late night thinkin’ of you Until I got my nut Tossed and turned, lesson learned You was my first girlfriend Bridges burned, all across the board Destroyed, but what for? Das ist Freier- und Zuhälter-Duktus. Ich verstehe diese Lyrics nicht oder nur Teile davon oder möchte sie nicht verstehen. Merke: Theorie muss nicht per se gut sein! Ich nehme wahr, wie auch Sound-Formen anschaffen ge- schickt werden und mit ihren wohlbekannten Reizen arbeiten sollen: Ver- einzelt war das Quellen schon zu hören, ab 1’07” blubbert der aquatische E-Bass schließlich heftiger und bildet erste Linien, die später noch ähnlich als Gesangsmelodien anklingen. Thundercat spielt den Bass. Oben nehme ich bereits Bezug auf das Album The Clones of Dr. Funkenstein, deshalb bleibe ich im Bild (das wahrscheinlich zumindest in ähnlicher Weise auch von den To-Pimp-a-Butterfly-Produzenten sowie dem Bassisten Thunder- cat, dem Rapper Lamar und dem beteiligten George Clinton beabsichtigt evoziert wird): Der Bass blubbert und köchelt wie die Flüssigkeiten in den Reagenzgläsern und Kolben auf dem Cover-Foto des Parliament-Albums. In dem Labor von Dr. Funkenstein rauchen Flüssigkeiten in knalligen Far- ben. Der Bass hört sich nicht nach natürlichen Essenzen an, sondern ist ein stark modifiziertes Gebräu. Es ist schwer, bei Thundercats Bassspiel nicht an den wobbelnden Bass Sound des Bootsy Collins (zum Beispiel in «Big Bang Theory»)157 zu denken. Der Bass historisiert, erinnert und kennzeichnet mit dem Sound den Gen-Pool, aus dem er geschöpft ist: In der Synthetik ruft er für mich unter anderem den Sound von George Duke an, in der harmo- nischen Einbettung und vom fingertechnischem Spiel Stanley Clarks Bass- spiel. Trotz seiner aufdringlichen Formen kann ich das Bassspiel nur schwer nicht indexikalisch wahrnehmen. Ohne Worte macht der Bass das, was auch schon auf dem Album Low End Theory von A Tribe Called Quests wie flache

157 parliament (1979): «Big Bang Theory», Gloryhallastoopid, Casablanca.

86 Mehr Theorie

Objektkärtchen in Musemsvitrinen funktionierte – der legendäre Bassist wird namentlich aufgerufen: «My man Ron Carter is on the bass […].»158

1’37” When I get signed, homie I’mma act a fool Hit the dance floor, strobe lights in the room Snatch your little secretary bitch for the homies Blue eyed devil with a fat ass smokey I’mma buy a brand new Caddy on fours Trunk the hood up, two times, deuce four Platinum on everything, platinum on wedding ring Married to the game, made a bad bitch yours Circa 40 Jahre nach den P-Funk-Theory-Tracks klingt das überdetermi- nierte Spiel in «Wesley’s Theory», als würde Lamar schon antizipieren, was Feuilletons, die coolen Jungs der Musikmagazine oder angestrengte Mu- sik- und Kulturwissenschaftler*innen, die immer über Funk und Afrofutu- rismus schreiben, über diese wichtige Rückbesinnung und Tiefgründigkeit berichten möchten. Vielleicht befolgt das indexikalische Formenspiel aber auch die Regeln für wissenschaftliches Arbeiten und soll auch eindeutige Quellennachweise in einer theoretischen Abhandlung bieten. Quelle wird vom Bass wörtlich verstanden und klingt nach Flüssigkeit – vor allem ab 1’46”. Derek Ali, einer der Produzenten, erzählt in einem Interview:

«The [Waves] Doubler acts on Thundercat’s bass, so it starts to sound like it’s underwater, giving a real funky effect. I also had the S1 Imager on the bass, to give it more presence.»159 Einmal abgesehen von dem Unterwasser-Topos, der hier wieder einmal angerufen wird, heißt das, Ali bearbeitete den Bass mit Delay- und Pan- ning-Effekten (Plug-ins) an einer Digital Audio Workstation (DAW). Ich vermute, dass er damit das verfeinert, wofür ihm Thundercat eine starke Vorlage mit einer Reihe von zum Beispiel Moog-Fooger-Effekten gegeben haben dürfte. Ich höre Filter-, Chorus- und Flanger-Effekte, weit aufge-

158 A Tribe Called Quest (1991): «Verses From the Abstract» auf Low End Theory, Jive Records. 159 tingen, Paul (2015): «Inside Track: Kendrick Lamar’s To Pimp a Butter- fly. Secrets Of The Mix Engineers: Derek Ali», in: Sound On Sound, June 2015, online unter: http://www.soundonsound.com/sos/jun15/articles/in- side-track-0615.htm, zuletzt geprüft am 09.03.2016.

87 Zur Materie «Wesley’s Theory» drehte «Resonance»-, «Rate»- oder «Speed»-Regler eher als direkt zwischen Bass und Mischpult geschaltete Hardware denn als nachträgliche Bearbei- tungen an einer DAW. Warum das wichtig ist? Die genannten, beim Bass- spielen direkt in Reihe geschalteten Effektgeräte wirken, was beispielsweise Echo-Wiederholungen oder Wabern im Verhältnis zum Grundtempo an- geht, nicht so kalkulierbar und planbar – in gewisser Weise ungenauer. Sie schmauchen unsauber und überschlagen sich im Sound, weil sie immer auch die von ihnen selbstproduzierten Geräusche in einem sehr breiten Frequenzband übereinanderschichten. Resultate, die ausschließlich eine nachträgliche Bearbeitung der Bass-Spuren an einer DAW wären, würden sehr wahrscheinlich anders klingen. Die Effekte nehmen sich als Aktanten Raum und das ist nun bedeutsam: Thundercat wiederum reagiert in seinem Spiel deutlich unmittelbar auf die Effekte mit immer wieder neuen unge- fähren Einstellungen, Melodien und Anschlagtechniken. «As a philosophy of the future, […] bass is the guarantee of funkiness, as well as a shape giver to what might otherwise seem random. The bass is the pulse of history, a chronology, and a date-line. It is tradition and freedom at once, the timekeeper and the space for play. It can be technology, as well as hands, the reassurance of knowledge of the body and of craft in an age of colonized space and time.»160 Aus «Race Politics» werden «Bass Poetics».161

1’54” When I get signed homie I’mma buy a strap Straight from the CIA, set it on my lap Take a few M-16s to the hood Pass ’em all out on the block, what’s good? I’mma put the Compton swap meet by the White House Republican, run up, get socked out Hit the press with a Cuban link on my neck Uneducated but I got a million dollar check, like that

160 Die zitierten Zeilen, die eine gewisse Allgemeingültigkeit für Funk-Bass ha- ben, schreibt Francesca Royster eigentlich über das Bassspiel von Meshell Ndegeocello (Royster, Francesca T. (2012): Sounding Like a No-No: Queer Sounds and Eccentric Acts in the Post-Soul Era, Ann Arbor: University of Mi- chigan, S. 174, 175). Royster ergänzt zur Spezifikation: «Ndegeocello is able to highlight gaps in our conception of the funk genre, as well as in discourses about gender and sexuality» (Ebenda.). 161 Ismaiel-Wendt, Johannes (2011): tracks’n’treks. Populäre Musik und Postkolo- niale Analyse, Münster: Unrast, S. 227.

88 Mehr Theorie

An solchen Stellen wird deutlich, wie sehr die Produktion ein Zusammenfü- gen aus Schnipseln ist. Es gibt nicht mehr die Basslinie, die von irgendwo am Anfang bis zum Ende nur treu begleitet, sondern Fetzen werden montiert. Die Bassfiguren produzieren, genauso wie manche Rap-Parts, immer wieder auch metrische oder temporale Ambivalenzen, was unter anderem durch den fast stoisch und sehr geordnet wirkenden, in den Hintergrund gedräng- ten Drum-Back-Beat besonders zum Tragen kommt. Manchmal klingen die Figuren für mich so willkürlich oder frei, dass ich mir vorstellen kann, dass diese eingespielt wurden, ohne dass andere bereits aufgenommene Spuren für die Musizierenden in der Aufnahmekabine des Studios als Playback hör- bar waren. Es erscheint mir überaus schwierig, derartig eigensinnig, stellen- weise befreit von rhythmischen und melodischen Schemata, Formen kreie- ren zu können. Der Musiker und Produzent Flying Lotus war an To Pimp a Butterfly beteiligt. In einem Interview einige Zeit vor der Produktion mit Lamar erzählte Flying Lotus über Hör- und Spielgewohnheiten Folgendes:

«Battlerap macht einfach Spaß, weil die Rapper ihre ganzen Lyrics ohne Beats schreiben. So sind sie viel weitschweifender, können ganz andere Statements bringen. Wenn ich selber Texte schreibe, dann immer auf den Beat. Aber es ist cool, drüber nachzudenken, erstmal ohne Beat zu schreiben, einfach um die Ideen zum Laufen zu bringen und sie dann erst später auf den Beat zu schneidern.»162 Ähnliche Ansätze scheinen mir auf To Pimp a Butterfly zum Tragen zu kommen. Ich höre in den Konstruktionen von «Wesley’s Theory» etwas, das anders weitschweifig ist als zum Beispiel Soli im Jazz. Die Art der Phra- sierung und die Stimmabsätze in einer Zeile wie «We should never gave, we should never gave N******* money go back home» wirkt auf mich, als seien Lyrics und Musik für eine Zeit voneinander getrennt er- oder bearbei- tet worden. Die Gruppierung der Worte in Kombination mit der restlichen Klangtextur mutet für mich zumindest etwas seltsam an.

2’10” We should never gave, we should never gave N****** money go back home, money go back home We should never gave, we should never gave N****** money go back home, money go back home

162 pelleter, Malte (2015): «Flying Lotus – Making People’s Heads Explode [Fea- ture]», in: Juice, 7. Januar 2015, online unter: http://juice.de/flying-lotus- making-peoples-heads-explode-feature/, zuletzt geprüft am 10.03.2016.

89 Zur Materie «Wesley’s Theory»

Selbstverständlich sind der Track und das Album stark mit Zeichen afro-amerikanischer Kultur und Diskursen aufgeladen. Es ist eindeutig eine «Blaxploration», dennoch wäre es zu kurzschlussartig gedacht, beispielswei- se «Wesley’s Theory» einfach nur als Schwarzen Einspruch, Gegenentwurf oder Negation zum Beispiel zu Weißen Genese- und Deutungshoheits- ansprüchen in Bezug auf Theorie – gleichsam als Reflex – zu verstehen. Der African-American Cultural-Studies-Wissenschaftler Tony Bolden schreibt:

«I argue that the funk/spirit — or, more simply, the funk — operates as a di­s­ tinct form of black vernacular epistemology. Though often mischaracterized as a lack of rationality, the quasi-electric sensation that Clinton calls the plea- sure principle should be understood as an alternative form of rationality.»163 Der von Bolden gebrauchte englische Begriff «alternative» kann im Deut- schen leicht mit nur bedingt treffenden Adjektiven wie «ersetzend» oder «anders» übersetzt werden. Gemeint ist aber auch eine Alternative im Sinne einer erweiternden und ergänzenden Rationalität. Ich habe diesen Beitrag mit «Mehr Theorie» überschieben, weil es dies ist, was immer wieder aus den P-Funk-Theorie-inspirierten Tracks zu hören ist: Es gibt nicht einen Ort, Weiße Kulturen und Weiße Institutionen, denen Theoriegenese ei- gentlich zuzusprechen ist – so etwas wird schlicht nicht als Negativ-Folie genannt.164 Widerständigkeit, Alternative oder Aneignung, im Sinne von Self-Empowerment, werden nicht unmittelbar thematisiert. «Mehr Theo- rie» meint, es werden ohne Scheu mehr theoretische Sätze formuliert und angehäuft, bis auch Namen wie Sun Ra, George Clinton oder Flying Lotus und Kendrick Lamar sich als Theoretiker*innen aufdrängen und vielleicht im Zusammenhang von Theoriebildung mit als die ersten einfallen.

2’30” At first, I did love you But now I just wanna fuck Late night thinkin’ of you Until I got my nut

163 Bolden, Tony (2013): «Groove Theory: A Vamp on the Epistemology of Funk», in: American Studies, Vol. 52, No. 4, S. 10 [Hervorhebungen im Orig- inal]. 164 Auf beispielsweise ein Fortschrittsstreben von Weißen wird eher wie am Ran- de und in Konkurrenz hingewiesen: «They [Whiteys] take frequent trips to the moon», sagt Sun Ra in einer berühmten Szene im Film Space is the Place (1974), online unter: https://www.youtube.com/watch?v=mSNvdLpLx-0, zu- letzt geprüft am 10.03.2016).

90 Mehr Theorie

Tossed and turned, lesson learned You was my first girlfriend Bridges burned, all across the board Destroyed, but what for? Spätestens an dieser Stelle, in der die angerauten Stimmen von Kendrick Lamar und George Clinton so dicht im Call-and-Response beieinander lie- gen, sollte ich, wenn es mir um Substanzielles und Materialität geht, wahr- scheinlich über Roland Barthes Ausführungen zu «Le grain de la voix»165 schreiben. Vielleicht ist interessant, dass beispielsweise die Stimme Lamars sowieso fast immer auf mindestens zwei Spuren aufgenommen wird, zu- sätzliche Effekttechnologien wie Kompression und sogenannten Tube Saturation zum Einsatz kommen.166 Das dauernde Playback der Überle- gungen Barthes’ zur Stimme soll jedoch einmal ausgelassen werden, um nicht doch nur eine Theorie überzustülpen. Der Artikel des Semiotikers kann irgendwie immer passend gemacht werden.167 Wer möchte, kann die- sen Text von Barthes, der unzählige Anschlussstellen bietet, auf fast jede*n Pop-Sänger*in beziehen. Das Gehör sei stattdessen auf die Unterschiede dieses «Wesley’s Theo- ry»-Parts um 2’30” im Vergleich zu dem mit denselben großmäuligen Ly- rics rund eineinhalb Minuten zuvor gelenkt («At first, I did love you / But now I just wanna fuck / Late night thinkin’ of you / Until I got my nut […]»). Was passiert, dass der Teil in der Wiederholung mehr wie ein Ab- gesang oder Schwanengesang klingt, in der eine traurige Stimme zurück- blickt, das Ende vor sich erahnend? Lamars schlicht melodischer Gesang ist in beiden Teilen identisch. Wahrscheinlich sind seine Gesangsspuren einfach kopiert. Insofern ist der Teil also ein «Refrain» im Sinne des Wortes. Allerdings kann die Paraphra- sierung des Konzepts der «Hörsamkeit» mit dem Refrain gut nachvollzo- gen werden. Die harmonische Verzerrung von Lamars Stimme wirkt in der Wiederholung in einem veränderten Umfeld nicht mehr präsenzerhöhend und durchsetzungsstark, sondern die gleichen Effekte der Vervielfachung

165 Barthes, Roland (1994 [1972]): «Le grain de la voix», in: Eric Marty (Hg.): Roland Barthes: Œuvres complètes, Bd. 2, Paris: Seuil, 1436–1442. 166 Tingen, Inside Track. 167 Vgl. Ismaiel-Wendt, Johannes und Stemmler, Susanne (2007): «Barfußästhe- tik einer Afrikanischen Diaspora: das Körnige in der Stimme K’naans», in: Fernand Hörner und Oliver Kautny (Hg.): Die Stimme im HipHop. Untersu- chungen eines intermedialen Phänomens, Bielefeld: transcript, S. 73–85. Royster, Sounding like a NoNo, S. 120.

91 Zur Materie «Wesley’s Theory» und Anreicherung (Overdubbing, Distortion, Tube Saturation), die dem Gesangssignal Lamars hinzugefügt werden, erzeugen für mich jetzt eher eine Stimmung des Verfolgungswahns. Dieser Refrain ist insgesamt einer Choralbearbeitung unterzogen wor- den. Er wird eingeleitet durch ein sehr wirkungsvolles kinetisches Ana- phon.168 Ein Chor beugt ein über zwei Takte langgezogenes «Aaaahhhh» nach unten und imitiert damit eine abstürzende Bewegung. Spiritual und gospelartig mischen sich der Chor und George Clinton mit Wiederho- lungen von Satzteilen zwischen die Zeilen, die Lamar vorträgt. Die Wir- kung der Vielstimmigkeit ist aber nicht die Erzeugung einer Gemeinschaft, Gemeinde oder «unity»,169 sondern es entsteht eine Atmosphäre der Unru- he und Alarmierung. Es fiept und pfeift zudem hoch frequentiert. Klingelt das Telefon? Piept ein Elektrokardiogramm kurz vor einem Infarkt wegen zu viel Aufregung? Zwei Clap-Sounds, die Schüssen gleich abgefeuert wer- den, leiten die Wandlung der nervösen Beep-Sounds in melodischeres Spiel ein. Das P-Funk-Arrangement mischt sich mit einer Dr.-Dre-Klangtextur, wie sie schon lange, beispielsweise aus «Let me Ride»,170 bekannt ist.

3’00” Yo what’s up? It’s Dre Remember the first time you came out to the house? You said you wanted a spot like mine But remember, anybody can get it The hard part is keeping it, motherfucker Von einem Piep-Ton und einer kurzen Pause eingeleitet, ist die Stimme von Dre zu hören. Sie klingt, als werde sie von einem Anrufbeantworter wie- dergegeben. Einleitend ist bereits darauf verwiesen, dass die Einschreibung in Audioaufzeichnungsgeschichte nicht unbedeutsam, sondern vor dem Hintergrund kolonialer Aneignungsgeschichte durchaus wichtig ist. Und Dres Stimme über ein Telefon oder einen Anrufbeantworter vermittelt ist

168 tagg, Philipp (1995): «Beitrag zu einer Typologie des musikalischen Zeichens», in: Markus Heuger und Matthias Prell (Hg.): Popmusic yesterday – today – to- morrow. 9 Beiträge vom 8. Internationalen Studentischen Symposium für Musik- wissenschaft in Köln 1993, Regensburg: ConBrio, S. 35–46, hier S. 39, 40. 169 Friedman, Ted (1993): «Making it Funky. The Signifyin(g) Politics of George Clinton’s Parliafunkedelicment Thang», online unter: http://music.eserver. org/text/Friedman-Making.it.Funky.html, zuletzt geprüft am 09.03.2016. 170 Dr. Dre (feat. ) (1993): «Let me Ride» auf The Chronic, Death Row Records.

92 Mehr Theorie geradezu schon eine feste Formel in dieser Geschichte. «Dr. Dre uses ‹the vocoder (and sampling equipment more generally) to narrate mediated and fractured relationships›», zitiert Alexander Weheliye Tricia Rose.171 Wehe- liye hält weiterhin fest: «The ‹cell phone effect› marks the performers› re- corded voices as technologically embodied. Instead of trying to downplay the technological mediation of the recording.»172 Zur Sicherheit, falls nicht jede*r mitbekommen hat, dass Dre und seine «Voice Message» Klassiker sind, wird im Hintergrund etwas klassisch anmutendes Geplänkel auf Pseu- do-Gitarre oder Federkielzupfen eines Pseudo-Cembalos geboten. Und «Voice Message» ist auch im Sinne von «eine wichtige Botschaft mit auf den Weg geben» zu verstehen. Der Inhalt ist ziemlich leer, nur der Sound macht bedeutungsschwanger.

3’17” What you want? A house or a car? Forty acres and a mule, a piano, a guitar? Anything, see, my name is Uncle Sam on your dollar Motherfucker you can live at the mall I know your kind (That’s why I’m kind) «Am Sonnabend fraß sie [die kleine Raupe Nimmersatt] sich durch ein Stück Schokoladenkuchen, eine Eiswaffel, eine saure Gurke, eine Scheibe Käse, ein Stück Wurst, einen Lolli, ein Stück Früchtebrot, ein Würstchen, ein Törtchen, ein Stück Melone. An diesem Abend hatte sie Bauchschmerzen. […] Sie war nicht mehr hungrig, sie war richtig satt. Und sie war auch nicht mehr klein, sie war groß und dick geworden.»173

3’27” Don’t have receipts (Oh man, that’s fine) Pay me later, wear those gators Cliche and say, fuck your haters I can see the borrow in you I can see the dollar in you Little white lies with a snow white collar in you But it’s whatever though because I‘m still following’ you Because you make me feel forever baby, count it all together baby Then hit the register and make me feel better baby

171 Weheliye, Feenin, S. 46. 172 Weheliye, Feenin, S. 34. 173 Carle, Die kleine Raupe Nimmersatt.

93 Zur Materie «Wesley’s Theory»

Your horoscope is a gemini, two sides o you better cop everything two times Two coupes, two chains, two c-notes Too much and enough both we know Christmas, tell ’em what’s on your wish list Get it all, you deserve it Kendrick Die Lyrics kann ich hören und lesen, aber vieles kann ich nicht verstehen. Sie ergeben nur Sinn, wenn ich mir entlang von dem, was ich als Schlüsselwörter wahrnehme, selbst ein Narrativ bastle und passend mache. Ich höre Titel, Namen oder kann nachschauen, was Kendrick Lamar in Interviews über des Stück erzählt: M16-Gewehre in der Hood verteilen, Wesley Snipes, der Steuern nicht bezahlt …, Dr. Dre mahnt … Uncle Sam kommt und holt sich seins und so weiter, aber ist das Theorie? In «Wesley’s Theorie» werden keine Kausalsätze formuliert, die von «wenn …» auch zu «dann …» leiten. Diese Theorie meint nicht die Kennzeichnung von Realitäten, die erklärt oder be- gründet werden, und nichts wird jemals irgendwie falsifiziert.

«When I get signed, homie I’mma act a fool […] When I get signed homie I’mma buy a strap […] And when you get the White House […] Lookin’ good when you’re on top.» Es gibt kein schlüssiges «then», das diese Hypothesen vervollständigt. Es sind Anhäufungen von Bedingtheiten und Ausgangssituationen, und sie ha- ben immer wieder auch mit rassistischen Lebenswelten zu tun. Auch wenn Lebensrealitäten und Schwarzes Welterleben thematisiert werden, sollte solche «Theorie als Erzählung»174 nicht mit dem Ghetto-To- pos in vielen Hip-Hop-Tracks verwechselt werden. In den P-Funk-inspi- rierten Stücken, die «Theory» im Namen tragen, höre ich niemals auch nur ein Granular Samplechen von Selbstviktimisierung im Sinne von Darstel- lungen darüber, wie mies alles ist und wie jemand verzweifelt versucht, da rauszukommen, so wie bei Grandmaster Flash and The Furious Five:

«Broken glass everywhere People pissin’ on the stairs, you know they just don’t care

174 Die Feststellung «Theorie als Erzählung» ist hier für mich naheliegend, auch ohne Peter Zimas gleichnamigen Text gelesen zu haben (Zima, Peter V. (2012): «Theorie als Erzählung. Die Geburt des Konstruktivismus aus dem Geiste der Spätmoderne» in: Markus Arnold; Gert Dressel und Willy Viehö- ver (Hg.): Erzählungen im Öffentlichen. Über die Wirkung narrativer Diskurse, Wiesbaden: Springer VS, S. 311–329).

94 Mehr Theorie

I can’t take the smell, can’t take the noise Got no money to move out, I guess I got no choice […]»175 Das ist ein anderer Topos. P-Funk-inspirierte Theorie ist spitzfindige, sub- tile Kritik, die Ich-Erzähler*innen entwerfen ein Bild von sich als Star im All oder im Weißen Haus. Es ist eine Kritik, aber eine, die sich nicht re- flexartig an einen zugewiesenen Ort imaginiert, sondern eine, die macht- volle Räume für sich fantasiert.

4’00” And when you get the White House, do you But remember, you ain’t pass economics in school And everything you buy, taxes will deny I’ll Wesley Snipe your ass before thirty-five Das Hörspiel geht weiter. Der Anruf vom Paten Dr. Dre klingt für mich wie der Hinweis eines «Black Mr. Hitchcock», von dem die «Drei ???» sich regel- mäßig einen Rat einholen. Für die zweite Strophe verstellt Kendrick Lamar seine Stimme. Es ist ein cartoonartiges Rollen- und Stimmenspiel – auch das ist ein altbekanntes Stilmittel im Funk. Eine besondere Schizophonie wird hörbar. Während in der ersten Strophe die Stimme in gewöhnlichem Hip-Hop-Stil zeitlich relativ präzise gedoppelt wird,176 um sie vielleicht zu kräftigen oder sie potenter wirken zu lassen, sind in der zweiten Strophe durch Verzögerungen der Stimmdoppelung innere Abspaltungen des*der Ich-Erzählers*in inszeniert. Die Personalpronomen oszillieren zwischen «I» und «You» und nicht mehr, wie in der ersten Strophe, zwischen «I» und «We». Eine*r belehrt und spricht mit sich selbst: «Get it all, you deserve it Kendrick.» Tony Bolden zitiert im Zusammenhang mit seiner theoretischen Auseinandersetzung mit Funkentelechy und «black vernacular epistemolo- gy» W. E. B. Du Bois: «It is a peculiar sensation, this double-consciousness, this sense of always looking at one’s self through the eyes of others who look on in amused contempt and pity.»177 Kendrick Lamars Stimme ist deutlich zweistimmig, mit zwei Melodieführungen gesungen/gerappt. Er versprach- licht selbst die Sicht von jemand anderem auf sich selbst.

175 Grandmaster Flash and The Furious Five (1983): New York, New York (Sin- gle), Sugarhill. 176 Der Begriff «Strophe» wird zur Orientierung verwendet, obschon eine solche Formzuordnung in «Wesley’s Theory» nicht eindeutig möglich ist. 177 Bolden, Groove Theory, S. 25.

95 Zur Materie «Wesley’s Theory»

4’08” Lookin’ down is quite a drop (It’s quite a drop, drop) Lookin’ good when you’re on top (When you’re on top you got it) A lot of metaphors, leavin’ miracles metaphysically in a state of euphoria Look both ways before you cross my mind Jetzt ist alles nur noch akustische Dramatisierung. Die zweifach wahr- nehmbare Stimme des einen wird abgelöst durch eine weitere Stimme an der Kippe oder an der Klippe. Erst ein tiefes, nachhallendes «Yeah» in ein Tal hinein oder eine tiefe Höhle und dann singt George Clinton. Es ist die Stimme eines alten Mannes und der Sound lässt mich genau das erleben, was die Lyrics sagen. Der Sound ist eben auch Text oder Erzähler. Sprache, Hörspielfassung oder Soundtrack sind nur analytisch trennbare Genres. Gefährlich nah an der Abbruchkante klettert die Stimme hoch zur «Eupho- ria» und durchkreuzt wahrlich mein Gehirn von links nach rechts durch das Stereopanorama zwischen den Kopfhörermuscheln, oder wie es in den Lyrics heißt: «Look both ways before you cross my mind.»

4’25” Das zweitaktige Bassspiel in dieser Phase der dramatischen Inszenierung wirkt auf eine Art etwas albern: Achtel watscheln «quak, quak, quak, quak, quak, quak, quak, quak» vorweg und im zweiten Takt werden sie mit lang gezogenem «quaaak, quaaak, quak, quak, quaaak» beantwortet.

4’27” We should never gave, we should never gave N****** money go back home, money go back home Das Cartoonartige ist dennoch nicht lustig. Wovon ist der Begriff «Slapstick» eigentlich abgeleitet? Er würde passen, denn das Alberne tut letztlich auch weh, insbesondere in Verbindung mit den kreischenden Stimmen, die an- schließen und vor dem bösen Onkel warnen. Eben noch lockte er in der Art «Ich kann dir Limonade kaufen», jetzt aber kommt er, um einen zu holen und böses anzutun:

4’38” Tax man comin’ Tax man comin’ Tax man comin’ Tax man comin’ Tax man comin’

96 Mehr Theorie

4’42” «Wesley’s Theory» als der digitale Track eines digitalen Albums überrascht am Ende mit einem saxophonartigen an ein Schiffshorn erinnerndes Tuten. Es ist deutlich hörbar ein Episodenkennzeichen, das nicht mehr zur Klang- textur von «Wesley’s Theory» passt. Es kündigt deutlich den nächsten Track an. Der Audioplayer zeigt aber Track Nummer 2 erst nach diesem Tuten an. Derek Ali informiert:

«We really want for people to listen to this album from top to bottom, without skipping songs. This meant that the entire flow of the album had to be cohe- sive, and build in a certain way. So after we finished all the mixes we sequenced the album in a new Pro Tools session using the Lavry mix prints, and created a kind of blueprint of the album, adding effects and skits and bits and pieces to get the songs to flow into each other.»178 Die Formatierung des Albums geschieht also sehr berechnet und strate- gisch. Diejenigen, die das Album einfach durchhören, wird diese von Ali treffend mit «skits und bits» bezeichnete Strategie zur Überleitung mit den Sound-Datenstückchen nicht auffallen. Auch dieses Vorgehen kann als eine in afro-amerikanischen Musikkulturen etablierte Narrationsstrategie und Bewusstheit im Umgang mit dem Medium oder mit Datensätzen verstan- den werden.179 Es erinnert mich beispielsweise an Stevie Wonders 1976er Album Songs in the Key of Life, auf dem mit der Ordnung der Songs auf zwei 12-Inch- und einer 7-Inch-Schallplatten gespielt wird.180 Die «Skits

178 tingen, Inside Track. 179 stefan Neumann erklärt in seinem Artikel (2009) «HipHop-Skits – Grund- legende Betrachtungen zu einer Randerscheinung» (in: Fernand Hörner und Oliver Kautny (Hg.): Die Stimme im HipHop. Untersuchungen eines interme- dialen Phänomens. Studium der Popularmusik, Bielefeld: transcript, S. 121– 139) über die Bedeutung von Skits sehr treffend: «Wie später bei vielen Hip- Hop-Alben wird hier bereits der Fiktionsraum [Schallplatte] genutzt, um ein mediales Ereignis […] zu inszenieren» (S. 124). Ich beziehe mich hier zwar auch auf Neumann, führe aber anschließend gezielt das Beispiel von Stevie Wonder für den sehr reflektierten Umgang mit dem Material und Medium Schallplatte an, um – auch im Unterschied zu Stefan Neumann – jenseits des Weiß gemachten Konzeptalbum-Narrativs und Kanons (Neumann verweist auf The Beatles, The Who und Kraftwerk) zu argumentieren. 180 stevie Wonder (1976): Songs in the Key of Life, Motown. Wer das Album von vorne nach hinten (entsprechend des beigelegten 24-seitigen Booklets) durchhören möchte, muss vergleichsweise aktiv werden. Auf die eine Scheibe sind die Seiten A und C, auf die andere B und D gepresst, sodass nicht nur

97 Zur Materie «Wesley’s Theory» und Bits» auf To Pimp a Butterfly verdeutlichen noch einmal, dass Theorie nicht unbedingt nur in versprachlichten Aussagen zu finden ist, sondern sehr stark auch eine musikmachdingliche und technologische Heimat hat – dort, wo sie im Afro-Futurismus, im P-Funk und im Hip-Hop oftmals auch gesucht und gefunden wird. Ein angehängtes «Tuuut» am Ende eines Tracks kann selbstermächtigende Codierungstheoriegenese andeuten. Es liegt nun nahe, danach zu fragen was denn die Theorie sei, die letztlich in «Wesley’s Theory» generiert werde. Ich gehe davon aus, dass es da keine Theorie gibt. Oder genauer: Ich gehe davon aus, dass die «Theory» im Titel eine Rhetorik im philosophishen Sinne ist und nie auf die Darbietung ei- ner Wahrhaftigkeit oder Logik zielte. Was sollte Theorie auch sonst anderes sein als eine kunstvolle Rede oder, um nicht so sehr auf Sprache beschränkt zu bleiben, eine ästhetische Praxis. Ich gehe vor allem auch davon aus, dass ich den Track mit meinen Deutungen völlig überfrachte oder gleichsam «über-höre». Dennoch komme ich zu einem Ergebnis: Die gestalterischen Formen sind nicht willkürlich zusammengestellt und lenken meine Hör- weise. Sie machen die/meine Nicht-/Aussagen mit möglich. «Wesley’s The- ory» ist keine Theorie, wie sie sich vielleicht üblicherweise vorgestellt wird, sondern eine Theorie der Konfrontation von Diskursformen – wer möchte, kann dies im Sinne poststrukturalistischer Ansätze lesen. Allerdings wer- den weniger Aussagen organisiert, sondern eher Brüche, Schwellen und Fallhöhen umsorgt: Pfleglichst wird mit Stimmbrüchen und -abspaltungen, Röhrensättigung, Polymetrik (Momenten des Metrumverlusts), mit Rau- schen, Blubbern, Resonanzen und Knistern umgegangen.

einfach die Platten gedreht werden können, um weiterzuhören, sondern sie müssen auch gewechselt werden. Die außerdem beigelegte 7-Inch-Platte, die 33 1/3 Umdrehungen pro Minute machen sollte (also nicht wie eine Single mit 45 Umdrehungen), bedeutet nochmals einen Formatwechsel und erlaubt zum Beispiel nicht das Nutzen von Plattenspielerautomatiken, die den Ton- arm entsprechend der eingestellten Umdrehungszahl an den Anfang/den Au- ßenrand der Platte setzen.

98

Ein Audio-Loop ist noch kein Theorem Livelooping vs. dezentriertes Sampling-Wissen

Ein Audio-Loop ist noch kein Theorem

In den letzten Jahrzehnten wucherten in Sozial-, Kultur- und Kunstwissenschaften Konzepte und Metaphern, die den Glauben an Ur- sprünge und Originale ablehnen und die Kopie feiern. Dezentriertheit oder Dezentrierung von Wissen werden erkannt oder angestrebt. Die Kernlo- sigkeit von Identitäten gilt als bestätigt. Gleichzeitig werden Theorien und Manifeste entwickelt, die Dualismen zwischen «Wir» und «Anderen», «Mann» und «Frau», «Mensch» und «Maschine» überschritten und aufge- hoben wissen möchten. In postkolonialen Studien ist dieses anti-essenzi- alistische Erkenntnisinteresse zentral. Queer Studies erklären die Unsin- nigkeit starrer Körper- und Geschlechterkategorien. In soziologischen und medienwissenschaftlichen Studien werden (De-)Codierungs- und Hand- lungsverflechtungen zwischen Subjekten in Netzwerken, Medien und/oder Dingen nachgezeichnet. Diese lassen letztlich auch für die Künste Vorstel- lungen von verhandelter oder dissoziierter Autor*innenschaft sinnvoller erscheinen als die von einem essenzialisierten Künstler*innengenie und seinem*ihrem autonomen Werk. Für populäre Musik sind Konzepte wie Cut’n‘Mix, Breakbeat und insbesondere Sampling die Techniken, in denen dezentriertes Wissen eingeschrieben und sicher auch herausgebildet wur- de. Spezielle Formen des musikalischen Samplings bilden auch den Wis- sensgegenstand des vorliegenden Kapitels. Zumindest in der nordamerikanischen und europäischen Akademia gehört das Hantieren mit den angedeuteten Dezentrierungskonzepten oder mit bestimmten Namen zum korrekten Ton. Es floriert ein Post-Bin- destrich-Wissen, das zum Prinzip erhoben zu sein scheint. Im Kontext ei- ner Universalismus-Diskussion wäre heute zu fragen, ob nicht ein solches dekonstruktivistisches Wissen als so etwas wie ein Neo-Universalismus kri- tisch zu untersuchen ist. Die paradoxe Entwicklung einer «globalen Kon- tingenz-Wahrheit des Ganzen» liegt nahe, weil sich die Orte des Sprechens, Vorbedingungen, Kontexte und Paradigmen, in denen sich dieses Wissen strukturiert, nicht von denen einer eurozentristischen Moderne unterschei- den.181

181 Vgl. Mignolo, Walter (2007): «Delinking. The rhetoric of modernity, the lo- gic of coloniality and the grammar of de-coloniality», zuerst erschienen in: Cultural Studies, 21:2, online unter: http://waltermignolo.com/txt/publica- tions/WMignolo_Delinking.pdf (Stand vom 28.02.12). Siehe auch Boatcă, Manuela; Gutiérrez Rodríguez, Encarnación und Costa, Sergio (2010): Introduction, in: «Decolonizing European Sociology: Different Paths towards a Pending Project», in: dies. (Hg.): Decolonizing European so- ciology. Transdisciplinary approaches, Farnham: Burlington (Ashgate), S. 1–11.

103 Die kulturpolitische Bürde der Samples und Loops

Im Folgenden möchte ich in einem Rahmen, der einen Anti-Essentialis- mus als Leitmotiv sozial, politisch und ästhetisch weiter begehrt, exem- plarisch verdeutlichen, wie sensibel die entwickelten Theoreme der De- zentrierung auf Wirklichkeiten zu dosieren sind. Ich möchte möglichst konkret zeigen, wie bestimmte Praxen und Protagonisten sich gegen diese beispielsweise in Queer und Postcolonial Studies bevorzugten Erkennt- nisse (unbewusst) sperren.

Die kulturtheoretische Bürde der Samples und Loops

Looper, Phrase Sampler, Livelooping-Praxis und -Technologien, die sich in populärer Musik in den letzten 20 Jahren einer durchaus großen Beliebtheit erfreuten, stehen im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung. Livelooping, als spezielle Form des Sampling scheint das Potenzial «postmodernen», postkolonialen und/oder queeren WeltenWissens vor sich her zu tragen, macht es aber in der Performance kaum erlebbar. Anders und subjektiver formuliert: Ich möchte darstellen, wie es mir nicht gelingen will, das von mir bevorzugte WeltenWissen in eine zeitgenössische ästhetische Praxis einzuschreiben. Ich möchte darstellen, wie es mir nicht gelingen will, von mir geschätzte Narrationsformen oder komplexe Konzepte von Autor*in- nenschaft, die ich so gerne mit der Praxis des Sampling in Verbindung bringe, in Bezug auf Livelooping anzuwenden. Es geht nicht darum, eine mehr oder weniger neue Wahrheit über die Seins-Arten der Welt quasi uni- versalistisch zu erklären, sondern darum, zu vermitteln, dass wir Wissen als solches auch intendieren müssen.182 Kleine Unterschiede zwischen diversen Formen von Sampling und Livelooping werden im Folgenden aufgezeigt, denn sie können zu sehr unterschiedlichen Weltverständnissen führen. Das «Sample als situiertes ästhetisches Phänomen und allgemein als eine Kul-

Zum möglichen Neo-Universalismus in «Postmoderne» als einem oftmals eurozentristischen, nicht radikal inklusivem und nicht widerständigen Wissen vgl. West, Cornel (1989): «Black Culture and Postmodernism», in: Barbara Kruger und Phil Mariani (Hg.): Remaking History, Seattle: Bay Press, S. 87–96. Siehe auch hooks, bell (1990): «Postmodern Blackness (1)», in: Postmodern Culture, Nr. 1/1990, online unter: http://pmc.iath.virginia.edu/ text-only/issue.990/hooks.990, zuletzt geprüft am 25.11.2013. 182 Habermas, Jürgen (1968): Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

104 Ein Audio-Loop ist noch kein Theorem turtechnik»183 hat in den (medien-) kulturwissenschaftlichen Diskussionen der letzten Jahrzehnte besondere Aufmerksamkeit erfahren.184 Phänomene wie Sampling, technische Wiederholung, Remix oder Overdub als Rheto- rik im engeren Sinne des Wortes wahrzunehmen ist produktiv: Sämtlich bedeuten sie auch Narrationskünste, die insofern großes Dezentrierungs- potenzial aufweisen, als dass sie A-Linearität leicht erlebbar zu machen ver- mögen. Und sie sind als identitätsstiftend anzusehen, auch wenn sie «nur» eine dezentrierte Identifikation bieten. Sampling und aus Samples gebaute Loops, so verweisarm oder leer sie auch manchmal erscheinen sollen, sind weltanschaulich oder ideologisch hoch aufgeladen. Zur Illustration, als symptomatisch für die Epoche, als an- dere Weltverständnisse schaffend, wird Sampling auch in den politischeren Dezentrierungstheorieprojekten beäugt, gehört und beschrieben. Sampling und Looping stehen dort für eine andere (Geschichts-)Erzählung – jenseits eurozentristischer Chronologie, «gegen die Apartheitsstruktur traditio- nellen Wissens».185 Durch Sampling werden beispielsweise andere, Schwar- ze Referenzsysteme und Narrative entwickelt. Sampling und Looping gelten auch als ästhetischer Ausdruck einer «deeply black structure».186 Sampling steht für die Irritation von Autor*innenschaftskonzepten, wird romantisiert als Aneignungsstrategie und «Technology of Subversion».187 Es bedeutet

183 Bonz, Jochen (2006): «Sampling. Eine postmoderne Kulturtechnik», in: Chri- stoph Jacke (Hg.): Kulturschutt. Über das Recycling von Theorien und Kultu- ren, Bielefeld: transcript, 333–353, hier 339. 184 pelleter, Malte (2013): «Chop that record up! Zum Sampling als performative Medienpraxis», in: Marcus S. Kleiner und Thomas Wilke (Hg.): Performativi- tät und Medialität Populärer Kulturen: Theorien, Ästhetiken, Praktiken, Wies- baden: Springer VS, S. 391–412, hier S. 392. Vgl. auch Prior, Nick (2009): «Sampling, Cyborgs and Simulation. Popular Music in the Digital Hypermodern», in: New Formations: a journal of culture, theory, politics, 66/2009, S. 81–99. 185 eshun, Kodwo (1999): Heller als die Sonne: Abenteuer in der Sonic Fiction, Berlin: ID-Verlag, S. 105. 186 rose, Trica (2001): «Sound Effects: Tricia Rose interviews Beth Coleman», in: Alondra Nelson; Thuy Linh N. Tu und Alicia H. Himes (Hg.): Technicolor: Race, Technology and Everyday Life, New York: New York University Press, S. 142–153, hier S. 146. Vgl. auch George, Nelson (2004): «Sample This», in: Murray Forman und Mark Anthony Neal (Hg.): That‘s the joint! The hip-hop Studies Reader, New York: Routledge, S. 504–509, hier S. 508. 187 poschardt, Ulf (1997): DJ-Culture. Diskjockeys und Popkultur, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 383. Vgl. Haupt, Adam (2006): «The Technology of

105 Die kulturpolitische Bürde der Samples und Loops

manchmal die Re-/De-Konzeptualisierungen von Authentizität oder auch der «Copyright doctrine».188 Musiktechnologische Wandlung, die Humanisierung der Technologie, Verschiebung und Synthetisierung werden als Ausdruck des postkolo- nialen Welterlebens erkannt, in der Vergangenheit und Zukunft parallel existieren.189 Eine von Sklaverei und Widerstand geprägte Vergangenheit sowie eine von Rassismus und Widerstand geprägte Gegenwart sind bei- spielsweise damit gemeint. Die musiktechnologische Wandlung im Allge- meinen und Sample-Techniken im Besonderen werden in diesem Kontext als Gegendefinition zum Weißen, europäischen Humanismus, als Entwurf eines Post-Humanen gedacht und stehen im Zusammenhang mit der Frage: «Was bedeutet es, ein Mensch zu sein?».190 Sampler und Looper sind, wie eigentlich alle MusikmachDinge, weltan- schaulich aufgeladen. Gerade in den durch diese Technologien möglichen Strukturen werden postkoloniale oder koloniale Perspektiven reflektiert und generiert. Ideen der Dezentrierung von Geschichte, Irritation chro- nologischer oder dualistischer Erzählung und genauso die Verflechtungen im Mensch-Maschine-Verhältnis oder Alienation sind in feministisch und/ oder queer motivierten Studien ähnlich aktiviert.191 Und selbstverständlich, weil es sich eben nur um interessengeleitete Erkenntnisse handelt, sind ex- akt diese queeren oder dekolonial motivierten Auffassungen aus den eige- nen Reihen kritisierbar. Das geschieht beispielsweise in der Kritik an der

Subversion. From Digital Sampling in Hip-Hop to MP3 Revolution», in: Mi- chael D. Ayers (Hg.): Cybersounds. Essays on virtual music culture, New York: Lang, S. 107–125, hier S. 107. 188 schumacher, Thomas G. (2004): «This is Sampling Sport. Digital Sampling, Rap Music, and the Law in Cultural Production», in: Murray Forman und Mark Anthony Neal (Hg.): That‘s the joint! The hip-hop Studies Reader, New York: Routledge, S. 510–528, hier S. 510. 189 Campbell, Mark (2010): «Remixing Relationality: ‚Other/ed‘ Sonic Moderni- Livelooping ties of our Present», Hochschulschrift, online unter: https://tspace.library.uto- ronto.ca/bitstream/1807/32928/6/Campbell_Mark_V_201006_PhD_thesis. pdf, zuletzt geprüft am 25.11.2013, S. 292. Vgl. Goodman, Steve (2010): Sonic warfare. Sound, affect, and the ecology of fear, Cambridge: MIT Press, S. 150. 190 eshun, Heller als die Sonne, S. 211; vgl. auch Goodman, Sonic Warfare, S. 166. 191 Leibetseder, Doris (2010): Queere Tracks. Subversive Strategien in der Rock- und Popmusik, Bielefeld: transcript. Vgl. Bunz, Mercedes (2001): «Das Mensch-Maschine-Verhältnis. Medientheorie mit Kraftwerk, und Missy Elliott», in: Jochen Bonz (Hg.): Sound Signatures. Pop-Splitter, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 272–290.

106 Ein Audio-Loop ist noch kein Theorem manchmal undifferenzierten «Posthuman»-Debatte, die ein Jenseits des Konstrukts «Race» begehrt und somit vielleicht auch seine Wirkmächtig- keit bagatellisiert.192 Zwar sind Sampling und Looping nicht als Dezentrierungstechnologien per se anzusehen, sie setzen aber offensichtlich eine enorme erkenntnisbil- dende Kritik und Kraft frei. Eine exemplarische Vertiefung soll nachste- hend nur in Bezug auf eine sehr spezielle Form geleistet werden, in Bezug auf Livelooping. Livelooping und Phrase Sampler scheinen oft nichts mit der in Clubs und Wissenschaft imaginierten «Kultur des Tracks»193 zu tun zu haben. Eine (medien-)kulturwissenschaftliche oder musikwissenschaft- liche Auseinandersetzung, die zwischen Praxen wie Sampling, Breakbeat Production, Mixing, Mashing durch Rückgriff auf existierende Audiofiles und dem spezielleren MusikmachDing Livelooping differenziert, ist meines Wissens noch nicht vorgenommen worden, obwohl hier das Verhältnis zwischen «Live» und «Recording» mit seinen Echtheits- und Ursprungs- konzepten in einer außergewöhnlichen Nähe verhandelt wird.

192 Weheliye, Alexander (2012): «Desiring Machines in Black Popular Music», in: Jonathan Sterne (Hg.): The Sound Studies Reader, New York: Routledge, S. 511–519, hier S. 517. Siehe auch Loza, Susana (2001): «Sampling (hetero) sexuality: diva-ness and discipline in electronic dance music», in: Popular Music, Nr. 3/2001, S. 349–357. Loza arbeitet dort unter der Überschrift «Cy- borgs, fembots and posthumans: electronic dance music and the biopolitics of fucking machines» die technophile Aneignung des Begehrens der Denatura- lisierung zum Beispiel als gerade Westliche und Heteronorme heraus (S. 349). Wiederholung ist auch rassistisch enorm aufgeladen, was sich zum Beispiel in stereotypen Beschreibungen «afrikanischer Trommel-Musik» äußert. Siehe dazu die Kritik von Russel A. Potter an Richard Middeltons rassistischer, min- destens ethnozentristischer, dichotomer Kategorisierung von musikalischer Repetition in Traditionen von «Black Music» und europäischer Kunstmusik. Vgl. dazu Malawey, Victoria (2008): Temporal Process, Repetition, and Voice in Bjork‘s «Medúlla», Indiana University Doctoral Thesis (UMI), S. 147. 193 Bonz, Jochen (2008): Subjekte des Tracks. Ethnografie einer postmodernen/ nderen Subkultur, Berlin: Kadmos, S. 127.

107 Livelooping und was es (nicht) signalisiert

Livelooping und was es (nicht) signalisiert

Player und Recorder werden beim Livelooping mit auf die Bühne geholt. Wie beim DJing die Turntables, so wird das Abspiel- oder Wiedergabege- rät zum kreativen Kommunikationsinstrument umfunktioniert. Entspre- chend überfrachtete Vorannahmen könnten wie folgt lauten: Livelooping scheint sogar noch über diesen Moment hinaus zu wirken und offenbart unmittelbar den Mehrspur- und Overdub-Aufnahmeprozess sowie die Audio-Materialgenese. Unter den nachstehenden Thesen soll erarbeitet werden, dass diese Vorannahmen in Bezug auf die Livelooping-Praxis eine ideelle oder ideolo- gische Überfrachtung darstellen: ȤȤ Livelooping bedeutet zumeist die Rückkehr zu einem moder- nen, «natürlich zentrierten» menschlichen Autor*innenkörper. Livelooping bedeutet zumeist die Rückkehr zur Musikkultur der entzückenden Bravourleistung. ȤȤ Livelooping bedeutet zumeist eine indexikalische Überdosis. Dezentrierungswissen zu performen ist damit kompliziert. ȤȤ Wirksam sind dabei sowohl Künstler*innenkonzepte als auch technische Bestimmungen. Der Bezug zwischen diesen Thesen und der einleitende Frage nach De- zentrierungstheorien als so etwas wie einem Neo-Universalismus oder ei- ner «globalen Kontingenz-Wahrheit des Ganzen» besteht in Hinblick auf Identitäts-, Traditions-, Ursprungs- und Stilkonzepte, die im Livelooping relativ ungebrochen bleiben. Das Verhältnis zwischen «Live» und «Recor- ding», das im Livelooping in einer außergewöhnlichen Nähe verhandelt wird, bringt Sampling, als anerkannte Dezentrierungstechnologie, wieder in eine zweifelhafte Nähe zu Echtheits- und Künstler*innenbildern, Auf- führungs-und Repräsentationspraxen des modernen, zentrierten Subjekts. Die nachstehende Analyse der Praxis und der Presets im Livelooping ist als eine post-«Postmoderne», als post-postkolonial und post-Afrofuturist Studies-Diskussion zu verstehen – 15 bis 25 Jahre nach der «Aneignung» des Samples als Dezentrierungstechnologie und -theorie.

108 Ein Audio-Loop ist noch kein Theorem

Livelooping: die Rückkehr zum Autor*innenkörper und zur Bravourleistung

Zahllose YouTube-Videos (Suchbegriff:Live Looping) zeigen immer wie- der Aufnahmen von den Loop-Geräten als für sich stehende Einheiten. Nicht selten wird allein die verkabelte Loop-Maschine eingeblendet und erscheint als Wiedergabequelle für all das, was zu hören ist. Das Körper- liche erscheint massiv/das körperliche Massiv erscheint vor allem in Gestalt der Livelooping-Musizierenden. Das Sample als Klang mit Körper ist im Livelooping präsent in Form der Geschicklichkeit der Bewegungen der Per- former*in beziehungsweise des kontrollierten, an den Körper vermittelten Wissens. Der Mund, die Arme und die Fingerfertigkeit spielen eine wich- tige Rolle und bei der Nutzung von Loop-Pedalen selbstverständlich der Fuß. Mit Stimme, Mund und allen Extremitäten wird persönliche Musikali- tät, die One-Man*-Show dargestellt. Eine Livelooping Performance kommt zumeist einer typischen Multi-Instrumentalist*innen-, Musikgenie-Insze- nierung gleich. Livelooping ist im Wesentlichen Solokunst.194 Die (Selbst-) Entzückung geht von der Möglichkeit aus, alleine das zu bewerkstelligen, was sonst viele Musizierende gemeinsam tun. Diese Lust ist in Ansätzen mit derjenigen zu vergleichen, die Ulrike Ber- germann auch im Zusammenhang mit Karaoke beschreibt.195 Sie erkennt die «Selbstaffektion» als zentrales Erlebnis beim Nachsingen bekannter Songs und analysiert diese Praxis treffend als Augenblicke zwischen «phal- lische[r] Anmaßung oder ironische[m] Augenzwinkern».196 In karaoke- artigen Livelooping-Produktionen ist diese Lust am Sich-In-Die-Nähe- Der-Stars-Bringen und auch ein belustigtes Augenzwinkern zu erkennen. Zumeist sind die Darbietungen, auch wenn sie in gewisser «trashiger» Art oder Umgebung inszeniert sind, allerdings frei von jeglicher Selbstironie. Die Anmaßung geht oft über das Kopieren zum Beispiel des*der Sängers*in

194 es gibt selbstverständlich Ausnahmen, in denen Livelooping zum Beispiel in Bands zum Einsatz kommt. Eine Analyse von Livelooping-Performance mit Fokus auf Genderfragen steht noch aus. Mit einem Genderfokus ließe sich vielleicht herausarbeiten, dass für Subjekte mit dynamischen Identifikationen Livelooping doch als Dezentrierungstechnologie funktioniert. 195 Bergermann, Ulrike (2006): medien//wissenschaft. Texte zu Geräten, Ge- schlecht, Geld, Bremen: Thealit, S. 21. 196 ebenda, S. 15.

109 Livelooping: die Rückkehr zum Autor*innenkörper hinaus und beweist auch noch, dass die*der Livelooping-Performende alle anderen Rollen der Musikproduktion übernehmen könnte. Diese Darbietungen könnten als Aufführung der Konstruiertheit von popmusikalischen Produktionen vielleicht schon als subversive Strategie und Parodie verstanden werden. Tatsächlich wird in einer karaokeartigen Livelooping-Performance sogar die Originalität des abwesenden «Origi- nals» dekonstruiert, indem der aufwendige Produktionsprozess der Vorlage als unverhältnismäßig belächelt wird. Die*der Livelooping-Performerende generiert und geriert sich mit seinem neu entwickelten Produktionsverfah- ren jedoch über seine Vorlage hinaus selbst als potente*r Autor*in. Die Vor- lage muss dabei nicht ein bestimmter Star oder eine Band sein, sondern ist vielleicht sogar ein ganzer Musikstil. Im Unterschied zur enttarnten bom- bastischen Künstlichkeit der Vorlage wirkt die technisch-minimalistische, mal eben im Schlafzimmer, in Socken und Schlabber-T-Shirt alleine zu- sammengeschusterte Produktion echter und ehrlicher. Am Anfang ist da eine*r, sie*er ist der Ursprung von allem. Der Mensch erscheint als Erst- und Letztrealität. Dass dieses Bild doch noch vermittelt wird, ist in nahezu allen Darbietungen zentral. Manchmal ist ein Spiel damit zu erleben: Et- was mehrstimmig Arrangiertes ist im Intro zu hören, Silhouetten mehrerer Personen zeichnen sich ab und dann wird klar, es ist immer die gleiche Person in Kopie oder Spiegelung, die da zu sehen ist. Dann bricht das auf und wird nochmal neu von der einen Person aus aufgebaut. Der Loop-Trick wird vermeintlich verraten, wodurch die scheinbar wahre Person und ihr «wahres Können» als Zauberer*in zum Vorschein kommen.197 Livelooping ist zumeist eine Virtuos*innen- und Genie-Inszenierung. Das Geniale besteht nicht nur darin, alle Sounds und Rhythmen sowie möglichst eine breite Palette an Instrumenten oder Stimmen anbieten zu können, sondern auch darin, die Protostruktur populärer Musik, Loops, Wiederholungen, Kadenzen und so weiter, mit Leichtigkeit zu durchschauen. Livelooping ist eigentlich eine einzigartige Umkehrung und Aneignungs- strategie der wertkonservativen Kritik, die in der Kennzeichnung «No Over- dubs» auf einigen CD-Covern anklingt. Während die Etikettierung «No Overdubs» für traditionsgebundene Virtuos*innen-Inszenierungen steht und Musiker*innen zum Beispiel im Jazz dafür gerühmt werden, dass alles, was zu hören ist, live (ein-)gespielt sei, also dass Tonspuren nicht stückwei- se und nacheinander produziert sind, gilt im Livelooping die Präsentation

197 Vgl. Mulholland, Mat (2011): «Bohemian Rhapsody by Queen – A Cappella Multitrack», 13.2.2011, http://www.youtube.com/watch?v=4fIlMfIQskE, zu- letzt gesehen am 30.11.2013.

110 Ein Audio-Loop ist noch kein Theorem des Overdubbing selbst als zentral. Die Technizität des Sampling und Over- dubbing verschwindet jedoch hinter einer Re-Humanisierung, indem die musikalische Verantwortung allein den menschlichen Akteur*innen in den Mund, die Hände und an die Füße gelegt wird: Die spezielle Anwendung im Live-Modus lässt keine Versuche und schon gar keine Fehler mehr zu. Eingebundene Geräte müssen lediglich wiedergabetreu sein. Der Umgang mit dem Loop-Tool findet als Kunst des Selbermachens Anerkennung. Es ist nicht verwunderlich, dass Livelooping zum einen in Wettbewerbskon- texten Anwendung findet und zum anderen in Musikrichtungen beliebt ist, in denen vermeintlich ehrlicher Selbstausdruck anaphon durch «handge- machte Musik» vermittelt wird, wie bei Singer-Songwriter*innen.

Dub und Totems

Die Annahme, dass sich «Sampling als eine genuin technik-kulturelle Pra- xis»198 einer ästhetischen Betrachtung verweigere, «die auch heute noch in den so oft bereits verabschiedeten Kategorien des Künstler/Subjekts und des Werks/Objekt denkt»199, ist in Bezug auf die Livelooping Praxis nicht ohne weiteres zu übertragen. Ebenso muss die Vorstellung, dass «ein ein- sames Künstler-Genie nicht auszumachen» sei200, als etwas verstanden sein, das etwa Kulturtheoretiker*innen gerne grundsätzlich in die Technologie des Sampling hineinlesen und -hören möchten. Des Weiteren gibt es die Annahme, dass Samplings als bis zur Herkunftsunkenntlichkeit bearbeite- te Sounds keine äußere Quelle mehr referenzialisieren.201 Diese Annahme ist ebenso nur als eine ideologisch aufgeladene oder als Dezentrierungs- wunschdenken zu verstehen. Der Referenz-Exzess oder die Zeichenhaftig- keit der Livelooping Sounds wird beispielsweise in Dub-Livelooping-Dar- bietungen auf Straßen deutlich. Dub-Bässe oder gar Dubstep Bass Wobbles werden dann zwar als klangliche, auch sehr tiefe Imitationen eingeflochten. In Ermangelung einer Anlage, die für die offene Straßenakustik leistungs- stark genug wäre, können diese aber in keiner Weise unmittelbar physisch

198 pelleter, Chop that record up!, S. 401. 199 Ebenda. 200 Ebenda. 201 ebenda, S. 396. Siehe auch Ismaiel-Wendt, Johannes (2011): tracks’n’treks. Po- puläre Musik und Postkoloniale Analyse, Münster: Unrast, S. 194.

111 Livelooping und Starrsinn und ästhetisch wirken.202 Sie wirken dann höchstens über den Umweg der Imagination. Livelooping schafft samplebasierte Audiostücke, sie referen- zialisieren aber nur so etwas wie Tracks und Track-Erleben. Diese Kopien sind nicht als Re-Mixes oder Versions wahrzunehmen. Es entstehen kei- ne idiosynkratischen Rauminszenierungen, wie sie etwa im Dub wichtig sind. Die surreale Inszenierung, die in Dub Tunes und vielen Track-Stilen durch ihre Synthetik oder die Sample-und Loop-Basis möglich ist, wird in der Livelooping-Praxis zumeist nur eine Art «surrealer Realismus». Live Looping in der vom menschlichen Subjekt ausgeführten Praxis ist, nach Diederichsens Typologie der Klangzeichen203, zuallermeist als Zitieren von musikalischen «Totems» und stilistischen «Fetischen» wahrzunehmen, die zur Wiedererkennung eingespielt werden. Die Klangzeichen affizieren des- halb nur sehr schwach, weil das Auswendige selten in voller sonischer Ma- terialität in den Vordergrund tritt.

Livelooping und Starrsinn

Die Handlungsverflechtungen zwischen Livelooping-Ding und mensch- lichem Subjekt sind als besondere und außergewöhnlich enge zu verste- hen. Denn der Auto-mat muss nicht zwingend nur als auftragserfüllender Wiederholer des Inputs des menschlichen Subjekts fungieren, sondern er kann als Co-Komponist agieren. Der motivische Einfall einer Musiker*in wird vielleicht erst durch die Wandlung im Looper und durch die Wie- derholung vervollständigt. In dieser Weise versteht Michael Meierhof die Wirksamkeit von Echogeräten.204 Bei Vergleichen der Wirkungen der sich ähnelnden Techniken in Performances und Aufnahmen fällt auf, dass zum Beispiel Echo- oder sogenannte Delay-Pedale sehr viel häufiger zur akus-

202 Dub FX (2008): «10/10/2008 Love Someone», https://www.youtube.com/ watch?v=UiInBOVHpO8, zuletzt geprüft am 16.03.2016. 203 Diederichsen, Diedrich (2008): «Drei Typen von Klangzeichen», in: Holger Schulze (Hg.): Sound Studies. Traditionen – Methoden – Desiderate; eine Ein- führung, Bielefeld: Transcript, S. 109–123, hier S. 109. 204 Maierhof, Michael (2005): «Der Standard-Kilometer des Komponisten. Echo, Raum und Wiederholungen in der Musik», in: Sabeth Buchmann; Thomas Baldischwyler und Erich Pick (Hg.): Wenn sonst nichts klappt – Wiederho- lung wiederholen. In Kunst, Popkultur, Film, Musik, Alltag, Theorie und Praxis, Hamburg, Berlin: b-books, S. 132–136, hier S. 132.

112 Ein Audio-Loop ist noch kein Theorem tischen Rauminszenierung und Soundgestaltung verwendet werden als Loop-Pedale, die zur vordergründig orchestralen Inszenierung genutzt wer- den. Selbstverständlich definiert ein solcher Vergleich nicht absolute Unter- schiede, und selbstverständlich ist die orchestrale Inszenierung zwingend auch eine soundgestalterische. Die Schichtung der Sounds in Liveloopings drängt sich aber zumeist als eine Mehrspurinszenierung auf, in der die ein- gespielten Phrasen noch wie einzelne Instrumentenspuren deutlich vonei- nander getrennt hörbar bleiben. Im Unterscheid vermischen sich besonders in sehr kurzen echohaften Wiederholungen die Soundschichtungen zu ein- heitlicheren Impulsen. Das heißt auch, dass Rhythmus und Melodie bei sehr kurzen Echos wesentlich durch die Wiederholungsstruktur selbst entstehen (Delay Time und Feedback), während bei längeren Phrase Samples, wie der metaphorische Name sagt, der Rhythmus, Melodien und Harmonien in- nerhalb einer Laufzeit der Wiederholung eingeschrieben sein können. Dies begründet auch die Einschätzung, dass EchomachDinge stärker in der aku- stischen Rauminszenierung und Soundgestaltung Verwendung finden und Livelooping zuvorderst die Imagination der Band oder des Orchesters er- wirkt. Livelooping muss, was das Produzieren von Loops aus Samples betrifft, im Vergleich zu anderen Sample- und Mixing-Techniken als recht grob wahrgenommen werden. Die «Technik» fordert oftmals eine Looplänge von mindestens einer Sekunde.205 Damit ist ein feines Sezieren von vorhan- denem Audiomaterial nicht möglich. Dieser technische Hinweis bezieht sich auf solche Geräte, die explizit als Livelooping-Pedale vertrieben wer- den und nicht als zum Beispiel Echopedale. Konstruktionstechnisch, das machen die Echopedale deutlich, liegen eigentlich keine Gründe für den «Zwang zur Phrase» vor, sondern Konventionen und Vorstellungen von Songwriting. Presets be- und entstehen scheinbar in menschlichen Köpfen, nicht automatisch in MusikmachDingen. In der Praxis des Sampling und seit jeher in der Geschichte der elek- tronischen und elektroakustischen Musik ist das Spiel mit Zählzeiten als rhythmische Phasen sowie der Umgang mit Hüllkurven von Tonlautstär- ken zentrales gestalterisches Element. Durch das Spiel mit Attack (An- stieg), Decay (Abfall), Sustain (Halten) und Release (Freigeben) (ADSR) von Tönen, durch das Abschneiden oder Umkehren von Ein- oder Aus- schwingzeiten, können Vor-stellungen von Tonentwicklungen gezielt irri-

205 Die Loop-Station der Marke Boss verlangt eine Mindestaufnahmezeit von 1,5 Sekunden, siehe dazu die Bedienungsanleitung http://www.rolandmusik.de/ downloads/anleitungen/pdfs/r/RC-2.pdf, zuletzt gesehen am 25.11.2013, S. 14.

113 Phrase Samples tiert werden. «Unnatürlichkeit», «Künstlichkeit» oder das «Synthetische» kann so inszeniert werden. Das Spiel mit Hüllkurven und genauso mit der rhythmischen Tatsache, dass Zählzeiten nicht exakte Punkte, sondern Pha- sen sind, macht es gerade in der elektronischen Musik so leicht möglich, idiosynkratische Welten zu inszenieren – neue akustische WeltenRäume, wie wir sie uns nur schwer vorstellen können, zu schaffen. Grundsätzlich bestehen diese Möglichkeiten, in andere WeltenRäume zu entführen, im- mer in der Musik. Nur ist, metaphorisch formuliert, beim Livelooper der Weg in das Sample hinein nicht in der Weise primär angelegt bzw. leicht zu beschreiten, wie es bei vielen anderen elektronischen MusikmachDingen in Form von greifbaren oder virtuellen ADSR Reglern oder in Form von grafischen Darstellungen der Klangkurven der Fall ist. Im Livelooping gerät die Möglichkeit des filigranen und irritierenden Umgangs mit der Gestalt des kurzen Klangzeichens weit in den Hinter- grund. Stattdessen wird die Phrase wesentliches Gestaltungsmittel, die uns floskelartig an bekannte Welten erinnert. Die viel zu lange Phrase ist nur schwer als nicht schon aufgeladenes Zeichen zu spielen und wahrzunehmen. Livelooping kann nach der vorangestellten Analyse aber nicht einfach zum Gegenteil von unbekannte Welten inszenierendem Sampling erklärt werden, so wie «man humanistischen Rhythm & Blues nicht einfach zum Gegenteil von posthumanem Techno erklären»206 kann. Livelooping Ak- teur*innen werden mir beweisen können, dass sie in diese MusikmachDinge ganz anderes Wissen hineinspielen und -hören können, als ich behaupte. Das muss so sein, weil auch Livelooping nicht nur einen Kern oder eine Identität oder eine Seins-Art haben kann. Sie werden mir beweisen, dass es auch eine Frage und ein Akt des Hineinschreibens des*der Autoren*in ist.

Phrase Samples

Das Vorangestellte lässt einen bedeutsamen Loop aus: Die Dezentrierungs- theorien der Protagonist*innen etwa postkolonialer Studien sind nicht wie- derholt worden. Dies geschieht nicht aus Missachtung oder wegen einer Kri- tik an entwickelten dekonstruktiven Strategien. Beispielsweise das von Homi Bhabha favorisierte Konzept der Mimikry, in dem Repräsentation von Iden-

206 Eshun, Heller als die Sonne, S. -007.

114 Ein Audio-Loop ist noch kein Theorem tität und Bedeutung entlang der Achse der Metonymie reartikuliert wird207, könnte im Zusammenhang von Livelooping sicherlich sehr leicht brauchbar gemacht werden. Es muss aber eben gebraucht werden. Ein Audio-Loop ist noch kein Theorem. Das sei mit der hier entwickelten Auseinandersetzung entlang dieser besonderen Form des Sampling verdeutlicht, dass es sich bei postkolonial und/oder queer informierter und motivierter Dezentrierung um politische Theoriebildungsprojekte handelt, also dass dieE rkenntnisse auch aktiv an Dinge heran- und aus ihnen herausgetragen werden müssen. Sie taugen nicht als Universal(-ismus)-Wissen. Plakativ formuliert ist nach dieser Post-Bindestrich-Theoriebildung fol- gendes zu konstatieren: Livelooping, Phrase Sampler – alles ist nachvollzo- gen und scheinbar begriffen: die Erkenntnis der multiplen, wandelbaren Identitäten, Performance und das Performative und der entsprechende «Trouble», das Theatrale der Kultur, die Protostruktur dessen, was uns die vermeintlichen Eliten verheimlichen, das Zitieren und Remixen, Cyborg- und Alienation-Manifeste. Aufgeführt wird dennoch gerne in Formaten, die in der klassischsten europäischen «Moderne» erfunden worden sein könnten. Livelooping ist selbstverständlich nicht als koloniale ästhetische Praxis anzunehmen. Umso bemerkenswerter ist, das diese Musikmach- Dinge exakt zur gleichen Zeit Konjunktur haben, in denen Dezentrierungs- theorien (post de Saussure, Foucault, Said, Butler, Spivak, Bhabha, Hall,…) und durch diese stützbare Sampling Theorien ebenso florieren. Dieses nur scheinbar weltenweit Verstandene verdeutlicht also weiterhin, dass die Kennzeichnung «post-» richtig gewählt ist. Sie markiert nicht einen epoch- alen Zustand nach der Erkenntnis, sondern einen Dezentrierungs-Neozen- trierungs-Loop, der glücklicherweise auch in Varianten gespielt wird.

207 Bhabha, Homi K. (2000): Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenburg, S. 133.

115

Session im Formular Über Liveness und Improvisation, Verwaltungsakte, panoptische Tabellen, wohltemperierte Audiofiles, Musik-Fertig-keiten und also auch Ableton Live

Session im Formular

Aus der Werbung für die Software Ableton Live 9:

«In Lives einzigartiger Session-Ansicht können Sie leicht mit musikalischen Ideen improvisieren. Live 9 macht die Ansicht noch flexibler: Änderungen von Parametern lassen sich dort jetzt direkt aufzeichnen. Bearbeiten Sie die Hüllkurven später mit der Maus, um sanfte Übergänge oder abrupte Wechsel innerhalb Ihrer Clips zu erreichen. Mit einem einzigen Klick lassen sich aus Arrangement-Spuren neue Szenen in der Session-Ansicht erzeugen und einzelne Clips – samt Automation – aus der Arrangement- in die Session-Ansicht ziehen: Noch nie war es so einfach, zwischen Improvisieren und Arrangieren zu wechseln.»208

W. B. Cameron in «Sociological Notes on the Jam Session» (1954):

«The jam session is a transitory recreational association of an élite. It is an informal but traditionally structured association of a small number of self-se- lected musicians who come together for the primary purpose of playing mu- sic which they choose purely in accordance with their own esthetic standards and without regard for the standards of the buying public or any acknowled- ged organizational leader or critic.»209

E. A. Ewert in «Organisationsmodelle für Formularservices» (2004):

«[Formulare sind] vorgefertigte Bearbeitungsraster, die zweckmäßig gestaltet sind und einen einheitlichen Aufbau haben. [Es sind] Erfassungsbögen bzw. -masken, die individuelle Daten für administrative Bearbeitungsprozesse in normierter Form sammeln.»210 Das Statement in der Überschrift «Session im Formular» und die Zusam- menführung der einleitenden Zitate scheinen paradox: Sessions von Mu- sizierenden zeichnen sich durch eine Verlaufsoffenheit aus. Formulare sind hingegen durch die Praxis des Aufschreibens, ihre starren Vorgaben, durch Rasterung zur Übersichtlichkeit, normierende Standardisierung, Wiederholung, Möglichkeiten zur Auswertung und Nachbearbeitung ge-

208 Online unter: https://www.ableton.com/de/live/new-in-9/, zuletzt geprüft am 21.11.2014. 209 Cameron, William Bruce (1954): «Sociological Notes on the Jam Session», in: Social Forces, Vol. 33, No. 2, S. 177–182, hier S. 177. 210 ewert, Erhard A. (2004): «Organisationsmodelle für Formularservices», in: Christoph Reichard (Hg.): Das Reformkonzept E-Gouvernement. Potenziale – Ansätze – Erfahrungen, Münster: LIT, S. 95–110, hier S. 96.

119 Einleitung kennzeichnet. Formulare passen auf den ersten Blick nicht zu Sessions oder Improvisation. Nach einem zweiten, intensiveren Blick, so soll nachstehen- der Beitrag verdeutlichen, lässt sich jedoch sehr wohl fließend von einem Phänomen in das nächste mäandern.211 Im Folgenden soll das (vielleicht doch gar nicht so) komplementäre Ver- hältnis zwischen musikalischen Sessions, Improvisation, Spontanität, Un- vorhersehbarkeit und Formularen212, Tabellen, bürokratischer Verwaltung und mehr oder weniger vorbereiteter Musik nachvollzogen werden. Anlass dafür ist nur bedingt die musikwissenschaftliche und kultursoziologische Dauerdiskussion über Improvisation und/versus Komposition beziehungs- weise die kultursoziologische Erforschung des Habituellen in der gemein- hin mystifizierten freien oder intersubjektiven musikalischen Technik der Improvisation.213 Den Anlass bietet die zurzeit besondere Beliebtheit des Musikproduktionsprogramms Ableton Live (AL) und im Speziellen das breit wahrnehmbare geradezu Feiern eines als «innovativ» geltenden Ele- ments dieses Programms: die sogenannte «Session View» oder «Session Ansicht» (SV).214 In zahlreichen Äußerungen über die Bildschirmansicht

211 Die Konzepte, Techniken, Begriffe «Session», «Jam Session» und «Improvisa- tion» werden im vorliegenden Text nicht explizit erläutert oder trennscharf unterschieden, sondern ihre Bedeutung wird gezielt in der Schwebe gehalten. Der Text versucht im Verlauf zu entwickeln, was Session heute in Musikzusam- menhängen meinen könnte, bzw. macht deutlich, dass es keine fixen Definitio- nen für sie geben kann. Das Gleiche gilt auch für den Formularbegriff, den ich nutzbar machen, aber nicht starr definieren möchte. Session und Formular sind Konzepte, die in unterschiedlichen Kontexten variierende Bedeutungen haben. 212 Derzeit arbeiten Alan Fabian und ich an der Stiftung Universität Hildesheim zu- sammen über verschiedene technische/technologische Ausformungen von Mu- sik-Formularen und Presets. Diese Arbeit ist Teil des Forschungsschwerpunkts «MusikWeltenWissen» am Institut für Musik und Musikwissenschaften. 213 Die Mystifizierung von Improvisation erkenne ich in Formulierungen wie beispielsweise der Folgenden: «In virtuosen Improvisationen zeigt man wäh- rend der Performance das, was man schon weiß und was man tun kann. An- dere Improvisationen versuchen eher, in noch unerforschte und unbekannte Gebiete einzudringen, um neue Entdeckungen zu machen», so schreibt Ales- sandro Bertinetto in seinem Artikel «Improvisation: Zwischen Experiment und Experimentalität» (online unter: https://www.dgae.de/downloads/Ber- tinetto.pdf, zuletzt geprüft am 27.03.2015). Die Abenteurererzählung vom Aufmachen in unbekannte Gebiete bleibt in der typischen Definition dessen, was Improvisation meint, immer wieder eine nicht weiter erklärte. 214 enders, Bernd (2013): «Vom Idiophon zum Touchpad. Die musiktechnolo- gische Entwicklung zum virtuellen Musikinstrument», in: Beate Flath (Hg.):

120 Session im Formular

SV der digitalen Audio-Software AL werden die einzig- und neuartigen Möglichkeiten zur raschen Manipulation von Soundmaterial gelobt. Fast wie im Werbetext betonen Nutzer*innen sehr häufig, dass das Programm mit dieser Oberfläche zum spontanen Experimentieren einlädt.215 In AL gibt es zwei Ansichten: die SV und die «Arrangement View».

«In Lives Arrangement-Ansicht […] geschieht wie bei traditionellen Sequen- zer-Programmen alles im Song entlang eines feststehenden Zeitlineals. In verschiedenen Situationen stellt dies eine Einschränkung dar: ȤȤ beim Live-Spielen oder DJing steht [sic!] die Reihenfolge der Stücke, die Länge einzelner Stücke und die Reihenfolge der Teile innerhalb eines Stücks teilweise nicht vorher fest; ȤȤ im Theater muss der Klang auf das reagieren, was auf der Bühne passiert; ȤȤ wenn man an einem Musikstück oder an Filmmusik arbeitet, kann es effi- zienter und inspirierender sein, zuerst mit einer Improvisation zu begin- nen, die erst später zu einer fertigen Produktion verfeinert wird. Dies sind genau die Anwendungen, für die Lives einzigartige Session-Ansicht gedacht ist.»216 Die SV zeigt vor allem eine Tabelle, in deren Kästchen Audiofiles «abgelegt» werden können. Diese Kästchen bzw. deren Inhalte werden Clips genannt. «Die Clips können in jeder beliebigen Reihenfolge abgespielt werden. Ihr Layout auf dem Bildschirm sagt nichts über ihre zeitliche Abfolge aus; die Session-Ansicht bietet einen völlig freien Zugriff auf die enthaltenen Clips.»217 Die Kästchen lassen sich nutzen wie viele kleine Audioplayer, mit denen einzelne Audiofiles in willkürlicher Reihenfolge hintereinander oder auch gleichzeitig einmal oder als Loop abgespielt werden können.

Musik/Medien/Kunst. Wissenschaftliche und künstlerische Perspektiven, Biele- feld: transcript, S. 55–74, hier S. 67. 215 Quellen des Lobes für Ableton: siehe unten im Haupttext. Im Jahr 2014 ist nach einem langen Betatestvorlauf die Software Beatwig auf den Markt ge- kommen. Diese Digital Audio Workstation bietet unter anderem sehr ähn- liche Bedienoberflächen wie Ableton mit SV und Arrangement View. Von Bezeichnungen oder Logos abgesehen, ist der vorliegende Artikel auch auf viele andere Digital Audio Workstations zu beziehen. 216 Online unter: https://www.ableton.com/de/manual/session-view/, zuletzt ge- prüft am 30.03.2015. 217 Ebenda.

121 Einleitung Abbildung 1: Ableton Live 9 «Arrangement View» 9 «Arrangement Live 1: Ableton Abbildung

122 Session im Formular ession View» ession Abbildung 2: Ableton Live 9 « S Live 2: Ableton Abbildung

123 Einleitung

«Zunächst wurde Ableton Live als Software für die loop-basierte Musikpro- duktion entwickelt, die Einsatzmöglichkeit als DJ-Tool hat sich erst mit der Zeit ergeben. Die Besonderheit liegt dabei in der [sic!] performativen Cha- rakter der Software, da sämtliche Schritte in Echtzeit während des Abspielens erfolgen können. Der Session-Modus bietet dabei viele Möglichkeiten zum improvisierten Live-Arrangieren der verschiedenen Segmente».218 In Musikforen im Internet werden diese Möglichkeiten zum Umgang mit Clips und die Synchronisationsalgorithmen, die AL für die Clips bietet, die hier aber nicht im Detail erläutert werden müssen, immer wieder hoch gelobt: Ein*e Nutzer*in mit dem Namen Spherop schreibt im Forum cockos.com:

«LIVE’s session view is a paradigm shifting juggernaut. It’s something I have not found in another DAW [Digital Audio Workstation, JIW] yet is so cruci- ally useful.»219 Unter recording.de ist folgender Text zu lesen:

«Der große Vorteil von Ableton Live ist hingegen die Möglichkeit, einzelne Audio- und MIDI-Schnippsel [sic!] zu einem festgelegten Tempo frei mitei- nander zu kombinieren, ohne dafür auf ein lineares Arrangement zurückgrei- fen zu müssen. Mit dieser Software lässt sich also vortrefflich improvisieren und so zum Ziel kommen.»220 Ein*e Nutzer*in mit dem Namen Tauranid schreibt:

«Ich bin vielleicht als ausschließlicher Live-Nutzer etwas voreingenommen, aber würde dir auf jeden Fall Ableton Live empfehlen – eventuell später auch mit dem Upgrade auf die Suite-Version – das lohnt sich wirklich (inzwischen gibt es ja schon Ableton Live 9). Live ist in meinen Augen sehr übersichtlich und logisch/verständlich, außerdem ist es super geeignet, um (wie der Name vermuten lässt) […] live zu spielen und zu improvisieren, um sich inspirieren

218 Wendlandt, Florian (2008): «Digital DJing. Medienwandel und DJ-Culture», Magisterarbeit im Studiengang Angewandte Kulturwissenschaften, Leuphana Universität Lüneburg, online verfügbar unter http://www.audio.uni-luene- burg.de/texte/ma_wendlandt.pdf, zuletzt geprüft am 27.03.2015, S. 82. 219 Online unter: http://www.cockos.com/archive/index.php/t-4961.html, zu- letzt geprüft am 30.03.2015. 220 Online unter: http://www.recording.de/Themenwelten/Style_Guide_Emu- sik/Tipps_und_Tricks_zum_Start_in_die_eigene_Musikproduktion/index. html, zuletzt geprüft am 30.03.2015.

124 Session im Formular

zu lassen – aber auch wenn du nicht live spielen willst, sondern Tracks von vorne bis hinten durcharrangieren willst, ist es prima geeignet.»221 Ein*e Nutzer*in mit dem Namen Mrkanister 23 schreibt:

«[Ich] würde […] dir auch Ableton empfehlen. Mich hat es auch abgeschreckt auf den ersten Blick, aber nach 3 Jahren Arbeit damit, lassen sich erstaunliche Resultate damit erzielen und ich bin vom Lernprozess her noch längst nicht durch. Du kannst damit soooo viel machen und der Workflow ist genial + Live Auftritte sind extrem geil möglich.»222 Im extremen Gegensatz dazu ist mein Eindruck der SV folgender: Auf den ersten Blick erscheint die angeblich so zur Session geeignete Musikproduktionsoberfläche als eigentlich nichts anderes als eine überaus schlichte Tabelle. Wie ein Formular kann ich die Kästchen ausfüllen. Weiteres Wühlen unter diesem ersten Tabellenbild bringt immer nur neue Raster und Kästchen zum Vorschein, die immer wieder gleiche Informationen vererben und abfragen. Das Programm gleicht Gitterstäben für Sound oder Beats und erinnert mich in sei- nem Design an einen Tipp aus Borries Schwesingers hervorragenden Grafikdesign-Band «Formulare gestalten»: «Kästchentabellen werden schnell zum ‹Datengefängnis›. Das Gefängnis wird aber ein bisschen schöner, wenn nicht alle Linien gleich dick sind und entweder die Ho- rizontale oder die Vertikale betont wird.»223 Und einen solchen Rat haben die Designer von AL offensichtlich befolgt, dazu sind dieE cken der Tabellen und Matrix-Felder abgerundet.

Erinner____lücken

Ziel dieses Beitrags ist es nicht, durch die Auseinandersetzung mit der Soft- ware AL und der SV, so schillernd wie diese in den letzten Jahren ob ihrer Beliebtheit scheinen, überraschende Erkenntnisse in Bezug auf die spezielle

221 Online unter: http://www.musiker-board.de/threads/viele-anf%C3%A4nger fragen-daw-samples-usw.587344/, zuletzt geprüft am 30.03.2015. 222 Online unter: http://www.musiker-board.de/threads/viele-anf%C3%A4nger­ fragen-daw-samples-usw.587344/, zuletzt geprüft am 30.03.2015. 223 schwesinger, Borries (2007): Formulare gestalten. Das Handbuch, Mainz: Hermann Schmidt, S. 187.

125 Erinner____lücken

Software zu generieren. Schon gar nicht geht es um eine Bewertung oder Rezension dieser Audio Workstation. Der Ansatz in dieser Technologie For- mulare zu erkennen, soll auch nicht gleichbedeutend damit sein, hier würde eine anspruchsvolle These ganz neu erarbeitet. Überraschend ist vielmehr, wie wenig Beachtung der Analogie zwischen MusikmachDingen, ihren Oberflächen und Formularen trotz ihrer Offensichtlichkeit geschenkt wird. Trotz permanentem Umgang damit scheint eine Erinnerungslücke in Bezug auf das Erkennen der Musikformulare bei den Nutzenden zu klaffen (Am- nesie). Aufschlussreich ist – und dieser Komplex sei nachstehend immer wieder umkreist –, dass trotz des allgemeinen Wissens darum, dass Anwen- dungssoftware uns mit Verwaltungsmetaphern umgehen lässt, in Bezug auf Audio-Software selten die Nähe zu Verwaltungsakten offengelegt wird. Ver- deckt wird diese Praxis mit oder in den Oberflächen oder durch esoterisch und szene-typisch aufgeladene Kennzeichnungen wie eben «Live» oder «Session» oder Symbole, die den Nutzenden den Eindruck vermitteln sol- len, sie würden in Schallplattenkisten wühlen statt in fast endlosen Listen.224 MusikmachDinge – und das ist an dieser Stelle nicht metaphorisch ge- meint – sind in vielerlei Hinsicht aufgebaut wie Musikformulare. Wie die ausfüllbare SV-Tabelle sind sie filternde Lückentexte – sie sind es buchstäb- lich, wenn auch die Programmierungen und Schaltungen als Texttypen gelesen werden. Der Sozialphilosoph und Phänomenologe Jürgen Frese erklärt in seiner Theorie des Formulars:

«[D]as Formular […] [kann] beschrieben werden als bereits teilweise ausge- füllte, dadurch inhaltlich stark vorgeprägte Struktur mit bestimmten Leerstel- len, in die individualisierende Charakteristika, Daten und Fakten eingetragen werden können. Ein Formular ist mehr als bloß strukturelle Festlegung mög- licher Erfüllungen, aber weniger als inhaltliche Determination.»225

224 Der Musik-Streaming-Dienst «Spotify» bezeichnet interessanterweise das Hören von Musik mit «Spotify» auch als «Session». Damit wird die aktive Dimension des Musikkonsumierens, aber auch des Auswählens und des Zu- sammenstellens von Playlisten betont. Playlisten-Erstellen wird zum Event (vgl. Papenburg, Jens Gerrit (2013): «Soundfile. Kultur und Ästhetik einer Hörtechnologie», in: Pop. Kultur und Kritik, Heft 2, S. 140–155, online unter: http://www.uni-muenster.de/Ejournals/index.php/pop/article/view/1051, zuletzt geprüft am 27.03.2015, hier S. 145). 225 Frese, Jürgen (1985): Prozesse im Handlungsfeld, München: Boer, S. 155.

126 Session im Formular

Die Formulare funktionieren dann durchaus wie und mit Metaphern als rhetorische Figuren, bestimmen das Denken und sind handlungsleitend.226 Die AL-Oberflächen und die Zeichenebene der SV sind übersät mit Me- taphern. Zu hantieren ist mit Stift, Ordnern, Gliederungen und Tabellen. Ich möchte diese dennoch nicht als etwas «Un-eigentliches» analysieren, sondern als genau das, womit Nutzer*innen auch umgehen. Die Formulare sind auszufüllen: Häkchen setzen, Clips beschriften, formatieren, ordnen, duplizieren, konsolidieren, sammeln, sichern, zuweisen, Konten führen – auf einer ganz handfesten, praktischen Ebene werden im Musikproduk- tionsprozess in AL und selbstverständlich in allen anderen Digital Audio Workstations Verwaltungs- oder Bürotätigkeiten ausgeführt. Es bedeutet – digital oder nicht, Metapher oder nicht – zuallererst administratives Mu- sikmachen.227 Das ist in erster Linie offensichtlich keinS paßkonzept und kein Pop-Hedonismus, sondern ein Arbeitskonzept.228 Der Begriffskom- plex «Formulare und Improvisation» führt mich auffälligerweise in der Re- cherche immer wieder zu Fachliteratur des Projektmanagements und der Organisationsentwicklung – nicht zu ästhetischen Praxen wie Musik und Theater, genauso wenig wie etwa zur Musikwissenschaft. Die Umkreisungen dieses Beitrags sollen zu einer Fragestellung führen, die die Programmierung oder Algorithmen des Sequenzers und der Lo- op-Tabellen nur mittelbar betreffen, unmittelbar aber auch kulturwissen- schaftlich interessiert am Verständnis von Metaphern und Formularen ist:

226 Junge, Matthias (2010): «Einleitung», in: ders. (Hg.): Metaphern in Wissens- kulturen, Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss, S. 5–11, hier S. 7. 227 Die Programmierung und das Editing sind nicht etwas anderes als administrati- ves Musikmachen, sondern wahrscheinlich noch eine gesteigerte Form dessen. 228 Ich gehe davon aus, dass nicht erst empirisch erhoben werden muss, dass die meisten Menschen eigentlich keine Lust darauf haben, Formulare aus- zufüllen. Finanzämter beispielsweise müssen manchmal sogar solche Bürger*innen zum Lohnsteuerjahresausgleich motivieren, die eine Steu- errückzahlung erwarten können. Vielleicht ist die administrative Form des Musikmachens auch der Grund dafür, dass sich so viele Electronic-Dance- Music-Produzent*innen mit sehr ernsthafter Miene in Musikmagazinen ablichten lassen. Sogar die Werbefotos von vermeintlichen Bankkundinnen beim Onlinebanking zeigen glücklichere Gesichter. Vielleicht liegt aber auch darin der Grund für die Übertragung des Live- und Session-Begriffs auf das Programm und eine Bedienungsoberfläche.S ie zielen auf die eigentliche Funktion der Metaphern selbst: Erfreuen und Emotionalisierung (vgl. Peil, Dietmar (2004): «‹Metapher› und ‹Metapherntheorie›», in: Metzler Lexikon Literatur und Kulturtheorie, Weimar: J. B. Metzler, S. 450–451, hier S. 450).

127 Teil 1: Session als Verwaltungsakt

Gibt es da keine Lücke mehr zwischen Mixer-Tabelle, Ordner, Audiofile, Stift, Presets, AL, SV auf der einen und Spontanem, Liveness, Session oder Improvisation auf der anderen Seite? Findet eine Aufhebung der Differen- zierung Bildspender und Bildempfänger statt? Ist das Blättern in Ordnern keine metaphorische Vertauschung mehr mit Session oder Improvisation? Ist das Zeichnen oder Beugen einer virtuellen Hüll-, Sinus- oder Filterkur- ve in einer Matrix keine anders bewertete Praxis mehr als Bending oder Anschlagen eines Tones mit der Mundharmonika oder der Gitarrensaite? Noch einmal anders formuliert: Überbrückt das Einsetzen des Session-Be- griffs in die Software AL eine Lücke zwischen etwas Lebendigem und Unbe- lebtem, wie es eine tradierte Möglichkeit der metaphorischen Übertragung ist? Wird durch die Herstellung eines aktiven Zusammenhangs über un- terschiedliche Vorstellungen und Gegensätzlichkeiten hinweggetäuscht?229 Was bedeutet die sprachliche und praktische Vereinigung der Techniken «Sessionieren» und «Formularisieren» in einer Technologie?

Teil 1: Session als Verwaltungsakt oder die «globale Quantisierung»

Die Widersprüche, die sich im Komplex «Session und Verwaltung» abzeich- nen, gleichen auf den ersten Blick denen zwischen den Funktionslogiken von Kunstsystemen und Verwaltungen oder Bürokratien. Von Kunstsystemen wird angenommen, dass auf Differenz zu anderen Werken gezielt wird, auf permanente Neuerung, flukturierende Ordnungen – Geistesblitze sind er- wünscht.230 Verwaltungen sind auf das Erfassen des Immergleichen ausgelegt. Digital Audio Workstations und AL mit der SV im Besonderen erschei- nen nach den allgemeinen wie den verwaltungswissenschaftlichen Defi- nitionen im besten Sinne als Formulare. Die Funktionen von Formularen bestehen unter anderem darin, dass sie «weniger Schreibarbeit, geringere Einarbeitungszeit durch Wiederholung»231 bedeuten. Inhalte werden in eine

229 Ebenda. 230 tschacher, Wolfgang und Tröndle, Martin (2005): «Die Funktionslogik des Kunstsystems: Vorbild für betriebliche Organisation?», in: Timo Meynhardt (Hg.): Selbstorganisation managen. Beiträge zur Synergetik der Organisation, Münster: Waxmann, S. 135–152, hier S. 143, 147. 231 Online unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Formular, zuletzt geprüft am 28.11.2014.

128 Session im Formular

übersichtliche Ordnung gebracht und Arbeitsabläufe optimiert.232 Die SV gleicht der idealtypischen Verwaltung: Sie wirkt wie ein überparteiliches In- terface, so wie sie sich um den individuell ausgefüllten Inhalt nicht schert oder diesen nicht bewertet. Das AL Live-Konzept besagt, «Spuren enthalten Clips und verwalten den Signalfluss».233 Die Clip-Tabelle verfolgt effizient ein scheinbar neutrales Ordnungsprogramm, in dem das Audio-Material – wie auf Aktenrücken – symbolisch repräsentiert wird. Diese Repräsentationen sind wohlgemerkt «aufgeschriebenen Noten näher […] als einer Audioauf- zeichnung».234 Das heißt, AL und SV sind eher Aufschreibesysteme, Linien- systeme, die ausgefüllt werden können, als dass sie primär etwas mit Klang- geschehen oder Musik oder Session zu tun haben. Sie sind nicht die Musik selbst, sondern bieten «Ansichten» («Views»). Und diese, so soll gezeigt werden, sind auch keine Ansichten auf Musik, sondern bezeugen vielmehr Ansichten und Vorstellungen darüber, wie mit Musik umgegangen werden kann/soll. Nachstehend sollen kurz und exemplarisch einige Merkmale genannt werden, warum die SV als Formular anzusehen ist: Die SV ist eine recht starre Tabelle und wie ein Mehrkanalmischpult gestaltet. Wie beim Mixer werden Funktionen in waagerechte und senkrechte Zeilen gegliedert. Tabellensysteme bedeuten Übersicht- lichkeit und «pragmatische Beständigkeit».235 Die SV-Tabelle ist ein optimal konzipiertes Formular: Es gibt kein Durchstreichen, kein Über-Ränder-hinaus-Schreiben, alles bleibt penibel übersichtlich. Wenn Unübersichtlichkeit droht, werden weitere Fenster aufgeklappt, die wieder neue Tabellen zum Vorschein bringen. Alles soll leicht zu- zuordnen bleiben. Für das saubere und schnelle Ausfüllen liegt immer ein «Stift» bereit: Der Zeichen-Modus-Schalter oben rechts in der SV ist zwar sehr klein dargestellt, aber enorm konsequent im Zusammenhang mit dem Formular mitgedacht. Das Zur-Verfügung-Stellen des Stiftes er- innert mich an die Kugelschreiber an Bank- oder Postschaltern, die mit einem kleinen Kettchen an Beschwerern befestigt sind – sie sol- len immer zum Ausfüllen und Signieren griffbereit sein. Der Stift in AL kann zum «Zeichnen» von Hüllkurven, «Anticken» von Schlag-

232 Ebenda. 233 Online unter: https://www.ableton.com/de/manual/live-concepts/, zuletzt geprüft am 30.03.2015 [Hervorhebung JIW]. 234 Ebenda. 235 Schwesinger, Formulare gestalten, S. 68.

129 Teil 1: Session als Verwaltungsakt

zeugpulsen oder Tönen auf der Piano-Roll gebraucht werden. Sollen zum Beispiel für einen gleichmäßigen HiHat-Puls mehrere Kästchen hintereinander angewählt werden, so kann einfach mit dem Stift ein langer «Strich» über Zählzeitenfelder gezogen werden und alle Felder sind markiert. Am linken Bildrand, aus «Ordnern» wählbar, stehen die «Musik- instrumente», MIDI-Samples von Instrumentenklängen. Genauer auszuführen, wie diese Instrumentalstimmen in AL editiert werden (durch Tastatureingaben, MIDI-Kontroller und -Keyboards oder zum Beispiel mit dem oben genannten Stift), ist an dieser Stelle nicht sinnvoll. Für die Betrachtung der SV als Formular ist von Bedeutung, dass alle Instrumente im Prinzip auf die gleiche Weise bedient und in der Tabelle gleichberechtigt abgelegt werden können. Formulare zeichnen sich durch ihre Repetitivität aus und dadurch, dass sie stets mit den gleichen Eigenschaften zu nutzen sind.236 Nach Verwaltungs- denken kann damit gleichsam ein Sieg der Bürokratie über die Ari- stokratie festgestellt werden – Letzteres wird hier wörtlich mit «Herr- schaft der Besten» übersetzt. Es gibt in diesen Programmen nicht mehr den*die beste*n Cellisten*in, Pianisten*in und so weiter. Alle Gewalt über alle (mindestens MIDI-)Instrumente ist delegiert an die Bürokratie: das Programm und die Verwalter*innen, die gleichzeitig Ausfüller*innen sind. Instrumentalspiel wird nach den rational-ima- ginierten Parametern des MIDI-Standards geregelt. Im Hintergrund der SV kann die Arrangement View alles auf- zeichnen. Diese Aufzeichnung ist gleichsam ein «Protokoll»237. Die SV ist in der Arrangement-Ansicht im Prinzip auf die Seite gekippt und jede Bewegung an Reglern in der SV kann in Zeitleisten festge- halten werden. Sie wird aber von Ableton nicht als Kontrollinstanz präsentiert, sondern als Serviceleistung inszeniert. Das leidige Pro- tokollieren, das problematische Mitschreiben oder Aufzeichnen, weil nicht «werkgetreu», entfällt in diesem Programm, weil alles festge- halten wird. Automatisch und ganz leicht (ein Klick auf das Symbol mit den drei waagerechten Strichen am rechten Bildrand) kann die ganze Verhandlung (die Session) zur Wiedervorlage gebracht und al- les kann rekonstruiert werden. Der gesamte Tathergang kann durch jede einzelne Spur rekonstruiert werden. Es ist in der Arrangement

236 riemann, Walter (2001): Wirtschaftsinformatik: anwendungsorientierte Ein- führung, München, Wien: Oldenbourg, S. 275. 237 Vgl. Zitat vom Anfang des Kapitels.

130 Session im Formular

View nicht das Gleiche sichtbar wie in der SV, aber es passiert digital absolut das Gleiche in beiden Ansichten – informatisch sogar dassel- be. Es ist demnach eigentlich nicht klar, warum das Eine einer Session eher nahe steht und das Andere als «Protokoll» bezeichnet wird. Die Arrangement View könnte genauso als SV bezeichnet werden und in den Clips wären Teilprotokolle schon in eine Tabelle eingeordnet und wie in ein Regal geräumt.

Das Versprechen: «Signalfluss»

Session in der SV ist, wie beispielsweise «cut & paste», eine Praxismetapher im Unterschied zu Dingmetaphern wie Desktop, Ordner, Mixer. Noch besser als zu klassischen Verwaltungselementen passt die SV damit zu neoliberalen Kreativtechniken und Konzepten wie beispielsweise offene Arbeitszeitkon- ten. AL produziert mit dem Programm für die Nutzer*innen weniger etwas Dinghaftes, sondern ein Versprechen – gleich Versicherungen oder Bank- konten.238 Borries Schwesinger schreibt in seinem Buch «Formulare gestal- ten» über die Willenserklärungen, die aus den Formularen erkennbar werden sollten:

«Dieses Versprechen materialisiert sich allein in einem Formular. Die Gestal- tung von Versicherungspolicen, Kontoauszügen, Urkunden und Bescheiden ist damit Teil der Produktpolitik und kann zum vielbeschworenen Alleinstel- lungsmerkmal eines Unternehmens werden.»239 Ein zentraler Bestandteil des Versprechens in AL, an vielen Stellen auf der Firmen-Netzseite zu lesen, lautet «Signalfluss».240 Zahllose Texte, die in einem links unten eingefügten Info-Fenster der Oberflächen eingeblendet werden, beschwören dieses Versprechen: zum Beispiel Audiodateien mo- difizieren, sofort, «ohne hörbare Unterbrechungen» (vgl. Info zu Strg + Shift + I = Transiente einfügen). In einer kleinen Anzeige oben rechts auf dem Bildschirm zeigt AL die Prozessorbelastung in Prozentwerten an. Nut- zer*innen können im Blick behalten, dass der Signalfluss nicht gestört wird. AL setzt auf Transparenz. Zudem ist AL aufgeladen mit der Botschaft, alles sei da und vorbereitet und trotzdem können Nutzer*innen alles individuell anpassen und verän-

238 Schwesinger, Formulare gestalten, S. 50. 239 Ebenda. 240 Siehe beispielsweise https://www.ableton.com/de/manual/managing-files- and-sets/, zuletzt geprüft am 30.03.2015.

131 Teil 1: Session als Verwaltungsakt dern. Sobald ein Sound ausgewählt und ein Clip angeklickt ist – unter dem vielleicht auch noch gar keine MIDI-Datei gespeichert ist –, wird unter der Haupttabelle angeboten, zahlreiche Parameter zu modifizieren (Kurven- formen verändern, «shape», «transpose», «detune»). Die Modulations- und Modellierungs­möglichkeiten etwa der Presets werden derartig großzü- gig angeboten, dass es mir persönlich und wahrscheinlich vielen Anwen- denden fast unangenehm sein wird, nichts umzustellen.241 Der Eindruck einer Bevormundung durch das Programm wird – be- wusst oder unbewusst ist dabei nicht wichtig – strikt vermieden. Ständig weisen AL und die SV in diversen Formen darauf hin, dass alles ausge- tauscht oder beispielsweise eine automatisch eingerichtete Synchronisation, etwa des Arpeggiators, geändert werden kann. Oben (im «control bar») in der Mitte, gleich neben den Icons für Aufnahme und Start (im «transport panel»), gibt es ein prominent gesetztes Symbol, über das «Automationen reaktivieren» oder «Automationen anzeigen» gewählt werden kann.

«Das Bedienkonzept basiert dabei auf der Möglichkeit, Audioquellen in Echt- zeit zu bearbeiten, neu zu arrangieren und mit anderen Quellen zu kombi- nieren. Dabei arbeitet Ableton Live nicht-destruktiv, d. h. sämtliche Editie- rungs- und Manipulationsprozesse des Materials lassen die Ursprungsdateien unberührt. Dies eröffnet dem Nutzer einen freien und experimentellen Um- gang mit dem Audiomaterial, da jede Veränderung auch wieder rückgängig gemacht werden kann. […] Der Session-Modus bietet dabei viele Möglich- keiten zum improvisierten Live-Arrangieren der verschiedenen Segmente […]. Kleine Segmente (Loops) werden dabei umarrangiert und können frei mit Effekten und Filtern belegt werden. Da Ableton Live mit echtzeitbasier- ten Timestretchting-Methoden arbeitet, sind die Loops immer beatsynchron. Diese Funktion wird bei Ableton Live als ‹Elastic Audio› bezeichnet. Ein Lo- op-Sample wird dadurch automatisch auf die richtige Geschwindigkeit ver- langsamt oder beschleunigt, ohne dass sich dabei die Tonhöhe verändert. […] Durch extreme Einstellungen können dabei bewusst experimentelle Klangef- fekte erzielt werden. […] Sogar rhythmisch variierende Songs können in ein festes ‹Grid› gesetzt werden. […] Die orginären Songstrukturen des Medien- materials werden dabei aufgelöst und zu einem Patchwork rekombiniert. Da

241 Als Gegenthese zu dem von DJ und Laptop-Performenden hochgehaltenen Ehrenkodex, Presets können verwendet werden, so sie signifikant transfor- miert wurden (Butler, Mark J. (2014): Playing with something that runs. Tech- nology, improvisation, and composition in DJ and laptop performance, Oxford: Oxford Univ. Press, S. 15), sei behauptet, dass manche MusikmachDinge als Aktanten die Bearbeitung der Presets penetrant einfordern.

132 Session im Formular

sämtliche Bearbeitungsprozesse in Echtzeit während des Abspielens ablaufen können und die Software dabei die Aufgabe des Beatmatching übernimmt, kann der DJ sich ganz auf den kreativen Prozess konzentrieren. […] Zwi- schen beliebig vielen Audioclips kann dabei frei umhergeschaltet werden und der Komplexität des Arrangements sind dabei (fast) keine Grenzen gesetzt, so lange der DJ die Übersicht behält.»242 Die Funktion oder Einstellungsmöglichkeit in der Clip-Bearbeitung, die Au- diogestalten in einen «Grid» einzupassen, und Timestretching-Funktionen (in AL auch «warping» genannt),243 sind nicht nur bedeutungsleere Algorith- men. Es sind zentrale Versprechen und diese sind das eigentliche Produkt. Über oder hinter dem Signalfluss- und Kombinationsversprechen steht das Ideal oder Begehren oder die Kulturtechnik «Synchronisation».244 Der in diesem Zusammenhang relevante AL-Befehl «globale Quantisierung»245 kommt in seinem Duktus doch eher einer kulturimperialistischen Variante der Kulturtechnik «Synchronisation» nahe oder einer übersteigerten büro- kratischen Phantasie als der oben zitierten «freien», «experimentellen» Idee einer Session und Improvisationen, denen «(fast) keine Grenzen» gesetzt werden.246

Tabellen-Logos für Liveness und Session

Ableton hat die Rolle der Gestaltung der Formulare für das Image (der Fir- ma und der Software) auf keinen Fall unterschätzt. Werte, Ziele, Qualitäten werden deutlich vermittelt. Interessant ist auch der Produktbeiname, der eine Differenzierung zwischen Liveness als allgemeine performativeP raxis und der speziellen Software verwässert. In der Kommunikation der Fir- ma wie auch von vielen Nutzenden ist in Bezug auf die Software nur noch schlicht von «Live» die Rede und – bewusst oder unbewusst – zielt diese Namensgebung auf einen deonomastischen Effekt, der den Produktnamen, weil gleichgesetzt mit der allgemeinen Musikpraxis, fast allgegenwärtig macht. Der Effekt ist ein ähnlicher wie bei dem Verb «googeln», das heute

242 Wendlandt, Digital DJing, S. 82–84. 243 Online unter: https://www.ableton.com/de/manual/audio-clips-tempo-and- warping/, zuletzt geprüft am 30.03.2015. 244 Kassung, Christian; Macho, Thomas (2013): «Einleitung», in: dies. (Hg.): Kul- turtechniken der Synchronisation, München: Wilhelm Fink, S. 9–21, hier S. 10. 245 Zum Terminus «Globale Quantisierung» siehe https://www.ableton.com/de/ manual/launching-clips/, zuletzt geprüft am 30.03.2015. 246 siehe Wendlandt-Zitat oben, hier S. 84.

133 Teil 1: Session als Verwaltungsakt für das Recherchieren mit Suchmaschinen im Internet steht. Bei AL und SV werden Assoziationen allerdings umgekehrt von allgemeinen Musikpraxis- begriffen aus in Richtung des Produktnamens in Gang gesetzt.247 Ich möchte die auf eine Art banale, weil selbstverständliche Progno- se wagen, dass die Praxis des Ausfüllens der Formulare AL und SV recht bald überhaupt keine Irritation mehr auslösen wird, wenn es um Liveness und Session geht. Unter Laptop-Performenden tut es das schon lange nicht mehr. Manche Musiker*innen, die die Anerkennung ihrer virtuosen Leis- tungen im Spiel sogenannter akustischer Instrumente weiter gesichert wissen wollen, bezweifeln vielleicht noch, dass das Umgehen mit der Digi- tal-Audio-Workstation Liveness bedeutet und eine Sitzung einer einzelnen Person an einer solchen eine Session sein soll. AL und SV sind und werden immer mehr auch ein A-Priori des Live Gigs und der Session – und das längst nicht mehr nur in Electronic-Dance-Music-Kontexten. Live oder Session wird in vielen Bereichen wie beispielsweise dem Theater stattfin- den, wenn AL «hochgefahren» ist. Die Gleichsetzung der Produktnamen mit den allgemeinen Musikpra- xen «live spielen» und «Sessions spielen», dürfte gerade wegen – nicht trotz – der allem zugrunde gelegten Kulturtechniken/-technologien, den Skalen, Tabellen und Formularen, den Aufzeichnungen nicht zu hürden- reich sein, denn diese sind die zentralen Synchronisierungsinstrumente. Nicht ohne Grund hat die Firma Ableton als Logo zur Wiedererkennung eine minimalistische Darstellung von zwei Tabellen gewählt: vier Striche senkrecht neben vier Strichen waagerecht. Auf den Arbeitsoberflächen SV und Arrangement View symbolisieren vertikale Striche in einem Kreis die SV, drei horizontale Linien in einem Kreis die Arrangement View. Ältere Programmversionen hatten dieses Logo noch nicht, sondern eine abstrakte Darstellung eines Drehpotentiometers, der immer noch typisches Element der Oberflächen ist, aber eben nicht zentrales. Insgesamt setzt das Oberflächendesign von AL auf Minimalismus. Vom Design ist vielleicht auf eine Nähe zu Musikstilen zu schließen, für die die Software zunächst gemacht wurde, beziehungsweise sind die ersten Ent-

247 eine Vielzahl von Digital Audio Workstations trägt den Begriff «Studio» im Namen, so zum Beispiel «Bitwig Studio», «FL Studio», «Magix Music Stu- dio», «SAW Studio» oder Software trägt oftmals den Beinamen «Tool». Für eine Live-Medienpraxis, die über den Namen assoziiert werden kann, finde ich neben «Ableton Live» zurzeit nur die Software «Digital Performer» und «GarageBand», wobei letztere als kostenlos mitgelieferter Teil der iLife-Pro- grammpalette von Apple eher als Home-Recording-Tool und Band-Ersatz vorgestellt wird.

134 Session im Formular wickler*innen von AL Aktivist*innen in Bereichen von Electronic-Dan- ce-Music. Jenseits dessen ist interessant am minimalistischen Design der SV, dass es so weit in den Hintergrund tritt, dass die Oberfläche etwas Aus- stellungsraumartiges behält. Klar ist trotz aller Button, Fader und Kästchen, dass da noch etwas hineingestellt werden muss.248 Der graue Hintergrund lenkt den Blick auf das noch auszufüllende Formular. Die SV ist ein typisch gestalteter zeitgenössischer Arbeitsplatz. Sehr passend ist die Feststellung der Kultursoziologin Sophia Prinz, die über die an Galerien erinnernde Ge- staltung von Büros schreibt:

«In diesem Setting wird das kreative Arbeitssubjekt also eher im Sinne der klassischen bürgerlichen Ästhetik als ein quasi-körperloses, kognitives We- sen adressiert, dessen kreative Energien aus einer sinnlichen Neutralität er- wachsen.»249 Ganz im Sinne des Paradigmas des postmodernen Bürodesigns erscheinen AL und SV als «‹cableless›, ‹nomadic› oder ‹non-territorial office›».250 Die SV spiegelt die minimalistische Flexibilität, ganz im Unterschied zu Soft- ware wie Propellerheads Reason, deren anfängliche Beliebtheit (um 2002) heute stark nachgelassen hat. In Reason und dem Vorgänger ReBirth wer- den virtuelle (Retro-)Tools (zum Beispiel Simulationen von analogen Ro- land-Synthesizern) virtuell verkabelt. Reason ist eine Software, die noch auf die visuelle Simulation von kompletten Studioumgebungen mit einem vir- tuellen Rack setzt, in dem Effektgeräte, Drum-Computer und so weiter wie Hardware-Komponenten übereinandergestapelt werden. Selbstverständlich ersetzte die virtuelle Verdrahtung das Klinkenkabel für Fetischisten ohne- hin immer nur unbefriedigend,251 aber diese Gestaltungsform, die auf klas-

248 Die Programme MAX/MSP oder Pure Data mit ihren weißen Hintergründen lassen ihre Objekte buchstäblich in einer Art White Cube erscheinen. 249 prinz, Sophia (2012): «Büros zwischen Disziplin und Design. Postfordistische Ästhetisierungen der Arbeitswelt», in: Stephan Moebius und Sophia Prinz (Hg.): Das Design der Gesellschaft. Zur Kultursoziologie des Designs, Bielefeld: transcript, S. 245–271, hier S. 263. 250 Ebenda. 251 Inzwischen gibt es die Netzseite http://www.rebirthmuseum.com/ (zuletzt geprüft am 30.03.2015), die ein hochinteressantes Format einer Art Erin- nerungskultur zweiter Ordnung darstellt, denn Propellerhead unternimmt damit Anstrengungen, die Software, die digitale Simulation bedeutete, ganz analog zu Roland-Geräten der 1970er und 1980er Jahre zu fetischisieren.

135 Teil 1: Session als Verwaltungsakt sische Studioeinrichtung setzt und nicht auf absolute Beweglichkeit, wird auf Dauer nicht mit minimalistischen Tabellen konkurrieren können.252

Panoptische Diagrammatik der Session View

Die SV ist eine rationalistische, panoptische Tabelle. Alle Clips, die die gespeicherten Audio- oder MIDI-Files referenzieren, können scheinbar gleichzeitig überblickt werden. Die Tabelle bietet die optimalste Übersicht über die Zellen, in denen unterschiedliche Klangereignisse als Datensätze nach den gleichen Konformitätsregeln kontrolliert werden können. Die Ta- belle ist fett umrandet, sodass für Nutzer*innen der Eindruck entsteht, sie würden in das Innere eines Kastens gucken. Werden die einzelnen Clips an- geklickt, klappt unter dem Kasten ein weiterer auf. Nutzer*innen schauen nach dem Klick auf den Clip also wörtlich unter dem Clip nach. Der Ein- druck entsteht, der Mensch schaue immer tiefer in das Innere und Erbgut der Klanggestalten. AL nutzt die praktischen Vorteile digitaler Formulare: Angezeigt werden in Tabellen, Untertabellen und Diagrammen nur momentan interessierende Informationen.253 Dabei erscheint die Anordnung der Clips, also die Bedeut- samkeit der referenzialisierten Klanggestalten, relativ hierarchiefrei. Nur die Spalten bekommen in der obersten Zelle eine Kategoriebezeichnung wie MIDI oder Audio oder einen Instrumentennamen. Die Zeilen der Tabelle, die in AL sogenannten «Szenen», sind nicht codiert. Das Lesen und Kontrol- lieren von links nach rechts und von oben nach unten ist also nicht zwingend vorgegeben. Der Vorteil des Diagramms liegt darin, dass es viele Einstiegs- möglichkeiten in es hinein erlaubt.254 Einleitend formulierte ich, dass die SV in der Anlage nicht als Spaßkonzept, sondern als Arbeitskonzept erscheine. Nach Astrit Schmidt-Burkhardts Thesen zur «Kunst der Diagrammatik» (2012) ist diese Deutung zu relativieren, denn sie stellt fest, dass die offene Lesbarkeit von Diagrammen Betrachtenden die «intellektuelle Interpretati- onshoheit» einräume.255

252 Als sogenannte Plug-Ins, oftmals von Nicht-Firmenmitgliedern entwickelt, taucht die Simulation von analogen Apparaten in AL wieder auf. Die Bre- chung mit dem Design der AL-Oberflächen ist optisch meistens überdeutlich. 253 Schwesinger, Formulare gestalten, S. 208. 254 schmidt-Burkhardt, Astrit (2012): Die Kunst der Diagrammatik. Perspektiven eines neuen bildwissenschaftlichen Paradigmas, Bielefeld: transcript, S. 28. 255 ebenda, S. 9.

136 Session im Formular

«Schaubilder erweisen sich […] als benutzerfreundlich. Das ist der Grund, warum die Lektüre von Diagrammen so befriedigt.»256 Auch Matthias Bauer schreibt in seiner Einleitung zu seinem Buch Dia- grammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches For- schungsfeld:

«Und deshalb liegt der Clou der Diagrammatik darin, dass man anhand ei- ner Konfiguration, die bestimmte Verhältnisse oder Zusammenhänge anzeigt, verschiedene Rekonfigurationen durchspielen kann.»257 Diesen gefallenden, beruhigenden bis entzückenden Modus unterstützt die SV auch, indem sie als gut konzipiertes Formular den Nutzenden hilft, nichts falsch zu machen. Die SV lässt sie zumindest von Seiten des Pro- gramms nichts falsch machen, denn nur die Informationen können einge- tragen werden, die das Formular zulässt.258 Eine Audioaufnahme lässt sich nicht fälschlicherweise einfach in eine MIDI-Spur «ablegen», es sei denn, der explizite Befehl dazu wird in einem Extraschritt gegeben. Beigemischte, errechnete künstliche Hall- und Echofahnen klingen, auch nachdem das Abspielen der Tonspuren ruckartig abgebrochen wurde, noch natürlich wirkend nach. So wird eine harmonische Synchronisation im Wechsel zwi- schen Tracks erzeugt. Aufgeklappte Fenster mit den Möglichkeiten zur Modulierung/Modula- tion und Ähnlichem erscheinen fast wie ein freundlicher Fragebogen, auf dem sich auf festen Skalen Wünsche einstellen lassen. Die Regler können wie sogenannte Emoticons betrachtet werden: «Gefällt die Einstellung eher so oder lieber so?». Da zum rationalen Erscheinungsbild aber eine solche subjektive Geschmacksabfrage nicht passt, werden Angaben zu so unklaren Parametern wie «Colour» oder «Stiffness» auch in Prozentzahlen gegeben und nicht mit Emoticons abgefragt. Die pseudo-technisierten Regler sind vereinfachende Veranschaulichungen von komplexeren zugrunde liegen- den Programmierungen, die aber dennoch mathematisch daherkommen und die Nutzer*innen nicht völlig unwissend dastehen lassen.

256 ebenda, S. 29. 257 Bauer, Matthias (2010): «Einleitung» in: ders. und Christoph Ernst (Hg.): Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches For- schungsfeld, Bielefeld: transcript, S. 9–16, hier S. 14. 258 Jede*r kennt die Situation, dass Formulare auch nicht gut konzipiert sein kön- nen, weil nicht klar ist, ob zum Beispiel der Eigenname über einer eingezeich- neten Linie oder darunter einzutragen ist, oder weil nicht sofort klar ist, ob zuerst der Vor- oder erst der Nachname auszufüllen ist.

137 Teil 1: Session als Verwaltungsakt

Technobilder

Hüllkurven lassen sich mit Drag & Drop-Bewegungen verbiegen, es kann umgeschaltet werden zwischen Sägezahn oder Rechteckkurven, Noten oder Audiofiles lassen sich von einem Feld ins nächste verschieben und so weiter. Das alles lässt sich in AL durchführen, auch ohne nur ein vages Ver- ständnis davon zu haben, was technisch oder auch musikalisch passiert. So sehr mit immer weiter aufklappbaren Fenstern auch der Eindruck erweckt wird, dass Nutzer*innen den Umgang mit dem Programm beherrschen, die Formung der Klänge kontrollieren oder dass sie sich tief in der Techno- logie und Schaltung bewegen, so sind es doch nicht die «Innereien». Es sind immer wieder gestalterische Elemente, mit denen sie umgehen. Es ist, wie Andreas Fickers schon entlang der Stationsskalen von Radiogeräten aus den 1920er Jahren erklärt, eine «Benutzerillusion[, die] mit einer ent- sprechenden ‹Oberflächenphilosophie› auf Seiten der Gestalter und Desi- gner»259 einhergeht. Minimalistisch und gleichzeitig technisch, informatisch, mathematisch daherkommend, in Koordinatenkreuzen ohne Angaben von Einheiten, in genauen Prozentanteilen von irgendeinem Viel und Nichts bleibt – wie im- mer in Anwendungssoftware – die Programmierung verborgen. AL, wie so viele Musikbearbeitungsprogramme, erscheint damit einerseits wörtlich sachlich, apparativ, als Mischpult mit weiteren Reglereinheiten und gleich- zeitig ent-technisiert. Das Versprechen des Intuitiven, des Ununterbro- chenen, des Flows ist nur auf Grundlage des Standardisierten, Normierten und Konventionellen einzuhalten.260 Andreas Fickers zeigt am Beispiel des Radios und dessen Massenver- breitung, dass es bei der Einführung der Senderskala und der Werbung für selbige darum ging, das Radio, über die Amateurfunker hinaus, Frauen und Kindern zugänglich zu machen. Gleichzeitig wurde das Radio-Design weiterhin in der typischen massenindustriellen Produktionsästhetik ge- halten.261 Nicht zu offensichtlich für Amateur*innen und Dilettant*innen erscheint AL heute weiter anwendungstechnisiert in einer massenindustri- ellen Produktionsästhetik wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Einer der

259 Fickers, Andreas (2007): «Design als ‹mediating interface›. Zur Zeugen- und Zeichenhaftigkeit des Radioapparates», in: Berichte zur Wissenschaftsge- schichte, S. 1–15, online unter: onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/bewi. 200701252/pdf, zuletzt geprüft am 27.03.20155, pdf S. 5. 260 ebenda, S. 8. 261 Ebenda.

138 Session im Formular

Ableton-Firmenchefs und ersten Entwickler, Gerhard Behles, macht in einem Interview deutlich, dass ihm nur bedingt daran gelegen sei, AL un- terkomplex anzubieten:262

«Man muss mit dem Mythos aufräumen, dass Musik machen [sic!] etwas Ein- faches sei. Das Gegenteil ist der Fall, es ist schwierig. Live ist auch schwierig. […] Ein Instrument zu erlernen, ist nach wie vor nicht einfach.»263 Diese Haltung schlägt sich dann im Design der Oberflächen nieder, das an professionelle, stark technisierte Umgebungen angepasst ist und gleichzei- tig anwendungsorientiert bleibt. Behles erzählt:

«Wir haben uns mit Prozessen im Operationssaal oder auch in der Luftfahrt auseinandergesetzt. Wie wird dort mit kritischen Situationen umgegangen und wie sieht das User-Interface dabei aus?»264 Entsprechend dieser Aussage lässt sich gut nachvollziehen, was Nut- zer*innen in AL sehen. Die Anzeigen in einem Cockpit sind nicht die Flug- technologie selbst, sondern bilden ab oder bieten ausgewählte Teilinfor- mationen über das, was die Flugtechnologie tut. Die AL-Oberflächen sind das, was Vilém Flusser als «Technobilder» und «Bilder zweiten Grades» be- zeichnet.265 Die Medienwissenschaftlerin Sabine Ottjes kennzeichnet diese wie folgt:

«Sie sind Einbildungen, Abbilder von Begriffen, Modelle für Mögliches oder Sein-Sollendes, sie machen uns die hermetisch gewordenen Texte wieder vorstellbar und übersetzen die abstrakt-opaken Wissenschaftstexte wieder ins Bildlich-Konkrete.»266

262 Kim, Ji-hun (2013): «Ableton. Larger than Live», in: De:bug. Elektronische Lebensaspekte, 01./02.2013, Nr. 169, S. 24–29, hier S. 27. 263 Ebenda. 264 Kim, Ableton. Larger than Live, S. 26. 265 Flusser zitiert nach Ottjes, Sabine (2007): Tonspuren. Eine medientheoretische Ästhetik der Musik, Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät, Münster, S. 146. 266 Ebenda.

139 Teil 2: Wissen ausblenden und trotzen

Teil 2: Wissen ausblenden und trotzen

In der vorangestellten Abhandlung ist die SV als Formular gekennzeich- net. Der Argumentationsweg, auf dem der Text bis hierhin schreitet, soll zu einer Widersprüchlichkeit zwischen der Gestaltung des Formulars SV und der musikalischen Praxis des Session-Spielens führen. Ich inszeniere Folgendes: Das steife, eckige, bürokratische Monster hinter der falschen Maske scheint ungeeignet für spontanes, freies oder improvisierendes Spiel. An dieser Stelle soll nun eine argumentative Wende eingeleitet werden, die diese Suggestion zwar nicht vollständig aufgibt, aber behauptet, dass gera- de in dem Formularhaften und gerade in der Verdeckung von Wissen die Möglichkeiten zum Session-Spiel liegen. Das meint nur auf einer neben- sächlichen Ebene die These, dass das freie Spiel in einem engen Verhältnis zu Regeln steht. Nachfolgend soll vielmehr auch auf der sächlichen Ebene, die bis hierher im Zentrum stand, gezeigt werden, dass das Formular die Voraussetzungen für Session schafft.

Das wohltemperierte Audiofile

Die Zeichen in der SV sind Phrasen oder die sogenannten Clips. Sie kön- nen mehr sein als nur ein Phonem oder zum Beispiel nur ein Schlag einer Snare oder einzelne Claps. Sie können auch noch weniger sein, zum Bei- spiel ein kurzes Störgeräusch.267 Die erste Oberfläche der SV funktioniert durch Verzicht auf die Abbildung des Klang- oder Geräuschgeschehens in einer analogen oder Analogie simulierenden Form (zum Beispiel Ampli- tudendarstellung). Die SV-Haupttabelle bildet nicht ab, was die Clips «be- inhalten», beziehungsweise bildet sie alle Phrasen oder auch nur kürzeste Signale gleich ab – in Form einer Zelle. Das Hörbare ist im Formular vom Sichtbaren völlig getrennt. Deshalb können oder müssen, so Nutzer*innen sich erinnern möchten, die Clips auch beschriftet werden oder ihnen wer- den Farben zugewiesen. Die Clips haben sogar noch weniger mit dem Hör- baren zu tun als Musiknotationszeichen. Es sind nicht einmal Anzeigen der

267 In den Sample-Packs zur AL-Suite-Version werden Clicks und Glitches gleich mitgeliefert.

140 Session im Formular

Schaltstellungen von Musiksemaphoren.268 Sie referenzieren lediglich das Vorhandensein musiknotationeller Stimmen/Daten.269 Im Unterschied zu Noten- oder Griffschriften suggeriert das Clip-Di- agramm nichts Musikalisches mehr. Weder werden Dynamiken, Tonhö- hen, Intervalle oder Temperierungen als Darstellung versucht, noch sind Zeitdauern oder Tempi unmittelbar im einzelnen Clip angezeigt. Die Er- fassung im Clip suggeriert eine globale Wiedergabetreue, weil sie die (mu- sikalischen) Gestalten scheinbar nicht in Einzelelemente zerlegt, sondern die Gesamtheit der Informationen von MIDI-Spuren oder sogar gesamte Audiospuren, so wie sie im «Original» aufgenommen sind, weiter speichert und wiedergeben kann. Die SV hat im Unterschied zur Arrangement View den Vorteil, dass die zeitlichen Verläufe und Dauern einzelner und gemischter Gestalten und Spuren ignoriert werden können und einzelne Clips schlicht als Kästchen visualisiert werden. Diese Idee ist im Prinzip nicht neu, denn letztlich sind auch bei einer Schallplatte «Pausen» zwischen Songs und Tracks sichtbar. Auf Schallplatten ist die Spirale zwischen Stücken nicht so eng gedreht wie in den Hörstücken und so lässt sich an dem Engstand der Rille erkennen, wo beispielsweise ein Lied aufhört und das nächste anfängt. Wenn die Vi- sualisierung von Track-Anfängen als Fortschritt verstanden wird, ist eine interessante Dynamik zu erkennen: Wachswalzen oder zum Beispiel Schel- lackplatten boten diese Funktion der Sichtbarmachung an, Tonbänder oder Kassetten hingegen nicht (Tonbänder sind gleichsam Tonspurstrecken, die durchgehört oder gespult werden müssen).270 Sequenzer-Programme boten diese Funktion wieder an, aber vor allem bei langen Tonspuren in sehr un- übersichtlicher Weise (Amplitudendarstellungen, Spektogramme), so wie in der Arrangement View von AL deutlich wird. Die SV bietet schließlich nur noch die Visualisierung von Clips als Fenster an und verzichtet darüber

268 Vergleiche zu diesem Bild des «Musikverkehrs» und seiner Instanzen (Signal- anzeigen, Verkehrsmittel, Verkehrswege, Verkehrsteilnehmer und andere) Fabian, Alan (2014): «Foucaults Archäologie, informierte Musikanalyse und Musikmedienarchäologisches zu Musiknotaten», in: Andreas Holzer und Annegret Huber (Hg.): Musikanalysieren im Zeichen Foucaults, Wien: Mille- Tre-Verl., S. 110–137, hier S. 135. 269 Ebenda. 270 schröter, Jens (2013): «De- und Resynchronisationsketten. Die Schicksale des Plattenspielers», in: Christian Kassung und Thomas Macho (Hg.): Kul- turtechniken der Synchronisation, München: Wilhelm Fink (Kulturtechnik), S. 367–385, hier S. 381.

141 Teil 2: Wissen ausblenden und trotzen hinaus auf den analogen Trick der scheinbar komprimierten Tonspurlänge durch die Aufzeichnung in Spiralform auf Walzen und Schallplatten. Die Transformation von Informationen in der SV funktioniert in ähn- licher Weise wie die in den letzten Jahrzehnten so häufig als Beispiel an- geführte Londoner «Tube Map» (1933) von Harry Beck, der eine topogra- fischen Karte in ein «topologisches Diagramm» übersetzte.271 Beck erkannte, dass nicht die topografische Abbildung der Stadt das Wichtigste ist, um sich auf dem U-Bahn-Plan zu orientieren, sondern die Verbindungen und wich- tigen Umstiegspunkte.272 U-Bahn-Pläne decken sich heute nicht mehr abso- lut mit Stadtplänen. Sie ignorieren z. T. geografische Informationen, Formen der Stadt mit Häusern, Straßen und Parks, um vor allem, einem Schaltplan gleich, Verbindungslinien übersichtlich abzubilden. Die Linien biegen sich möglichst in gleichen 90- oder 45-Grad-Winkeln. Die Stationen sehen, ab- gesehen von besonderen Umstiegspunkten, alle gleich aus. Sie werden mit Namen gekennzeichnet und Linien mit Farben. In ganz ähnlicher Weise funktioniert die SV. Für die Verknüpfung verschiedener Clips sind zunächst nicht die tatsächliche Gestaltungsform, oder Tonspurenverläufe von Bedeu- tung, sondern vornehmlich Startpunkte und entsprechend Möglichkeiten zur Vereinheitlichung/Veränderung von Tempi (bpm) und Tonhöhen. Dieser Schritt der scheinbaren Gleichmachung oder Simplifikation, der uns immer wieder im AL-System begegnet, ermöglicht tatsächlich Sessi- on. Egal ob Audio- oder MIDI-Spur, ein kurzes Glitch-Sample oder eine lange harmonische Phrase, über alles wird eine systemeigene Semantik ge- legt und eigentlich wird dann mit dieser gearbeitet. Sie «funktioniert» für die Session deshalb, weil die Audio-Zeichen eigentlich keine Rolle mehr spielen. Dass eigentlich mit einer darüber gelegten Semantik, mit eigenen Meta-Parametern gespielt wird, lässt sich unter anderem dadurch zeigen, dass Handlungsschritte in einer Session auch mit «leeren» Clips vollzogen werden könnten. Musikwissenschaftlich und musikgeschichtlich müsste im Zusammen- hang mit Algorithmisierung, Quantisierung, Timestretching- und Tun- ing-Machenschaften solcher Software auch von einer neuen Form der «Temperierung» gesprochen werden. Es ist, zumindest aus eurozentrischer Sicht, wieder eine epochale Form der Stimmung. Es ist die digitale Stim-

271 Gießmann, Sebastian: «Synchronisation im Diagramm. Henry C Beck und die Londoner Tube Map von 1933», in: Christian Kassung und Thomas Ma- cho (Hg.): Kulturtechniken der Synchronisation, München: Wilhelm Fink, S. 339–364, hier S. 341. 272 Ebenda, S. 356.

142 Session im Formular mung von Audiodateien, um möglichst viele von ihnen in einem Zusam- menhang spielbar zu machen. Clips werden nicht klassifiziert,273 sondern systematisiert. Durch das ähnlich gemachte Einlesen und Einspielen der Klanggestalten, durch die Reduktion von Differenzen können die Audio- dateien in Beziehung zueinander gesetzt werden. Das Einpflegen im Diagramm, das oben als typischer Verwaltungsakt des Ordnung-Schaffens erkannt wird, ermöglicht durch den Abbau von Komplexität also Session oder wie Astrid Schmidt-Burghardt in Die Kunst der Diagrammatik schreibt: «Ausblendung führt zu Erkenntnissen».274 Die Session mit SV ist möglich, weil sie die Samples, Phrasen, Klänge, Töne, Be- ats, Sounds nicht nur in einer eigenen Ansicht (vgl. zum Beispiel Notation), sondern nach eigenen sogenannten «warping»- oder «beat detecting»-Al- gorithmen erfasst, die sich um die musikalischen Gestalten selbst einfach nicht mehr besonders intensiv scheren müssen – nicht um ihre Form und schon gar nicht um ihnen zugewiesene Bedeutungen. Für den Fluss der Stimmen, die in den Clips «geparkt» sind, gelten die Verkehrsregelungen des Programms.275 AL fährt 1.1.1., also den ersten Schlag im ersten Takt eines Clips, auch als erstes ab. Nutzer*innen können 1.1.1. zwar nach Belie- ben verschieben, aber sie folgen damit eigentlich der AL-Regel, dass 1.1.1. zuerst abfährt. Die Nutzung von AL findet überhaupt statt, weil AL zur Durchsetzung diese Regel entwickelt hat. Das System verweist und spielt vor allem auch mit sich selbst. Da die SV in den Transformationseffekten durchaus mit dem Beck’schen London-Underground-Diagramm vergleichbar ist, lässt sich die folgende Frage, die Sebastian Gießmann in Bezug auf die «Tube Map» stellt, auch in die Richtung der SV stellen:

«Für die Geschichte von Kulturtechniken der Synchronisation wirft dies die Frage auf, ob Synchronizität nicht nur durch Einschreibung in diagram- matische Strukturen lesbar ist, sondern teilweise überhaupt erst durch Dia- gramme zwischen Bild, Schrift, Zahl, Weg und Zeit erzeugt wird».276 Für Gießmann organisiert erst die Notation eine Form der Synchronisati- on, die in vielerlei Hinsicht, nicht nur in Bezug auf Timing, sondern auch

273 eine Kategorisierung findet höchstens in MIDI- und Audiospuren statt, und auch diese wird relativ, weil die Umwandlung von Audio- in MIDI-Dateien und Umgekehrtes möglich ist. 274 Schmidt-Burkhardt, Die Kunst der Diagrammatik, S. 30. 275 Fabian, «Foucaults Archäologie, informierte Musikanalyse», S. 135. 276 Gießmann, «Synchronisation», S. 345.

143 Teil 2: Wissen ausblenden und trotzen auf sozio-ökonomischer Ebene, zuvor nicht möglich war.277 Das vereinheit- lichende und umfassende Diagramm erzwingt Synchronisation beispiels- weise an den Stellen, die zuvor noch als eigene Unternehmen mit eigenen Plänen, Schaltungen und Normierungen agierten. Das Formular SV orga- nisiert erst, dass Session möglich wird. Ein zentrales Element der Session und auch der Improvisation, das Un- vorhersehbare oder die Überraschung, generiert die SV also dadurch, dass die Clips nicht zeigen oder verraten, was dahinter zu hören ist. Sehr interes- sante Effekte sind zu erleben, sobald mehrere menschliche Akteur*innen und elektronische MusikmachDinge wie die SV interagieren. In eigener elektronischer Band-Praxis erlebe ich nicht selten, dass wir menschlichen Akteur*innen nicht mehr wissen, von welcher Quelle bestimmte Sounds herrühren, weil keine zum Klanggeschehen analogen Visualisierungen mehr existieren. Das sind sehr überraschungsvolle Momente, in denen wir zum Beispiel erst durch rhythmisches Probieren an Reglern herausbekom- men müssen, wer von den menschlichen Mitgliedern auf welche Sounds oder Beats gegebenenfalls Einfluss nehmen kann. Die Form und Informiertheit des Audiomaterials und dessen Organi- sation weisen demnach nicht mehr das Analoge einer klassischen Session auf.278 Session mit der SV und wahrscheinlich vielen anderen digitalen Pro- duktionstechniken ist demnach in jedem Fall nicht mehr, was sie einmal war. Der Begriff «Session» ist nur bedingt übertragbar auf das spontane Spiel mit Clips beziehungsweise wird damit die Notwendigkeit der Trans- formation des Verständnisses von Session deutlich.

Instant Session – von Fertigkeiten und Fertig-keiten

Wenn Session üblicherweise auch mit spontanen musikalischen Einfällen in Verbindung gebracht wird, ist mutmaßlich deshalb ein anderes Ver- ständnis von ihr im Zusammenhang mit der SV notwendig, weil ein Rück- griff auf vorbereitetes Audiomaterial stattfindet. Der Medienwissenschaft- ler und Audioforscher Rolf Großmann findet für Musik, die so gestaltet wird, auch die treffenden Bezeichnungen «halbfertige Musik» und «Repro-

277 Ebenda. 278 Vergleiche zur arbiträren Codierung Großmann, Rolf (2005): «Wissen und kulturelle Praxis – Audioarchive im Wandel», in: Peter Gendolla und Jörgen Schäfer (Hg.): Wissensprozesse in der Netzwerkgesellschaft, Bielefeld: tran- script, S. 239–255, hier S. 243.

144 Session im Formular duktionsmusik».279 Tatsächlich ist die Frage nach dem Grad des Fertigha- bens im Kontext von Sessions bedeutsam. Die oben stehende vorsichtige Formulierung über die mutmaßliche Notwendigkeit der Veränderung des Verständnisses ist in der Annahme begründet, dass Session immer schon der Mix aus teilfertiger Musik war. Paul Berliner schreibt im Epilog seines Buches Thinking in Jazz. The Infinite Art of Improvisation:

«This simplistic understanding of improvisation belies the discipline and ex- perience on which improvisers depend, and it obscures the actual practices and processes that engage them. Improvisation depends, in fact, on thinkers having absorbed a broad base of musical knowledge, including myriad con- ventions that contribute to formulating ideas logically, cogently and expres- sively.»280 Der Rückgriff auf eine große Vielfalt an gespeicherten Formen oder ge- nauer das Sich-Erinnern an Klang-, Rhythmus- und Körperbewegungen für Improvisation im Jazz bedeutet meines Erachtens etwas sehr Ähnliches wie die Vorbereitung, Speicherung und das Mischen von Clips. Musizie- ren mit auf Tonträgern aufgenommenen oder digital gespeicherten Mate- rialien unterscheidet sich natürlich von neuronaler Erinnerung. Session ist dennoch in gewisser Weise immer Reproduktionsmusik. Musikalische Anfänger*innen haben es schwer, eine Session zu spielen, da sie in ihren Gestaltungsmöglichkeiten sehr begrenzt sind, weil sie gleichsam Bewe- gungsabläufe nicht ausreichend eingeübt haben, um spontan gewünschte Klangformen zu kreieren oder abzurufen. Ob komponieren oder improvisieren, ob mit der Gitarre gespielt oder in den Clips der SV abgelegt, diese Prozesse werden maßgeblich geprägt von der Größe der «personal inner musical library»281 und der Erfahrung des regelmäßigen Zugriffs auf diese. Die innere Bibliothek wird im Um-

279 Großmann, Rolf (2010): «Distanzierte Verhältnisse? Zur Musikinstrumenta- lisierung der Reproduktionsmedien», in: PopScriptum 9 Instrumentalisierun- gen – Medien und ihre Musik, online unter: www2.hu-berlin.de/fpm/popscrip/ themen/pst09/pst09_grossmann.html, zuletzt geprüft am 27.03.2015, ohne Seitenpaginierung. 280 Berliner, Paul (1994): Thinking in Jazz. The Infinite Art of Improvisation, Chi- cago: University Press, hier S. 492. 281 Folkestd, Göran (2012): «Digital tools and discourse in music: The ecology of composition», in: David J. Hargreaves; Dorothy Miell und Raymond A. R. MacDonald (Hg.): Musical Imaginations. Multidisciplinary perspectives on creativity, performance, and perception, Oxford: Oxford University Press, S. 193–205, hier S. 199.

145 Teil 2: Wissen ausblenden und trotzen gang mit Digital Audio Workstations auch noch extern abgelegt – das ist selbstverständlich nicht das Gleiche, sondern etwas anderes als die innere Bibliothek. In der Digital Audio Workstation oder in den SV-Clips wird im Sinne des Medienarchäologen Wolfgang Ernst ein kleines «[s]onisches Gedächtnis»282 ab- oder angelegt.

«Auf der Ebene der Signale aber kommt eine andere Ereignishaftigkeit zum Zug, ein anderer score. In technischen Speichern lagert daher ein anderes Ge- dächtnis: Latente Antworten auf Fragen, die bislang oftmals noch gar nicht formuliert wurden. Implizites Wissen harrt der medienarchäologischen Analyse: messmediale Analyseverfahren von Klangereignissen, etwa Sono- gramme. Neben dem kulturellen Gedächtnis schlummert hier ein ganz an- deres Gedächtnis, nämlich das Gedächtnis der unwillkürlichen Artikulation, die […] ganz andere Weisen populärer Musik speichert.»283 In technischen Speichern wird auch Unintendiertes, etwa Rauschen oder unbewusste Stockungen des*der Sängers*in, festgehalten.284 Die von Ernst genannten Klangereignisse, die durch technische Aufzeichnung neben dem historisch-kulturellen Gedächtnis der Musiker*innen angelegt werden, können selbstverständlich nicht nur der Medienarchäologie dienlich sein, sondern – so die nicht bewusst archivierten Informationen erkannt werden – können auch beispielsweise in einer Session genutzt werden. Das auf der Signalebene Gespeicherte fließt dann wieder in das kulturelle und empha- tische Spiel mit ein. Damit sei darauf hingewiesen, dass mit der technischen Speicherung, auch nach all den Regelungen des Formatspeichers des Pro- gramms, vielleicht sogar eine erweiterte Session möglich ist als ohne die technischen Speicher. Die Erfahrung zeigt, dass in den Clips der SV etwas Unwillkürliches bereitsteht, von dem die Nutzer*innen nicht wussten, dass sie es auch abgelegt hatten und mit dem sich auf überraschende Weise spie- len lässt. Oftmals entstehen auch durch Digitalisierung undT imestretching beispielsweise geräuschhafte Artefakte, die willkommenes Sound-Design für Kompositionen und Session bedeuten. Ein beliebter Argumentationsweg zur Aufhebung einer dichotomen Sicht auf Improvisation und Komposition ist der Hinweis darauf, dass der

282 ernst, Wolfgang (2011): «Sonisches Gedächtnis als Funktion technischer Speicher», in: Martin Pfleiderer (Hg.): Populäre Musik und kulturelles Ge- dächtnis. Geschichtsschreibung – Archiv – Internet, Köln, Wien und andere: Böhlau, S. 37–47. 283 ebenda, S. 43 [Hervorhebungen im Original]. 284 Ebenda, S. 44.

146 Session im Formular

Komposition immer improvisierendes Probieren vorausgeht. In Hinblick auf Fragen zur Improvisation und Session im Kontext phonografischer Mu- sik wird mit vorangestellter Argumentation deutlich, dass diese Aufhebung auch andersherum gedacht werden kann: «[C]omposition is a key aspect of improvisation.»285 Damit kann auch eine weitere skeptische Haltung relativiert werden: Eine Session mit der SV müsse anders als beispielsweise die oft zitierte Free-Jazz-Session verstanden werden, weil in ersterer nur gespeicherte Da- ten abgerufen werden, in letzterer die Sound- und Rhythmus-Formungen aber erst im Augenblick entstehen. Die Musik- und Medienwissenschaftle- rin Sarah Keith stellt in ihrem Artikel «A generative environment for per- foming contemporary » genau das fest.286 AL mit der SV sei eher ein Rekombinationsprogramm für vorkomponierte Loops, das ein non-lineares Playback-Konzept verfolge, als dass es sich für Improvisationen eigne – «output is wholly deterministic».287 Keith schreibt, vor allem das in- teraktive Moment einer Improvisation vermissend:

«Furthermore, the production of new material in performance is constrained by Ableton live’s approach. Although sections and loops can be selected, la- yered, recombined, and processed in real-time, creating new note-level mate- rial without recourse to external instruments is problematic».288 Sarah Keith zielt selbst auf einen musikalischen Weg, den sie mit «[f]rom modeling to generative creativity»289 überschreibt, und nennt also die Parameter, die eine Improvisation ausmachen. Die Fragen, die sich über den oben mit Wolfgang Ernst argumentierten Aspekt hinaus stellen, lauten: Warum gilt die Echtzeitkontrolle über Audioeffekte und Processing, über Phrasen und Loops oder Klangmodulation nicht als generative Kreativität? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit etwas als «creating new note-level material» gehört wird? Ist musikalischer Output, und sei er noch so menschlich-interaktiv improvisiert, letztlich nicht immer auch determi-

285 Folkestad, «Digital tools and discourse in music», S. 201. 286 Keith, Sarah (2009): «A generative environment for performing contemporary electronic music. Proceedings of the 2009 Australian Computer Music Con- ference, Brisbane», online unter: http://www.cetenbaath.com/cb/wp-content/ uploads/2010/12/SKeith_ACMC09.pdf, zuletzt geprüft am 26.03.2014, pdf S. 1. 287 ebenda, S. 2. 288 ebenda. Letztlich ist der gesamte Artikel von Sarah Keith als ein Werbetext mit kulturtheoretischen Einlagen für ein von ihr entwickeltes «performance environment» mit dem Namen «Deviate» zu lesen (pdf S. 3). 289 Ebenda, S. 3.

147 Teil 2: Wissen ausblenden und trotzen niertes Signal? Gibt es in dieser Hinsicht tatsächlich einen Unterschied zwi- schen dem, was aus dem Schallbecher eines Saxophons herauskommt, und dem Signal, das zuvor als Daten Prozessoren oder Schaltungen durchlaufen hat und schließlich aus Lautsprechern zu hören ist? Gültig bleibt, wie bei jedem MusikmachDing, das nie nur als Tool oder verlängerter Arm des Menschen anzuerkennen ist, dass der SV auch etwas eigenständig Generatives anhaften muss. Das heißt, AL und die SV können in bestimmten oder in zu bestimmenden Weisen sozusagen sogar «mehr Session», weil mit ihnen eine Session zu spielen etwas anderes bedeutet als zum Beispiel nur mit Menschen, die mit ihren «Instrumenten» umzugehen gelernt haben. Folkestad beschreibt das, auch wenn er sich vom Begriff Tool nicht löst, als «the new tool gets ‹a life of its own› […] the usage of the new tool refers both backwards – to the already established ways of working and thinking – and forwards: towards the future, and to new ways of wor- king».290 Session darf nur nicht – so oder so – allzu flach mit Freiheit, to- tal Unkonventionellem und irgendetwas «ganz Ursprünglichem aus einem völlig unbekanntem Inneren» verwechselt werden.291 Der auf künstlerische Vorgänge fokussierte Philosoph Alessandro Ber- tinetto hält in seinem Artikel «Improvisation: Zwischen Experiment und Experimentalität» (2012) noch an irgendeinem konservativ-mystifizierten Improvisationsbegriff fest, schreibt aber über Technik/Technologie als Ak- tant folgendes: «Der Einfluss audiovisueller Medien auf dieE ntwicklung improvisatorischer Traditionen ist übrigens sehr wohl bekannt. Die in Aufnahmen eingefrorenen Improvisationen sind zwar keine Improvisationen mehr. Sie können trotz- dem nicht nur den Prozess dokumentieren, der sie produziert hatte, sondern auch zukünftige Improvisationen beeinflussen. Improvisation im strikten Sinne (d. i. erfinderischeP erformances auf [sic!] dem Stegreif) wird auf diese Weise auf Improvisation im weiten Sinne (d. i. die historische und transfor- mative Entwicklung von Kunstpraktiken, in der jedes neue Produkt die Praxis zugleich verwirklicht und verändert) bezogen. In diesem Sinne nehmen die Produkte der Improvisation am improvisatorischen Prozess teil.»292

290 Folkestad, Digital tools and discourse in music, S. 200. 291 eine Diskussion über «Echtzeit» wird in diesem Zusammenhang nicht ge- führt, weil davon ausgegangen wird, dass es eine solche nur in Relativität geben kann: Verzögerungen von Sounds aus dem Computer, die durch Zwi- schenlagerung in Puffern entstehen, unterscheiden sich nur noch bedingt von Verzögerungen in der Produktion von zum Beispiel Trompetentönen, für die unter anderem ein Druck im Instrument aufgebaut werden muss. 292 Bertinetto, Improvisation, S. 10.

148 Session im Formular

Alessandro Bertinetto kennzeichnet Improvisation als zugleich spontanes und gebundenes Performen, ein Tun, bei dem ein Mensch sich beobachte und seine eigene Tätigkeit bewerte, ein Tun, das blitzschnell sei, über das nicht nachgedacht werde.293 Er nennt die Prozesse, die in Gang gesetzt werden, «psycho-motorische Automatismen», die durch Lernen angeeig- net werden.294 Der Begriff des Automatismus ist in der skizzierten Vorstel- lungsreihe zur SV von besonderem Belang, denn Automatisierung wird kulturwissenschaftlich auch als ein Vorgang verstanden, der «geradezu für die Schwelle zwischen bewusst und unbewusst [steht] […] [und] sich einer bewussten Reflexion und Gestaltung weitgehend entzieh[t]».295 Das heißt, Automatismus und Automatisierung, auch in der SV, stehen nicht, wie einleitend kritisch hinterfragt, zwingend im Widerspruch zur Session, sondern sind sogar eine Voraussetzung. Im Zusammenhang von Instant-Sessions mit der SV stellt sich, so ge- klärt ist, dass die Dinge mitwirken und mit ihnen kreatives Material ge- neriert werden kann, dann allerdings eine andere Frage: Inwieweit erlaubt die Session-Technologie überhaupt eine wenig bewusste Gestaltung? Nicht, dass nicht die Möglichkeiten der Gestaltung gegeben wären, sondern dass es schwierig ist, in eine nicht erst rationale Distanz bei der Gestaltung zu treten. Rolf Großmann schreibt:

«Der Zugriff auf eine halbfertige Musik, die dem Instrument bereits latent eingeschrieben ist, entbindet den Menschen der Notwendigkeit der phy- sischen Ausführung aller Details der Klangformung, das Instrument schafft eine neue Distanz zwischen dem physischen Gestaltungsprozess und der physischen Gestalt der erklingenden Musik. Gleichzeitig, dies liegt in der Natur des Umgangs mit den komplexen Strukturen phonographisch gespei- cherter oder algorithmisch generierter Musik, werden rationale Distanz und reflexive Durchdringung sehr bald integraler Teil des musikalischen Spiels, da die gestalterischen Prozesse ein gewisses Maß an Planung notwendiger- weise vorauszusetzen scheinen.»296 Nach der Entbindung von gewissen virtuosen Fertigkeiten durch die Mu- sikmachDinge, nach der Erkenntnis, dass Session und Improvisation im-

293 ebenda, S. 1. 294 Ebenda. 295 Bublitz, Hannelore; Marek, Roman; Steinmann, Christina und Winkler, Hart- mut (2010): «Einleitung», in: dies. (Hg.): Automatismen, München und ande- re: Fink, S. 9–16, hier S. 14. 296 Großmann, Distanzierte Verhältnisse, ohne Seitenpaginierung.

149 Teil 2: Wissen ausblenden und trotzen mer Fertig-keiten (im Sinne des vorbereiteten Materials) bedeuten, nach der Entdeckung von zuvor ungeahnten Fertig-keiten, die das digitale «so- nische Gedächtnis» bereithält, bleibt die Frage, wie viel Raum – nicht ob – das panoptische, geschlossene System SV für die nicht-rationale Distanz und -reflexive Durchdringung lässt. Diese Frage ist nicht nur auf die Nut- zer*innen zu beziehen, sondern, so das MusikmachDing auch als Aktant der Session aufgefasst wird, eben auch auf das Programm. Trotz der voran- gestellten These, gerade mit der SV lasse sich sessionieren, gehe ich davon aus, dass diese Räume des Nicht-vorher-Bedachten stark beschränkt sind. Der Eindruck, den das Programm bei mir erweckt, ist, dass nahezu alles an- tizipiert wird. In programmatischer Weise liefert AL beispielsweise «Ran- dom» und «Chaos» im MIDI-Effekt-Ordner als Presets gleich mit.

Die Er-füllung des Session-Formulars

Das Konzept der Session ist längst entmystifiziert. Humane Session- Spieler*innen füllen Formulare aus. Die Formulare antizipieren durch eingebaute leere Stellen – und nur in diesen – sogar Abweichung und Wi- dersprüche. Nachdem ich die Tabellen und den sichtbaren Aufbau des For- mulars hauptsächlich fokussiert habe, sei nun die Aufmerksamkeit auf die Leerstellen gerichtet.

«Die Leerstellen machen [...] das auf den ersten Blick Eigentümliche des For- mulars aus: Ein Formular ist ein Text, der jemandem vorgelegt wird mit der Aufforderung, an bestimmten Stellen Textstücke zu ergänzen um Angaben, zu denen nur er selbst aus unvertretbarer Kenntnis der eigenen Situation in der Lage ist. Die offengelassenen, weißen, leeren Stellen des Formulars ver- anlassen den Ausfüller jeweils zum Innehalten in der Lektüre des ausformu- lierten Teiles und zur Überlegung und Entscheidung über die für ihn ganz besondere Weise der ‹Fortsetzung› des Formulartextes. Auch das Nichtbe- troffensein ist jeweils anzumerken, etwa durch ein ‹entfällt›, einS treichen oder das einfache Leerlassen der Leerstelle.»297 Die leeren Stellen sind wichtiger Teil des Formulars, denn sie erlauben oder fordern erst die Erfüllung und ermöglichen auch eine gezielte Abweichung von Vorgaben oder gezieltes Spielen gegen die Regeln. In Bezug auf das evo- zierte Spannungsverhältnis zwischen Session und Formular müssen nicht die Session- und Improvisationsbegriffe absolut korrigiert werden, sondern vielmehr sollte das Wesentliche des Formulars nachvollzogen und auch das

297 Frese, Prozesse im Handlungsfeld, S. 158.

150 Session im Formular

Verständnis über Nutzer*innen, also die Formular-Ausfüller*innen, geklärt werden. Eine Session in AL und in der SV ist dann nicht möglich, wenn das Programm so aufgefasst wird, dass Nutzer*innen nur eine vorgegebene fixe Rolle spielen können. Wenn sie nur in einer Weise ausfüllen könnten, bräuchte das Formular keine Leerstellen anzubieten. Zu unterkomplex gedacht wäre es, eine These zu untermauern, die be- hauptet, Session (nicht nur in der SV) bedeute das eindeutige Ausfüllen oder die klar vorgeschriebene Er-füllung von Formularvorgaben. Eine Oberfläche wie SV strukturiert auch nicht einfach nur Strukturiertes. Das Ziel, eine Formularperspektive in Bezug auf Musiknetzwerke zentral zu set- zen, liegt nicht darin, alles unter einen fixen Strukturbegriff zu ordnen oder betrübt festzustellen, dass alles nur erwartbar er-füllt werden kann. Der Er- kenntnisgewinn, zum Beispiel AL oder die SV als Formular zu verstehen, liegt darin, überhaupt eine Struktur zu erkennen und sich dann auch für die Leerstellen zu interessieren. Ein fruchtbarer Ansatz, der die Möglichkeit des Spiels im Formular er- kennt, findet sich in den Handlungstheorien des bereits einführend zitierten Soziologen Jürgen Frese. Vielleicht ist das Paradigma, das Frese vorschlägt, für den voranstehend, auch kulturwissenschaftlich erwanderten musika- lischen Zusammenhang zu groß und soziologisch, es soll an dieser Stelle aber dennoch auf einer Mikroebene in einer Anwendung weitergedacht werden. Frese geht in einem Exkurs seiner Formulartheorie auf den soziolo- gischen Strukturbegriff «Rolle» ein und schlägt eine Korrektur vor.298 Das Problem mit dem Begriff der Rolle liege darin, dass er immer wieder relati- viert werden müsse, weil «[in] diesem Modell […] An- und Einpassung in ein vorgegebenes Handlungsschema, Übernahme einer allgemeinen Struk- tur durch ein Individuum das jeweils Normale [ist], jede Abweichung von der vorgegebenen Struktur dagegen anomal».299 Dieses Rollenverständnis geht von einem vorformulierten Text aus, der von einer Person zu erfüllen ist. Die «empirische Operationalisierung des Rollen-Konzepts [konnte] bis- lang so wenig gelingen.»300 Frese begreift das, was in der Soziologie mit Rolle benannt wird, eher als Formular, das mit «strukturell mögliche[n] Handlun- gen eines bestimmten Mitglieds-Typs»301 im Gefüge einer Gruppe ausgefüllt

298 Frese, Prozesse im Handlungsfeld, S. 161. 299 Ebenda. 300 Ebenda, S. 162. 301 ebenda [Hervorhebungen im Original].

151 Teil 2: Wissen ausblenden und trotzen werden kann. Interessanterweise vergleicht der Soziologe hier das von ihm skizzierte «Rollen-Formular» mit dem Rollenspiel im «Stegreif-Theater»302:

«Erfüllung und Abweichung sind nicht mehr länger Gegensätze, sondern die individuelle Ausfüllung der Leerstellen des Rollen-Formulars ist das Wesent- liche der Erwartungen an ‹richtiges› Rollen-Spiel. […] Nicht die vorgege- benen, die ‹bekannten› Teile des Rollen-Formulars werden ‹erfüllt›, sondern gerade die Leerstellen.»303 In meiner Lesart dieser Theorie sind Formulare Träger von Dispositionen und es besteht kein allzu starkes Spannungsverhältnis zwischen den Kon- zepten «Formular» und «Session». Der Formularbegriff wird sehr um- fassend gedacht, so weit, dass die humanen (Session-)Spielenden auch in ihrem Rollen-Formular erkannt werden. Für die an in Formularen einge- schriebenem Wissen interessierte Analyse ist demnach das Ausfüllen der Formulare von Bedeutung, allerdings nicht in einer banalen Weise, aus der jetzt zu schließen sei, es käme eben darauf an, wie jemand das Formular ausfüllt und das finde irgendwie frei statt. Die komplexen Verknüpfungen des Session-Technologie-Formulars mit den Rollen-Formularen, «mit Be- dürfnissen, Interessen und Intentionen des Rollen-Spielers»304, können Er- kenntnisse für die kulturwissenschaftliche und -soziologische sowie musik- wissenschaftliche Forschung generieren. Der Formularbegriff löst den Dualismus zwischen dem Subjektiven, In- tuitiven und der individuellen kontingenten Erfahrung auf der einen Seite und den Gruppennormen oder Musikregeln, denen auch die Musik- und Session-Technologien gehorchen sollen, auf der anderen Seite auf. Die Sessi- on- und Rollen-Formulare sind jedoch nicht totalitär. Und der Formularbe- griff meint auch nicht einfach eine schlichte Verwässerung in der Art, dass äußere Regulierung und irgendwelche «inneren Impulse» der Sessionie- renden interdependent zum Tragen kommen. Es soll stattdessen verdeutli- cht sein, dass das Session-Formular von vornherein leere Felder bereitstellt, die ausgefüllt werden können – allerdings wiederum entsprechend der Rollen-Formulare der Nutzenden. Sowohl die Formular-Entwickler*innen (beispielsweise die SV-Autoren) als auch die Formular-Ausfüller*innen (beispielsweise die SV-Nutzenden) erfüllen Rollen-Formulare. Nicht nur die Software oder Lead Sheets in Form eines Notenblattes sind Formulare.

302 Ebenda. 303 ebenda, S. 161 f. [Hervorhebungen im Original]. 304 ebenda, S. 162.

152 Session im Formular

Session, Improvisation oder non-verbale Abstimmungsprozesse zwi- schen Akteur*innen in der musikalischen Praxis sind vielleicht mit perfor- mativer Intersubjektivität gleichzusetzen,305 nach der oben skizzierten Per- spektive aber sicherlich als «Inter-Formularität» zu verstehen. Erst durch die Bereitstellung der Leerstellen können Formulare wie die SV so nahezu einwandfrei funktionieren und provozieren so wenige Widerstände, denn sie erlauben das Eintragen kontingenter Rollen-Formular-Erfahrungen – nicht mehr und nicht weniger.

305 Haller, Melanie (2009): «Bewegte Ordnungen: Kontingenz und Intersubjek- tivität im Tango Argentino» in: Thomas Alkemeyer; Kristina Brümmer; Rea Kodalle und andere (Hg.): Ordnung in Bewegung. Choreographien des Sozialen in Sport, Tanz, Arbeit und Bildung, Bielefeld: transcript, S. 91–105, hier S. 101.

153

Electronic Dance Music’s Ghost Track Preset-Narrative über das Unbehagen gegenüber dem «sauberen Sound» aus «deutschen» Tonstudios

Electronic Dance Music’s Ghost Track

Es ist unsinnig, ein Ursprungsnarrativ elektronischer (Tanz-)Musik von Deutschland aus zu erzählen. Die inter- und transnationalen Einflüs- se, die Diversität der Stile, der Austausch und die globale Bewegung der Akteur*innen sowie der Technologien sind offenkundig. Die imaginierten, deutschlandzentrierten Erzählungen von Stockhausen zu Miles Davis, Kraftwerk zu Afrika Bambaataa und Detroit Techno oder vom WDR-Stu- dio zu Dub gehörten anscheinend dennoch zu «[d]es kleinen Elektromu- sikers Lieblinge[n]».306 Obschon leicht zu dekonstruieren, wird das Label «Elektronische Musik aus Deutschland» (vgl. Titel eines Projekts oder einer Online-Rubrik des Goethe-Instituts)307 mehr oder weniger subtil und eben auch recht offiziell regelmäßig von kulturpolitischen Akteur*innen, Musi- zierenden, Musikjournalist*innen sowie Forscher*innen angerufen.308 Es gibt kaum Elektronische-Musik-Pioniergeschichtsschreibungen, die nicht auf wenigen Seiten kurzschlussartig Berlin, Düsseldorf, Frankfurt, Köln, WDR-Studio, Siemens-Studio für Elektronische Musik, Kling-Klang- Studio vernetzen sowie sogenannte Avantgarde und Neue Musik in nächster Nähe zu Electronic Body Music, Techno oder Minimal House verhandeln.309 Selbstverständlich werden immer auch außereuropäische und nichtdeutsche Bewegungen und Einflüsse (aus Detroit, New York, Paris) genannt. Es bleibt meines Erachtens allerdings höchst fragwürdig und schwach begründet, was diese Stile und Szenen oder individuellen Musiker*innen miteinander ver- bindet – vielleicht auch mehr als mit solchen, die in der Genealogie nicht vorkommen. Besonderer Unwillen in Bezug auf solche deutschdominierten

306 Der Titel «Des kleinen Elektromusikers Lieblinge» stammt von Paul Hinde- mith, der damit ein 1930 komponiertes Stück für Trautonium überschrieben hat (http://www.hindemith.info/leben-werk/biographie/1927-1933/werk/neue- medien/, zuletzt geprüft am 15.12.2015). 307 Auch wenn augenfällig ist, dass in dem vom Goethe-Institut gewählten Titel wahrscheinlich beabsichtigt und um der vielen internationalen Einflüsse und Migrationsgeschichten beispielsweise von DJs wissend «Elektronische Musik aus Deutschland» und nicht «deutsche Elektronische Musik» steht, bleibt die Frage bestehen, warum die Betonung eines nationalen Ausgangs- oder Aus- strahlungspunktes überhaupt relevant sein soll. 308 De:Bug (Januar 2000): «Haben Sie Techno erfunden? Stockhausen: Ja. Karl- heinz Stockhausen im Interview», online unter: http://de-bug.de/mag/424/, zuletzt geprüft am 01.08.2014. 309 shapira, Roni (2006): Switched-on Deutschland: The Sounds of Germany, Ann Arbor: UMI. Siehe auch Wikipedia Artikel zum Beispiel zum Suchbegriff «Elektronische Musik», online unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Elektro nische_Musik, zuletzt geprüft am 01.08.2014.

157 Einleitung

Verschaltungen, wie beispielsweise das jüngst von Sean Nye vorgestellte «Minimal Continuum Germany»,310 in Unterscheidung zu dem ebenfalls schon schwer haltbaren «Hardcore Continuum»311 von Simon Reynolds, ist in dem weiten Feld trotz der offensichtlich globalen Verbindungen kaum zu vernehmen. Sean Nye arbeitet in seiner Forschungsarbeit zu Elektronischer Musik und deutscher Identität unter anderem ironische Brechungen des deutsch gemachten Narrativs elektronischer Musikgeschichte heraus.312 Es dürfte Leser*innen allerdings schwerfallen, die Geschichtserzählung Nyes über Electronic Dance Music (EDM)313, die er in «Minimal Understandings» auf drei Buchseiten spinnt, und die einen roten Faden von Minimal Art, Krautrock, Kraftwerk, Neue Deutsche Welle bis Techno legt, nicht als spe- ziell deutsche zu rezipieren: Über zehn Mal stehen da jeweils die Worte «German» und «Berlin» geschrieben. Da braucht es gar keine explizite Be- hauptung einer deutschen Ursprungserzählung.314 Die kleinen Verweise auf Verbindungen zumindest in die USA können schnell überlesen wer- den. Nye fundiert zudem seine Geschichtsschreibung wiederum mit vielen vorangegangenen ähnlichen Arbeiten und ständig kommen noch «neue» Erzählungen hinzu.315 310 Nye, Sean (2013): «Minimal Understandings. The Berlin Decade, The Mini- mal Continuum, and Debates on The Legacy of German Techno», in: Journal of Popular Music Studies, 25 (2), S. 154–185 hier S. 165. 311 einige Beiträge von Simon Reynolds ab 1992 sind auch nachträglich für und vom Magazin The Wire unter den Obertitel «Hardcore Continuum» gestellt worden. Siehe dazu online unter: http://www.thewire.co.uk/in-writing/es- says/the-wire-300_simon-reynolds-on-the-hardcore-continuum_1_hard core-rave_1992_, zuletzt geprüft am 15.12.2015. 312 Nye, Sean (2013): Teutonic Time-Slip: Travels in Electronic Music, Technolo- gy, and German Identity 1968–2009. A Dissertation submitted to the faculty of the Graduate School of the University of Minnesota, online unter: http:// conservancy.umn.edu/handle/11299//151315, zuletzt geprüft am 15.12.2015, S. 184–197. 313 Nachstehend verwende ich den Terminus «Electronic Dance Music» (EDM). Die Kennzeichnung soll nicht bedeuten, dass damit etwas stilistisch oder äs- thetisch Einheitliches gemeint ist. EDM bezieht sich hier lediglich auf die im Wesentlichen elektronische Produktionsweise und auf Diskurse, die verschie- dene elektronisch geprägte Musiken in Zusammenfassung verhandeln. 314 Nye, «Minimal Understandings», S. 158–160. 315 siehe auch Ismaiel-Wendt, Johannes S. (2014): «Zu Mark J. Butlers Playing with Something that Runs. Technology, Improvisation, and Composition in DJ and Laptop Performance» (Oxford University Press 2014). Eine Art

158 Electronic Dance Music’s Ghost Track

Letztlich sei behauptet, dass dieses Ursprungs- und Kontinuitätsnarrativ «Elektronische Musik aus Deutschland» auch in Bezug auf die Ebene der be- liebtesten Technologien besteht. Zwar stehen immer wieder nichtdeutsche Firmennamen wie Akai, Korg, Roland, Buchla oder Moog im Vordergrund, ein irgendwie besonderes deutsches Instrumentarium wird dennoch imagi- niert.316 Apparate von Studer oder Doepfer tragen, über ihre qualitativen Ei- genschaften hinaus, noch eine «Made in Germany»-Aura. Den deutsch-ber- linerischen Techno-Mythos weiter zu transportieren, scheint beispielsweise auch der Software-Firma Ableton wichtig zu sein, wenn sie stets den Wer- behinweis «stammt aus Berlin» auf Produkten und Netzseiten mitliefert.317 Der folgende Beitrag macht sich nicht weiter zur zentralen Aufgabe, die- ses oben skizzierte verwirrte nationale Musikgeschichtsnarrativ zu entlar- ven. Es geht auch nicht darum, eine Parole wie «Deutschpop halt’s Maul»318 mitzugrölen, die letztlich in ihrer antideutschen Argumentationsweise die nationale Kategorie doch nicht aufzugeben vermag. Vielmehr sei gefragt, wie die Nation-Narration, ob haltbar oder nicht, EDM-Musikproduzierende heute – so oder so – drängt, sich zu ihr und damit verbundenen Stereotypen zu verhalten.319 Die Arbeitsthese lautet: In zahlreichen Interviews, in denen EDM-Produzierende über ihre Arbeit Auskunft geben, ist (latent) eine Po- sitionierung der eigenen Produktionsweisen zur Erzählung «Elektronische Musik aus Deutschland» herauszuhören.320 Und dieses Sich-positionie- ren-Müssen hat letztlich auch Einfluss auf die Ästhetik der Produktionen.

Rezension, online unter: http://www.jochenbonz.de/wp-content/ismaiel- wendt-rezension-butler-2014-playing-with-something.pdf, zuletzt geprüft am 25.11.2015. 316 Der Firmenname «Native Instruments» scheint sich spielerisch zu dieser Imagination des Ursprungs von EDM-Instrumenten zu verhalten. 317 siehe: https://www.ableton.com/de/education/institutional-profiles/sound- studies/, zuletzt geprüft am 15.10.2014. 318 schneider, Frank Apunkt (2015): Deutschpop halt’s Maul. Für eine Ästhetik der Verkrampfung, Mainz: Ventil. 319 Mit dem Fokus auf das Verhalten zu den Stereotypen sei auch eine unreflek- tierte Diskussion vermieden, in die eingebracht werden könnte, dass es den Tatsachen entspräche, dass Pionierarbeiten Elektronischer Musik maßgeblich von Deutschland aus geliefert wurden. 320 Viele EDM-Produzierende beziehen sich in Interviews kaum auf andere Per- sonen, die sie beispielsweise inspiriert haben. Das heißt einerseits, dass sie sich nicht gezielt in eine EDM-Musikgeschichte oder Genealogie einschreiben – sie erscheinen damit als sehr individuelle Musikerinnen und Musiker. Anderer-

159 EDM-Spannungsverhältnisse

EDM-Spannungsverhältnisse

Sean Nye erkennt in seinen Ausführungen zu den «Debates on the Legacy of German Techno» ein Problem der Kontinuumserzählung von EDM. Er merkt am Rande an, dass damit «cultural associations»321 (re-)produziert werden:

«Links between minimal and stereotypes of German reserve, rationality, and exactitude have repeatedly been made, even though minimal music reflects diverse moods (passion, humor, fun, etc.), artistic practices, and origins. Kraftwerk is the central example of these kinds of associations. […] Digi- tal production has permitted this perception of exactitude to be even more accentuated through new sampling technologies and granular synthesis.»322 Wie reagieren EDM-Produzierende auf diese Klischees oder, um im Feldvo- kabular zu bleiben, Presets «of German reserve, rationality, and exactitude»? Als eine interessante qualitative Quelle für Eindrücke aus dieser Richtung soll im Folgenden eine Rubrik aus dem Magazin Groove dienen.323 Seit vie- len Jahren gibt es in diesem deutschsprachigen Magazin für «Elektronische Musik und Clubkultur» (Untertitel) die Seiten, die mit «Studiobericht» bzw. «Im Studio» überschrieben sind. Diverse Produzent*innen und Produ- zent*innenteams werden, oft anlässlich einer Neuerscheinung oder wegen ihrer wiederholten Erfolge, in ihren Studios besucht und nach ihren Pro- duktionsstrategien befragt.324 Vor allem werden auch die von ihnen bevor-

seits werden so aber auch kaum Gegenerzählungen gegen das oftmals kohä- rent inszenierte Narrativ «Elektronische Musik aus Deutschland» vermittelt. 321 Nye, «Minimal Understandings», S. 165. 322 ebenda, S. 165–166. Eigentlich zweifelt Nye in diesem Zitat die Stereotype nur innerhalb des Narrativs «Elektronische Music aus Deutschland» an, nicht die ganze stereotype Geschichte selbst. 323 eine sehr ähnliche Quelle hätte das Magazin De:Bug dargestellt. 324 Da meine Sammlung nicht alle Ausgaben der Groove-Jahrgänge erfasst, kann hier nicht belegt werden, dass nur männliche Produzenten interviewt werden. Die sehr wenigen als weiblich repräsentierten Produzentinnen habe ich nur in Teams (Frau und Mann) wahrgenommen (Groove (Januar/Februar 2007): «Studiobericht 2Raumwohnung» (Inga Humpe und Tommy Eckart), 74–75, sowie Groove (März/April 2012 (135): «Im Studio: Dapayk & Padberg» (Eva Padberg und Niklas Worgt), 66, 67). Obschon im Magazin fast nur Männer von Männern befragt werden und viele EDM-Felder männlich dominiert werden, verwende ich für die Bezeich-

160 Electronic Dance Music’s Ghost Track zugten MusikmachDinge, im Magazin «Abhöre», «Klangerzeuger», «Out- board» und «Software» genannt, vorgestellt. Eine kleine Bildstrecke zeigt die Produzent*innen in ihrem Tonstudio und meistens, geradezu fetischisiert abgebildet, ihre analogen Drum Machines, Synthesizer, Mixing-Konsolen, Bandmaschinen sowie Apple-Computer und Abhörmonitore. Nachstehend sind einige Zitate aus der Rubrik «Studiobericht»/«Im Studio» des Magazins Groove zusammengetragen. Sie werden von mir als Hinweise auf die von Nye genannten «cultural associations» gelesen. Zu- nächst sind Statements gesammelt, die auf (unausgesprochene) Spannungs- verhältnisse verweisen, die Netzwerk-Produktionen vielleicht immer mit sich bringen, wenn sie in einer intensiven Zusammenarbeit zwischen hu- manen und non-humanen Akteur*innen/Aktanten entstehen, wie das bei EDM der Fall ist. Der Medienwissenschaftler Hartmut Winkler formuliert die These: «Automatismen stehen in Spannung zum freien Willen, zu Kon- trolle und Selbstkontrolle und zum Bewusstsein.»325 Nahezu in jeder Ausga- be des Groove-Magazins ist mindestens eine Abwehrreaktion eines Produ- zent*innen gegen die Kontrollabgabe an die Maschinen, Algorithmen oder gegen unkreatives Ausfüllen von Programmmasken zu finden.326 Die Tech- nologie steht dabei stets für das Exakte, Nicht-Intuitive, Immer-Gleiche und Zu-Saubere, gegen welche die humanen Akteur*innen arbeiten. An diese kleine Sammlung anschließend, können ausgewählte Zitate exemplarisch die mehr oder weniger latenten Untertöne hörbar machen, in denen diese Spannungsverhältnisse auch als Bezugnahmen zu einem deutsch gemachten EDM-Narrativ anklingen.

nungen der Akteur*innen gerade nicht ausschließlich männliche Schreibwei- sen. 325 Winkler, Hartmut (2010): «Thesenbaukasten zu Eigenschaften, Funktions- weisen und Funktionen von Automatismen. Teil 1», in: Hannelore Bublitz; Roman Marek; Christina L. Steinmann und andere (Hg.): Automatismen, München: Wilhelm Fink, S. 17–36, hier S. 17. 326 Vgl. Numinos (Juni/August 2013): «Im Studio: Square Pusher», in: Groove, 137, 2013, 75–76, hier S. 76. Siehe auch Michael Leuffen (Juli/August 2014): «Zeitgeschichten: Atom Heart», in: Groove, 149, 64–69, hier S. 66. Zu unter- suchen wäre auch, in welchem Verhältnis die beschriebenen Abwehrreaktio- nen zum Kunstbegriff stehen. Ein Verständnis von Kunst als beispielsweise individuelles, kreatives menschliches Schaffen von Werken, die einzigartig sind und sich nicht wiederholen, dürfte im Widerspruch zu stark automatisch und Preset geprägter Musik stehen, wenn nicht markiert ist, dass letztlich humane Künstler*innen zumindest die Innovator*innen des Ablaufs sind.

161 Beispiele

Beispiele327

Groove: «Im Studio: Bernd Friedmann», Studio in Berlin

«Trotz unendlich vieler Möglichkeiten erscheint mir heute elektronische Mu- sik produktionstechnisch beinahe standardisiert».328 «Die Roland R8 zum Beispiel nennt man ja ‹Human Rhythm Composer› – um aber etwas Ungerades einzustellen, muss man sich durch die Unterseiten arbei- ten.»329

Groove: «Im Studio: Machinedrum» (Travis Stewart), Studio in Berlin Der Groove Autor Eric Mandel schreibt: «Für die Live-Umsetzung stellt sich für jeden Ableton-Benutzer die Frage nach dem Controller. Keiner will mehr auf der Bühne aussehen wie ein Büroarbeiter».330 In diesem Absatz wird dann unmittelbar Machinedrum zitiert, der sagt: «Ein Step-Sequenzer gibt mir mehr von diesem Live-Jam-Gefühl, was mit der Maus einfach nicht auf- kommt.»331 Mandel ergänzt: «Ein bisschen Hall hier, ein Loop-Effekt dort – dazu muss man sich freilich noch einen Schlagzeuger vorstellten, der das Live-Setup er- gänzen und dem Namen Machinedrum eine ganz neue Gewichtung geben wird: Maschine versus Drums.»332

Groove: «Im Studio: Legowelt» (Danny Wolfers), Studio in Scheveningen Numinos, der Groove-Autor, berichtet: «Legowelt hatte ein Tascam Misch- pult, das er aber weggeben hat, weil ihm der ‹Sound zu klinisch wurde›.»333 Legowelt: «Rauschen zeigt auch in stillen Passagen, dass da etwas läuft, dass etwas passiert.»334

327 Nachfolgende Hervorhebungen durch JIW. 328 Numinos (Januar/Februar 2012): «Im Studio: Bernd Friedmann», in: Groove, 134, 78–79, hier S. 78. 329 ebenda, S. 79. 330 Mandel, Eric (September/Oktober 2013): «Im Studio: Machinedrum», in: Groove, 144, S. 81–82 hier S. 82. 331 Ebenda. 332 Ebenda, S. 81. 333 Numinos (Januar/Februar 2013): «Im Studio: Legowelt», in: Groove, 140, S. 75–76, hier S. 76. 334 Ebenda.

162 Electronic Dance Music’s Ghost Track

Numinos schreibt: «Auch in Bezug auf die Drums hat er [Legowelt] eine erstaunlich ‹low-fi-ige› Arbeitsweise entwickelt, denn Schlagwerk durchläuft bei ihm fast immer ein altes Boss CS-1 (Compressor Sustainer) […]. Diese Effektbox sorge bei allen seinen Drumsounds für den typischen ‹Schmatz› und ‹›.»335

Groove: «Studiobericht Mouse On Mars» (Andi Toma und Jan St. Werner), Studio in Düsseldorf (jetzt Berlin) Andi Toma: «Das Soundcraft zerrt echt schön, was man immer gut als Effekt einsetzen kann.»336 Numinos schreibt, im Mouse-On-Mars-Studio finde sich einige Ausrüstung, «um Produktionen mit einem warmen, analogen Sound auszustatten. Damit lässt sich auch hervorragend kaschieren, dass viele der Sounds von Mouse On Mars in jüngerer Zeit aus dem Rechner stammen.»337 Jan St. Werner: «Die Beschränkung darf nicht durch die Geräte kommen. Für uns wäre das ein Grund, etwas technologisch Neues zu finden. Wobei man natürlich manchmal gar nicht spürt, wie sehr man schon von der Technik ge- lenkt wird oder wie weit es die Oberflächendesigner von Native Instruments schon wieder geschafft haben, einen in ihr Terrain zu locken.»338

Groove: «Im Studio: Chopstick & Johnjon» (Chi-Thien Ngyen und John ­Muder), Studio in Berlin Numinos berichtet: «Zwar übernimmt ein Rechner […] die Aufgabe einer Mehrspur-Bandmaschine, sowohl die Recording-, Misch- wie auch Arran- gier-Arbeit erfolgt aber durchgängig auf analogem Weg.»339 Numinos schreibt, um der Stereosumme «noch ein bisschen Punch mit auf den Weg zu geben» verwenden Chopstick & Johnjon unter anderem noch Mikrofonverstärkung (Gerat River MP-2 NV).340 Die oben aufgeführten Zitate spiegeln einen typischen (Szene-)Sprech, der auf den ersten Blick sicher neutral in Hinblick auf die einleitend formulierte Arbeitsthese wirkt, EDM-Produzierende positionieren sich (latent) zur Er-

335 Ebenda. 336 Numinos (Mai/Juni 2009): «Studiobericht Mouse On Mars», in: Groove, 118, S. 68–69, hier S. 68. 337 Ebenda. 338 ebenda, S. 69. 339 Numinos (März/April 2014): «Im Studio: Chopstick & Johnjon», in: Groove, 147, S. 77–78, hier S. 78. 340 Ebenda.

163 Beispiele zählung «Elektronische Musik aus Deutschland». Und vor allem sind sie selbstverständlich stark geprägt durch die*den Interviewer (zumeist Numi- nos). Interessant ist an diesen Aussagen – und eine Liste mit hunderten ähn- lichen wäre erstellbar – die gewählte wiederkehrende Metaphorik. Die auf- gerufenen Bilder zielen darauf, (die eigene) EDM als nicht steril, mit Fehlern und in «Unperfektion»341, organisch und human gesteuert darzustellen. Wi- der das «Klinische» werden Sounds gesucht, die «echt schön zerren», dreckig rauschen oder «atmen»342, Schläge, die wie Herzen «pulsieren» oder «pum- pen» mit «Schmatz» und «Punch». Einer kalten digitalen Technologie wer- den Live-Instrumentalist*innen-Gefühle gegenübergestellt oder sie werden zumindest mit «warmen» analogen Sounds «kaschiert». Technologie und ihre Designer*innen werden geradezu als Verführung gekennzeichnet, gegen die Mensch sich von der «Unterseite» auflehnen müsse. Die Ambivalenz der humanen Akteur*innen im Umgang mit Techniken und Technologien ist offensichtlich: Es gibt solche Techniken und Technologien, die zum Leben- digmachen («live») tauglich sind, und solche, die «klinisch»-starr klingen. Nun ist es naheliegend, darauf hinzuweisen, dass dieses Insistieren auf eine organische Ästhetik und menschliche Letzt-Kontrolle als ein allge- meines Unbehagen in der Kultur der EDM nachzuvollziehen und nicht als etwas typisch «Deutsches» zu verstehen ist. In der Tat werden Statements zum Begehren nach «Dreck» und wider die «Exaktheit» oder das «Sterile» von Produzierenden aus diversen Ländern und mit diversen stilistischen Vorlieben oft eingebracht.343 Die Frage, die sich mir stellt, lautet jedoch: An welcher Negativ-Folie arbeiten sich die zitierten EDM-Produzent*innen oder auch Journalist*innen ab?344

341 Vgl. Numinos (Mai/Juni 2014): «Im Studio: Vermont», in: Groove, 148, S. 83– 84, hier S. 83. 342 Vgl. Numinos (November/Dezember 2013): «Studiotipp», in: Groove, 145, S. 145, S. 80. 343 schmutzigmachen, Verrauschen und Verzerren können als Topos oder äs- thetisches Ideal vieler Musikstile, von Blues, Jazz, über Rock, Punk bis Heavy Metal, gehört werden. Die Fetischisierung von altem analogem Equipment als Technik/Technologie, um «warmen», «satten» Sound zu produzieren oder auch um sich in eine Genealogie mit den frühen Electronic (Dance) Musicians einzuschreiben, ist zum Beispiel an den hohen Preisen abzulesen, die für alte Maschinen auf dem Gebrauchtmarkt verlangt werden. 344 Bei so einer breiten Wertlegung auf das Organische des Technoiden bleiben die Fragen offen, wer eigentlich nicht so produziert bzw. wer überhaupt so ma- schinen-steril veröffentlicht. Die Positionen der zitierten EDM-Produzenten

164 Electronic Dance Music’s Ghost Track

Wer gibt eigentlich den Befehl zum Saubermachen?

Letztlich finde ich nur einzelneS puren (diese aber regelmäßig), die an- zeigen, dass das Spannungsverhältnis, mit dem sich so viele EDM-Ak- teur*innen konfrontiert sehen, auch irgendwie stereotyp deutsch-national assoziiert wird. Nachstehend sind noch einmal Zitate aus dem Groove-Ma- gazin zusammengetragen, die jedes für sich allein nicht unbedingt eindeu- tige Reaktionen auf ein deutsch gemachtes EDM-Narrativ darstellen. In ei- ner Sammlung von Statements lässt sich meines Erachtens aber schließlich doch so etwas wie ein Ghost Track heraushören, der immer mit-schwingt (re-soniert) – wider eine EDM-Ästhetik und Haltung, in der sich Stereotype wie «German reserve, rationality, and exactitude»345 spiegeln.

Groove: «Studiobericht Mouse On Mars” (Andi Toma und Jan St. Werner) Jan St. Werner: «Es müssen Willkür und Völlerei herrschen – man sollte sich von nichts und niemandem beschränken lassen.»346 Jan St. Werner: «Ich glaube, so eine gewisse Klangbefreiungsästhetik haben wir schon – so richtig echte Dogmatik trauen wir uns allerdings nicht zu.»347

Groove: «Im Studio: Chopstick & Johnjon» (Chi-Thien Ngyen und John Muder), Studio in Berlin Numinos schreibt, bei Chopstick & Johnjon landen die Mischungen auf einer Studer A-80 Senkelmaschine, damit sie am «Ende noch mit ein wenig Ana- log-Mojo verfeinert werden.»348

Groove: «Im Studio: Legowelt» (Danny Wolfers), Numinos schreibt über Legowelt «[D]ie Produktionen des Niederländers zeichnen sich durch das bewusste Verschleifen, Verzerren und Patinieren der Klänge aus.»349

oder Journalisten scheinen sehr homogen und eigentlich scheinen alle ande- ren Produktionsformen völlig irrelevant für die entsprechenden Szenen. Ein EDM-Produzent, der in einer distinktiven Ästhetik vielleicht auch sehr erfolg- reich veröffentlicht, beispielsweise Peter Boström (unter anderem Helene Fi- scher, Loreen), wird von einem Magazin wie Groove oder den darin vorgestell- ten Produzenten doch wahrscheinlich gar nicht wahrgenommen oder zitiert. 345 Nye, Minimal Understandings, S. 165–166. 346 Numinos, Studiobericht Mouse On Mars, S. 68. 347 Ebenda. 348 Numinos, Im Studio: Chopstick & Johnjon, S. 78. 349 Numinos, Im Studio: Legowelt, S. 75.

165 Wer gibt eigentlich den Befehl zum Saubermachen?

Groove: «Studiobericht Alter Ego» (Roman Flügel und Jörn Elling Wutt- ke), Studio in Darmstadt «IN DEUTSCHLAND SCHLÄGT EINEM AUS VIELEN STÜCKEN EINE UNGLAUBLICHE BIEDERKEIT ENTGEGEN.»350 Numinos schreibt: «Neben allen Klang Experimenten [sic!] ist für Alter Ego vor allem die Tatsache bezeichnend, dass sie – im Gegensatz zur Mehrheit der Techno-Einzelkämpfer – als Produzenten-Duo arbeiten. Dass solche Ge- winn bringenden Allianzen gerade in Deutschland (ganz im Gegensatz zu England) eher selten sind, ist eigentlich unverständlich.»351 Roman Flügel: «Seit wir in Clubs gegangen sind, war uns immer wichtig, dass uns Tracks in ihrer Bizarrheit oder Kaputtheit überraschen. Das ist eine Sache, die ich in Deutschland bei vielen Produzenten gerade sehr vermisse. In Eng- land hat man da eine ganz andere Szene, da wurde gerade durch Drum’n’Bass immer schon eine gewisse Hysterie großgeschrieben, während man sich hier teilweise auf sein Ketamin-Afterhour-Geplacker zurückzieht und glaubt, das ginge jetzt zu Herzen oder da seien gerade alle tief drin.»352 Roman Flügel: «Ich finde ‹Club› heißt eben auch ‹Grenzen überschreiten›. Und die Musik dazu sollte genau das tun – manchmal auch des guten Ge- schmacks. Ansonsten finden wir uns auf einer Art Parteitag einer konserva- tiven Partei wieder, […] was für mich der Untergang wäre.»353 Nur selten wird in den Studioberichten so explizit eine Verbindung zu Deutschland vorgebracht wie von dem Produzentenduo Alter Ego. Das Stereotyp der «deutschen Biederkeit» wird in der zitierten Groove-Ausgabe von 2007 noch unmittelbar plakativ reproduziert, was in dieser Direktheit in den letzten Jahren selten passiert.354 In der Sammlung all der Statements fällt wieder der geradezu habitualisierte – automatisierte – Sprech auf, der «Kaputtheit» oder «Verzerren» für EDM fordert. Der «Niederländer»

350 Numinos (November/Dezember 2007): «Studiobericht Alter Ego», in: Groo- ve, 109, S. 74–75, hier S. 74 [Kapitälchen im Original]. 351 ebenda, S. 75. 352 Ebenda. 353 Ebenda. 354 Atom TM (aka ) spricht im Zusammenhang mit seiner EDM-Pro- duktion «Liedgut» (2009) bereits von «Post-Biedermeier»-Zusammenhängen und reflektiert das Stereotyp von Schubert bis Kraftwerk spielerisch (De:Bug (März 2009 (129)): «Atom TM mit neuem Liedgut. Uwe Schmidts Mega-Fuge und die Bezüge zur Romantik, Kraftwerk und Biedermeier», online unter: http:// archive.today/gF8Ku#selection-407.184-407.190, zuletzt geprüft am 30.07.2014).

166 Electronic Dance Music’s Ghost Track oder analoge Gerätschaften verfügen für den Musikjournalisten Numinos über ein besonderes Bewusstsein für das «Verschleifen» oder über «Mojo». Wahrscheinlich ging es dem Autoren nur darum, nicht immer die gleichen Bezeichnungen verwenden zu müssen. Für eine Lesart, die auch das Latente analysiert, ist durchaus interessant, warum an diesen Stellen die Nationa- lität eines*r Produzenten*in relevant wird oder der Mojo-Begriff gewählt wird, der im Allgemeinen eher im Zusammenhang mit Schwarzen Popkul- turproduktionen auftaucht. Schlüsselwörter in den oben genannten Zitaten sind «Büroarbeiter», «geplacker», «dogmatisch», «konservativer Parteitag», «klinisch», «Einzel- kämpfer», «Untergang», «Verlockung» und Forderungen nach dem «Hu- manen», «Warmen», «Feinen», «Völlerei» – mitzudenken sind die unausge- sprochenen Antonyme. Innerhalb einer ritualisierten Erzählung «Elektro- nische Musik aus Deutschland» legt solcher Duktus wahrscheinlich nicht nur für mich folgende Assoziationen und das zugegebenermaßen stark überspitzte, stereotype Bild nahe:

EDM Produzierende dürfen/wollen nicht den Eindruck vollstreckender «Schreibtischtäter*innen» erwecken – keine Nazis sein,355 die etwas so Leben- diges wie Musik eiskalt in Rechenwerten betrachten und nur als logistische Auf- gabe behandeln. Auf niemanden und schon gar nicht auf einen der oben zitierten Produ- zent*innen oder Journalist*innen soll diese Beschreibung zutreffen. Die Statements verdeutlichen doch eher, dass die Akteur*innen gegen die ne- gativen Stereotype arbeiten. Die zahlreichen immer noch geführten Dis- kussionen beispielsweise in Bezug auf Kraftwerks Musik, Titel oder Cover und eine vermeintliche «Nazi-Ästhetik» und die Betonung der ironischen Brechung der Band damit, machen aber unter anderem klar, dass dieses Bild nicht von allzu weit hergeholt ist.356 Diese überspitzte Zusammenstel-

355 Jan Werner (Mitglied von Mouse On Mars) veröffentlichte mit Klaus Sander 2005 ein Buch mit Gesprächen über Elektronische Musik unter dem Titel Vorgemischte Welt (Frankfurt a. M.: Suhrkamp). In diesem sind ordinäre Kommentare zu Musikprogrammen, Presets gesammelt und manchen DJs oder Recording Artists in dieser Sachbearbeiter*innen-Rolle dargestellt. Mu- sikalische Strukturen wie ein 4-Viertel-Beat werden von Werner durchaus als «fa­schis­to­id» (Vorgemischte Welt, S. 63) bezeichnet. 356 Albiez, Sean und Lindvig, Kyrre Tromm (2011): «Autobahn und Heimat- klänge: Soundtracking the FRG», in: Sean Albiez und David Pattie (Hg.): Kraftwerk. Non-stop Music, London: The Continuum International Publish- ing Group, S. 15–43. Vgl. auch Adelt, Ulrich (2012): «Machines with a Heart:

167 Wer gibt eigentlich den Befehl zum Saubermachen? lung der von mir aus dem Zusammenhang gerissenen Zitate soll verdeut- lichen, dass ein Dilemma der Elektronischen Musikgeschichtsschreibung von Deutschland aus darin liegt, dass allgemeine Spannungsverhältnisse, die in EDM gegeben sind, schließlich auch germanisiert werden. Das rituelle, sampleartige Wiedereinbringen von Elementen des Narrativs «Elektronische Musik aus Deutschland» in einer Vielzahl von Formaten, die Dauerhaftigkeit des Schreibstils in Rubriken wie dem «Studiobericht», ver- teilt auf eine Vielzahl von Informant*innen, bilden – so oder so – EDM’s Ghost Track. Sie sichern seine Haltbarkeit, legitimieren und bedeuten sogar Kumulation, im Sinne der Reichweite. Das Narrativ ist kein Hidden Track, in dem Sinne, dass es versteckt ist. Es ist ein Ghost Track, der nicht gelistet die ganze Zeit mitschwingt. Wenn die Produzent*innen beim Wort genom- men werden dürfen, ist der Ghost Track in den Dance Tracks permanent mitzuhören: Dann stehen Pulsieren, Atmen, Punch, Analog-Mojo, Noise, Band-Sättigung und Live-Editing nicht mehr einfach nur für eine Klangäs- thetik, sondern zumindest auch für eine Befreiungsästhetik von «deutscher Biederkeit».

German Identity and the Music of Can and Kraftwerk», in: Popular Music and Society, Volume 35, Issue 3, S. 359–374.

168

Anmerkungen zum Rechtsstreit über Musik-Sampling – «Kraftwerk (Ralf Hütter) vs. Moses Pelham» – und zur Frage nach rassismuskritischer, semiotischer Demokratie

Anmerkungen zum Rechtsstreit über Musik-Sampling

«Ich hab’ gepennt in der Schule. Die Klasse hat gelacht. Dann bin ich aufgewacht. Ich hab’ die Nacht im Studio verbracht. Kennst Du die Pracht einer Platte, die sich dreht, wenn auf dieser Platte Dein Name steht?» (Rödelheim Hartreim Projekt: «Ich bin», MCA Records 1996) Diese Zeilen des circa 20 Jahre alten Rap-Textes vom Rödelheim Hartreim Projekt, bei dem Moses Pelham Mitglied war, erscheinen hochaktuell, seit der Sampling-Rechtsstreit zwischen Moses Pelham und Ralf Hütter von der Gruppe Kraftwerk 2015 vor dem Bundesverfassungsgericht ausgetragen wird. Deutlich hörbar hat der Pop- und Hip-Hop-Produzent Moses P aus dem Kraftwerk-Stück «Metall auf Metall»357 eine kurze Sequenz kopiert, ge- loopt und unter anderem damit einen neuen Track für die Rapperin Schwe- ster S gebastelt. Das Problem, mit dem sich die Richter*innen in höchster Instanz in Deutschland nun beschäftigen müssen, liegt in der Frage, obP el- ham die «Pracht einer Platte, die sich dreht, wenn auf dieser Platte [sein] Name steht» und eben nicht «Kraftwerk», auch zuzustehen ist. Genauer: Ob diese Form und Vorgehensweise des Samplings erlaubt sein soll. Die nachstehende Auseinandersetzung zielt nicht auf eine juristische Bewertung des Falls (eher auf eine Bewertung des Juristischen in diesem Fall), sondern interessiert sich für die gesamten oben zitierten Rap-Zeilen. Der Reim verweist zum einen auf die (situative) Nichtpartizipation an in- stitutionalisierter Bildung des lyrischen Ich: «Ich hab’ gepennt in der Schule. Die Klasse hat gelacht.» Zum anderen zeigt sich, welch enorme Bedeutung andere kulturelle Gestaltungs- und Beitragsmöglichkeiten für Subjekte haben können. Das meint hier «semiotische Demokratie»: die kulturelle oder auch künstlerische Kodierung der Umwelt unter größtmöglicher Beteiligung, die nicht nur Institutionen und sich als Eliten Imaginierenden vorbehalten ist.358 Der Terminus ist übernommen aus den Cultural Studies (unter anderem geprägt von John Fiske oder David Morley).

«[...] John Fiske, coined the term ‹semiotic democracy› to describe a world where audiences freely and widely engage in the use of cultural symbols in re- sponse to the forces of media. A semiotic democracy enables the audience, to

357 Kraftwerk (1977): «Metall auf Metall», aufTrans Europa Express, KlingKlang/ MI. 358 Becker, Konrad (2004): «Terror, Freiheit und Semiotische Politik», in: Kultur- risse. Zeitschrift für radikaldemokratische Kulturpolitik, 3/2004, online unter: http://kulturrisse.at/ausgaben/032004/kulturpolitiken/terror-freiheit-und- semiotische-politik, zuletzt geprüft am 08.12.2015.

173 «Ich bin der Musikant mit Taschenrechner in der Hand»

a varying degree, to ‹resist,› ‹subvert,› and ‹recode› certain cultural symbols to express meanings that are different from the ones intended by their creators, thereby empowering consumers, rather than producers.»359 Die Anmerkungen zu diesem Rechtsstreit über Musik-Sampling und zu semiotischer Demokratie sollen durch eine rassismussensible Perspektive geleitet sein. Voranstellen möchte ich, dass diese Perspektive Pelham oder Hütter nicht – möglicher- und unsinnigerweise gar aufgrund ihrer Haut- farbe – als Repräsentanten Schwarzer oder Weißer (Musik-)Kulturen po- sitioniert. Es meint ebenso wenig, dass bestimmte musikalische oder kom- positorische Strategien als Schwarze oder Weiße zu verstehen sind. Ziel ist eine sensibilisierte Lesart von Argumentationsstrukturen, die in solchen Rechtsfällen virulent werden, weil sie auch rassistisch konstituierte Felder betreffen, in denen es um Kodierungs- und Aneignungsmacht, Archive, er- fundene Traditionen, Kanonisierung, Technologie und Anerkennung von Kulturtechniken geht.

«Ich bin der Musikant mit Taschenrechner in der Hand»360

Vor dem Gerichtssaal, in dem der von Ralf Hütter und Moses Pelham vor- gebrachte Fall verhandelt wird, halten Journalist*innen Mikrofone und Ka- meras vor Hütter. In seinem auf Nachrichtensendern übermittelten State- ment empört sich das Kraftwerk-Mitglied: «Man stellt sein ganzes Leben in den Dienst dieser Kunst und dieser Arbeit und jemand anders greift durch Knopfdruck und irgendwie heraus und, und macht da etwas anderes

359 Katial, Sonia K. (2006): «Semiotic Disobidience», in: Washington Universi- ty Law review, Volume 84, Issue 3, 2006, S. 489–571, hier S. 489, 490, online unter: http://openscholarship.wustl.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1180& context=law_lawreview, zuletzt geprüft am 8.12.2015. Diesem Verständnis oder dieser Lesart von «semiotic democracy» wird oft entgegengehalten, dass sie die Möglichkeiten des «Empowerment» romanti- siere. Im Fall von Sampling zeigt sich jedoch eindeutig die Handlungsfähig- keit der Nutzer*innen. Musikmedien werden nicht nur konsumiert, sondern mit ihnen wird aktiv neu produziert. 360 Kraftwerk (1981): «Taschenrechner», auf Computerwelt, KlingKlang/EMI/ Capitol Records.

174 Anmerkungen zum Rechtsstreit über Musik-Sampling mit.»361 Die Zeitungen, die über die Auseinandersetzung berichten, zitie- ren Hütter, der erwartet hätte, dass Pelham danach fragt, ob er das Sample benutzen dürfe. Das siebte biblische Gebot «Du sollst nicht stehlen» soll von Hütter in der Verhandlung zitiert worden sein, gedruckt steht es in fast jedem journalistischen Artikel zu den Verhandlungen.362 Pelham reagiert mit zwei Sätzen, die immer wieder zitiert werden: Sein Vorgehen hielt er «für üblich und rechtens»363. «Hip-Hop ist ohne Sampling nicht möglich, darum stehe ich heute hier. Ich halte das für mein gutes Recht. Es gibt keine Kunst im luftleeren Raum, es geht immer um die Auseinandersetzung mit anderer Kunst»364. Einschub zum Urheberrecht und Copyright365, so es denn in diesem Fall überhaupt darum geht: Der Hinweis darauf, dass die Kraftwerk-Mitglieder mit viel tech- nischem und ökonomischem Aufwand sowie mit viel kreativem Einsatz ihre Musik verwirklichten, ist irreführend beziehungsweise versteht Urheberrechtsideen falsch. Das Urheberrecht war noch nie ein Arbeitsschutzgesetz, das Ausbeutung der Arbeitenden oder pre- kären Lebenssituationen von Künstler*innen vorbeugen sollte. Die gegenteilige Anwendung zeichnet sich eher ab. Die Idee des Schutzes von geistigem Eigentum, Werken oder Produktionsideen, die sich um die dazu umgesetzte Arbeit und diese verrichtende Menschen nicht schert, regelte schon Systeme wie Sklaverei. Adam Haupt skizziert in seinem Artikel «Interrogating Piracy. Race, Colonialism and Ownership» aus dem Jahr 2014 nicht nur eine Geschichte der Verwobenheit zwischen Gender, Class, Race Diskri-

361 Kehlbach, Christoph (2015): «Bundesgerichtshof verhandelt über umstrit- tenes ‹Sampling›», in: tageschau.de, 25.11.2015, online unter: http://www. tagesschau.de/inland/sampling-verfassungsgericht-101.html, zuletzt geprüft am 29.11.2015. 362 Hipp, Dietmar (2015): «Musik-Sampling vor dem Bundesverfassungsgericht: Wenn der Rechtsanwalt mit dem Rapper im Studio sitzt», in: Spiegel On- line Kultur, 25.11.2015, online unter: http://www.spiegel.de/kultur/musik/ bundesverfassungsgericht-moses-pelham-gegen-kraftwerk-a-1064607.html, zuletzt geprüft am 29.11.2015. 363 Ebenda. 364 Kehlbach, tageschau.de. 365 In diesem Kapitel wird nicht zwischen den diversen nationalen Gesetz­ ­ge­ bungen unterschieden (zum Beispiel Deutschland und USA), da die Prozesse der Konstitution der Regelungen grundsätzlich reflektiert werden.

175 «Ich bin der Musikant mit Taschenrechner in der Hand»

minierung, europäischem Imperialismus und Gesetzgebungen von geistigem Eigentum seit John Locke.366 Sein Artikel zeigt auch, dass postkolonial und feministisch informierte Kritiken an diesen Rege- lungen spätestens seit den 1970er Jahren ausgereift vorliegen.367 Ganz simpel formuliert besagen diese, dass zum Beispiel durch Zuweisung von Reproduktionstätigkeiten und Enteignung systematisch verhin- dert wurde und wird, dass Frauen und People of Color in gleicher Weise wie Weiße Männer an der Entwicklung von Geistigem Eigen- tum und am Erfindertum teilnehmen können. Und doch bleiben die vielen in den letzten Jahrzehnten geführten Urheberrechtsdebatten und -verhandlungen schlicht um sich selbst und diese veralteten Re- gelungen kreisend.368 Weißes Herrschaftsdenken ist im Urheberrecht verankert und dieses Recht ist gleichzeitig konstitutiv für dieses Denken. Die heu- tige Tatsache, dass inzwischen Schwarze Produzenten und Musiker als «Hip Hop Mogul[e]»369 (zum Beispiel Dr. Dre, Jay Z) bezeichnet werden können, die auf Grundlage von erworbenen Copyrights über riesige Archive phonographischen Materials herrschen, ist in diesem Sinne als «Entgleitung» zu verstehen. Sie bleibt in derselben Logik der rassistisch konstituierten Eigentumssysteme verhaftet. Die einen Anwält*innen kämpfen für die Freiheit einer (Sampling-)Kunst, die anderen dafür, dass ihre Mandant*innen selbst bestimmen können, ob und welcher Teil ihrer Musik für gewerbliche Wiederverwendungen aus- geschlachtet werden darf. Aufschlussreich an den Aussagen Hütters ist vor allem der konservative Gestus, der ihnen innewohnt. Die Abwertung des «Knopfdrückens» (etwas, das Hütter selbst aus früheren Jahren kennen dürfte) und der Anspruch, gefragt werden zu wollen, sind typische und alt-

366 Haupt, Adam (2014): «Interrogating Piracy. Race, Colonialism and Owner- ship», in: Lars Eckstein und Anja Schwarz (Hg.): Postcolonial Piracy Media Distribution and Cultural Production in the Global South, London, New York: Bloomsbury, S. 179–192. 367 Ebenda. 368 Lobato, Ramon (2014): «The Paradoxes of Piracy», in: Lars Eckstein und Anja Schwarz (Hg.): Postcolonial Piracy Media Distribution and Cultural Production in the Global South, London, New York: Bloomsbury, S. 121–134, hier S. 130. 369 schur, Richard (2014): «Copyright outlaws and hip hop moguls. Intellectual property law and the development of hip hop music», in: Christopher Malone und George Martinez Jr. (Hg.): The Organic Globalizer: Hip Hop, Political De- velopment, and Movement Culture, New York: Bloombury, S. 79–98, hier S. 82.

176 Anmerkungen zum Rechtsstreit über Musik-Sampling bekannte Strategien des Vorwurfs, andere pflegten eine «Unkultur». Dass diese Haltung keine naive, sondern eine strategische Hütters ist, vermag der folgende längere Auszug eines Interviews zu verdeutlichen, das der Musiker 2009 dem «Groove»-Magazin gab.

«Vor allem durch ‹Trans Europa Express› wurdet ihr 1977 auch bei Club-DJs sehr beliebt. Wie habt ihr das erlebt? Als wir Ende der Siebziger in New York zu Besuch waren, nahm uns das Dance-Department unserer Plattenfirma mit in illegale Clubs. Wir tanzten da, und plötzlich spielte der DJ, das war Afrika Bambaataa, ‹Trans Europa Express› und ‹Metall Auf Metall›. Doch die Stücke waren nicht zehn, son- dern zwanzig Minuten lang! Ich dachte noch: ‹Komisch, die Stücke sind doch gar nicht so lang.› Aber dann fand ich heraus, dass er zwei Acetate derselben Platte benutzte und sie ineinander mischte. Wir fanden das fantastisch. Wir selbst haben unsere Musik im Studio manchmal stundenlang gespielt. Dass die Stücke schließlich eine bestimmte Länge hatten, lag nur an der Spielzeit, die man auf Vinyl pressen konnte. Bambaataa samplete euch später auch für seine einflussreiche Single «Planet Rock». Eurer eigenen Idee von Musik war aber vermutlich Detroit-Techno nä- her, für dessen Produzenten ebenfalls das Erschaffen neuer Sounds im Vorder- grund stand. Empfandet ihr das auch so? Wir haben das sehr stark so empfunden. Wir haben diese Musik aus Detroit, als wir sie zum ersten Mal hörten, sofort verstanden. Das war wie eine Traum- hochzeit (lacht). Das waren Brüder im Geiste. Das gab uns auch viel Energie für unsere eigene Arbeit. Du kannst dir ja vorstellen, dass es, als wir anfingen, nur einen kleinen Kreis von Eingeschworenen gab. Unsere Musik wurde zu Beginn ja nicht im Radio gespielt. Wir fühlten uns als Außenseiter.»370 In Bezug auf das vorangestellte Zitat sei nicht weiter berücksichtigt, dass das mehrfache Abspielen und Mixen gerade des Stückes «Metall auf Me- tall» von Hütter als «fantastisch» erlebt wird und das Wort «Energie» auch mit unter anderem monetären Anreizen sowie Anhäufung symbolischen Kapitals für Kraftwerk-Mitglieder gleichzusetzen ist. Als Hütter dieses In- terview gab, hatte er schon Klage gegen Pelham erhoben. Der Paragraph soll verdeutlichen, wie wohlkalkuliert (Hütter) Kraftwerk in Genealogien und musikkulturellen Traditionen platziert (wird). Wahrscheinlich wer- 370 Hoffman, Heiko (2009): «Kraftwerk ‹Das hatte etwas von einem mechani- schen Ballett›», in: Groove, November/Dezember 2009, online unter: http:// www.groove.de/2012/04/18/feature-kraftwerk-groove-121/, zuletzt geprüft am 29.11.2015.

177 «Ich bin der Musikant mit Taschenrechner in der Hand» den der DJ und Gründer der Zulu Nation, Afrika Bambaataa, sowie die ersten Detroiter Techno DJs, People of Color, Kraftwerk nicht danach ge- fragt haben, ob sie diese Platten, ohne Kraftwerk zu nennen, drehen lassen dürfen. Und Hütter wird nicht danach gefragt haben, ob sie ihn auch als «Brother» ansehen. Die Attitüden und Lagen der Musiker scheinen sich doch sehr von denen der Kraftwerk-Mitglieder zu unterscheiden. Bam- baataa und das Geschehen in den ersten Detroiter Techno-Clubs gelten in der (Pop-)Musikgeschichtsschreibung inzwischen als höchst relevant, und zwar wegen, es sei hier einmal so bezeichnet, des bewussten Schwarzen (und Schwulen) «semiotischen Ungehorsams»371/Un-gehör-sams und weil die Akteur*innen als Wegbereiter*innen exakt der musikalischen Spiel- techniken wahrgenommen werden,372 die zurzeit und nach Wunsch Hüt- ters als Diebstahl verhandelt werden sollen. Dass die strategische Einschreibung Kraftwerks in kulturelle Kanones mitverhandelt wird, ist in einer weiteren Situation zu erkennen. Auf Spie- gel-Online wird Folgendes aus der Gerichtsverhandlung am 25. November 2015 berichtet:

«Als Verfassungsrichter Andreas Paulus ganz grundsätzlich fragte, ob die Forderung von Lizenzgebühren für Sampling nicht ‹die Beatles des 21. Jahr- hunderts im Keim ersticken› würde, bat Kraftwerk-Mitglied Hütter noch ein- mal ums Wort: ‹Die Beatles-Generation zeichnet sich dadurch aus, dass sie ihre eigene Musik geschrieben hat.›»373 Auch hier sei nicht weiter ausgearbeitet, dass die Antwort Hütters falsch ist, denn die Beatles spielten auch in der Phase, in der sie international berühmt wurden, noch Songs anderer Musiker*innen nach.374 Interessant an dieser Passage ist, dass in dem Augenblick, in dem die Idee aufkommt, samplingbasiert arbeitende Musiker*innen mit den in den (Weißen) Popka- non aufgenommenen und diesen anführenden Beatles zu vergleichen, wird mit dem Argument des Musik-Selbstschreibens gekontert. Zum einen wird Kraftwerk als die Band, die ihre Musik in mühevoller Arbeit selbst kreierte,

371 Katial, Semiotic Disobidience. 372 Ismaiel-Wendt, Johannes (2011): tracks’n’treks. Populäre Musik und Postkolo- niale Analyse, Münster: Unrast, S. 221. 373 Hipp, Musik-Sampling. 374 Wald, Elijah (2014): «Forbidden Sounds: Exploring the Silences of Music History», in: Dietrich Helms und Thomas Phleps (Hg.): Geschichte wird ge- macht. Zur Historiographie Populärer Musik, Bielefeld: transcript, S. 25–39, hier S. 32, 33.

178 Anmerkungen zum Rechtsstreit über Musik-Sampling so indirekt in den Beatles-Traditionskontext gehievt und samplingbasiert ar- beitende Akteur*innen werden ausgeschlossen. Zum anderen ist aufschluss- reich, dass die Hegemonie des Schreibens, auf welche die elitären Weißen Ideen schon seit Jahrhunderten basieren,375 im Kontext von Musik (wieder) so gewichtig wird.

Wer im Glashaus sitzt, …376

Kraftwerk wird in kulturellen und sonischen Gedächtnissen gerade erin- nert, weil das von der Band eingespielte Material gemixt, gesampelt und von Knopfdrücker*innen wiederverwertet wurde. Die von Hütter zum Ausdruck gebrachte Dankbarkeit gegenüber Bambaataa und den Detroiter Techno DJs ist unbedingt ernst zu nehmen und kann nicht hoch genug be- wertet werden. Ohne diese ungefragten und auch kommerziell interessier- ten Aneignungen würde ich persönlich Kraftwerk beispielsweise vornehm- lich als einen Act erinnern, der in der ZDF-Hitparade von Dieter-Thomas Heck Ende der 1970er Jahre angesagt wurde. Das Besondere an populärer Musik ist, dass sie achronistisch zu funktionieren vermag. Das Diktat der erzählerischen Reihenfolgen entlang eines festen Zeitstrangs ist im Track- Modus aufgehoben. Der Breakbeat- und Electronic-Dance-Music-Forscher Kodwo Eschun erklärt in einem bereits 1999 veröffentlichten Interview:

«Breakbeat hat verschiedene retroaktive Kapitel geöffnet. Auf ähnliche Wei- se bedeutet der Zusammenbruch der langgehegten Vorstellung, Kraftwerk seien der Ursprungsort von Techno, daß Leute viel freier zwischen 70ern und 90ern rumhüpfen können, sich zum Beispiel zwischen Krautrock und Herbie Hancock bewegen können: Es gibt da eine gewisse Offenheit in der Musik.»377 Kraftwerk steht wahrscheinlich mindestens so sehr in derT radition des Samplings wie in der der Beatles. Um den Argumentationsweg noch ein- mal plakativ in einer durchaus auch möglichen Denkweise nachzuzeich- nen: Erst kommt Sampling und dann/damit kommt Kraftwerk. Das Kraft-

375 Weheliye, Alexander G. (2005): Phonographies. Grooves in sonic Afro-moder- nity, Durham: Duke Univ. Press, S. 25. 376 Glashaus ist auch der Name eines Bandprojekts, das von Moses Pelham pro- duziert wird und für welches er die Songtexte schreibt. 377 eshun, Kodwo (1999): Heller als die Sonne: Abenteuer in der Sonic Fiction, Berlin: ID-Verlag, S. 223.

179 Wer im Glaushaus sitzt, ... werk-Stück «Metall auf Metall» basiert selbst auf einer Sampling-Technik, da es nach Aussage Hütters aus vorproduzierten Tonbandstücken zusam- mengesetzt wurde. Wird die Frage danach, von wem das Material aufge- nommen wurde, einen Moment ignoriert, zeigen sich viele Ähnlichkeiten in den Produktionsverfahren Kraftwerks und Pelhams. Dieser exemplarische Argumentationsweg soll nachfolgend zu sehr viel grundsätzlicheren und allgemeineren Schlussfolgerungen führen. Worauf zielen überhaupt Behauptungen der prinzipiellen Unterschiedlichkeit der musikalischen Produktions-, Aufschreibe- oder Phonographieverfahren? Wer führt diese wann mit welcher Motivation an? Eine gänzlich andere Argumentation, die strategischen Essentialismus erkennt, lässt sich durch die ungemein schlüssige Überführung der Juristin Olufunmilayo Arewa stützen. Arewa hinterfragt in ihrer Studie Anwen- dungsweisen von musikalischen Genre-Kategorisierungen vor Gericht.378 Wenn im Zusammenhang mit Copyright Law immer wieder insistiert und zugeschrieben werde, dass vor allem Hip-Hop die Musik sei, die sich durch den direkten Bezug und Verweis auf andere Musik auszeichne, passiere Folgendes: Die Behauptung der grundsätzlichen Andersheit von Hip-Hop führe dazu, andere Musikformen eben auch leichter in ihrer Gesamtheit als etwas anderes imaginieren zu können und Traditionslinien zu erfinden. Eine «sacralization»379 der Musik und des Geschmacks der als Eliten Imagi- nierten finde statt. Die moralisierende Zitation des siebten Gebots im aktuell vor dem Bundesgerichtshof verhandelten Fall wird von mir in diesem Zu- sammenhang gelesen. Das unmarkierte Hip-Hop-Andere wird nach Arewa homogenisiert und eine Binarität wird beziehungsweise Dichotonomien werden so erzeugt.380 Die strategische Wahl der sprachlichen Markierungen vor und von Gerichten ist von besonderer Bedeutung:

«The characterization of hip hop borrowings as theft forms the basis for a negative view of hip hop as a genre that effectively isolates hip hop borrow- ing from other types of borrowing in music. Terminology can be of critical importance. Terminology used to describe hip hop borrowings is often ta- ken from the setting of tangible, physical goods and applied in the context of intangible cultural products such as music. […] Further, defining sampling

378 Arewa, Olufunmilayo B. (2006): «From J. C. Bach to Hip Hop: Musical Bor- rowing, Copyright and Cultural Context», in: North Carolina Law Review, Vol. 84, S. 547–645, hier S. 579, online unter: http://ssrn.com/abstract=633241, zuletzt geprüft am 29.11.2015. 379 Ebenda, S. 588. 380 ebenda, S. 579.

180 Anmerkungen zum Rechtsstreit über Musik-Sampling

as theft or appropriation immediately indicates, prior to any discussion, that something illegal, illegitimate or, at best, inappropriate has occurred.»381 Die faktische Heterogenität und Bezugnahmen aller Musiken werden ver- schleiert, epochale Historisierungen wie «Klassik», «Europäische Kunstmu- sik» werden konstruiert. Plötzlich erscheint Kraftwerk in einer (Weißen) Traditionslinie mit den Beatles und gehört einer Generation an, die sich scheinbar dadurch auszeichnet, dass sie ihre eigene Musik schreibt. Es ist infolge dieser von Ignoranz getragenen Inszenierungen nicht verwunder- lich, dass an vielen Stellen Vokabular funkelt, das auch kolonial anmutet: Es wird leicht, zum Beispiel Kraftwerk in ihrer abgegrenzten Traditionslinie als «Musikpioniere»382 erscheinen zu lassen. Da, wo sie hingingen, war vor- her anscheinend Terra nullis. In Zeiten, in denen für viele in Deutschland wieder die Besinnung auf eine eigene Geschichte, einen Kanon und eigene Werte besondere Konjunktur hat, stellt sich ein wohliges «Wir-Gefühl» da- mit ebenso leicht ein. Der Journalist Michael Pilz schreibt im Zusammen- hang mit dem Rechtsstreit Kraftwerk vs. Pelham in Die Welt dann auch: «[…] ‹Trans Europa Express› von Kraftwerk.E inem Meisterwerk der Pop- musikgeschichte, ohne das wir alle ärmer wären.»383 Wen «wir» nun ein- schließt beziehungsweise ausschließt, bleibt offen. Selbstverständlich sind in Hip-Hop oder Electronic Dance Music ande- re Semantiken fundamental als in der Musik Kraftwerks oder der Beatles. Und aus dieser essenzialisierenden Geschichtsschreibung heraus werden auch Narrative vorgestellt, in denen beispielsweise Bambaataa als Pionier imaginiert wird. Ich möchte jedoch im Kontext der Sampling-Rechtsstrei- tigkeiten für einen strategischen Anti-Essenzialismus plädieren. In Anbe- tracht von Veränderungsstrategien ist es für das (situativ) Marginalisierte allzu müßig zu versuchen, Anerkennung zu finden, indem Praktiken als gleichwertig zu denen der Etablierten dargestellt werden. Diese Tendenz ist beispielsweise deutlich zu erkennen, wenn DJs fordern, dass ihre mühselige Arbeit der Sample-Suche («Diggin in the Crates») und die kreative Leistung der Neukontextualisierung anerkannt werden.384

381 ebenda, S. 581. 382 Hipp, Musik-Sampling. 383 pilz, Michael (2015): «Moses P. gegen Kraftwerk. Warum beide Recht ha- ben», in: Die Welt, 25.11.2015, online unter: http://www.welt.de/kultur/pop/ article149271545/Moses-P-gegen-Kraftwerk-warum-beide-recht-haben. html, zuletzt geprüft am 29.11.2015. 384 Schur, Copyright outlaws and hip hop moguls, S. 86.

181 Wer im Glaushaus sitzt, ...

Das Pochen Pelhams auf die Erhaltungsmöglichkeiten einer «Kunstform» ist aus Sicht seiner Anwält*innen, die innerhalb und mit der Gesetzgebung überzeugen müssen, sinnvoll. Über diese Rahmung hinaus gedacht, ist die­ se Haltung – ein Reflex auf Diffamierungen als Unkultur – jedoch kontra- produktiv, da sie obskure Kategorisierungen und Logiken reproduziert. Eine romantische Verklärung der grundsätzlich widerständigen Appro- priation durch Sampling kann, von im breiten Popgeschäft erfolgreichen Produzent*innen wie Pelham, wohl nicht überzeugend vermittelt werden. Alle, auch die längst Etablierten, rangeln in diesem Streit gleichsam um ein «Underground-Image» – siehe Hütters Erzählung im oben zitierten «Groo- ve»-Interview. Werden die Fragen, ob Sampling erlaubt oder verboten oder was als Kunstform anerkannt werden sollte, geflissentlich ignoriert, wird vielleicht offenbar, dass sich hinter dem Musik-Sampling-Streit eine viel größere Wi- dersprüchlichkeit auftut: Grundsätzlich und gesetzlich wird Geistiges Ei- gentum von sich als Eliten Identifizierten geschützt, während «der freie Aus- tausch und die lebendige Erneuerung von Wissen und Kultur unter größt- möglicher Beteiligung»385 verbaut ist. Einmal angenommen, dass jede*r mit ein paar Mal Knopfdrücken Musik machen könnte und jemand das als eine Möglichkeit des kulturellen Ausdrucks erlebt und platzieren möchte, wären diese breiten Partizipationsmöglichkeiten nicht ein erstrebenswertes Ziel in einer Demokratie? Wie wäre es, möglichst viele Menschen dahin zu führen, nicht nur passiv ausgebildet zu werden, sondern sich an der Pracht eines – so oder so – selbstgemachten Musikstücks zu erfreuen. Dieser Vorschlag ist weit von einem machtfreien Digitale-Demokratie-Irrglauben entfernt, aber fordert, dass jede Möglichkeit zur Partizipation an kultureller Kodierung und Rekodierung ausgeschöpft werden muss. (Kulturelle) Bildungseinrichtungen und auch Technologien versagen ohnehin noch allzu oft, wenn es um die Aufhebung und überhaupt um das Erkennen von semiotischer Repression und Barrieren geht, die in Systemen entstehen, die von Kategoriengrenzen wie Gender, Race, Disability oder Class durchzogen sind. Gleichzeitig werden in übertriebenem und unver- hältnismäßigem Maße Regelungen gesucht und Ressourcen aufgebra(u)cht, um Urheberrechte zu schützen und zu privatisieren, die nur immer wieder neue Barrieren zum Beispiel in der Musikvermittlung und -produktion auf- stellen.386 Von oben herab genehmigtes Sampling zur nichtkommerziellen

385 Becker, «Terror, Freiheit und Semiotische Politik». 386 ellis, Katie und Kent, Mike (2011): Disability and New Media, New York: Tay- lor & Francis, S. 135.

182 Anmerkungen zum Rechtsstreit über Musik-Sampling

Nutzung stellt keinesfalls eine Lösung dar. Solch ein Vorschlag kann nicht anders interpretiert werden, als dass Eliten und Konzerne Pfründe weiter für sich gesichert wissen wollen und niemandem sonst auch Zugang zu die- sem finanziellen Prachterleben bieten wollen.

183

Djiie-söös! Sonische Materialitäten des Glaubens Über die Soundscape-Komposition «L’amplification des Âmes» von Gilles Aubry

Djiie-söös!

Das ist kein leises Rauschen, kein dünnes Rauschen. Es ist ein sattes Rauschen, eines, das gehört werden möchte. Das Dauergeräusch ist – nicht nur metaphorisch gehört – eher schon eine geformte Hüllkurve, eher eine motivierte Form des Spannungsverlaufs als etwas Verhülltes, das irgendwie ungewollt wahrnehmbar bleibt. Das Rauschen beweist, dass da etwas ist. Composition and Spatialization Practices I Ich laufe in einer Acht-Kanal-Audio-Performance-Installation des Soundkünstlers Gilles Aubry herum. Im Februar 2012 platziert Au- bry im Foyer des Hauses der Kulturen der Welt (HKW) acht Speaker in einem doppelten Rechteck und gibt eine Art Konzert. Es ist kein gewöhnliches Konzert, in dem Zuschauer*innen die Bravourleistung von Künstler*innen auf einer Bühne beklatschen können, aber eine typische Klanginstallation wird das auch nicht. Die Art der Eröffnung hat schon etwas von einmaliger Aufführung und einmaligem Ereig- nis. Entsprechend lautet die Ankündigung im Programmheft:

«Friday [Februar 24, 2012] 6.30 to 7 p.m. L’Amplification des Âmes Liveperformance von Gilles Aubry (Sound Artist, Berlin) Im Sommer 2011 sammelte Gilles Aubry Eindrücke aus der religiösen Klangkulisse Kinshasas, in der sich technisch verstärkte Klänge von Stra- ßenpredigten, evangelikalen Missionierungskampagnen und Filmsoundt- racks aus Off-Kinos vermengen. Aubrys Performance betont den Einfluss von Audioverstärkern auf den religiösen Geräuschkosmos der Stadt.»387 Das Arrangement ist klar: Ich werde nicht zu einem fiktiven Besuch in irgendeiner anderen Sound-Umgebung eingeladen. Es geht nicht um die akustische Möblierung zur Imagination eines anderen Raumes, hier gibt es keine Requisiten. Es geht um die akustische Ausstattung selbst. Kommt da ein Signal über dieses Mikrofon? Jemand klopft darauf. «Plok, Plok», ja, es funktioniert. Dann eine Stimme: «A!» Nochmal stakkato: «A! A!» Klar, jemand macht einen Soundcheck und das Rauschen entstammt einer mittelgroßen PA- Anlage. Eine Stimme spricht unterschiedliche Phoneme zum Test in ein Mi-

387 Global Prayers. Redemption and Liberation in the City. Thementage 23.–26. Februar 2012, Programmheft, online unter: https://www.hkw.de/media/ texte/pdf/2012_1/programm_5/global_prayers_programm.pdf, zuletzt ge- prüft am 16.12.2015.

187 The Sound Corpus and the Corpus of Sound krofon: «Djiie!» Schnitt und Pause: «Djiie, Djiie!» Und schließlich kommt so etwas wie die semantische Auflösung des Checks: «A! A! (H)alleluja! Djiie, Djiie, Djiie-söös.» Kein übliches «One, two, test, test»-Soundcheck- Gebrabbel, sondern das «Making of» der dann ausgesprochenen Botschaft: «Jesus is the King!». Etwas heftiger: Ein lauterer Sprechimpuls und da fiept die Anlage. Rück- kopplungen entstehen, wenn die Stimme bei der Silbe «Djiie» hochgeht. Der Tonhöhenabfall für die zweite Silbe «söös» ist kein Problem. Jetzt scheint es optimal zu klingen und auch noch optimal minimal rückzukoppeln. Auch das schärfste «S» wird mit schönem Zischen von der Anlage transportiert: «Jessussssss». The Sound Corpus and the Corpus of Sound I Ein Mikrofon und der Tonabnehmer einer elektrischen Gitarre im Soundcheck: Es sind Luftschall- und elektroakustische Wandler, die für den Gottesdienst getestet werden. Ganz besonders wichtig ist es, dass den Gemeindemitgliedern akustisch bezeugt wird, dass Jesus unter ihnen weilt. Auch wenn ein «Jesus-Halleluja»-Soundcheck zu- nächst ungewöhnlich klingen mag, so knüpft dieser doch an die äl- testen Überlieferungen an. Jesus hat seinen Körper schließlich selbst akustisch vermittelt. Er nahm beim Abendmahl das Brot und sprach: «Dies(es) ist mein Leib». So steht es im Buch Matthäus 26 Vers 26 ge- schrieben. In den diversen Bibelübersetzungen und in den ebenso di- versen christlichen Eucharistieverständnissen ist man sich zumindest darin einig, dass Jesus seine Seinsformen auch in einer gesprochenen, demnach akustischen Wandlung oder Transsubstantiation erklärt hat. Die Spuren werden nun zeitlich gerafft. Herannahende S timmen und Schritte von mehreren Menschen, Geräusche eines nicht allzu festen Bo- dens und nicht allzu festen Schuhwerks verflechten sich mit demS ound- check. Es ist durchaus eine realistische Szene – die Gemeindemitglieder kommen an und die Audio-Anlage wird noch getestet. Die Audiospur- schichtung mit klaren, harten Schnitten bleibt dennoch künstlich. Noch immer wird das Thema «Soundcheck» gespielt. Eine Gitarre wird gestimmt: e h G D A E, E A D G h h h e, so ungefähr, und dann nochmal etwas kor- rigiert: e h G D A E, E A D G h e. Jemand singt. Woran ist eigentlich zu er- kennen, ob jemand zur Probe, in Vorbereitung auf etwas, singt oder bei einem Auftritt vor Publikum? Dieser Jemand hier singt zur Probe und zum Test, ganz eindeutig, da wird noch am Hall-Effekt gedreht.

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Composition and Spatialization Practices II388 Der Soundcheck ist wahrscheinlich eine Feldaufnahme, die Aubry in einer der Neuen Pfingstkirchen in Kinshasa gemacht hat.389 Der Begriff Kirche darf dabei nicht mit europäischer, etwa katholischer, in Stein gehauener Architektur verwechselt werden. Das Testen des Sound Systems findet draußen statt, das ist klar hörbar. Vielleicht gibt es nur ein großes Dach auf Stahlträgern und keine Wände an den Sei- ten. Aber noch einmal: Hier wird kein geschlossener Raum entwor- fen, weder von der Kirche noch von Aubry. Ziel ist auf allen Seiten das Ineinanderfließen der Lautsphären. So ist auch bald schon Stim- menpalaver in das Rauschen und den Soundcheck hineingeschnitten. The Sound Corpus and the Corpus of Sound II Die Schallwandlung ist nicht nur Medium, sie ist selbst auch Corpus. Der Sound ist vielleicht immateriell, so wie der Glauben immateriell ist. Glauben und Sound werden aber stets materiell vermittelt. Die Bedeutung der akustischen Vermittlung des Glaubens wird besonders deutlich im technisch mediatisierten Umgang. Es scheint paradox, aber gerade Glauben und Sounds als unsichtbare Objekte erreichen uns in unserem Leben in multiplen Formen materieller Kultur390 – Audioanlagen (von großen PA-Systemen bis Car-Hi-fis), Kassetten, CDs, DVDs, Audio-Archive (private und öffentliche). Formen sol- cher Mediatisierungen und materiellen Verstärkung (amplification) des Glaubens macht Gilles Aubry in seiner Audioperformance hörbar. In Gesang, Schritte und Stimmen fließen Motorengeräusche langsam vor- beifahrender Autos hinein. Jemand skandiert etwas durch ein Megafon.

388 Mit «Composition and Spatialization Practices» beschreibe ich sowohl Aubrys Arbeitsweise als auch die Klangproduktionen der Akteur*innen in seinen Aufnahmen. 389 Im Folgenden schreibe ich «Neue Pfingstkirchen», «Neue Religiöse Bewe- gungen» oder «Religiöse Bewegungen» (und ähnliches) immer mit großen Anfangsbuchstaben, um zu verdeutlichen, dass es sich um eine oftmals nur von Außenstehenden konstruierte Bezeichnungen handelt. Manche dieser Bewegungen sehen sich als die wahren Nachfolger jahrtausendealter, von Gott ausgewählter Gruppen. 390 Sämtliche Quellenangaben, die mit «vgl.» gekennzeichnet sind, bedeuten we- niger Paraphrasierungen als Assoziationen des Autors, für die die genannten Quellen impulsgebend waren. Vgl. Straw, Will (2012): «Music and Material Culture», in: Martin Clayton; Trevor Herbert und Richard Middleton (Hg.): The cultural study of music. A critical introduction, New York: Routledge, S. 227–236.

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Vielleicht ist das Megafon auf ein Auto montiert. Innerhalb von einer Mi- nute präsentiert uns der Soundkünstler mehrere Stimmqualitäten oder seine Dokumentationsebenen: Erst erfasst Aubrys Mikrofon irgendwelche Stimmen, die deutlich hörbar (Kassetten-?)Aufnahmen sind, die über ein Abspielgerät wiedergegeben werden. Dann richtet sich eine Stimme direkt an das Mikrofon. Aubry macht offensichtlich ein Interview. Ich weiß aus einem Text über Aubrys Arbeit, dass er Pastor*innen Neuer Pfingstkirchen in Kinshasa begleitet hat. Ich nehme an, ein Pastor erläutert ihm sprach- liche Zusammenhänge. Ich höre was von «en allemand» und «Zauber». Schließlich sind wieder vorproduzierte/aufgenommene Stimmen zu hören. Eine verzerrt klingende Predigt, ein «Halleluja» und ein Raunen in der Ge- meinde. Eine eifrige Predigt mit einer Hörer*innenschaft, die ebenso im- pulsiv darauf reagiert. Sind es Aufnahmen aus dem Archiv des Pastors, die er kommentiert? Aubry dokumentiert eine Dokumentation. Signifying the City I Oder: Whose Urban Lo-Fi-Soundscape? Als Murray Schafer 1977 Soundscapes mit den Präfixen Hi-fi oder Lo-fi zu charakterisieren versucht, bezieht sich diese Unterschei- dung vielleicht noch allgemein auf die Frage nach akustischen Qua- litäten urbaner Räume, in denen diskrete Sounds auszumachen sind oder nicht.391 Lo-fi-Soundscapes sind in Schafers Analysekategorien solche, in denen alle Soundzeichen im postindustriellen Lärm und Grundrauschen der Maschinen und Motoren untergehen oder ver- schwimmen.392 Im Laufe der Jahrzehnte haben sich die urbanen Laut- sphären und vor allem auch das Bewusstsein in Bezug auf «Technolo- gy and Symbolism of Sound»393 verändert. In den europäischen und nordamerikanischen Städten wurde für diverse Akteur*innen und Planer*innen klar, dass, wenn schon mit technischen Erfindungen neue Sounds dazu kommen, zumindest die Kontrolle über diese Ge- räusche (symbolische) Bedeutung hat. Umgekehrt formuliert: Den Sound der Technologien nicht zu kontrollieren, ist vulgär.394 Sind die

391 schafer, R. Murray (1977): The tuning of the world, New York: Knopf, S. 43. 392 Ebenda, S. 71. 393 Bijsterveld, Karin (2001): «The Diabolical Symphony of the Mechanical Age. Technology and Symbolism of Sound in European and North American Noise Abatement Campaigns, 1900–40», in: Social Studies of Science (31/1), S. 37–70, London: Thousand Oaks. 394 Vgl. ebenda, S. 61.

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Soundscapes, die wir hier hören, Lo-Fi? Sind die Audioproduktionen tatsächlich unkontrolliert? Etwa fünf Minuten sind vergangen seit dem Start der Audioperformance. Wieder ein Wechsel des Aufnahmebereichs: ein Rauschen wie bei der Lang- wellen-Sendersuche am Radio. Es ist das Rauschen aus dem Intro, dieses Mal aber mit Unterbrechungen und sich verändernder Klangfarbe. Die Formen und das Rauschen migrieren: Radio, PA-System, Megafon-Klang, Gitarren- verstärker – alles ist jetzt gleichzeitig wahrzunehmen. Die Gitarre wird im- mer noch gestimmt. Die Automotoren brummen leise. Jemand bohrt eine helle Guideline in die Soundscape, indem er oder sie wie mit einem Löffel einen schnellen Rhythmus auf so etwas wie einer Glasflasche klimpert. Signifying the City II Den Hi-fi- vs. Lo-Fi-Dualismus im Ohr höre ich Gilles Aubrys ver- zerrte und rauschende Aufnahmen aus Kinshasa. Nicht unbedingt die Produktion des Sound Artist selbst ist verzerrt, sondern die Ak- teure*innen, deren Soundpraktiken er aufnimmt, bieten ihm dieses zum Teil heftig verzerrte und rauschende Ausgangsmaterial. Selbstver- ständlich könnten wir die sonischen urbanen Soundscapes unterschei- den und feststellen, dass Kinshasa knattert, klappert, lärmt und über- steuert. Alte Motorengeräusche, seien sie von Stromgeneratoren oder Autos (man erkennt das hohe Alter Letztgenannter auch am Klang der Hupen), lärmen durch die Straßen. Die PA-Systeme, TV- und Radio- geräte plärren überlastet aus den nicht isolierten Häusern, während in den westlichen Metropolen schon wieder geistige Ressourcen da- für frei geworden sind, nicht mehr nur über Lärmreduktion, sondern über die «Tuned City»395 nachzudenken. Hightech-Züge nehmen in harmonisch abgestimmten Intervallen ihre Fahrtgeschwindigkeit auf, darin sitzen Menschen mit geschlossenen Kopfhörern, die sauberst trendige Subbässe ohne Subkultur zu transportieren vermögen. Eine Menschenmenge hat sich angesammelt. Mein Eindruck ist, dass es mehrere Hundert Gläubige sind. Selbstverständlich kann ich nicht wissen, dass das eine religiöse Versammlung ist, aber mein Hören ist schon durch die Ankündigung und den «Halleluja»-Soundcheck gelenkt. Um mich he- rum ist ein Stimmengewirr, aus dem zwischenzeitlich eine Stimme etwas

395 Kleilein, Doris und Kockelkorn, Anne (2008): Tuned City. Zwischen Klang- und Raumspekulation = between sound and space speculation, Idstein: kook- books.

191 Composition and Spatialization Practices deutlicher zu hören ist, aber gleichzeitig scheint es mir keine Stimme zu sein, die sich an die Versammlung richten möchte. Jede und jeder bringt hier etwas vor. Anfangs habe ich noch den Eindruck, dass dieses Stimmen- gewirr aus Dialogen zwischen Menschengrüppchen entsteht, die aufeinan- der Bezug nehmen. Dann meine ich aber hören zu können, dass dieses zigfache Stimmenrauschen tatsächlich ein Effekt für jede*nE inzelne*n ist, der*die hier vielleicht betet, klagt, verkündet und spricht. Das Meer aus Stimmen, Sprache und Worten weckt auch in mir einen Impuls, jetzt in es hinein etwas zur Sprache und zum Ausdruck zu bringen. Ich könnte et- was loswerden, was mir auf der Seele liegt, ohne identifiziert zu werden. Es würde dennoch gehört werden, verstärkt, vervielfacht, mediatisiert, wie mein Spiegelbild im Spiegelkabinett da ist, während nicht mehr leicht zu ermitteln ist, wer der Ursprung ist. Eine a-chronistische Erzählung ist das: In den vollen Lauf der Stimmen ist der Soundcheck wieder eingespielt – ich weiß nicht, ob von Aubry oder im tatsächlichen Ablauf der Versammlung. Dieses Mal wird der Klang der Snare Drum Schlag für Schlag optimiert. Oder es ist ein Hammer? In je- dem Fall wird etwas zusammenklopft, so oder so sind es Konstruktionen – Sound und Gebäude. Wenige Sekunden später wird klar, es ist ein Sound- check für die Snare gewesen, denn nun werden die Tom Toms getestet. Der akustische Konstruktionsmodus wird einige Minuten weiter in die Kompo- sition getragen, obwohl der Gottesdienst in vollem Gange ist. Die Lautspre- cher schmettern mit einigen Echos und verzerrt die Botschaft des Pastors in das Areal, das gefüllt ist mit vielen Menschen. Composition and Spatialization Practices III Nachdem ich also in den ersten Minuten noch herumgelaufen bin und versuchte, den Raum zu vermessen, den Aubry aufmacht, ent- scheide ich mich dafür, einen der herumstehenden Stühle zu nehmen und mich irgendwo hinzusetzen. Es ist egal, wohin. Vielleicht ist eine Orientierung wichtig und es kommt darauf an zu bemerken, aus wel- chem der acht Kanäle welcher Sound kommt, aber früher oder später verfließen die Signale ohnehin ineinander und eine Richtungszuwei- sung wird bedeutungslos. Ohnehin ist die Orientierung, die die Laut- sprecher anbieten, unrealistisch, unmöglich. Die Stühle, die da stehen, sind weiße, sogenannte Monoblocs, auch sie bieten sich nur bedingt als Requisite zur Imagination eines be- stimmten anderen Raumes (Terrasse oder Open-Air-Gottesdienst in Afrika) an. Sie verweisen in ihrer Häufung und irgendwohin gestapelt

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nur auf ihre eigene Materialität – ohne dabei white-cube-artig insze- niert zu sein. Die Stimme des Pastors wird elektrisch verstärkt. Er predigt und mahnt. Obwohl ich die Sprache bis auf die ab und an eingefügte Lobpreisung «Hal- leluja» nicht verstehen kann, weiß ich, dass es so ist. Es ist die unglaub- liche Verzerrung, Overdrive in seiner Stimme, die mich mahnt. Der Sound ist unerbittlich, viel unerbittlicher dringt er an mein Ohr als bedeutungs- schwere Worte. Er brüllt ins Mikrofon: «Halleluja! Halleluja, Halleluja!» Und die Gemeinde reagiert kreischend und mit Ullulationen. «Halleluja! Halleluja, Halleluja!» Wie soll ich diesen unerbittlichen Sound nur in Text- form bringen? Meine Unfähigkeit, die Wirkung dieser verzerrten Materi- alität zu formulieren, beweist, wie die Verzerrung eben eine ganz eigene Erfahrungsebene, eine nicht zu verschriftlichende ist. Distortion is Truth I «Distortion is Truth.»396 Distortion wird als «enriching the Sound»397 wahrgenommen. Verzerrung macht den charismatischen Sound, die bereicherte Ausstrahlung, die wohlgewollte Gabe, welche sich Cha- rismatic Movements selbstverständlich zu eigen machen, aus. Das Rauschen und die Verzerrung belegen alles mit einer Patina, die auch eine Aura verleiht.398 Das Rauschen und Zerren machen immer schon den Konstruktionsmodus deutlich. Es ist klar, dass Charisma infolge des charakteristischen Sounds und eines Sprechakts eine kulturelle Aufladung ist. Žižek glaubt, wenn aufgedeckt würde, dass das Charis- ma des Königs ein performativer Effekt eines symbolischen Rituals, eine «fetischistische Inversion» sei, dann schwinde die performative Kraft.399 Wenn die performative Aufladung aber offenbar selbst das symbolischen Ritual ist, was soll dann enthüllt werden? Distortion ist nicht ein Versagen, sondern Anreicherung (physi- kalisch). Nonlineare Verzerrung ist beispielsweise Anreicherung von Schwingungen, die aus ganzzahligen Vielfachen der Grundschwin-

396 poss, Robert M. (1998): «Distortion is Truth», in: Leonardo Music Journal, Volume 8, S. 45–48 397 ebenda, S. 47. 398 Vgl. Mersch, Dieter (2004): «Medialität und Undarstellbarkeit. Einleitung in eine ‹negative› Medientheorie», in: Sybille Krämer (Hg.): Performativität und Medialität, München: Fink, S. 75–95, hier S. 83. 399 Žižek, Slavoj (1997): Mehr-Genießen. Lacan in der Populärkultur, Wien: Turia und Kant, S. 55.

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gung bestehen. Durch Distortion entstehen neue Obertonkombi- nationen, die wiederum so etwas wie «inherent pattern» ergeben.400 Es ergeben sich Klangformungen, die da sind, obwohl sie nicht aktiv erspielt werden. Und wenn ich hier Technik fokussiere und schein- bar Religion sowie Spiritualität als Thema vermeide, dann tue ich das, weil meine rhetorische Frage, die ich in Anlehnung an Mark Hulsether stelle, lautet: Sind religiöse Sound-Praktiken (in der Stadt) weniger oder «more cultural than anything else»?401 Fade-out hier und Fade-in in eine andere Audiospur, ein gemäßigter ver- zerrender Lautsprecher und eine alltäglichere Umgebung sind zu hören. Ein Hahnenschrei, wenige Sekunden später wieder ein Hahnenschrei. Es ist ein akustisches Zeichen, das für mich kurz wie ein Soundlogo für Afrika funktioniert, so wie die Autos mit den alten Hupen, Grillenzirpen, Stim- menpalaver. Jetzt fehlen nur noch Frauengesänge beim Casava-Stampfen am Mörser als klischierte Soundmarker für Afrika. Das habe ich längst gelernt: Der Rapper Pee Froiss aus dem Senegal lässt einen Hahnenschrei im Intro seines Tunes «Africa for Africans» 402 einspielen. Ebenso tun es Amadou und Mariam in einem Stück («La Fête Au Village»)403 auf ihrem Album Dimanche A Bamako. Aubrys L’Amplification des Âmes hat mich aber inzwischen anders hypersensibilisiert, mein Hören neu konfiguriert. Ich warte tatsächlich auf den dritten Hahnenschrei, der Jesu Existenz wie- der einmal akustisch beweist und Petrus als Verräter bloßstellt. Signifying the City III Gewöhnlich wird Sonic Cityness mit Lärm, Poly- und Kakophonie, auch mit Polymetrik gleichgesetzt. Aubrys L’Amplification des Âmes macht hörbar, dass aus dem vermeintlichen akustischen Durchei- nander der Stadt durchaus religiös motivierte Sounds oder religiöse Motive zu isolieren sind. Aubry zeichnet auf, wie Neue Religiöse Bewegungen die Straßen der Städte einnehmen. Seine Aufnahmen

400 Vgl. Schloss, Joseph Glenn (2004): Making beats. The art of sample-based hip- hop, Middletown: Wesleyan Univ. Press, S. 137. 401 Hulsether, Mark (2005): «Religion and Culture», in: John R. Hinnells (Hg.): The Routledge companion to the study of religion, London, New York: Rout- ledge, hier S. 503. 402 Froiss, Pee (2004): «Africa for Africans» auf Various Artists: Africa Wants To Be Free! Play it Loud!, Survie. 403 Amadou & Mariam (2004): «La Fête Au Village» auf Dimanche A Bamako, Radio Bemaba, WEA International.

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fangen ein, wie bedeutsam die Sound Systems und Amplification für die Neuen Religiösen Bewegungen sind, um auch jenseits der Grundstücksmauern Predigten und Erlösungen in der Stadt hörbar zu machen. Darüber hinaus ist eine besondere Erfahrung, welche die Audioperformance mich als Hörer machen lässt, die folgende: Es wird erlebbar, wie der Street Sound selbst eine ästhetische Grundla- ge oder ein Effekt der Neuen Religiösen Bewegungen ist. Also nicht nur «Street Politics» Neuer Religiöser Bewegungen sind das Thema, sondern auch die Aneignung von «City and Street Aesthetics» für die Religiöse Bewegung. Wieder schwirrt das Brummen eines technischen Geräts. Sein Anschwel- len lässt es bedrohlich wirken – ein alter Horrorfilm-Soundtrack-Trick. Ich ordne es einem TV-Gerät zu. Zunächst höre ich noch eine «unmotivierte» Soundscape der Umgebung mit Vogelgezwitscher. Und Hahnenschreie? Dann höre ich eine durchkomponierte Soundscape. Da ist Gekreische. Jetzt höre ich ständig und in alles hinein einen Dauer-Hahnenschrei, die Granu- larsynthese aus Audiokörnern des Hahnenschreis, dabei ist da wahrschein- lich etwas ganz anderes. Unter den filmischen, durcharrangierten Klängen sind aufgeregte helle, menschliche Stimmen und ein Quieken zu verneh- men. Als ob hier gleich etwas geschlachtet wird. Das Gewirr beruhigt sich etwas in einem französischen Dialog, der – nun bin ich ganz sicher – einem Film entstammt. Von den panisch anmutenden Filmgeräuschen und Stimmen wechselt das Stück zum Raumklang eines – ich wähle eine ungenaue Bezeichnung – «First Hand Recordings». Irgendwie ist jetzt zu erleben, dass zu diesem Zeitpunkt so etwas wie die Klimax der Aufführung stattfindet. Nicht vom kinetischen und taktilen klanglichen Erleben, sondern inhaltlich scheint es in Bezug auf die Audioquellen nun zu einem Höhepunkt zu kommen. Wäh- rend eines christlichen Gottesdienstes mit «Halleluja»- und «Jesus»-Rufen des Predigers ist eine (wahrscheinlich) Frauenstimme zu hören, die laut- stark, fast schreiend, rhythmisch und extrem schnell Silben tönt. Es klingt wie: «arrarrarue lurra, lurra, rratttutu rattattut, allaloi, arrarrarue lurra, lur- ra, rratttutu rattattut, allaloi allaloi […]». Ich bekomme aus der Distanz den Eindruck, als würde sie früher oder später kollabieren, weil sie zu wenig Luft bekommt, so ununterbrochen über einen minutenlangen Zeitraum rattern die Silben aus ihr heraus. Heraus, heraus – alles geht nur heraus, da ist zu hören, was vielleicht Austreibung böser Geister oder Dämonen ist. Erlösung/Deliverance, die ich als solche nur erahnen kann, nehme ich in ihrer rhythmischen Struktur war. Der Mensch tönt heftig. Es wirkt, als

195 Composition and Spatialization Practices befreite er sich von einem ihm auferlegten Code. In komplexer Periodizität schüttelt er diese Last akustisch von sich. Und der Pastor steht dabei und trägt bei: eine Mischung aus beruhigender Einflussnahme und Einheizen sowie Lobpreisung dessen, der die Erlösung bringen wird: «Djiie-söös!». Im «Call and Response» zwischen Hörer*innen und Pastor ist noch eine dritte Stimme/zweite Mikrofonstimme für die «Hallelujas» dabei. Über das Mikrofon rattert die Stimme, buchstäblich, denn auch der Pastor prononciert maschinengewehrartig ein «Ratatatata» und loopt seine Worte und Phrasen. Composition and Spatialization Practices IV Aubry gibt sich meines Erachtens nicht besondere Mühe, ekstatisches Erleben in Bezug auf diesen vielleicht Höhepunkt der Aufführung bei den Hörer*innen herzustellen. Vielleicht stellt er auch beabsichtigt Distanz her. Erstmalig habe ich den Eindruck, dass hier nur eine Au- dioaufnahme spielt, eine Aufnahme in dem Sinne, dass es keine Kom- position ist, sondern nur die Wiedergabe eines unmotiviert hinge- haltenen Mikrofons. Keine Schnitte, keine Spurenschichtungen, hohl- klingender Audio-Voyeurismus zwischen acht Lautsprecherkanälen im HKW. Kaum eine Audioaufnahme hat bislang in der Performance allein so lange dastehen dürfen. Der sogenannte Akt der «Deliver- ance» kommt mir vor, wie mir von Aubry zum Fraß vorgeworfen: «Da hast du deinen Topos. Oder hast du nicht die ganze Zeit darauf gewartet, dass dir die christliche Religion in Afrika in dieser Weise begegnet?» Den Übergang, den Weg raus aus diesem imaginären Reenactment, finde ich über die Assoziation zu dem Drum’n’Bass-Track «Cybergen» von A Guy Called Gerald.404 Der Titel des Albums blitzt vor meinem inneren Auge auf: Black Secret Technology. Aubry bietet mir wieder ein ruhigeres Brummen an, in dem Stimmen fast wie Funksprüche aus dem All erscheinen. Britzeln und Brutzeln, mittenlastige Stimmen werden zugeschaltet, wieder wegge- schaltet, wieder zugeschaltet – erneut wie ein Drehen an der Senderwähl- scheibe eines Radios, das auch Extraterrestrisches empfängt. Langsam und stückweise wird aus diesen Klängen, die auch mal Gewitter ähnlich sind, wieder irdischer Klangraum und menschliches Gespräch hergestellt.

404 A Guy Called Gerald (1995): «Cybergen» auf Black Secret Technology, Juice Box.

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Distortion is Truth II What is this Black in Black Sound?405 Nur in diesem Augenblick der Performance gibt es für mich einen Verweis nach Outaspace und es wäre viel zu unpräzise und gleichsam rassistisch, das Soundgeschehen in L’Amplification des Âmes und jeglichen afrofuturistischen Sound Populärer Musik unter so etwas wie Black-Sound-Technologie und -Ästhetiken zusammenzufassen. Vielleicht gibt es Schwarzes Begeh- ren in Bezug auf Verzerrung, das als sonische und strategische Positi- onierung zu verstehen ist. Wenn dem so ist, ist es als sehr divers anzu- nehmen. In den Soundproduktionen der Pastoren in L’Amplification des Âmes ist es ein anderes als beispielsweise bei den Musiker*innen der Kasai Allstars und der Gruppe Konono No 1,406 die ebenfalls in Kinshasa leben. Dennoch: Es gibt ein beabsichtigtes Produzieren von Rauschen und Distortion und Overdrive. Man muss nur sehen, wie mit Bedacht und versiert für die Auftritte der Kasai Allstars und der Gruppe Konono No 1 das Fell einer Trommel mit einer gummiar- tigen Masse beklebt wird und Fledermausflügel vor ein Schallloch derselben gehängt werden, damit diese Trommel optimal schnarrt. Die Trommel knistert und summt bei jedem noch so sachten An- schlag wie elektrische Kurzschlüsse. Diese Sound-Praktiken der Band oder auch der von Aubry aufgenommenen Prediger unterscheiden sich sehr von einem geradezu religiös wirkenden Weißen Begehren in Musik- und Kunstkontexten nach Stille. Für dieses Weiße Begeh- ren nach Stille führen Dieter Lesage und Ina Wudtke in ihrem Buch Black Sound White Cube als besonderen Anhaltspunkt das Tändeln um John Cage und sein Stück «4’33» an.407 Langsam und stückweise wird aus diesen Klängen, die auch mal Gewitter ähnlich sind, wieder irdischer Klangraum und menschliches Gespräch her- gestellt, bis schließlich eine eigentlich ruhigere Predigt zu hören ist. Diese wird über ein PA-System über so viele, weit auseinander stehende Laut- sprecher verstärkt, dass durch die Schallverzögerungen Echos entstehen. Jetzt könnte ich glauben: «So klingt das da wirklich.» Jetzt stelle ich fest: Die anderen, zuvor gehörten Aufnahmen der Predigten müssen zum Teil

405 Vgl. Hall, Stuart (1993): «What is this ‹black› in black popular culture? (Re- thinking Race)», in: Social Justice, Spring-Summer 1993, S. 104–111. 406 Konono No1, Kasai Allstars (2010): Congotronics (Vinyl Box Set), Crammed Discs. 407 Lesage, Dieter und Wudtke, Ina (2010): Black Sound White Cube, Wien: Löck- er, S. 59.

197 Composition and Spatialization Practices irgendwo innerhalb des Verstärkungsprozesses aufgenommen worden sein. Sie ließen diesen logischen Mehrfach-Klang und Widerhall über die im Großraum verteilten Lautsprecher nicht immer hören. Die beschriebenen verzerrten Sounds waren direkter. Was ist hier wirklicher? Composition and Spatialization Practices V Aubry entwickelt eine materialbasierte künstlerische Form der Ana- lyse. Das meint etwas anderes als ethnographische dichte Beschrei- bung. Es ist sehr aufmerksame, aber offen hörbar ausgestellte, eigen- aktive Verdichtung, Komposition im buchstäblichen Sinne, Schich- tung, Ordnen, Beilegen, Verfassen. Ausgangsmaterial sind vielleicht Soundscape-, auch Field-Recordings, die Kompositionsweise Aubrys ist aber nicht mit diesen gleichzusetzen. Komponieren heißt dabei ebenso wenig, dass Aubry stark rhythmisiert. Die Struktur der Au­dio­ schich­tung bleibt in jeder Hinsicht irregulär und Umweltgeräusche werden nicht ausgeschlossen. Die Echos der Predigt vor Ort haben etwas von Dub-Ästhetik, sie klingen geisterhaft. Dennoch bleibt die Klangtextur irdisch. Es gibt kein Streben nach Outaspace. Weder idiomatische noch idiosynkra- tische Räume sind zu hören. Auch akustisch ist hier zu erleben, dass Roy Wallis Typologie der Formen Neuer Religiöser Bewegungen re- duktionistisch ist und nicht wirklich greift.408 Wallis unterscheidet die Haltungen der Neuen Religiösen Bewegungen in «world affirming», «world rejecting» und «world accommodating».409 Die konstruier- ten Soundscapes und der Umgang mit Technologien der Missionie- renden lassen sich mit allen drei Kategorien gleichzeitig beschreiben. Da ich mich gerade nach Authentizität frage: Erstmalig ist jetzt Musik-Mu- sik zu hören – Trommeln, Gesang erklingen und eine rhythmische Guide- line wird geklatscht. Allerdings erlaubt Aubry mir kein Eingrooven, kein Hüften-mitschwingen-Lassen zu einem Afrika-Musik-Klischee. Nur vier oder fünf Sekunden spielt er diesen Marker ein und weiter bleibt das Rau- schen und Knattern irgendeiner Technik so präsent, dass wieder klar ist, das hier ist nur eine Aufnahme. Das hier ist keine Einladung in eine andere Welt. Obschon da Kinderstimmen zu hören sind und doch noch einmal et- was Musik-Musik spielt. Obschon da beiläufige Gespräche geführt werden und es sich so anhört, als bereite dort jemand eine Mahlzeit zu und etwas

408 Wallis, Roy (1978): The Rebirth of Gods, Belfast: Queens-University, S. 6 f. 409 Ebenda.

198 Djiie-söös! brate in der Pfanne. Obschon da ein Lärm zu hören ist, der wie ein Flugzeug oder Hubschrauber von einem zum anderen Lautsprecher fliegt. Das Brummen sackt in eine mir inzwischen bekannte, sehr verzerrte Stimme: «Djiiiie-söööös!» Ein Verstärker im «Call and Response»: «Djiiiie- söööös» und eine andere Stimme und Stimmen: «Djiiiie-söööös». Alarmie- rende Stimmung: Autos hupen immer und immer wieder und regelmäßig. Die Wechsel zwischen Pastor und Gemeinde werden schneller. Ich höre den Prediger in den Lärm hineingrölen: «Fire! Fire! Fire!» Alles ist jetzt nur noch Fuzz: Motorbrummen, Klatschen, verstärkte Stimmen. Fuzz, Fuzz, Fuzz. Der akustische Höhepunkt findet für mein Erleben eigentlich erst jetzt, einige Minuten nach der sogenannten Deliverance, statt. Inzwischen sind etwa zwanzig Minuten vergangen. Zu diesem Zeitpunkt ist Aubrys Konzert eine extreme Distortion-Performance. Die Pastoren experimentieren gera- dezu mit Verzerrung. Es klingt, als hielten sie sich das Mikrofon nicht nur vor den Mund, sondern auch in den Mund: «Uaaarrgghh!» Es kommt zu Rückkopplungen – performativer Verzerrer-Feedback-Exzess. Distortion is Truth III Das ist eine altbewährte sonische Erkenntnis: Soll das Signal brennen, nutze Verzerrer. Wer die Leute dazu bewegen möchte, rauszurennen, wer zur schnellen Veränderung und Verkündigung bewegen möchte, nutzt keine Laidback, saturiert sonore Klangtextur. Letztere funktio- niert, wenn – wie in der Morgenandacht im Deutschlandradio – auf innere Bewegung gezielt wird. Verstärkung, Verzerrung und Echos sind Co-Komponisten. Sie dynamisieren, vervielfachen und vervoll- ständigen die motivischen Einfälle zu einem Ganzen.410 Das Soundzeichen zur Kundgebung ist eines, das aus Trichter- lautsprechern kommt. Trichterlautsprecher haben, physikalisch er- klärt, diesen stark richtungsweisenden Charakter und kulturell den alarmierenden. Mit dem Megafon richtet man sich schließlich immer an das breite Volk. Hi-fi ist etwas für Wohnzimmer mit Sofas. Es ist Alarmstimmung oder genauer: Es wird emotionale Alarmstimmung gezielt produziert – von den Predigern, der Gemeinde und von Gilles Au- bry. Es ist eindeutig, dass es nicht um eine Warnung vor einem irdischen

410 Vgl. Maierhof, Michael (2005): «Der Standard-Kilometer des Komponisten. Echo, Raum und Wiederholungen in der Musik», in: Sabeth Buchmann; Tho- mas Baldischwyler und Erich Pick (Hg.): Wenn sonst nichts klappt – Wiederho- lung wiederholen. In Kunst, Popkultur, Film, Musik, Alltag, Theorie und Praxis, Hamburg, Berlin: Materialverl; b-books (Polypen), S. 132–136, hier S. 132, 136.

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Feuer geht, sondern um geistige, spirituelle Brandrodung. Aubry schichtet verschiedene verzerrte Spuren übereinander, die aus diversen Richtungen strahlen. Vielleicht ist es Wind, der die Mikrofonmembran flattern lässt. Ich höre ein Bild wie «Die Kreuztragung Christi» von Pieter Bruegels dem Äl- teren, auf dem die Menschen sich schnell zu bewegen scheinen, auseinan- derstieben und auf dem ein Gewitter aufkommt. Fade out. Ein unmöglicher Schluss dieser Klangströme hinein in einen ruhigen Raum, der mir den Eindruck gibt, jemand sitze vor seinem Haus und lässt einen lässigen Hip-Hop-Beat, in Schrittgeschwindigkeit spielen – für sich, für andere. Auch wenn es nur eine Kassette oder CD ist, die sie*er laufen lässt, sie*er ist Besitzer*in dieser Musik und die*der Auffüh- rende. Es scheint mir, als sei ich mit Gilles Aubry unterwegs. Er macht seine Aufnahmen und fragt die*den Besitzer*in, welche Gruppe das sei. Es ist das erste Mal, dass mich Aubry in dieser HKW-Performance mit zu einem fremden Ort nimmt. Es ist ein Ort (Place, nicht Space), an dem ich sogar die Stufe höre, auf welcher die*der Besitzer*in der Musik sitzt. Ich merke das daran, dass hier nicht mehr eine geschnittene Soundscape inszeniert wird, sondern Aubry seine Fragen zur Musik sogar auf die Hookline des Tunes abstimmt. Er fragt genau in eine Pause hinein. Wir sind da drin. Signifying the City IV Distortion is Truth IV Die unterkomplexe Kennzeichnung einer postkolonialen urbanen At- mosphäre als Lo-Fi-Soundscape hat etwas Victimisierendes, denn die Kategorisierung erscheint als eine Chronologie, die an technischen Entwicklungsständen orientiert ist. Das, was vielleicht (auch gut ge- meint) vorschnell als Lo-fi-Soundscape wahrgenommen wird, kann und sollte auch als eigenständiges Sound-Konzept verstanden wer- den, in dem Distortion, Rauschen (Noise) und Übersteuerung ästhe- tische Mittel sind.411 Die rauschenden Geräte klingen in der chronolo-

411 Diese meinerseits vorgenommene Ästhetisierung von Distortion in «L’Amplification des Âmes» soll allerdings nicht mit Distortion als, wie viel- leicht in Punk, widerständiger Ausdruck und ebenso wenig romantisiert und nostalgisch gedacht oder verklärt werden. Sie ist auch nicht mit campy Lo- Fi-Deluxe-Konzepten, «Aesthetics of Failure» (Cascone, Kim [2002]: «The Aesthetics of Failure. ‹Post Digital› Tendencies in Contemporary Computer Music», online unter: http://subsol.c3.hu/subsol_2/contributors3/cascone- text.html, zuletzt geprüft am 21.02.2013), cut, clicks und glitches als Anti- oder Parahaltung (Jauck, Werner (2010): «trash musics: in-dust/e-grains/dig- glitches. Die andere Mediamorphose aus dem Spiel mit der Durchlässigkeit

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gischen Wahrnehmung als Hinterlassenschaften von Hi-fi-Kulturen. Sie sind aber nicht einfach nachkoloniales oder nachchristianisiertes Symptom. Ich höre aus der Audioperformance von Gilles Aubry hin- gegen Distortion als ästhetische oder gezielt geformte Praxis heraus (und hinein), um die Lautsphären Kinshasas nicht nur auf eine Tragik des Kolonialismus zu reduzieren. Ich brauche diese Musik-Musik, diesen Hip-Hop-Beat als Pause von mei- nen eigenen Assoziationen zu Inszenierungen der Realpräsenz. In der Ge- samtkomposition ist dieser Beat aus der Konserve eine Art Bridge in einem Song. Es ist eine Überleitung zum Thema der Produktion, das nachfolgend zusammengefasst wiederholt wird: Soundcheck, leises Geräterauschen. Jemand singt etwas albern hoch und für sich alleine vor sich hin, in einen gigantischen künstlichen Hallraum, in ein Open Air hinein, und jemand spielt Slide Guitar. Es ist kein Song, nichts Durchkomponiertes. Es ist Ge- klimper auf dem Klischee einer Hawaii-Gitarre – wahrlich eine Überdosis Fremde. Gibt es überhaupt eine Audiospur, die Aubry in seiner Audioper- formance so lange gewähren lässt, wie dieses lächerliche Slide-Guitar- oder Steel-Pedal-Geklimper und die Spur mit dem*derjenigen, der*die da allei- ne vor sich hin singt? Das einleitend vorgestellte Thema wird wiederholt: «A! All! Djiie-söös, Jesus. A! All! A!» Signifying the City V (Neue) Religiöse Bewegungen und ihre akustische Raumnahme in der Stadt können wie ein Soundcheck verstanden werden. Die Zu- sammenhänge Stadt, Religion, Sound sind nicht nur laut und in Re- gelmäßigkeit zu hören, wie etwa in Form von Glockengeläut, Muez- zinrufen, Prozessionen oder Paraden. Bedeutungsverflechtungen mit ästhetischen Zeichen funktionieren wie ein Belastungstest.412 Wenn Soundzeichen zunächst als leere oder uneindeutige Gestalten ver- standen werden, so gibt es verschiedene Gruppen in der Stadt, die ein Interesse an diesen bekunden, um sie mit Bedeutungen zu be- frachten, sie zu kodifizieren oder religiös zu rekodifizieren. Alles

des ‹Mülleimers der Geschichte›», in: Anselm Wagner (Hg.): Abfallmoderne. Zu den Schmutzrändern der Kultur; Tagungsband von «Abfallmoderne – ein Symposion zu den Schmutzrändern der Kultur» an der Karl-Franzens-Uni- versität Graz vom 4.–5. Juni 2008, Wien: Lit (Grazer Edition, 4), S. 201–214, hier S. 209, 210) populärer Musik Produktionen zu verwechseln. 412 eco, Umberto (1972): Einführung in die Semiotik, unter Mitarbeit von Tra- bant, Jürgen, München: Fink. S. 154, 166.

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kann dann auf die Allgegenwärtigkeit Gottes bezogen werden. Die Raumnahme funktioniert nicht nur über den «Djiie-söös»-Schrei durch die ganze Stadt, sondern auch das Stimmen einer Gitarre und Verzerrung können mit Bedeutung belegt werden. So wie auch schon das Brot, der Wein, die besondere Akustik am Ölberg mit der Asso- ziation «Jesus» belegt sind. Besonders wirksam ist selbstverständlich eine Bedeutungskopplung an ein allgegenwärtiges Rauschen. Wenn es also um die Frage geht, wie (Neue) Religiöse Bewegungen urbane Soundscapes prägen, geht es nicht nur darum zu hören, wie unmittel- bar missioniert wird, sondern auch darum, wie Glauben in jede auch (oder gerade) unsichtbare Materialität invertiert wird. Der Hahn wird wieder zum Mahner,413 das Horrorvideo zum Beleg des uns ständig umgebenden Bösen. Die Komposition verdeutlicht noch mal selbst ihre narrative Struktur: Vorbereitung, Ankommen der Gäste, Messe, Vorbereitung für das nächste Mahl. Ich werde auf ein Ende in dieser Erzählung vorbereitet, indem Dich- te aus ihr herausgenommen wird, indem wieder an das ruhige, geformte Brummen des Intros erinnert wird. Der Soundcheck, das Geräterauschen und die Slide Guitar vermischen sich mit Alltagsgeräuschen und Alltagsgesprächen. Jemand schrubbt etwas, Geschirr klimpert, ein Chor singt leise im Hintergrund. Es hört sich nach Proben an. Ich höre das Thema des Alltags: Vorbereitungen. Es wird ge- waschen und gewrungen. Wasser plätschert. Die Gitarre wird wieder ge- stimmt: E A D G h h h e. Vielleicht läuft im Fernsehen Sport, denn ganz leise ist Rauschen vom jubelnden Publikum wie in einem Stadion zu hören. Vielleicht ist das auch eine Aufnahme von einer gigantischen christlichen Versammlung. So oder so gibt es kein Soundzeichen mehr, das ich nicht als religiöses höre. Vögel zwitschern, Hühner gackern. Minuten vergehen. Aus dem Rauschen wird ein Bordun, ein bestimmter Ton. Mörser stampfen für die Vorbereitung des Mahls. Sehr weit im Hintergrund noch einmal kurz verzerrte Prediger-Ekstase durch Lautsprecher. Im Zentrum bleibt aber der Ton, buchstäblich ist es ein Grundton, Erdungsrauschen, das stehenbleibt bis ans Ende.

413 Vgl. Trieder, Constanze (2013): Danach kräht bald kein ... mehr. Über das Ver- schwinden des männlichen Haushuhns. Eine kulturwissenschaftliche Analyse über den Hahn als Vorrecherche für ein Radiofeature, unveröffentlichte Di- plomarbeit im Studiengang «Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis», Stiftung Universität Hildesheim.

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