Liter Aturgeschichte
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VI. ABSCHNITT. LITER ATURGESCHICHTE. 2. DEUTSCHE LITERATUR. B. MITTELHOCHDEUTSCHE LITERATUR VON FRIEDRICH VOGT. I. PERIODE. VON 1050—1180. HERRSCHAFT DER GEISTLICHEN DICHTUNG.' § I. Seit der Mitte des 11. Jahrhs. tritt in Deutschland nach langem Stillstande eine lebhafte literarische Bewegung zu Tage, für welche sich ein einzelner Ausgangspunkt nicht bestimmen lässt. In den österreichischen Alpenländern, in Alemannien und in Franken tauchen ziemlich gleichzeitig geistliche Dichtungen in deutscher Sprache auf, denen sich in nunmehr ununterbrochener Entwickelung eine lange Reihe verwandter Denkmäler anschliesst. Es sind die populären Ausläufer der grossen hierarchischen, asketischen und theologischen Bewegung des 11. und 12. Jahrhunderts. Man wollte auch das Laientum für die kirchliche Weltanschauung gewinnen. Biblische Geschichte, christliche Sitten- und Glaubenslehre sollten dem Laien vertraut gemacht, ja sollten seine einzige geistige Nahrung werden. Und wiederum schien der schon in der Karolingerzeit betretene Weg am besten zu diesem Ziele zu führen: die Kirche musste die deutsche Dichtung für ihre Zwecke gewinnen. Aber Otfrids und seiner Genossen Werke waren längst verschollen, und nicht nach ihrem Muster, sondern aus den Traditionen der mündlich überlieferten deutsch-volksmässigen und der lateinischen Poesie, der Predigt und der Liturgie bildeten sich die geist- lichen Dichter des 11. Jahrhs. ihren Kunststil, der nun je nach dem stärkeren Hervortreten des einen oder des anderen Elementes ein recht verschiedenes Gepräge zeigt. — Verschiedenartig ist auch die metrische 1 Zur Literatur dieses Zeitraumes im allgemeinen vgl. MSD* Nr. XXX f. LXXXII f. — Kleinen deutsche Gedichte des XI. und XII. Jahrhs., hrsg. von Waag Halle 1891. Deutsche Gedichte des 12. Jahrhs., hrsg. von C. Kraus Halle 1894. Piper, Geistl. Dichtung des Mittelalters (KQrschners Nationallit. 3. Stuttg. 1888). Scherer, Geschichte der deutschen Dichtung im Ii. und 12. Jakrh. (= QF 12) und Geistliche Poeten der deutschen Kaiser- zeit I. 2. (= QF I. 7.). Diemer, Kleinere Beiträge zur älteren deutschen Sprache und Literatur. Wien 1851—67 (meist aus den SB der Wiener Akademie). J. Meier, PBB 16,64. Joh. Kelle, Geschichte der deutschen Literatur Bd. 2. Berlin 1896. F. v. d. Leyen, Kleine Beiträge zur deutschen Literaturgesch. des //. und 12. Jahrhs. Halle 1897. Gcrmaniacbe Philologie II. 11 162 VI. LITERATURGESCHICHTE 2. B. MITTELHOCHDEUTSCHE LITERATUR. Form dieser Dichtungen. Die Strophe ist über das alte Mass der zwei oder drei Reimpaare hinausgewachsen; neben der gleichmässigen Strophen- form wird der metrische Satz wechselnden Umfanges mit grösserer Freiheit als ehedem gehandhabt, stellenweise im Anschluss an die lateinische Sequenz, öfter ohne ein bestimmtes Ordnungsprinzip. Bei denjenigen Dichtungen, welche nicht für den musikalischen Vortrag bestimmt sind, lösen sich jene ungleichen Versgruppen mehr und mehr in die gleich- massig fortlaufenden Reimpaare auf, eine Form, welche für die erzählende Dichtung allmählich die allgemein übliche wird. Der Versbau ist im allgemeinen nachlässig; eine Mischung von Traditionen des freieren alliterierenden Versbaus mit denen des endreimenden wird hier aus spät- althochdeutscher Nationaldichtung fortwirken; zwar liegt derselbe Vers- typus zu Grunde, welchen schon Otfrid anwandte; aber in der Zahl der Senkungen und sogar der Nebenhebungen gestattet man sich grössere Frei- heit; zugleich begnügt man sich statt des Reimes mit der rohesten Assonanz, und nur langsam erringt eine reinere poetische Form allgemeinere Geltung. Kein hochdeutscher Stamm ist von dieser literarischen Strömung unbe- rührt geblieben. Am lebendigsten sehen wir sie im Westen und im äussersten Südosten, am Rhein und in den österreichischen Ländern; hier erfährt die biblische Dichtung, dort die Legende besondere Pflege. Aber nirgends ist diese Literatur landschaftlich beschränkt. Schon früh zeigt sich gegen- seitige Beeinflussung in den poetischen Erzeugnissen der verschiedenen Stämme; in der grössten und wichtigsten Sammlung von Gedichten dieser Periode, welche im steirischen Stifte Vorau bald nach dessen Gründung (1163) veranstaltet wurde,1 ist Mitteldeutschland so gut wie Oberdeutsch- land vertreten; ein Gedicht steirischen Ursprungs tritt uns nicht lange nach seiner Abfassung in fränkischer Umschrift entgegen; fränkische Dichter üben in Baiern ihre Kunst und wetteifern dort mit der Geistlichkeit in der poetischen Behandlung weltlicher Stoffe. Denn auf das weltliche Gebiet führen schliesslich den Geistlichen jene Bestrebungen, welche den Laien auf das geistliche ziehen sollten. Neben Dichtern, denen es heiliger Ernst ist mit der christlichen Belehrung und sittlichen Reformierung aller Stände, treten bald andere auf, welche dem Geschmacke des Publikums weitgehende Zugeständnisse machen, geistliche Gegenstände ganz im volksmässigen Stile mehr zur Unterhaltung als zur Unterweisung und Erbauung behandeln und schliesslich sogar mit der Bearbeitung weltlicher Stoffe dem Interesse der höheren Gesellschaftskreise entgegenkommen. So führen denn die Geistlichen zuerst französische Epen in Deutschland ein und mit ihnen die Gattung der umfänglichen, zum Vorlesen in höfischer Gesellschaft bestimmten poetischen Erzählung. Sie helfen dadurch selbst eine neue Literaturperiode ins Leben rufen, welche ihnen das Szepter entreisst, die Periode der ritterlichen Dichtung. — Nicht als ob damit der eigentliche Zweck dieser literarischen Bemüh- ungen der Geistlichkeit überhaupt gescheitert wäre. Wenn mit Recht behauptet ist, dass die eigentliche Christianisierung des deutschen Volkes erst seit der Mitte des 11. Jahrhs. erfolgt sei, so hat auch die deutsche geistliche Poesie dieser Zeit dabei ihren Anteil gehabt; und wenn sie schliesslich zum besten der Dichtkunst bei einem anderen Ziele anlangte, als es ihr ursprünglich gesteckt war, so hatte sie doch auf dem Wege dahin nicht wenig geleistet im Dienste jener Reformbewegung, durch welche sie ins Leben gerufen war. 1 Hrsg. von Diemer deutsche Gedichte des 11. und 12. Jahrhs. Wien 1849. Vgl. PBB 77- 1050—i i8o. ALLGEMEIMES. MEMENTO MORI. EZZO. 163 GEISTLICHE POESIE. § 2. MementQ mori ist das Thema eines der ältesten Gedichte dieser Periode (MSDS XXX b), und dieser Mahnruf giebt den Grundton- an für die gesamte asketische Dichtung der Zeit. An die Vornehmen wendet sich mit seiner Warnung der alemannische Verfasser jener strophischen Sittenpredigt, der in einem ziemlich unklaren Schlussvers Noker genannt wird. Er verwirft die Standesunterschiede der Menschen, die doch alle von einem Manne ab- stammen und nach Gottes Gebot alle gleich sein sollen; er verficht das Recht des Armen gegen den käuflichen Richter; der Reichtum ist ein Hindernis auf dem Wege zum Himmel; nur ein Aufgeben alles Besitzes, die Flucht vor der trügerischen Welt, das stete memento mori kann die Seele retten. Bemerkens- wert ist, dass gerade aus Alemannien, wo die cluniacensische Reform zuerst Boden gewonnen hatte, auch zuerst eine solche Stimme ertönt. Der strengeren Regelung geistlichen Lebens konnten sich auch die Domkapitel nicht entziehen. Gunther von Bamberg war der erste deutsche Bischof, der seine Stiftsherren wieder zu gemeinsamem Leben nach klöster- licher Regel brachte, und im Jahre 1063 erbaute er ihnen eine neue Collegiatkirche. Einen von ihnen, den Schulvorsteher Ezzo, veranlasste vermutlich bei dieser Gelegenheit der Bischof, den wir gelegentlich auch als einen Freund deutscher Heldendichtung kennen lernen, eine Cantate in deutscher Sprache zu verfassen; ein anderer, Wille, componierte sie. So werden wir die Angaben deuten dürfen, welche eine der beiden Auf- zeichnungen eines Liedes von den Hauptthatsachen der christlichen Heilsgeschichte einleiten und dieses selbst können wir als jene Dichtung Ezzos betrachten.' Mit dem Anfang aller Dinge, dem Anegenge, setzt das grosse Drama von der Menschheit Sturz und Erlösung ein, in dessen einzelne Akte das Mittelalter die ganze Weltgeschichte aufteilte; mit dem Anegenge beginnt auch Ezzo sein Lied, und so pflegt man ihm wohl diesen Namen zu geben. Mit Adams Sündenfall bricht die Nacht über die Menschheit herein; nur einzelne Sterne blitzen durch das Dunkel, die Gottesmänner des alten Bundes; der Morgenstern Johannes Baptista führt endlich Christum, die Sonne des Heiles herauf. Kurz werden die Haupt- momente des Lebens, Leidens und der Verherrlichung Christi heraus- gehoben, Kreuz und Opfertod eingehender in mystisch-allegorischem Sinne behandelt, und der Jubel über die vollendete Erlösung klingt mit Tönen der Sehnsucht nach dem Himmelreiche, unserer Heimat, in einen Schluss- akkord zusammen. — Auch der frommen Sehnsucht und Glaubenszuversicht der Jerusalempilger Ausdruck zu geben, war dieser Gesang trefflich geeignet; so wird er gewiss oft angestimmt sein auf dem grossen Pilgerzuge, den Gunther mit mehreren Genossen im Jahre 1064 ins heilige Land führte und auf dem er seinen Tod fand. Eine Nachricht des 12. Jahrhs., dass Ezzo auf dieser Fahrt ein schönes Lied von den Wundern Christi in deutscher Sprache gedichtet habe, brauchen wir auf kein anderes Gedicht als das Anegenge zu beziehen. Spuren seines Einflusses lassen sich noch lange in der geistlichen Dichtung verfolgen. 1 Ältere Fassung unvollständig in einer Strassburger Hs., die auch das Memento mori enthält: ZfdA 23, 210, Barack, Eztos Gesang v. d. Wundern Christi u. Notkers Memento mori in phototyp. Faksimile der Strassburger Hs., Strassb. 1879. — Erweiternde Bear- beitung in der Vorauer Hs. Diemer, D. Ged. 319—30, beide Fassungen MSD« XXXI; Waag I.