1

Mediale Strategien helden. der Heroisierung

Die Briefe Philipps von Hutten­ zwischen Medium und Memoria des Heroischen heroes. Tilman Moritz Der ‚Kunstheld‘ im Spannungsfeld zwischen Krieg und Frieden Christina Posselt-Kuhli

Transfigurations du héros dans la culture mondaine héros. du siècle classique Isabelle Chariatte

E-Journal Intermediale Heroisierungs­ strategien bei Molière und Pierre Mignard zu Kulturen Christina Posselt-Kuhli, Jakob Willis des Heroischen. Zur Heroisierung Theodor Körners im 19. und 20. Jahrhundert­ Nikolaus Immer, Maria Schultz

Heldentum und mediale Inszenierung am Übergang zur politischen Moderne Robert Lukenda

Leningrad als Heldenstadt in der medialen Vermittlung durch Reiseführer Kristina Offterdinger

John Harrison (1693-1776) and the Heroics of Longitude Ulrike Zimmermann

Herausgegeben von Katharina Helm und Jakob Willis

Band 2.2 (2014) helden. heroes. héros. 2

Inhaltsverzeichnis

Editorial Katharina Helm, Jakob Willis ...... 5

Aufsätze Neue Welten, alte Helden? Die Briefe Philipps von Hutten zwischen Medium und Memoria des Heroischen Tilman Moritz ...... 7

Der ‚Kunstheld‘ im Spannungsfeld zwischen Krieg und Frieden – Ein herrscherliches Tugendexempel im Deutschland des 17 . Jahrhunderts Christina Posselt-Kuhli ...... 17

Transfigurations du héros dans la culture mondaine du siècle classique : Madeleine de Scudéry, La Rochefoucauld, le chevalier de Méré Isabelle Chariatte ...... 37

« La voilà, cette main, qui se met en chaleur » – Intermediale Heroisierungsstrategien bei Molière und Pierre Mignard am Beispiel des Gedichts La Gloire du Val-de-Grâce Christina Posselt-Kuhli – Jakob Willis ...... 49

Lützows wildester Jäger . Zur Heroisierung Theodor Körners im 19 . und 20 . Jahrhundert Nikolas Immer – Maria Schultz ...... 69

Viva Garibaldi! – Heldentum und mediale Inszenierung am Übergang zur politischen Moderne Robert Lukenda ...... 93

helden. heroes. héros. 3

„Stadt, die den Tod bezwang“ – Leningrad als Heldenstadt in der medialen Vermittlung durch Reiseführer Kristina Offterdinger ...... 107

John Harrison (1693 - 1776) and the Heroics of Longitude Ulrike Zimmermann ...... 119

Rezensionen Bricht in Russland ein heroisches Zeitalter an? Der russische Feldherr Alexander Suworow als Kristallisationsfigur eines neuen Nationalmythos. Zu den neuen Biographien von Wjatscheslaw Lopatin und Arsenij Samostjanow Reinhard Nachtigal ...... 131

Heldenlose Oper? Giacomo Meyerbeers Die Hugenotten, wiederbelebt und neu interpretiert am Staatstheater Nürnberg Carolin Bahr ...... 141

Impressum ...... 143

helden. heroes. héros. 4

helden. heroes. héros. DOI 10.6094/helden.heroes.heros./2014/02/01

5

Editorial

S’il n’y a de l’héroïsme que dans l’action, il n’y a de héros que dans et par la parole. Maurice Blanchot: Le Héros

Seit der Antike kommt heroischen Figuren wie Die dritte Ausgabe von helden . heroes . héros . Herakles, dem Cid oder Jeanne d’Arc eine zent- E-Journal zu Kulturen des Heroischen beschäf- rale Rolle im Kontext kultureller Vorstellungs- und tigt sich vor diesem Hintergrund in einer dezi- Aktionswelten zu. Indem sie als Identifikationsfi- diert transkulturellen und epochenübergreifen- guren die Werte und Ideale einer Gemeinschaft den Ausrichtung mit unterschiedlichen medialen verkörpern, rufen sie zur Imitation auf und be- Strategien der Heroisierung . Die literatur-, bild- sitzen integrative und soziale Kohäsion stiften- und geschichtswissenschaftlichen Beiträge, die de Funktionen . Gleichzeitig sind sie nicht selten zeitlich vom Spätmittelalter bis ins 21 . Jahr- Gegenstand kontroverser Deutungs-, Zuschrei- hundert und geografisch von Südamerika bis bungs- und Abgrenzungsprozesse . Jeanne d’Arc zur ehemaligen Sowjetunion und dem heutigen beispielsweise wurde Zeit ihres Lebens nicht Russland reichen, gehen dabei unter anderem nur als Heldin und Märtyrerin verehrt, sondern der Frage nach, wie sich die diversen Formen auch der Häresie beschuldigt, im 19 . Jahrhun- der Heroisierung in Medien oraler, textueller, dert dann zum nationalen Mythos verklärt und zu bildlicher, plastischer, musikalischer, kinemato- Beginn des 20 . Jahrhunderts sogar heiliggespro- grafischer oder medial hybrider Darstellung be- chen . Untersucht man den kulturellen Umgang schreiben lassen und machen einzelne Strate- mit Heldinnen und Helden in einer historischen gien in ihren Analysen konkret fassbar. Darübe­r Langzeitperspektive, stehen so Traditionen und hinaus spielt die Überlegung, inwiefern sich spe- Kontinuitäten neben Transformationen und radi- zifische Medien, Künste oder Gattungen in den kalen Brüchen, Prozesse der Heroisierung ne- unterschiedlichen historischen Konstellationen ben solchen der Deheroisierung . für Heroisierungsprozesse besonders eignen oder sogar einzelne Objekte oder Artefakte an Einen wesentlichen Anteil an der Konstruktion der Erzeugung heroischer Semantiken direkt wie auch der Dekonstruktion heroischer Figuren beteiligt sind, eine wesentliche Rolle . Schließ- haben die unterschiedlichen Medien und Küns- lich tragen die Beiträge auch Phänomenen wie te . Sie stellen in ihrer vermittelnden Funktion der intermedialen Dimension der Konstruktion den Kontakt zwischen Helden und deren Pub- des Heroischen, den verschiedenen Kontexten likum her, indem sie sowohl von den Taten der seiner Verbreitung und Rezeption sowie seiner heroischen Figuren als auch über deren Opfer museumsdidaktischen Vermittlung Rechnung . berichten . Durch diese Form der bewahrenden Vermittlung wird das Heroische präsent gehalten Tilman Moritz untersucht in seinem Beitrag die für Kulte und Rituale, für individuelles wie auch selbstheroisierende Intention von Briefen des kollektives Erinnern . Dass Medien und Künste fränkischen Ritters Philipp von Hutten, in denen zudem den Ruhm einer Persönlichkeit auch über dieser Mitte des 16 . Jahrhunderts über seine deren Tod hinaus vor dem Vergessen bewahren Erfahrungen als Teilnehmer einer Welser-Ex- können, ist ein Faktum, das beispielsweise auch pedition nach Venezuela berichtet . Neben den Ovid am Ende seiner Metamorphosen hervor- textuellen Strategien der Heroisierung liegt der hebt . Den Stellenwert seiner Dichtkunst unter- Fokus der Analyse dabei auch auf den Möglich- streichend weist der verseschmiedende Hel- keiten und Grenzen der posthumen Integration denmacher mit Blick auf den Nachruhm Cäsars der Ausnahmefigur in die Familienmemoria. darauf hin, ein Werk verfasst zu haben, „das Feuer und Eisen nimmer zerstört, noch Jupiters Christina Posselt-Kuhli beleuchtet in ihrem Zorn, noch zehrendes Alter .“ Aufsatz den Zusammenhang zwischen der hel- denhaften Repräsentation von Herrschern im helden. heroes. héros. Editorial

6 Deutschland des 17 . Jahrhunderts und deren vermittelte Stilisierung Leningrads als Helden- Eigenschaften als Kunstsammler und -förderer . stadt . Dabei arbeitet sie heraus, welche medi- Unter anderem anhand der Beispiele Erzherzog alen Praktiken an der heroischen Mythologi- Leopold Wilhelm und Kurfürst Friedrich Wilhelm sierung des Stadtraums mit seinen zahlreichen von Brandenburg analysiert sie in einer transme- Erinnerungsorten zum Einsatz kamen und wel- dialen Perspektive künstlerische Verfahren der che Rolle die unterschiedlichen Produktions- und Stilisierung herrscherlicher „Kunst-Helden“ . Rezeptionskontexte der Reiseführer spielten .

Isabelle Chariatte arbeitet in ihrem literatur- Ulrike Zimmermann wirft in ihrem literatur- und wissenschaftlichen Beitrag Figurationen und kulturwissenschaftlichen Aufsatz einen Blick auf Transfigurationen des Heroischen innerhalb der die posthume Heroisierung des englischen Uhr- culture mondaine des französischen 17 . Jahr- machers John Harrisons, der zu Beginn des 18 . hunderts heraus . Durch ihre kontrastive Lektüre Jahrhunderts das Schiffschronometer erfand und von Texten Madeleine de Scudérys, La Roche- damit das Problem der genauen Bestimmung foucaulds und de Mérés werden Traditionslini- des Längengrades löste. Durch die Analyse der en, aber auch Umbrüche literarischer Heroisie- literarischen, massenmedialen und musealen rungsstrategien im siècle classique fassbar . Erinnerung Harrisons entsteht ein differenziertes Bild heroisierender Praktiken der jüngeren Ver- Christina Posselt-Kuhli und Jakob Willis wen- gangenheit und der unmittelbaren Gegenwart . den sich mit Molière und Pierre Mignard zwei weiteren prominenten Künstlerpersönlichkeiten Reinhard Nachtigal bespricht in einer Sam- der französischen Klassik zu und analysieren in melrezension Biografien, die zwischen 2000 ihrem Aufsatz eine Reihe intermedialer Heroi- und 2014 auf dem russischen Buchmarkt über sierungstechniken, die sich auf Text-Bild-Ebene den Generalissimus Alexander Suworow (1730- in dem Gedicht La Gloire du Val-de-Grâce so- 1800) erschienen sind . Neben medialen Stra- wie den Kupferstichen der Originalausgabe von tegien der Heroisierung stellt er dabei auch die 1669 nachweisen lassen . Den kunst- und lite- tagesaktuellen Funktionalisierungen der nati- raturwissenschaftlichen Analysen vorangestellt onal bis nationalistisch geprägten Helden-Ge- sind einige allgemeinere Überlegungen zum schichtsschreibung heraus . Phänomen der medialen Heroisierung . Carolin Bahr beleuchtet unter musikwissen- Nikolas Immer und Maria Schultz befassen schaftlicher Perspektive die Inszenierung von sich in ihrem Beitrag mit den unterschiedlichen Giacomo Meyerbeers Oper Die Hugenotten, die Formen und Funktionen der Heroisierung Theo- am 15 . Juni 2014 am Staatstheater Nürnberg dor Körners im 19 . und 20 . Jahrhundert . Anhand Premiere feierte . In ihrer Rezension diskutiert einer reichen Fülle von lyrischen und belletris- sie die Kontexte der Wiederbelebung des in Ver- tischen Texten, von bildlichen Repräsentatio- gessenheit geratenen Stücks und geht Fragen nen auf Sammelbildern und Postkarten sowie bezüglich der (de-)heroisierenden Funktionen der kinematografischen Bearbeitung seiner Vita von Dramaturgie, Inszenierung und stimmlicher zeichnen sie – ausgehend von Körners eigener Gestaltung nach . Dichtung – die wechselvolle Geschichte der me- dialen Konstruktion der Heldenfigur und ihrer politisch-ideologischen Vereinnahmung nach .

Robert Lukenda untersucht in seinem Auf- satz die mediale Inszenierung einer weiteren Heldenfigur des 19. Jahrhunderts, jener des italienischen Freiheitskämpfers Guiseppe Ga- ribaldi . Unter besonderer Berücksichtigung der identitäts- und medienhistorischen Kontexte am Übergang zur politischen Moderne wird die Konstruktion des wirkmächtigen Heldenmythos nachvollzogen und dabei auch Fragen nach Fik- tionalität und Faktizität, nach Selbstvermarktung und Instrumentalisierung gestellt .

Kristina Offterdinger diskutiert in ihrem Beitrag die über west- und ostdeutsche sowie sowjeti- sche Reiseführer der 1950er bis 1980er Jahre

helden. heroes. héros. DOI 10.6094/helden.heroes.heros./2014/02/02

Tilman Moritz 7

Neue Welten, alte Helden? Die Briefe Philipps von Hutten zwischen Medium und Memoria des Heroischen1

I. Dissonanzen Grabplatten und Epitaphien, die den Ort ihre­r Auf- bzw. Ausstellung, die Pfarrkirche Maria Heftig prallen die beiden Schlachtreihen auf­ Sondheim im unterfränkischen Arnstein, als eine einander. In mehreren Wellen dringen Reiter Grablege der ritteradligen Familie von Hutten 4 auf Fußsoldaten ein, die in geschlossener For­ ausweist. Diesem äußeren Kontext des Steins mation dem Ansturm begegnen. Zwischen den wiederum wird ein konkreter, inhaltlicher Bezug Fronten, schon unter den Hufen der heranspren­ verbunden durch eine Inschrift, die unter die Bild­ genden Pferde, wälzen sich bereits Verwunde­ tafel gesetzt ist. Als Philipp von Hutten, „Ritter te, Ross und Reiter, Freund und Feind. Mit ge­ aus Franken“, wird der Verstorbene vorgestellt, zückten Schwertern, eingelegten Spießen und dessen Bruder Moritz, Bischof zu Eichstätt, ihm erhobenen Schilden, ihre Körper aber entblößt, den Gedenkstein „der Liebe und des Anden­ so stürzen sich die Kämpfer ins Getümmel. Die kens wegen in tiefer Trauer“ stiftete. Angaben Vorbehaltlosigkeit, mit der dieser Kampf ausge­ zu Herkunft und Werdegang des Verstorbenen tragen wird, der Mut, aber auch die Rohheit auf sind fast völlig ausgespart. In den Vordergrund beiden Seiten sind kaum zu übersehen. gerückt sind vielmehr Huttens Reise nach „Ve­ Szenenwechsel: Ein Mann ist vor dem Kru­ nezuela, einer Provinz des jenseitigen Indien“, zifix auf die Knie gefallen. Er trägt Waffen und im Jahr 1534, und sein Wirken dort als „Soldat einen prächtigen Harnisch, nur den Helm hat bei zwei Expeditionen“, deren zweite er sogar er abgelegt und die Panzerhandschuhe gegen „an Stelle des verstorbenen Gouverneurs“ selbst zivilere Pendants getauscht. Im Gegensatz zur leitete. Die vermeintliche Erfolgsgeschichte aber äußerlich wehrhaften Erscheinung aber steht ist letztlich nur die Folie für die Umstände, unter das zerquälte Gesicht, der zur Anrufung geöff­ denen Hutten zu Tode kommt: Zusammen mit nete Mund, der auf den Gekreuzigten geheftete, einigen namentlich aufgeführten Gefährten wird flehende Blick. Allein, Christus erwidert den Blick er „im Jahr 1546 jämmerlich (o welcher Schmerz!) nicht, sein Kopf ist zur anderen Seite geneigt, hingeschlachtet“ und fern der Heimat begra­ und unter schweren Lidern schaut er auf einen ben – immerhin nicht, ohne dass den ebenfalls zweiten Mann herab. Dieser kniet dem Gerüs­ namentlich gemachten Mörder, Juan de Car­ teten gegenüber, gefasster, aber kaum weniger vajal, zwischenzeitlich seine gerechte und hier 5 inbrünstig betend. Hirtenstab, Ring und vor ihn eigens berichtete, grausame Strafe ereilt hätte. gesetzte Mitra weisen ihn als Bischof aus. Zu­ Eine solche Geschichte passt ganz offen­ gleich markiert das ihm um die Schultern geleg­ sichtlich nicht in den Rahmen des Herkömm­ te Pluviale den Grund seiner Anwesenheit: die lichen, der Konvention. Sie erzeugt vielmehr Dis­ Konsekration, die Weihe der hier vollzogenen sonanzen, und genau das ist im Epitaph – oder Fürbitte. eigentlich: dem Kenotaph Philipps von Hutten Zwischen beiden Szenen – religiösem Ernst gespiegelt. So bildet die ausführlich erzählende und bewegendem Gebet hier, dem Gemetzel und sorgfältig komponierte lateinische Inschrift in gleichermaßen heroischer wie barbarischer für sich genommen schon eine Ausnahme im Nacktheit2 dort – besteht kein offensichtlicher Kontext ritterlicher Grabmäler. Hinzu tritt die Zusammenhang. Und doch gehören sie in ein kunstvolle Gestaltung des Denkmals, das sich und dasselbe Bild. Es handelt sich nämlich um neben den wuchtigen Monumenten, die es heute Motive, die auf einem steinernen Grabdenkmal rahmen, beinahe zierlich ausnimmt. Diesen Ein­ erscheinen. (Eine Photographie ist über das druck verstärkt das Bildfeld mit seinen zahlrei­ Historische Lexikon Bayerns abrufbar.)3 Das chen, ebenso plastisch wie fein ausmodellierten Denkmal selbst ist Teil einer ganzen Galerie von Details. Die eingangs beschriebenen Szenen helden. heroes. héros. Tilman Moritz

8 gehören hierher: die Fürbitte steht im Mittelpunkt, verloren – vielleicht auch, weil keine unmittel­ sie füllt den Rahmen der Darstellung; zugleich ist bare Notwendigkeit mehr darin gesehen wurde, sie auf einen bewegten Hintergrund gesetzt, in die nun im Druck gewissermaßen konservierten eine Landschaft einbezogen, die durch Einzel­ Schriftstücke aufzubewahren.11 Wo der Abgleich szenen belebt wird – darunter die bewaffnete zwischen Original und (edierter) Kopie möglich Auseinandersetzung am jenseitigen Ufer eines ist, offenbaren sich einige Ungenauigkeiten, aufgewühlten Gewässers. Irrtümer und Auslassungen in den Abschriften. Allerdings sind diese Szenen nicht als bloße Redaktionelle Eingriffe, Marginalien u. ä. sind in Indizes misszuverstehen, als Zeichen, die eine den Kopien überhaupt nicht mehr fassbar. Noch gegebene Handlung nur mit anderen Mitteln verworrener zeigt sich schließlich die Überliefe­ darstellen, etwa im (faktologischen) Sinne einer rungslage eines Konvoluts von Texten, die 1550 Illustration des beigegebenen Textes.6 Vielmehr als Anhang zur deutschen Übersetzung zweier wird hier versucht, durch eine eigenlogische Schreiben des Hernán Cortés gedruckt wurden. Darstellung, d. h. einen für sich stehenden und Sie erscheinen dort mit der Begründung, „dieweil lesbaren Bildbericht7, eine weitere Perspektive sy auch vo(n) Indien […] meldung thůn. Ist dem zu öffnen bzw., wie die Beispiele zeigen, eine Bůchtrucker beuolhen, sy zů den zwaien vordern parallele, transzendente Deutung der geschil­ Büchern zutrucken“ (Ulhart LI r-LVII v ).12 Dem derten Vorgänge zu bieten. Damit das aber rein inhaltlichen Fokus dieses Kompendiums gelingt, damit ein angemessener Ausdruck ge­ entspricht, dass die ursprünglichen Formate der funden werden kann, sind offenbar Regelver­ darin versammelten Texte verwischt sind, Prove­ stöße notwendig. Daher rührt die eigentümliche nienz und konkrete Autorschaft unklar bleiben. Zusammensetzung des Arnsteiner Kenotaphs. Die Zuweisung an Philipp von Hutten ergibt sich Wodurch aber werden diese Brechungen eigent­ vornehmlich aus Passagen, die einige seiner lich verursacht? Oder konkret gefragt: Warum Briefe im Wortlaut zu zitieren bzw. zu paraphra­ rechtfertigt, nein, erfordert der unglückliche Tod sieren scheinen oder die einen Bezug zu seiner Philipps von Hutten auf einer – zugegeben, un­ Biographie, soweit sie bekannt ist, aufweisen. gewöhnlichen – Reise den Aufwand einer sol­ So schlagend die Analogien sind, aus quellen­ chen Inszenierung? kritischer Sicht bereitet die Überlieferung Proble­ me – und das gilt, so einleuchtend wiederum die Verdichtung zu einem Gesamtkorpus scheint, für die Mehrzahl der unter Huttens Namen zu­ II. Überreste und Traditionen sammengefassten Texte. Vor allem da der Tradi­ tionszusammenhang dieser Quellen also, nach Am 8. Dezember 1534, nach bereits vier geschei­ derzeitigem Stand, nicht geklärt werden kann terten Versuchen, gelingt es dem Welser-Konvoi und sie deshalb eher den Rezeptionszeugen zu­ endlich, aus dem Hafen von Cádiz auszulaufen zurechnen sind, konzentriere ich meine Analyse und die offene See zu erreichen. An Bord des auf die fünf Originalbriefe. Führungsschiffs, in Begleitung des gerade neu berufenenen Gouverneurs, befindet sich Philipp von Hutten. Kaum zwei Wochen später, beim Zwischenhalt auf Gran Canaria, schreibt er eine­n III. Brüche Brief an einen Freund aus gemeinsamen Tagen am spanischen Hof Kaiser Karls V. Es ist der Kehren wir noch einmal zu jenem Dezember­ erste einer Reihe von Briefen, die Hutten über tag des Jahres 1534 zurück, der den Aufbruch einen Zeitraum von wenigstens sechs Jahren in Philipps von Hutten in die Neue Welt markiert. die europäische Heimat sendet.8 Dieser Aufbruch ist zugleich ein Abbruch. Denn Tatsächlich ist die Zahl der erhaltenen Schrei­ mit der räumlichen Distanz bringt Hutten auch ben gering.9 Nach aktuellem Stand liegen fünf Abstand zwischen sich und seine bisherigen Briefe noch im Original vor. Ihre Echtheit ist Aktionsfelder. In die Neue Welt zu reisen, war durch Versandspuren (wie die Faltung des Pa­ nichts Alltägliches und entsprach ganz sicher piers auf Briefformat oder die stärkere Alterung weder herkömmlichen Lebensplanungen noch der Außenseite) sowie durch Eingangs- und der für Hutten vorgesehenen Karriere. Anders Weiterleitungsvermerke hinreichend belegt.10 als die möglichen Vorbilder Hernán Cortés oder Zwei der Originale sind auch sekundär überlie­ Francisco Pizarro war Philipp von Hutten gewiss fert in einer Druckausgabe des späten 18. Jahr­ kein „unbegüterter Landadliger“ (Schmitt, Kolo- hunderts; diese Ausgabe enthält darüber hinaus nien 397) oder ohne Aussicht auf ein gesicher­ weitere sechs Schreiben, die auf Basis rezenter tes Erbe.13 Im Gegenteil galt er, nachdem der Abschriften ediert wurden (Meusel). Die Kopien ältere Bruder Moritz eine geistliche Laufbahn sind noch vorhanden, die Originale aber wohl eingeschlagen hatte, als Stammhalter und damit

helden. heroes. héros. Neue Welten, alte Helden?

Repräsentant einer erfolgreichen Nebenlinie de­ „Welche grosse Arbait vnd Not […] ßo die [armen 9 rer von Hutten.14 Seine vorangegangene Aus­ Cristen in] diesen Landen leiden, euch zum Theil bildung am nassauischen bzw. spanischen Hof vnuer[treglich vnd schier] vnmenschlich, wie sie hatte ihn außerdem in die Nähe einflussreicher dan warlich an in sel[bst seyn, duncken] werden, Persönlichkeiten geführt und ihm Chancen zu ßo sein wir doch itz durch lange Gewo[nhait alßo gleichsam internationaler Netzwerkbildung er­ darinn] erwachsen, das wir die gantz gering ach­ öffnet. Das dokumentieren unter anderem die ten“ (ebd. 129).18 Die perspektivischen Brechun­ Briefe an den bereits genannten Freund, den gen werden hier also klar benannt. Mehr noch, Kaiserlichen Rat Matthias Zimmermann, sowie ihre Wahrnehmung und der Umgang mit ihnen die darin mit angesprochene peer group, na­ werden zu einer rite de passage. Der Philipp mentlich oder summarisch etwa als „das gantz von Hutten, der sich aus dem gewohnten Kon­ Hoffgesindt, sunderlich die gantz Gesellschaft text gelöst hat, ist ein anderer geworden – und von vnser Taffel“ (Schmitt, Gold 91); und das er muss ein anderer sein, weil es die geänderten belegt schließlich auch Huttens Aussicht, sich Bedingun­gen erfordern. Genau diese Dynamik durch Heirat einem Krainer Adelsgeschlecht zu manifestiert sich in den Briefen, materialisiert verbinden.15 sich, wird (be-)greifbar. Allein daraus lassen sich die Gründe für den dramatischen Wechsel der Verhältnisse also nicht rekonstruieren. Allerdings steht fest, dass Hutten den Bruch durchaus als solchen wahrnahm und IV. Reparaturversuche entsprechend verhandelte. Das erhellt zunächst aus der Sprache der Briefe selbst. Ausführlich Die Briefe bringen demnach nicht nur das Frem­ und mit großer Anschaulichkeit werden darin de auf den Begriff, sondern auch den persönli­ die Gegebenheiten der Neuen Welt geschildert. chen Wandel. Sie veranschaulichen und begrün­ Hutten zeigt sich fasziniert vom Unbekannten, den zugleich, warum und vor allem wie Hutten dem Unerhörten, dem Unglaublichen, für das sich von vertrauten Positionen verabschiedet. er dann herausstellen kann, „wiewol es luger­ Sie sind tatsächlich medial zu verstehen, das lich laut, ist es entlich war“ (Schmitt, Gold 91).16 heißt in ihrer vermittelnden Funktion, durch die Er verortet sich im Geschehen, ist nicht nur Au­ ein Standpunkt kommuniziert oder zunächst gen- und Ohrenzeuge, sondern aktiv Beteiligter, überhaupt etabliert wird. Der entstandene Bruch dessen Motiv letztlich die Anschauung selbst ist: wird hier gewissermaßen ‚gekittet‘; denn die Not­ „Ob ich schan nichs gewun, allain mit Gesunthait wendigkeit, sich selbst mitzuteilen, besteht ja nur daruon keme, bin ich zefriden mit dem, das ich für den, der sich verständlich machen will – der, gesehen hab vnd teglichs syehe vnd sunderlich anders ausgedrückt, die Selbstverständigung in der Entrada [d. h. Expedition]“ (ebd. 94). Diese sucht. Diese Absicht ist im Fall Huttens sogar Anschauung ist natürlich, dem Ausdruck nach, recht klar und als konkrete Planung zu erkennen. vorrangig eine europäische Perspektive, speist Zeugnis sind die Briefe selbst, nämlich als Mate­ sich also aus dem Vergleich. Mit Alteritätserfah­ rialien: Es ist zwar nicht zu klären, ob Hutten das rungen so umzugehen oder, besser gesagt, sie Papier für seine Briefe selbst einführte oder auf dadurch zu betonen, ist ein Verfahren, das aus den Vorrat der Welser-Administration, der er ja zeitgenössischen Pilger- und Reiseberichten be­ angehörte, zurückgriff. Allerdings zeugt die Anla­ kannt ist. Fremde Begrifflichkeiten, selbst dort, ge der Briefe von seinem sorgfältigen und betont wo sie nicht erklärt werden, verstärken den Ef­ eigenhändigen Umgang mit dem Material. Ein fekt. Es handelt sich um Exotismen, die einer­ schönes Beispiel ist das Schreiben vom 23. Fe­ seits eine Fremdheit hervorbringen, indem diese bruar 1535, der erste Brief aus Festland-Vene­ 19 gewissermaßen sprachlich ‚reproduziert‘ wird; zuela. Der Text ist hier in ein vorgezeichnetes andererseits inszeniert sich darin derjenige, der Schema gesetzt, jeweils auf eine Hälfte des die Exotik auf den Begriff bringt, selbst als Teil­ Blattes auf Vorder- und Rückseite. Die entspre­ haber jener Fremdheit.17 Bei Hutten finden sich chende Markierung ist noch zu erkennen, und solche Begriffe verhältnismäßig häufig und wie tatsächlich zeigt sich eine nur geringe Schwan­ selbstverständlich eingestreut, obwohl sie einem kung in Zahl und Breite der Zeilen. Offenbar europäischen bzw. deutschsprachigen Publikum wurde der Text nach einem Konzept oder einer nicht ohne Weiteres verständlich gewesen sein ausgearbeiteten Vorlage in Reinschrift übertra­ dürften: so ist etwa von „reuier“ (Fluss; Schmitt, gen, wie sich an Korrekturen zeigt, die von der Gold 93), „mahiz“ (Mais; ebd. 95), „Cassicques“ Hand des Textes angebracht sind und auf Irrtü­ 20 (Häuptlinge; ebd. 99) oder „Iucka“ (Yucca; ebd. mer beim Abschreiben hindeuten. Als Schrei­ 103) die Rede. Das vollkommen Fremde kommt ber aber kommt nur Philipp von Hutten selbst dann aber auch in einer persönlichen Aneignung, in Frage: Zum einen erscheinen in diesem und als Aushalten der Fremdheit zum Ausdruck: allen anderen Briefen Text und Unterzeichnung

helden. heroes. héros. Tilman Moritz

10 in derselben Handschrift; eine Rubrizierung genommen, als deren Stellvertreter Zimmer­ lässt sich in keinem Fall erkennen. Zum ande­ mann hier wie noch häufiger fungierte. Folglich ren, und das ist entscheidend, enthält der Brief war der Brief keinesfalls vertraulich oder gar vom Februar 1535 eine teilweise verschlüsselte privat, sondern ging durch viele Hände. Das an­ Nachschrift; sie besteht aus Kombinationen von zuzeigen, war wohl durchaus im Sinne Huttens: Buchstaben, die mit dem Schriftbild des Textes dass die alten Netzwerke noch bestanden, dass identisch sind. Diesen Code, obwohl er nur drei Hutten in der Gemeinschaft des spanischen Zeilen umfasst, zu diktieren oder abschreiben zu Hofs noch zahlreiche Freunde hatte und dass er lassen, wäre zumindest fahrlässig, allein schon diese Kontakte sogar immer noch bewusst such­ aufgrund möglicher Übertragungsfehler. Wir dür­ te, all das stellt der Brief aus. Die Geheimschrift fen also annehmen, dass Hutten seine Briefe ei­ aber, wenigstens als Geste, ermöglichte es, in genhändig ausfertigte – sicherlich nicht zuletzt, der Öffentlichkeit des Schreibens Vertraulich­ um seine inhaltliche Präsenz als Autor schon keit (wieder-)herzustellen, und zwar zielgerich­ formal, an der Außenseite des Textes sichtbar tet im ‚Gespräch‘ mit dem älteren Bruder. Bei zu machen, das heißt im Erkennen seiner Hand­ näherem Hinsehen entpuppt sich die gesamte schrift selbst wiedererkannt zu werden. Nachschrift als sozusagen ostentativ verbor­ Genau das ist dann auch eine – oder sogar gene Botschaft: Unter anderem und scheinbar die eigentliche – Funktion der verschlüsselten beiläufig referiert Hutten die – vor Ort redensart­ Passage. Ohne ihren Inhalt zu kennen, lässt lich gewordene – Gewohnheit des Bischofs von sich nämlich vermuten, dass auch sie der Prä­ Santo Domingo, „alle Iar her zekome(n) seine senzerzeugung dient; dass sie sozusagen direk­ scheffle zeschere(n) vnd widerůmb mit der wol­ 24 te Kommunikation ermöglicht, die nicht durch len gen santo domÿngo faren“ (D 1072, 3 r2). Distanz oder das Medium gebrochen ist, eben Gegenüber Moritz von Hutten, der sich Hoffnun­ weil sie verschlüsselt ist, somit auf einer ande­ gen machen durfte, selbst einmal ein Bistum zu ren, vertraulichen, ja intimen Ebene stattfinden übernehmen – was sich 1539 mit seiner Wahl kann. In den Briefen ist der Code freilich singu­ in Eichstätt auch bestätigte –, war das natürlich lär, zumindest hat sich Vergleichbares nicht er­ mehr als ein augenzwinkernder Scherz. Hier halten. Gerade dieser Umstand hat Anlass zu wird Selbstironie abgerufen, die mit dem Amt Spekulationen gegeben, hat dazu angeregt, an­ nicht vereinbar sein mag, allein unter Brüdern dere Doppeldeutigkeiten als Geheimnachrichten aber erlaubt ist. zu lesen und daraus einen Sonderstatus, eine Allerdings, die Frage bleibt: Worin liegt der Beob­achtermission Huttens in Venezuela abzu­ Sinn einer solchen doppelbödigen Kommunika­ leiten (Schmitt, Gold 12, 96). tion? Philipp von Hutten hielt diese Ansprache, Umso ernüchternder mag wirken, was dort die sich auf Verbundenheit beruft und Nähe in­ tatsächlich zu lesen ist. Es handelt sich um einen szeniert, offenbar für notwendig. Gerade des­ einzigen Satz, verschlüsselt über einen schlich­ halb aber können wir vermuten, dass Verbun­ ten Buchstabentausch und mit Trugzeichen denheit und Nähe hier stark akzentuiert werden, verunklart – keineswegs aber ‚bruchsicher‘. So eben weil sie nicht mehr gegeben sind. Und ist auch die Nachricht kurz: „ich bit euch gantz das verweist wiederum nicht nur auf räumliche, freuntlich wollet mir nichs uerhalten wie sich bis­ sondern auch gedankliche, oder anders gesagt: her ger-t gehalten haet un[d] noch he[l]t“ (D 1072, ganz persönliche Distanz. Es verweist auf einen 21 3 r2). Hutten erkundigt sich also nach der Ver­ Konflikt, in dem der ältere Bruder sowohl die Rol­ fassung einer Person, deren offenbar gekürzter le des Antagonisten als auch des einzig verblie­ Name vom Korrespondenzpartner leicht zu er­ benen Ansprechpartners übernehmen kann.25 schließen sein muss. Aus ähnlichen Passagen in anderen Briefen aber ergibt sich die Möglichkeit, die Abkürzung zu „Ger(trau)t“ aufzulösen, dem Namen der Mutter Philipps von Hutten.22 Frei­ V. Heros ex machina lich, eine solche Frage zu verschlüsseln, scheint zunächst widersinnig. Allerdings grenzt sie den Gleich zu Beginn des Jahres 1540 gerät Philipp Adressatenkreis erheblich ein, und der Blick von Hutten unter massiven Druck. Seit über ei­ muss hier zurückgehen auf die oft übersehene nem Jahr sitzt er in Venezuela fest. Die letzte Anschrift, besser gesagt, die Anweisung, den Expedition, seine erste, blieb ohne greifbaren Brief „meine(m) [br]uder lieben hern vnd Freůndt Erfolg und musste abgebrochen werden, und die 23 Verhandlungen über einen erneuten Anlauf kom­ zůhand(en)“ (D 1072, 3 r2) weiterzuleiten. An ihn, Moritz, nämlich richtete sich das Schreiben. men nicht recht voran. In dieser Situation treffen Zuvor aber hatte es einen Umweg über Matthias gleich mehrere Briefe von Verwandten ein, da­ Zimmermann und sehr wahrscheinlich auch jene runter auch ein Schreiben des Bruders, „allain darauff gericht, das ich mich auffs furderlichst „loblich geselschaft vnser taffel“ (D 1072, 3 r2)

helden. heroes. héros. Neue Welten, alte Helden? anheymb vnd hynnaus thun sol“ (Schmitt, Gold sich nicht allein darin erschöpft, ein Programm 11 128). Der Bruder insistiert sogar, den Bescheid abzuarbeiten, sondern darüber hinauszugehen, „nit als ain Bit, sunder wie ain Gebot“ (ebd.) zu besondere Leistungen zu erbringen, umso eher verstehen, da nun er, nachdem der Vater soeben noch unter erschwerten Bedingungen. Um gültig verstorben ist, die Position des Familienober­ zu sein, muss dann aber diese Leistung ‚öffent­ haupts übernommen hat.26 Philipp von Hutten lich‘, vor den Augen aller vollbracht und sichtbar soll in die Nachfolge des Vaters eintreten, das gemacht werden. Beides zusammen ergibt eine Erbe übernehmen und damit in die für ihn vorge­ aristokratische Haltung in ihrem ursprünglichen sehene Rolle finden. Sinn – der Beste zu sein, indem man das Beste Eigentlich könnte Hutten sich diesen Ansprü­ tatsächlich verkörpert.28 Kein Zufall auch, dass chen fügen. Man hat ihm Zeit und wahrschein­ das Streben nach Ehre und Gewinn zum Kampf lich auch die Mittel zugestanden, sich in der („Treffen“) umgedeutet wird, also eine klar mili­ Neuen Welt zu eigenen Bedingungen zu bewäh­ tärisch-ritterliche Konnotation erhält. So werden ren. Nun erwartet die Familie, dass er seinen noch zwanzig Jahre später Lope de Aguirre die Pflichten nachkommt – was aber auch heißt, Worte in den Mund gelegt, er sei nach Peru ge­ dass er, ungeachtet des vor allem finanziellen kommen, „um mehr zu gelten mit der Lanze in Misserfolgs seines Unternehmens, in gesicherte der Hand und um die Schuld einzulösen, die Verhältnisse zurückkehren darf. An dieser Stelle jedem Ehrenmann aufgebürdet ist“ (übersetzt jedoch geht Hutten in die Offensive: nach Galster 846).29 Kein Wandel also? Nichts als herkömmliche N[un freundlicher lieber Her] vnd Bruder, Beglaubigungsformeln, begründet in der Selbst­ wollet wol bedencken vnd ze He[rzen neh­ gewissheit, an vorderster Front, unter härtesten men], mit was Eren ich euch vnd vnser­n Bedingungen für überkommene Ideale einzu­ Freunden [heimkomen] wurdt, mit Schul­ stehen? – Nicht ganz. Denn Philipp von Hutten den beladen, dan ich itz zur [Zeit kein bietet diese Argumentation gewiss nicht auf, weil ander] Beut mit mir bringen möcht, vnd ir kurtz ­lich darnach vernemen wurd, wie die er in „überspannten Ehrvorstellungen und man­ in Venezola, ßo erlich gehandlet, ßo reich­e gelnder innerer Flexibilität“ (Schmitt, Gold IX), Land auffdeckt vnd ßo grosse Austailung das heißt in unangemessenen Dispositionen, daruon bracht hetten, vnd ich itz lenger eine­m starren Habitus gefangen wäre. Die Hand­ dan v Iar im Land vnnutzlich verzert, mich lungslogik ist eine andere, und sie hängt ganz in Schuld gesteckt, vnd do es an ain Tref­ wesentlich wiederum vom Medium des Briefs fen gangen, Er vnd Gut zu gewynnen wer, ab. Es geht dabei, wie wir bereits festgestellt het ich mich daruon gemacht. (Schmitt, hatten, um Kommunikation, um Verständigung, Gold 129) auch im Kampf zwischen Positionen. Machen wir uns noch einmal klar: Philipp von Hutten wird Die Argumentation an sich ist nicht neu, Versatz­ von seinem – sehr wahrscheinlich selbstgewähl­ stücke finden sich schon in früheren Rechtferti­ ten – Posten abberufen. Soweit es sein Referat gungen. Hier aber erscheinen sie kondensiert, erkennen lässt, läuft die Begründung darauf hin­ auf den Punkt gebracht: Die ‚Ehre‘ nämlich aus, dass er seine eigenen Interessen denen der verbietet es, angesichts erheblich verbesserter Familie unterzuordnen habe, also einer dynas­ Aussichten auf Erfolg bei der bevorstehenden tischen und damit durchaus adligen Logik folgen Expedition, das Land zu verlassen – so guter müsse. Dem aber verweigert sich Hutten, und Aussichten, „das nit allain diejenen, ßo im Land seine Beweisführung muss den Hebel bei eben sei(n), nit hynnaus, sunder gantz Santo Domin­ dieser adligen Handlungslogik ansetzen, um go vnd zum Thail His(pa)nia herzekomen be­ letztlich eine Überbietungsstrategie in Gang zu wegt sein“ (Schmitt, Gold 129). Ehre besteht bringen. Die Formel gegenüber dem Bruder und allerdings weniger im Gewinn und der Chance, Familienoberhaupt lautet daher, er wisse wohl, sich dadurch der angehäuften Schulden zu ent­ „was wir alle sunderlich die vo(n) adel schuldich ledigen; vielmehr soll umgekehrt der Gewinn 30 sein nach ehrn zutrachte(n)“ (D 1072, 9 r1). Hut­ äußeres Zeichen der Ehre sein, ein Zeichen, ten erklärt seine Entscheidung in den Begriffen vor den Herausforderungen im entscheidenden und mit den Zeichen, von denen er überzeugt Moment nicht versagt zu haben. Denn trotz der ist, dass sie verstanden werden; das heißt ver­ ebenfalls schon früher geäußerten Einsicht, dass standen von Adressaten und erweitertem Publi­ das Gold der Neuen Welt nicht auf der Straße kum seiner Briefe, deren umfassende Rezeption liege, zeigt sich Hutten der möglichen Nachre­ etwa bei Hof und innerhalb der adligen Groß­ de bewusst, die Rückkehr in Armut „geschech familie nur durch Anspielungen und Wieder­ aus Fele oder Gebrechen irer Person“ (Schmitt, erkennungseffekte zu beschränken war. Da es 27 Gold 129). Darin drückt sich zweierlei aus: Zu­ sich sicherlich um keinen unerwarteten Konflikt erst geht es um den Tugendbeweis selbst, der handelte, tauchen einige Argumente schon in

helden. heroes. héros. Tilman Moritz

12 früheren Briefen auf; seien es die besonderen er zu erfüllen sich vornimmt, sind nicht die eines psychischen und physischen Herausforderun­ einzelnen Ritters, sondern die des Rittertums gen der Neuen Welt, seien es seine Dienste und schlechthin – obwohl sein Weg immer als Aus­ Verdienste als loyaler Gefolgsmann oder die im nahme erscheint und ihm kein Vorbildcharak­ter Vergleich mit anderen Entdeckungsfahrten im­ zugeschrieben wird. Selbst der Sturz in existen­ mer noch guten Aussichten, das wahrscheinlich tielle Krisen kann deshalb ins tatsächlich Hero­ letzte verbliebene Goldreich von Venezuela aus ische34 gewendet werden: Das geschieht, indem zu finden und zu erobern.31 Die letzten Briefe, in etwa völlige Fremdheit oder psychische und denen die Auseinandersetzung dann tatsächlich physische Härten nicht nur ertragen, sondern als ausgefochten werden muss, können daher auf sinnhaft vorgeführt werden, als Prüfungen auf diese Erklärungen zurückgreifen und die Argu­ dem Weg zur Selbsterhöhung. Dieser augen­ mentation zuspitzen. scheinliche Beweis vor sich selbst ist aber, da er Hier wird schließlich deutlich, dass Philipp allein im Format des Briefs greifbar wird, in ers­ von Hutten auf eine Verzögerungstaktik setzt. ter Linie ein Beweis vor Familie und Freunden, Zwar sucht er weiter den Austausch, aber er und zwar in den Maßstäben jener ‚alten‘ Welt. ‚verbessert‘ seine Position zusehends. Die Hoff­ Allein, in diese Maßstäbe fügt sich Philipp von nung ist nun nicht mehr nur, „zway oder drey iar Hutten schließlich kaum mehr ein, und das umso aůff[s] lengst“ auszufahren, um anschließend weniger, je mehr er auf Verständnis und Verstän­ 32 „mit ern naus [zu] kome(n)“ (D 1072, 9 r1). Mit digung setzt. Es scheint ihm selbst unmöglich, der begründeten Erwartung, die nächste Entra­ sich wieder in die vorgezeichneten, gewohnten da selbst leiten zu dürfen und vielleicht sogar die Bahnen ritterlichen Daseins lenken zu lassen; Statthalterschaft über Venezuela zu überneh­ genau das kommt in der Sehnsucht zum Aus­ men, äußert er seine Hoffnung, der inzwischen druck, sich nicht gefürstete Bruder möge an kaÿßer(lichen) noch konig(lichen) mai­ mich zw solchen ehrn fůrdern vnd nit estat noch an kaines fursten hoff zethůn hindern, vnd dieweil der almechtich got aůch kain dinstgelt, es sey dan an e(uer) e(uer) f(urstlich) g(naden) ßo gnedichlich f(urstlich) g(naden) h(of) oder meines zw solchem hoen vnd furstlichen stand g(nädigen) h(errn) v(on) wůrtzbůrgk hoff geholffen hat, wölle mir vergu(n)nen das oder dinstgelt, allain nach růe trachten ich mein glůck auch versůch ob mir vil­ vnd got vnd meine(n) freůnd(en) dienen, leicht got aůch zw ehrn helffen wolt da­ vnd mich der welt benůge(n) lassen. 35 mit sich e(uer) f(urstlich) g(naden) mein (D 1072, 9 v1) zw ayne(m) arme(n) brůder destmynder 33 schemen dörfft. (D 1072, 9 v2-r2) Diese vita contemplativa ist nicht der Traum eine­s Pensionärs. Vielmehr ist es der Traum von Der Spieß wird hier umgedreht, der Bruder plötz­ Selbstbestimmung in der Selbstbeschränkung, lich in die Pflicht genommen. Das ist ebenso un­ von Eingliederung ohne äußere Verpflichtun­ verschämt wie klug berechnet. Denn indem sich gen oder Abhängigkeiten. Verwirklicht werden Hutten selbst neben der Standes- nun auf die konnt­e diese Vision freilich erst in dem Augen­ Familienehre beruft und seine eigenen Ziele, als blick, da Philipp von Hutten den an ihn gestellten designierter paterfamilias, der Standeserhöhung Ansprüch­en – oder eher: seiner Vorstellung, sei­ des Bruders angleicht, macht er seine Position nem Verständnis davon, genügte. beinahe unangreifbar. Wir sehen hier, wie anpassungsfähig die ver­ meintlich starre Haltung des ritterlichen Heros VI. Apperzeption oder From Zero to ist. Gleichzeitig ist an dieser Stelle auch der Leis­ tungsdruck spürbar, unter den Philipp von Hut­ Hero ten sich setzt. Seine Haltung ist kein bloßes self- Wie ließ sich der ‚verlorene Sohn‘ aus Venezu­ fashioning, kein Nachahmen von Mustern, auch ela nun wieder in den Kontext einer fränkischen kein Rollenspiel; sondern sie besteht im Zwang Adelsfamilie zurückführen? Wie war mit den Am­ zu ständiger Neubestimmung der eigenen, als bitionen umzugehen, und zwar ungeachtet, ob exzeptionell behaupteten Position. Das näm­ sie sich erfüllten oder zur Desillusion führten? – lich hebt das Selbstverständnis, wie es in den Zumal nachdem ernste Ermahnungen bislang of­ Briefen Huttens formuliert oder, besser gesagt, fenbar genauso wenig wie stillschweigende Dul­ angereichert wird, aus dem Kontext ritterlicher dung oder sogar Förderung des Unternehmens Ehrvorstellungen heraus. Nichts weniger wird dazu beigetragen hatten, Philipp von Hutten in demonstriert, als dass Hutten die größten Her­ die Familie, die Adelsgemeinschaft einzuholen. ausforderungen sucht und die stärksten Wider­ Die Schwierigkeiten gerade des vornehmlich stände überwinden will. Denn die Ansprüche, die korporativ agierenden und funktionierenden

helden. heroes. héros. Neue Welten, alte Helden?

Niederadels, Mitglieder, die einmal aus der Mitte aber ein Held – scheint gelungen. Auch wenn er 13 der Gemeinschaft geraten sind, zu reintegrieren, selbst dafür nicht überleben durfte. sind durch Einzelfälle belegt, aber kaum syste­ matisch untersucht.36 Tatsächlich stellte sich die Frage nach Wieder­ 1 Folgende Abkürzungen werden verwendet: SAB: Stadt­ eingliederung nicht mehr. Wie die Inschrift sei­ archiv Bamberg; StAL: Staatsarchiv Ludwigsburg; StAWÜ: Staatsarchiv Würzburg. Die Zitate folgen i. d. R. der Edition nes Kenotaphs verrät, wurde Philipp von Hutten von Schmitt, Gold. Wo mir die Originale zugänglich waren, 1546, auf dem Rückmarsch von seiner zweiten gebe ich eine diplomatische Transkription, in der Kürzungen Entrada, ermordet. Da man ihn bereits verschol­ in Klammern aufgelöst sind. len glaubte, hatten die Welser begonnen, das 2 Zur entsprechenden Differenzierung von Nacktheit im Venezuela-Unternehmen endgültig abzuwickeln. Kontext hellenischer Kunst, vor allem gegen eine einseitig Hutten geriet also in die Auflösungserscheinun­ ‚heroische‘ Perzeption vgl. Hurwit. gen der Provinzadministration hinein, bevor die 3 Bei Hanna, Adelsfamilie. Vgl. auch Schmitt, Tocuyo für Leerstelle von der königlich-spanischen Verwal­ dieselbe (Abb. 29) und weitere Photographien des Denkmals (Abb. 17, 18, 27 und 28). tung gefüllt werden konnte. Die genauen Hinter­ gründe seiner Ermordung, soweit sie sich über­ 4 Siehe Schmitt, Epitaph. haupt erschließen lassen, sind hier allerdings 5 Die Inschrift ist in einer Antiqua-Kapitalschrift ausgeführt und im unteren Drittel beschädigt. Gisela Schmitt rekonstru­ weniger relevant als das Ergebnis: das beinahe ierte den Text nach einem bis dato unveröffentlichten „Entwurf 37 spurlose Verschwinden Philipps von Hutten. von der Hand des Steinmetzen“ (Schmitt, Camerarius 330) Es mag zynisch klingen, aber gerade dieser aus dem Huttenschen Familienarchiv in Schloss Steinach; Umstand eröffnete der Familie eine einmalige vgl. ebd. 331-332 mit Anm. 99. Ich gebe hier eine leicht kor­ rigierte Variante, die auch die im Original angezeigte Groß-/ Chance, den Abhandengekommenen zurück­ Kleinschreibung berücksichtigt und Rekonstruktionen durch zuholen. Moritz von Hutten bemühte sich zwar, eckige Klammern markiert, sowie eine eigene Übersetzung: wenn auch mit augenscheinlich geringem Er­ „Philip(po) ab Hvtten eq(ui)ti Franc(oni)o fr(atr)i chariss(imo), folg, um die Herausgabe der Besitztümer, allen qvi in avla Caroli V cæs(aris) edv/cat(us) et dilatandi chr(ist) 38 iani no(min)is novasq(ue) gent(es) cognoscen(di) stvd(io) voran der Schriftstücke seines Bruders. Tat­ in Venezola(m) / vlterior Indiæ provinc(iam) an(no) d(omi) sächlich nötig war das aber nicht, um Philipp ni m.d.xxxiii profect(us), et postq(uam) in dvab(us) inde / von Hutten einen Platz in der Familienmemoria expedition(ibus), qvarv(m) prima(m) III ann(is) ita seqvvt(us) einzuräumen. Im Gegenteil konnte man sogar erat miles, vt in demortvi gvber/nator(is) locv(m) ab exercitv svffect(us) altera(m) V. ann(is) cv(m) imper(io) dvceret, mvlta umso leichter das von ihm gezeichnete hero­ / tvlisset. vastiss(ima)q(ue) regna svb antarct(icis) siderib(us) ische Selbstbild übernehmen: In seinen Briefen parva manv peragrans deviciss(et), / ia(m)q(ue) re b(e)n(e) hatte Hutten sich eine Position erschrieben, die et foeliciter gest(a) in stativa sva [corv(m)] versvs reg(re) es ihm ermöglichen sollte, seine Leistungen und deretvr, ab æmulo / q(u)oda(m) Hispano Ioan(ne) Carvesa­ le amicitia(m) [simvlante intercept(us)] et cvm Barthol(ome) Erfahrungen in Gewinn, in ökonomisches wie o VVelser / Avgvstano ac dvob(us) nobil(ibus) Hispan(is) symbolisches Kapital, umzumünzen. Sein Tod, Alphons(o) [Ramer(o) et Grego]r(io) de Placentia in ipsa / beinahe anonym und folglich ohne Nachweis, parasceve an(no) m.d.xlvi miserabili[ter (proh dolor!)] trvci­ ob sein Unternehmen wirklich den erhofften Er­ datvs ac e spe patriæ / ingenti erept(us) ibiq(ue), Carvesale scele[sto in qvatvor frvs]ta dissecto, sepvlt(us) / est: Mavri­ folg gezeitigt hatte, enthob – zumindest im ‚Licht civs d(ei) g(ratia) ep(iscop)vs Æystette[n(sis) amoris et me­ der Öffentlichkeit‘ – den engeren Familienkreis moriæ] ergo moestvs p(osuit).“ – „Philipp von Hutten, dem wie auch die regionale Adelsgemeinschaft der fränkischen Ritter, dem innig geliebten Bruder, der am Hof Pflicht, jene Selbsterhöhung faktisch einzuholen. Kaiser Karls V. erzogen wurde und im Eifer, den christlichen Namen zu verbreiten und neue Völker kennenzulernen, nach Stattdessen knüpfte man ideell daran an, stell­ Venezuela, einer Provinz des jenseitigen Indien, im Jahre te Hutten etwa als miles Christianus vor, der „im des Herrn 1534 ausfuhr, und, nachdem er von dort aus bei Eifer, den christlichen Namen zu verbreiten“ zu zwei Expeditionen – auf deren erster er sich als Soldat so neuen Ufern aufgebrochen war.39 Vor allem aber [gut] gehalten hatte, dass er vom Heer an die Stelle des ver­ storbenen Gouverneurs gewählt wurde, [und] deren andere zeigte man einen Vorreiter, der in eine quasi- er für fünf Jahre mit [eigener] Befehlsgewalt anführte – vie­ mythologische Heldenzeit und -region versetzt les ertragen und die unermesslichsten Reiche, [die er] unter worden war und dem nur durch böses Geschick südlichen Sternen mit kleiner Schar durchwanderte, völlig die Anerkennung seiner Erfolge in personam, in unterworfen hatte, und schon, da die Tat gut und glücklich vollbracht war, in sein Lager, dem Nordwestwind entgegen, der Heimat verwehrt wurde. zurückmarschierte, von einem Nebenbuhler [aber], einem An diesem Punkt stehen wir wieder vor dem gewissen Spanier, Ioannes Carvesal [Juan de Carvajal], der Grabmal. Der Reflex der Briefe, die Spannung Freundschaft vortäuschte, abgefangen wurde und zusam­ zwischen Distanz und Nähe, Fremdheit und In­ men mit Bartholomeus Welser, einem Augsburger, und zwei adligen Spaniern, Alphonsus Ramerus [Diego Romero] und timität, zwischen Selbstbehauptung und Integra­ Gregorius de Placentia [Gregorio de Plasencia], gerade zu tion, zwischen heroischem Anspruch und fataler Karfreitag, im Jahr 1546 jämmerlich (o welcher Schmerz!) Desillusion ist in den Dissonanzen der Darstel­ hingeschlachtet und der außerordentlichen Erwartung des lung erkennbar. Die Einholung Philipps von Hut­ Vaterlands entrissen und, während der unselige Carvesal in vier Teile gerissen wurde, ebenda begraben wurde – [ihm ten als exzeptionelle Erinnerungsfigur, als ‚Spit­ also] hat Moritz, von Gottes Gnaden Bischof von Eichstätt, zenahn‘, als Held – vielleicht ein gebrochener, der Liebe und des Andenkens wegen [diesen Stein] gesetzt.“

helden. heroes. héros. Tilman Moritz

14 6 Eine solche Ausdeutung bietet Schmitt, Tocuyo 155. Pilgerbericht Arnolds von Harff (1499) oder die autobiogra­ phischen Schriften Sigmunds von Herberstein (ab 1545) zu 7 Ich verwende den Begriff hier in Anlehnung an die Analy­ denken; u. a. befasse ich mich mit beiden Autoren in meiner se frühneuzeitlicher Nachrichtendrucke durch Ramon Voges Dissertation. Eine ähnliche Zusammenschau bietet Hutten 180-181: „Mithilfe rhetorischer Gestaltungsmittel erzeugten ansatzweise im Brief, der direkt nach der Rückkehr vom ers­ die Bildberichte eine eindringliche und detailliert wirkende ten Feldzug (1535-1538) entstanden ist (Schmitt, Gold 97- Repräsentation der geschilderten Vorgänge. […] Sie kon­ 104), sowie noch ausführlicher in einem allerdings nur se­ struierten eine historische Wirklichkeit, die sich permanent kundär überlieferten Schreiben vom 20. Oktober 1538 (ebd. an den moralischen Richtlinien der etablierten sozialen Ord­ 105-123, zugleich fast identisch mit der „Newen Zeytung“, nung orientierte.“ ebd. 51-77). Es wurde vermutet (ebd. 50, Schmitt, Camera- 8 Dieser erste Brief an den Kaiserlichen Rat Matthias Zim­ rius 323), hier seien ein Tagebuch oder Expeditionsbericht mermann ist nicht erhalten, allerdings schreibt Hutten am 28. verarbeitet, was sich aber nicht positiv belegen lässt. Januar 1535 an denselben Adressaten: „Ich hab euch aus 18 Fehlstellen im Original sind in [hier: eckigen] Klammern Cannaria geschriben. Hoff, sey euch worden.“ (Schmitt, Gold nach der Transkription von Meusel durch den Editor ergänzt. 89). In einem weiteren Schreiben vom 23. Februar 1535 wird als Tag der Ankunft auf den Kanarischen Inseln der 20. De­ 19 SAB, Sig. D 1072, 3; ein Blatt (49 cm x 35 cm) à vier zember 1534 genannt (Schmitt, Gold 92). Seiten (mittig gefaltet, Vorder- und Rückseite beschrieben), hier beginnend mit der ersten Textseite (rechte Blatthälfte) in 9 Die moderne Edition umfasst neben den Briefen auch laufender Zählung r , v , v , r . Edition: Schmitt, Gold 92-97; Zeugnisse, die die Biographie Philipps von Hutten mittelbar 1 1 2 2 Zitate folgen hier dem Original. betreffen. Sie versammelt in zwei Bänden jeweils Quellen der Jahre 1534-1541 (Schmitt, Gold) bzw. 1545-ca. 1550 20 Im Original r1: „febrarj[!]“ wird gestrichen und darüber (Schmitt, Tocuyo). Ein dritter Band, der den Zeitraum 1516- zu „janůary“ gebessert, ebenso „refier“ zu „gegent“. Eine 1534 abdecken soll, steht noch aus (letzte Ankündigung 2003 syntaktisch notwendige Korrektur ist das am Rand ergänzte bei Schmitt, Camerarius 315). Wo nicht anders angegeben, „den wegk zemachen“; Schmitt, Gold 92-93. folge ich bei Zitaten der Edition. – Die erhaltenen Briefe er­ 21 In der Transkription (Umbrüche sind durch / angezeigt, scheinen bei Schmitt, Gold 89-91 (Nr. 2), 92-97 (Nr. 3), 97- Trugzeichen durch || und Fehlstellen im Original durch [ ] ): 104 (Nr. 4), 128-135 (Nr. 8) sowie 136-140 (Nr. 9). Anders „qf||a gq||x dwfa gantz ezdwmxoqfa vlo||odx|| nq||z / mq||fay als in der Edition angegeben, sind die Originale inzwischen wdzahoxdm v||qd ygf||a gqy||adz bdz||x / b||dahoxdm a||hdx Depositum des SAB, Sig. D 1072 [freundlicher Hinweis von wm||[x] mlfa ad[o]x“. Der Schlüssel lautet (geheim zu klar): Friedrich Karl Freiherrn von Hutten]. a=h, b=g, d=e, e=f, f=c, g=b, h=a, l=o, m=n, o=l, q=i, u=w, 10 Vgl. etwa Schmitt, Gold 97, die Empfängervermerke, die w=u, x=t(d), y=s(z), z=r. „gantz“ ist in Klarschrift eingefügt, Rückschlüsse auf Stationen und Dauer (fünf Monate) der daher hier kursiv gesetzt. Übermittlung zulassen. 22 Diese Stellen sind nur indirekt durch Meusel überliefert; 11 Diese ‚Antiquarisierung‘ würde einen Wandel gegenüber vgl. Schmitt, Gold 134, 141, und 144; direkte Ansprache der der u. a. von Sittig, Kommunität 250, skizzierten adligen Mutter: 127-128. Archiv­praxis andeuten, die gerade handschriftliche Archiva­ 23 Die Adresse erscheint direkt unter der Nachschrift und ist lien bzw. deren Rezeption und ‚Mutation‘ mit Bedeutung für teilweise verblasst. die adlige Gemeinschaft auflädt. – Den Fund der Kopien im StAL, Bestand Gemmingen, teilt Schmitt, Camerarius 314 24 In der Edition Schmitt, Gold 97. [Anm. 41], mit. 25 Carolin Pecho verdanke ich wertvolle Anregungen zur 12 Vorlage waren eine oder mehrere Abschriften, die Ulhart Rolle der Geheimschrift, die sie an überraschend ähnlichen durch einen anonym bleibenden Gönner, „so an Röm(ischen) Konstellationen in dynastischen Konflikten der Habsburger Kün(igs) Maie(stät) hofe nit geringen beuelch hat“, zuge­ untersucht hat. spielt. Zitate: ebd. LIr. Vgl. auch Einleitung und Edition bei 26 Die Ausschnitte aus dem Brief Moritz’ von Hutten sind Schmitt, Gold 47-89. Der Anhang schließt mit der summari­ lediglich als Zitat in der Antwort des Bruders vom 16. Januar schen Unterzeichnung durch „Cansalue Ferando von Ouido“ 1540 erhalten. (ebd. LVIIv); damit gemeint ist Gonzalo Fernández de Ovie­ do y Valdés. Von dessen Hand scheint der letzte Text der 27 Schon 1535 ist für Hutten die Rede vom schnellen Sammlung zu stammen, so dass Datierung und Unterschrift Reichtum ein Witz: „Ich darff nit schreiben, was gutter Hoff­ hier pars pro toto übernommen wurden. Zu seiner speziel­ nung vns die geben, ßo das Land nit wissen, dan wo es nit len Rolle für die Historiographie der Neuen Welt vgl. Myers, geriet, wer spotlich.“ (Schmitt, Gold 94). Scharlau. 28 Synoptische Analysen für Antike und Frühe Neuzeit 13 Vgl. zu Cortés: Pagden xxxix-xlv, zu Pizarro: Varón Ga­ bieten Scholz, Beck. Dafür ist auch der ästhetische Begriff bai 7-10. der aemulatio vorgeschlagen worden, für den Adel etwa von Sittig, Grammatik. Hierher gehören darüber hinaus die 14 Der Erfolg lässt sich an der Biographie des Vaters, Bern­ Beobachtungen von Goodman 149-167, der zufolge die Re­ hard von Hutten, ablesen: Hanna 468-471. chenschaftsberichte des Hernán Cortés nach dem Vorbild 15 Hutten nimmt im Schreiben an Zimmermann vom 30. Ok­ höfischer Ritterromane geformt sind. tober 1538 Bezug auf dessen Mitteilung, „die Obritschanerin 29 Aus dem Schreiben an Philipp II. von Spanien (1561), zi­ wolle auff ain indianischen Man warten“ (ebd., 104). Gemeint tiert nach Galster 846: „[…] pasé el mar Océano, á las partes ist Magdalena von Obritschan, von der drei Briefe an Hut­ del Pirú, por valer más con la lanza en la mano, y por cumplir ten bekannt, bislang allerdings unpubliziert sind; dazu ebd. con la deuda que debe todo hombre de bien“. 165-167. Nach Schmitt, Camerarius 311 [Anm. 30], ist ihr letztes Schreiben vom März 1534 aufbewahrt im StAWÜ, 30 SAB, Sig. D 1072, 9; ein Blatt (46 cm x 33 cm) in der Ortenburg-Archiv Birkenfeld, Fasz. 41. Aufteilung wie D 1072, 3 (s. Anm. 18). Edition: Schmitt, Gold 136-140, hier 137. 16 Hier im Bericht über fliegende Fische. 31 „[…] wir leben hie frölich, dan das Land erforderts, 17 Für die „Historia general“ Oviedos hält Scharlau 63- kain schweren Muet ze haben, [die anders leben,] werden 64, fest: „Sein Ziel ist nicht einfach die Bestandsaufnah­ kranck.“ (Schmitt, Gold 95) – Vor allem im Bericht über seine me der neuen Gegebenheiten, sondern die Beschreibung erste Entrada hebt Hutten wiederholt die Unzuverlässigkeit, der Gegebenheiten als ‚neue‘.“ Als Vergleichspunkte aus ja Meutereien seiner Mitstreiter hervor (ebd. 98, 102), er­ dem deutschsprachigen ritteradligen Milieu ist etwa an den scheint dadurch selbst natürlich in positivem Licht (ebd. 104).

helden. heroes. héros. Neue Welten, alte Helden?

Die Chance, ein Goldreich zu entdecken, schätzt Hutten Literatur 15 pragmatisch ein: „In summa man versicht sich in drey oder - vier iaren, was gůts in terra firma ist sol aůffgedeckt werden.“ Asch, Ronald G. „The hero in the Early Modern period and (D 1072, 9 r2). beyond: An elusive cultural construct and an indispensable 32 In der Edition Schmitt, Gold 137. focus of social identity?“ helden. heroes. héros. Sonderheft 33 In der Edition Schmitt, Gold 139. Ganz ähnlich die Argu­ 01/2014: 5-14. mentation schon im vorangegangenen Brief, wo Hutten im Beck, Hans, Peter Scholz und Uwe Walter, Hg. Die Macht Bezug auf die Karriere des Bruders zugesteht: „was Muehe, der Wenigen. Aristokratische Herrschaftspraxis, Kommuni- Arbait [vnd Kosten dar]auff gangen, ist alles wol angelegt.“ kation und ‚edler‘ Lebensstil in Antike und Früher Neuzeit. (ebd. 131). München: Oldenbourg, 2008. 34 Ich beziehe mich auf Von den Hoff u. a. 8, wonach „he­ Denzer, Jörg. Die Konquista der Augsburger Welser-Gesell- roische Eigenschaften“ u. a. als „agonale, außeralltägliche, schaft in Südamerika (1528-1556). Historische Rekonstruk- oftmals transgressive eigene Leistungen“ zu verstehen sind. tion, Historiografie und lokale Erinnerungskultur in Kolumbi- So scheint Huttens Ausprägung ritterlicher Ehrvorstellungen en und Venezuela. München: Beck, 2005. hinreichend abgegrenzt „von anderen Formen des Exzep­ tionellen wie dem Übermenschlich-Herausragenden oder Galster, Ingrid. Aguirre oder Die Willkür der Nachwelt. Nur-Vorbildlichen, dem Göttlichen, Heiligen oder allgemein Die Rebellion des baskischen Konquistadors Lope de Bewunderten“ (ebd.). Aguir­r­e in Historiographie und Geschichtsfiktion (1561- 1992). Frankfurt am Main: Vervuert 1996. 35 In der Edition Schmitt, Gold 137. Goodman, Jennifer R. Chivalry and Exploration, 1298-1630. 36 Exemplarisch Jendorff; grundsätzliche und auf die Woodbridge 1998. Ritterschaft(en) übertragbare Überlegungen bei Asch 9: „Furthermore, institutions such as forms of government or Hanna, Georg-Wilhelm. „Die Ritteradeligen von Hutten, ihre religious communities like to appeal to heroes as founding soziale Stellung in Kirche und Staat bis zum Ende des Alten figures in the past, but consider them and their personal Reiches.“ Diss. Bamberg. 2006. 18. November 2014 [publiziert u. d. T.: Ministerialität, Macht und Mediatisierung. Die Ritteradeligen von Hutten, ihre sozi- 37 Als „Abwicklung der Konkursmasse“ beschreibt Denzer ale Stellung in Kirche und Staat bis zum Ende des Alten 21, den Prozess; explizit zu Hutten ebd. 168-190. Reiches. Hanau: Hanauer Geschichtsverein, 2007]. 38 Vgl. zu dem Verfahren Schmitt, Tocuyo, insbesondere ---. „Hutten, Adelsfamilie.“ Historisches Lexikon Bayerns. 18. die Eingaben und Korrespondenz Moritz’ von Hutten in der November 2014 . 39 Vgl. die Inschrift Anm. 4. Hurwit, Jeffrey M. „The problem with Dexileos: Heroic and other nudities in Greek art.“ American Journal of Archaeol- ogy 111 (2007): 35-60. Jendorff, Alexander. Tod eines Tyrannen. Geschichte und Ungedruckte Quellen Rezeption der Causa Barthold von Wintzingerode. Mün­ chen: Oldenbourg, 2012. Ferdinandi Cortesii Von dem Newen Hispanien […]. Augs­ burg: Philipp Ulhart, 1550 [= VD16 ZV 3908]. Myers, Kathleen Ann. Fernández de Oviedo’s chronicle of America: a new history for a New World. Austin: University SAB, Sig. D 1072, 3 [Schreiben Philipps von Hutten. Coro: of Texas Press, 2007. 23.02.1535]. Pecho, Carolin. „Der Habsburger-Code. Chiffrierte Briefe von SAB, Sig. D 1072, 9 [Schreiben Philipps von Hutten. Coro: Erzherzog Ferdinand an Erzherzog Leopold während des 06.12.1540]. Erbfolgekrieges um Jülich-Kleve (1609-1610).“ Geheime Post. Kryptologie und Steganographie der diplomatischen Korrespondenz europäischer Höfe während der Frühen Neuzeit. Hg. Anne-Simone Rous und Martin Mulsow [im Gedruckte Quellen Druck].

Meusel, Johann Georg, Hg. „Zeitung aus Jndia Junckher Scharlau, Birgit: „Tiger-Semantik: Gonzalo Fernández de Philipps von Hutten. Aus seiner, zum Theil unleserlich ge­ Oviedo und die Sprachprobleme in Las Indias.“ Iberoameri- wordenen Handschrift.“ Historisch-litterarisches Magazin. cana 18 (1983): 51-68. 1. Teil. Bayreuth, : Johann Andreas Lübecks Erben, Schmitt, Gisela. „Alte und Neue Welt: Die Beziehungen des 1785: 51-117. Joachim Camerarius zum Konquistador Philipp von Hut­ Pagden, Anthony, Hg. u. Übers. Hernán Cortés. Letters from ten.“ Joachim Camerarius. Hg. Rainer Kößling und Günther Mexico. New Haven: Yale UP, 1986. ND New Haven: Yale Wartenberg. Tübingen: Gunter Narr, 2003: 303-335. UP 2001. Schmitt, Gisela. „Das Epitaph für Philipp von Hutten in der Schmitt, Eberhard, und Friedrich Karl von Hutten, Hg. Das Kirche Maria Sondheim zu Arnstein.“ Jahrbuch 1995 des Gold der Neuen Welt. Die Papiere des Welser-Konquista- Arnsteiner Heimatkunde-Vereins: 121-174. dors und Generalkapitäns von Venezuela Philipp von Hut- Scholz, Peter, und Johannes Süßmann, Hg. Adelsbilder von ten 1534-1541. Hildburghausen: Frankenschwelle, 1996 der Antike bis zur Gegenwart. München: Oldenbourg, 2013. (ND : Berlin, 1999). Sittig, Claudius. „Adelige aemulatio. Die soziale Grammatik Schmitt, Eberhard, und Götz Simmer, Hg. Tod am Tocuyo. der frühneuzeitlichen Adelskultur und ihre Formulierung in Die Suche nach den Hintergründen der Ermordung Philipps Georg Rüxners Turnierbuch (1530) und seiner lateinischen von Hutten 1541-1550. Berlin: Berlin, 1999. Übersetzung durch Franciscus Modius (1586).“ Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450–1620). Hg. Jan-Dirk Müller u. a. Berlin, Boston: De Gruyter, 2011: 863- 890.

helden. heroes. héros. Tilman Moritz

16 Sittig, Claudius. „Kulturelle Kommunität und Distanz. Zur adeligen Teilnahme an literarischer Kommunikation in der Frühen Neuzeit.“ What makes the Nobility noble? Compar- ative Perspectives from the Sixteenth to the Twentieth Cen- tury. Hg. Jörn Leonhard und Christian Wieland. Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht, 2011: 239-254. Varón Gabai, Rafael. Francisco Pizarro and his brothers: the illusion of power in sixteenth-century Peru. Übers. v. Javier Flores Espinoza. London: University of Oklahoma, 1997. Voges, Ramon. „Augenzeugenschaft und Evidenz. Die Bildberichte Franz und Abraham Hogenbergs als visuelle Historiographie.“ Politik der Zeugenschaft. Zur Kritik einer Wissenspraxis. Hg. Sibylle Schmidt, Sybille Krämer und Ramon Voges. Bielefeld: transcript, 2011: 159-181. Von den Hoff, Ralf u. a. „Helden – Heroisierungen – Hero­ ismen. Transformationen und Konjunkturen von der Anti­ ke bis zur Moderne. Konzeptionelle Ausgangspunkte des Sonderforschungsbereichs 948.“ helden. heroes. héros 1 (2013): 7-14.

helden. heroes. héros. DOI 10.6094/helden.heroes.heros./2014/02/03

Christina Posselt-Kuhli 17

Der ‚Kunstheld‘ im Spannungsfeld zwischen Krieg und Frieden Ein herrscherliches Tugendexempel im Deutschland des 17. Jahrhunderts

Kunst und Heldentum – eine Wahrheit herbei, wozu er häufig Münzen und semantische und ikonographische Statuen präsentiert als historische Artefakte, an denen Geschichte und ihre Lehren abzulesen Bestimmung sind.4 Der [auch bildlich] inszenierte Topos, nach dem die Wahrheit oder die Zeit durch Chronos „Herrschertum und Kunstpflege, politische und ans Licht kommt [bildlich geschieht dies, indem künstlerische Aussage, gehören in der Barock- Chronos die Personifikation der Veritas empor- zeit eng zusammen. Sie bedingen sich in einer hebt],5 wird im Barock zuweilen durch die Herr- bis dahin unbekannten Intensität.“ (Klessmann scherfigur adaptiert.6 Dabei ist es nicht mehr die 147) Diese oft und zu Recht wiederholte Be- Wahrheit, die – nun durch den Potentaten – er- merkung soll in diesem Beitrag anhand eines hoben wird, sondern es sind die Künste. Augus- spezifischen Heldenmodells überprüft und in tus gleich lässt der Herrscher dadurch ein neues ihrer Bedeutung, Konstruktion und Inszenierung Zeitalter anbrechen.7 Bildlich wurde diese Vor- analysiert werden. Das semantisch wie bildlich stellung etwa in Nicolas Loirs Gemälde Der Fort- im 17. Jahrhundert ausgestaltete Modell des schritt der Künste unter der Regentschaft Louis ‚Kunsthelden‘ soll dabei in seiner Geltung für XIV umgesetzt, in dem Chronos den Schleier die Herrschaftsauffassung nach dem Dreißig­ lüftet, der die Künste (Bildhauerei und Malerei) 1 jährigen Krieg betrachtet werden. Zudem soll verdeckt, in Anlehnung an die Sentenz ‚veritas den rezeptionsästhetischen Qualitäten und da­ filia temporis‘. Sie neigen sich hin zum König, mit der Rückwirkung künstlerischer Formulie- dessen Bildnis von Minerva und Fama empor rungen des herrscherlichen Habitus auf den gehalten wird.8 Der Blick der Künste, die ihren Herrscher und dessen Rolle Aufmerksamkeit Förderer erkennen, dank dessen sie nun in neu- 2 geschenkt werden. em Licht erstrahlen, wird von Louis XIV auf den Dass Kunst und Heldentum in eine Beziehung Betrachter gelenkt, der somit in das Geschehen zueinander treten konnten, bedurfte einer grund- einbezogen ist und wie die Künste „aufgeklärt“ legenden Wandlung des Status der Kunst. Durch wird. die Aufwertung der Künste im 15. und 16. Jahr- Dass dieses neue Zeitalter vor allem durch hundert – vom niederen Stand des Handwerks Frieden gekennzeichnet ist, der die Künste er- zu einem Teil der ‚artes ­liberales‘ – erlangten blühen lässt, wird weithin in Text und Bild pro- die bildenden Künste allmählich den Rang, den pagiert. Welche Rolle der Herrscher dabei ein- die Geschichtsschreibung bereits einnahm. So nimmt – nämlich als siegreicher Militärführer, als wurde die Kunst legitimierter Teil des Herrscher- Friedensbringer und Kulturförderer – wird in einer lobes. Sie hatte dadurch Anteil an der Formung bedeutenden Schrift des 17. Jahrhunderts aus- von „Historie als ein[em] Bild der Helden, die Ge- führlich thematisiert. Es handelt sich um die enzy- schichte machten“ (Mai u. a. 12). Ikonographisch klopädisch angelegte Kunsttheorie Joachim von treffen die Sphären von Kunst, Geschichts- Sandrarts. Die in drei Folio-Bänden 1675, 1679 schreibung und Herrschaft in der Ableitung eines und 1680 erschienene Schrift des Malers, Kup- historiographischen Motivs aufeinander. Chro- ferstechers und Gelehrten Sandrart, die reich mit nos, der mit Sichel und Stundenglas bewehrte zum Teil ganzseitigen Kupferstichen geschmückt Gott der Zeit, erscheint im 17. Jahrhundert nicht ist, macht den Zusammenhang zwischen Kunst- mehr [nur] in seiner zerstörerischen Dimension. förderung und heldenhafter Stilisierung von Er wird im Gegenteil zum Helfer der Historia, Herrschern in besonderer Weise deutlich. Die ‚gezähmt‘ durch Tugend und Weisheit (Kintzin- semantische Bestimmung des Kunsthelden wird 3 ger 26). In Verbindung mit Historia führt er die bereits in der Widmung des zweiten Hauptteils

helden. heroes. héros. Christina Posselt-Kuhli

18 von 1679 auf Friedrich Wilhelm von Branden- Sandrart auch im Kontext der Beschreibungen burg übertragen, den Sandrart als ‚Kunsthel- diverser fürstlicher Kunstsammlungen [darunter den‘ tituliert (Sandrart 1679, Widmung [I] 647). der Brüsseler Sammlung Erzherzog Leopold Wil- Diese Bezeichnung wird jedoch erst durch ein helms, der kurpfälzischen Herrscher Karl I., Karl Spannungsverhältnis zum Ausdruck gebracht. Ludwig und Karl II. sowie der Grafen Otto Gall, In einer metaphernreichen Anrede von Fama Georg Augustin und Rudolph Wilhelm aus dem wird der Große Kurfürst nämlich zunächst als Geschlecht der von Stubenberg12] verwendet, ‚Teutscher Martis‘ bezeichnet (ebd. [II] 646). Zur wird visuell durch die Kupferstiche der Teutschen Unterstützung dieses Vergleichs wird die Ge- Academie unterstrichen. Hier ist auf den Zweiten nealogie bemüht, denn gleichwie Fama „unter Titelkupfer der Iconologia deorum zu verwei- Dero Glorwürdigsten Vorfahren einen Achillem sen.13 [Abb. 1] Sandrarts Beschreibung folgend fande / Dessen Durchleuchtigster Waffen Glantz handelt es sich um den Zug der Helden [gemeint den Ruhm aller Helden seiner Zeit“ verdecke, sind damit die Mitglieder der Fruchtbringenden habe Friedrich Wilhelm eben dies in seiner Zeit Gesellschaft] zum Thron. Er wird rechts ange- vermocht.9 Doch durch die Besichtigung seiner führt von den drei Oberhäuptern [Ludwig von An- Kunstkammer und aufgrund des großen Kunst- halt-Köthen, Wilhelm IV. von Sachsen-Weimar verstands des Kurfürsten, der seiner Waffenkun- und August von Sachsen-Weißenfels] sowie den de nicht nachstehe, habe sich Fama für einen drei kurfürstlichen Mitgliedern [Georg Wilhelm, anderen Helden-Namen entschieden: „Kame Friedrich Wilhelm von Brandenburg und Johann sie sofort auf den Schluß / daß Deroselben der Georg II. von Sachsen]. Es folgen die ‚Gesell- Ehren Name eines Teutschen Föbus oder Apollo schafter‘ in streng hierarchischer Rangfolge von bäßer anstehen würde“ (ebd. [II] 647). Herzögen, Markgrafen, Landgrafen, Pfalzgrafen, Göttervergleiche wie hier mit Apoll sind durch- Fürsten, Grafen und Freiherren, dann Adelige aus keine Seltenheit im 17. Jahrhundert. Das und Gelehrte.14 Dabei erscheint diese von Mer- Wortfeld des Kunsthelden in den panegyrischen kur angeführte Gesellschaft „mit alt-Römischer und erzieherischen Schriften des 17. Jahrhun- Helden-Rüstung gewaffnet / und hielte jeder derts umspannt die antike Mythologie – insbe- eine ­n Palmen-Zweig“ (Sandrart 1680, Iconologia sondere Vorbilder wie Herkules [in seiner Rolle deorum [IX] 1321). Der Anteil der Fruchtbringer als ‚musagetes‘] haben dabei Konjunktur – so- und ihr Selbstverständnis als ‚Heldenmacher‘ wie antike Herrscher wie Augustus oder Alexan­ geht in diesem Heldenzug bildlich und durch die der den Großen. Mit diesen Vergleichen wird namentliche Nennung mit den herrscherlichen auch in Fürstenspiegeln und in staatstheore­ Helden, die ihnen voranschreiten, sinnfällig zu- tischen Schriften auf die Leistungen des Herr- sammen. Ergänzend zum Kupferstich verhan- schers für das Gemeinwohl und als Friedens- delt die Textpassage des ‚Ehren-Preis‘ in einer stifter verwiesen. Eine Gruppe, die dieses Ideal Prosa-Ekloge die Verherrlichung der Frucht- besonders propagierte, war die Fruchtbringende bringenden Gesellschaft als ‚teutscher Parnass‘ Gesellschaft, die größte deutsche Sprachgesell- unter dem Schutz Minervas, Apolls und der Mu- schaft des 17. Jahrhunderts, der auch Joachim sen und stellt dabei die einzelnen Mitglieder der von Sandrart und der Große Kurfürst angehör- Sprachgesellschaft mit ihren Werken und ihrem ten.10 Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, in Zeiten Wirken vor.15 Von der Muse Thalia wird Herzog des Dreißigjährigen Krieges dem Niedergang August von Sachsen-Weißenfels in Überein- der deutschen Kultur durch die Pflege und Ko- stimmung mit dem Wortlaut der Widmungen der difizierung der deutschen Sprache entgegenzu- Teutschen Academie als ‚Kunst-Held‘ tituliert, wirken. Es galt, die Sprache in ihrer Bedeutung der von Apollo mit seinen ‚Gunst-stralen‘ be- als ‚teutsche Heldensprache‘ [so der Begriff bei leuchtet werde (ebd. [X] 1322). Johann Rist, Georg Philipp Harsdörffer, Kaspar Stiler oder Johann Heinrich Schill]11 wieder rein von Einflüssen fremder Sprachen zu neuer Blüte zu verhelfen. Sprachförderung, so glaubte man, Der Große Kurfürst als Beschützer ginge zudem mit einer Verbesserung der Sitten der Künste – das Ideal von ‚arma et einher. Demzufolge konnte auch der Kunst lie- litterae‘ bende Mäzen seine Tugendhaftigkeit als Herr- scher unter Beweis stellen, indem er durch seine In einer vergleichbaren Ikonographie erscheint Kulturförderung das sittliche Niveau hob und die der Große Kurfürst als Beschützer der Künste Friedensliebe stärkte. Innerhalb der Teutschen in dem 1682 von Michael Willmann geschaffe- Academie lässt sich ein enges Zusammenspiel nen Gemälde.16 [Abb. 2] Die Rolle Friedrich Wil- von semantischer und bildlicher Ausgestaltung helms, seine Platzierung im Zentrum der Kompo- des Kunsthelden-Themas ausmachen. Die Be- sition sowie die Rahmung durch mythologische zeichnung einzelner Fürsten als Kunstheld, die Figuren hat Willmann im Entstehungsprozess

helden. heroes. héros. Der ‚Kunstheld‘ im Spannungsfeld zwischen Krieg und Frieden des Bildes deutlich verstärkt, was sich an zwei gleichberechtigt neben Mars (Rollenhagen 19 überlieferten Zeichnungen nachvollziehen lässt, Nr. 68). Blickt man in dieser Entwicklung zurück, die dem Gemälde vorausgingen. Im ersten Ent- galt Minerva bis zu Cesare Ripa in der Allegorie wurf ist der thronende Kurfürst noch ganz an und Emblematik als Sinnbild für Weisheit und den linken Bildrand gerückt, mit dem Marschall- war Herrschern wie Feldherren zugeordnet. Um stab in der Rechten und den zumeist als neun 1600 tritt sie dann deutlich diversifizierter auf: Musen gedeuteten Figuren noch ‚in cumulo‘ re- mit dem Frieden wird ihr eine ganz bestimmte präsentiert.17 Die Figur der Pax, erkennbar am ‚virtus‘ zugeordnet und in der Schutzherrschaft Palmzweig und personifiziert durch Dorothea für die Kunst erscheint sie als Ergänzung bzw. von Holstein-Glücksburg, der zweiten Gemah- Gegenbild zu Mars wie bei Rollenhagen (Pfeiff lin des Kurfürsten, fällt in der Gemäldefassung 60-72). Bei Ripa wird Minerva explizit als Frie- weg. Ebenso die weibliche Figur neben Friedrich densgöttin genannt [als Erfinderin des Lorbeers]. Wilhelm, die aufgrund einer gewissen Porträt­ Als Personifikation von Herrschertugenden tritt ähnlichkeit mit der ersten Gemahlin des Kur- Minerva zudem häufig in Darstellungen als Er- fürsten, Luise Henriette von Oranien, identifiziert zieherin junger Fürsten auf,22 was ebenfalls in wird. Die Einbindung in einen politisch-familiären einem Sinnbild Ripas emblematisch gefasst ist: Kontext wird somit zurückgenommen, der Kur- Die Personifikation der Nobiltà wird als Frau mit fürst als zentrale Gestalt repräsentiert allein die Lanze und einer Minerva-Statuette dargestellt, weltliche Sphäre, gleichsam als Summe und um anzuzeigen, dass man Adel gleichermaßen Ausgangspunkt seiner Herrschaft. Die Attribute durch Ruhm, Wissenschaften oder Waffen erlan- Buch und Feder treten deutlicher hervor, wobei gen könne (Ripa 359-360), deren aller Schutz- Letztere schließlich wie ein Zepter eingesetzt göttin Minerva ist.23 wird.18 Das Gemälde greift damit das Motiv von Auch der durch ‚arma et litterae‘ erlangte ‚arma et litterae‘ auf, ein für die Herrscherre- Ruhm des Großen Kurfürsten weist diese Konno- präsentation grundlegendes und in vielfältigen tationen von Minerva auf. In dem panegyrischen, Formen überliefertes Thema, das sich auch im von Charles De Hayes ins Deutsche übersetzten Ausspruch des ‚ex utroque Caesar‘ emblema- Werk von Jacques Abbadie Hochverdienter Hel- tisch verdichtete und zur vorbildlichen Devise den Lorber […] aus dem Jahre 1685 wird neben neuzeitlicher Fürsten wurde (Buck 62).19 Cesare dem auf Größe, Ruhm, Kriegsmut und Tapfer- Ripa benutzt das Bild für seine Erläuterung der keit gegründeten Heldendiskurs Minerva in ihrer ‚Auttorità o Potesta‘ [Autorität, Macht] [Abb. 3]: doppelten Konnotation als Göttin der Kriegsfüh- der Personifikation sind zur Seite ihres Thrones rung und Beschützerin der Künste zum Sinnbild Bücher und Waffen beigegeben, die Erklärung des ‚neuen Achill‘ Friedrich Wilhelm.24 Nachdem endet mit Verweis auf Ciceros Sentenz „cedant die Siege errungen und damit die notwendigen armatogae“ [„die Waffen sollen der Toga wei- Bedingungen für den Frieden und die Entfaltung chen“, Ripa 34-36]. Auch ‚Merito‘ [Verdienst] hat der Künste geschaffen sind, fördert der Kurfürst die Doppelbedeutung von Krieg und Studium die Kunst und damit die Sitten: bzw. Literatur (Ripa 313-315), was einerseits der gerüstete rechte Arm und andererseits das Wie / siehet man nicht täglich die edlen Buch in der Linken der Emblemfigur symboli- Künste und Wissenschafften unter Seiner sieren.20 [Abb. 4] Die Symbolfigur, ein mit Lor- so rühmlichen Schutz= und Schirmleis- beer bekrönter Mann, steht auf einem Felsen, tung immer höher empor sich schwingen / und die vormals unnanehmliche und rohe um den steinigen Weg der Tugend anzuzeigen, Art der Gemühter dieser Lande zahm und den schon Herkules gewählt hat und „dessen geschmeidig werden! (De Hayes 22) allseits bekannte Mühen es verdienen, unter die würdigsten Taten des Helden gezählt zu wer- Dem Topos von ‚arma et litterae‘ folgend wird 21 den“ (Ripa 315). Beide Personifikationen sind er dafür gerühmt, „die Waffen / Wissenschaften reich gewandet, um die besondere Disposition und Freyen künste so genau mit einander zu ver- der Fürsten für Ruhm und Tugend anzuzeigen. binden“ (De Hayes 24). Dem dichterischen Lob Durch den bereits erwähnten Aufstieg der Küns- kann auch Sandrart nochmals zur Seite gestellt te und die Etablierung der Kunstpatronage als werden: in den Passagen der Teutschen Aca- fürstliche Tugend bekommt der Begriff der ­‚artes‘ demie, in denen der Autor diverse europäische neben den ‚litterae‘ besondere Bedeutung. In Kunstsammlungen beschreibt, wird die Kunst- das Beziehungsgeflecht von Krieg, Frieden und helden-Titulierung des Großen Kurfürsten weiter Kulturförderung [bisher emblematisch meist ver- kontextualisiert. Zur Berliner Kunstkammer heißt treten durch die ‚litterae‘] treten die bildenden es, Charles Patin folgend:25 Künste. Entsprechend stellt Gabriel Rollenha- gen in seinem Emblem zu ‚Arte et Marte‘ Minerva

helden. heroes. héros. Christina Posselt-Kuhli

20 Es ist auch sonst alles / was in Tugend Aus diesen und noch vielen weiteren Textstellen oder Kunst bestehet/ daselbst im höchs- der Teutschen Academie wird ersichtlich, dass ten Grad wol eingerichtet: Dann / unange- sich nach Sandrarts Überzeugung in der Kunst- sehen Ihr Churfürstl. Durchl. die Regirung förderung gleichsam die Krönung und Vollkom- und Conservation Ihrer Lande und Leute / menheit herrscherlicher Qualitäten manifestiert. und darum viele hohe Sorgfalten obligen/ Umgekehrt schafft das somit begründete Abhän- haben Sie doch nicht unterlassen / Ihr he- roisches Gemüte iezuweilen mit dieser gigkeitsverhältnis von Herrschaft und Künsten tugendhafften Ergetzlichkeit zu erfreuen. die Voraussetzung für die Heroisierung des Herr- (Sandrart 1679, Skulptur II 965) schers als Kunstheld. Sandrarts Beschreibun- gen der Kunstkammern und der mäzenatischen Die Aussage ist klar: Das Gemeinwohl, zu dem Förderung, die die Herrscher den Künstlern auch die Kunstförderung zählt, braucht einen angedeihen lassen, zeugen vom Bewusstsein, starken Herrscher. Nach dem Dreißigjährigen dass Kunst[förderung] ihre Helden braucht. Krieg implizieren solche komplementären Auf- Auch Willmanns Komposition setzt sich mit fassungen von Herrschaft in Deutschland auch dieser Thematik auseinander, was nicht zu- den Kampf gegen ‚Invidia‘ und ‚Ignorantia‘ sowie letzt durch die Zentrierung des Kurfürsten und gegen erneute Kriegshandlungen.26 die allegorische Aufladung ersichtlich wird, die Der Große Kurfürst ist keineswegs der ein- Willmann in der zweiten Zeichnung [Abb. 5] voll- zige Herrscher, dessen Kunstsinnigkeit Sandrar­t zieht und die im Gemälde bis auf wenige kleine heroisiert. In der Erklärung zu dem bereits er- Änderungen beibehalten werden.28 Besonders wähnten Zweiten Titelkupfer der Iconologia auffällig ist dies in der Figurengruppe links mit ­deorum (TA 1680) – der erstmals ins Deutsche Apoll, Herkules und Minerva. Ihre Kämpfe ge- übersetzten Götterlehre des Vincenzo Carta- gen die Barbarei, die Kriegshydra und den Neid ri – wird Friedrich I., zu der Zeit noch Kurprinz, ergänzen die Huldigungsszene durch die Per- ebenfalls in das Beziehungsgeflecht von ‚Arte‘ sonifikationen der Künste, der Malerei, Archi- und ‚Marte‘ gewoben: tektur und Bildhauerei, die durch ihre Attribute [Pinsel, Palette, Zirkel und eine Herkules-Statue] Wie haben Sie / durch Heldenmäßige gekennzeichnet sind. Die historische Figur des tugendhafte Führung der Waffen / den Kurfürsten, in zeitgenössisch herrscherlichem Ruhm Dero Glorwürdigsten Vorfahren / Ornat mit Harnisch und Hermelinmantel und mit nicht nur erreichet / sondern auch über- porträthaften Zügen, wird durch die Götter sowie troffen: also daß die Namen Achilles, Hec- den himmlischen Ruhm Famas heroisiert, sie tor, Alcibiades viel zu wenig / Dieselbe zu begleiten als segensreiche Kräfte seine Herr- beehren / und Sie billig der selbste Teut- 29 Der Glanz tugendhaften Handelns des sche Mars genennet werden. Gleichwol schaft. ließen Sie hierbey / nach Anzeig Dero ers- Großen Kurfürsten wird in der Verherrlichung teren würdigsten Namens / erscheinen / seiner Kunst fördernden Taten durch die Künste daß Sie um den Frieden gekrieget / und zurückgeworfen. Seine Kunstförderung wird als also zugleich ein rechter Friderich seyen: Tugend inszeniert [wofür ihm Fama den Ruhm indem Sie / was Sie durch Waffen erobert verkündet] und von den Künsten, die in ihrem / dem Frieden wieder zur Beute hingege- Tun innehalten, zugleich reflektiert und festge- ben. (Sandrart 1680, Iconologia deorum halten. Das Gemälde setzt sich somit bildim- [II] 1306). manent mit der Beziehung von Kunstförderung und Heroisierung durch Kunst mit künstlerischen Damit ist der für den Frieden kämpfende Kriegs- Mitteln auseinander. Frieden, Wohlstand und held angesprochen. Doch Sandrarts eigentliche Kulturpflege werden mit der Herrscherrepräsen- Widmung gilt dem im Folgenden als Kunstför­ tation verbunden und als Ziel und Ausgangs- derer charakterisierten Kurprinzen: punkt bekundet. Historisch kann das Gemälde auf die Zeit nach dem Frieden von St. Germain E. ChurPrinzl. Durchl. sind ein Erbe / nicht nur der HochVätterlichen Dapferkeit / son- 1678 und einer Phase friedlicher Herrschaft dern auch Dero Liebe zu den Künsten. Sie in Brandenburg-Preußen bezogen werden sind der aufgehende Föbus von Teutsch- (Lossow 58-59). Militärische Stärke kommt nur land. darum erkühne ich / dieses Buch noch sublimiert in den neben dem Kurfürsten auf / das von KunstSachen / wiewol nicht eine ­m Tisch abgelegten Attributen der ‚summa künstlich / handelt / in den Schein Dero potestas‘, Zepter und Krone, zum Ausdruck. Der aufsteigenden Strahlen zu legen: ob es / Akzent des Bildes liegt jedoch vielmehr auf dem also Gnad-beleuchtet / etwas schöner er- Frieden und seinen Auswirkungen: die Künste 27 scheinen möchte. (Ebd. [II] 1306) und ‚Abundantia‘ mit dem Füllhorn können sich unter der Regierung des weisen und friedlieben- den Herrschers entfalten.

helden. heroes. héros. Der ‚Kunstheld‘ im Spannungsfeld zwischen Krieg und Frieden

Diese Inszenierung lässt sich mit der realen Kul- Sammlungskatalog, das sogenannte Galerie- 21 turpolitik des Großen Kurfürsten durchaus in Ein- werk. Ein sehr prominentes Beispiel dieser Gat- klang bringen. Bereits in der frühen Forschung tung ist das Theatrum pictorium, 1660 in Brüs- erscheint Friedrich Wilhelm als der Erste, der in sel auf Latein und Flämisch, später in weiteren der Mark Brandenburg die Kunstförderung sys- Ausgaben erschienen.32 Es gilt als „der erste ge- tematisch betrieb und eigentlich begründete, druckte und bebilderte Katalog einer Gemälde­ den Künstlern Weiterbildung im Ausland ange- sammlung in Europa“ (Thomas 57) und zeigt in deihen ließ und auch bei der Erziehung seiner 243 Kupferstichen [bzw. Radierungen] die itali- Kinder auf künstlerische Akzente Wert legte enischen Gemälde der erzherzoglichen Samm- (Galland 71-72). Eine Einschätzung, die sich lung. Mit dreizehn Giorgione, siebenundvierzig gut mit den zeitgenössischen Panegyriken ver- Tizian, vierzehn Veronese, dreizehn Tintoretto trägt, und auch weiterhin in der Forschung [mit und vierundzwanzig Palma Vecchio zugeschrie- unterschiedlicher Akzentuierung] akzeptiert ist. benen Werken sind hauptsächlich venezianische Allerdings gelang es „dem Kurfürsten nur, relativ Künstler vertreten. Da ein guter Teil von Leopold bescheidene Talente nach Berlin zu verpflichten“ Wilhelms Sammlung aus den Versteigerungen (Börsch-Supan 34). Neben dem kriegerischen des Bildbesitzes englischer Adeliger stammt, die Image wurde zunehmend auch der durch den unter Oliver Cromwell vertrieben bzw. hingerich- Sieg erlangte Frieden ein wichtiges ergänzen- tet wurden [besonders prominent die Sammlung des Thema der Repräsentation. Insofern dient des Herzogs von Hamilton], musste sich der Erz- auch die Darstellung als Friedensfürst durch herzog auf dem sich bereits etablierten Kunst- die Verbindung mit den Künsten wie wir sie bei markt gegen konkurrierende Kunstliebhaber Willmann umgesetzt sehen, der Legitimation. und -sammler durchsetzen. Auch Kriegsbeute Auch im kurfürstlichen Appartement im Berliner gelangte nicht selten in fürstliche Sammlungen. Schloss wird der Große Kurfürst, der als Mäzen Betrachtet man das Sammeln unter diesem As- von Kunst und Wissenschaften seine herrscher- pekt, so bedarf es dabei auch der Tatkraft und liche Tugend unter Beweis stellt, veranschau- Entschlossenheit, zuweilen auch des Kriegs- licht:30 Nicht der kriegerische Fürst, sondern der geschicks, mithin agonalen Eigenschaften, die siegreiche Friedensfürst wird allegorisch wie nicht nur herrscherlichem Handeln angemessen politisch inszeniert.31 Im Alabastersaal wird der sind, sondern auch in den Qualitätskatalog eines Akzent auf eine Ausbalancierung von ‚arte et Helden passen. marte‘ mit antiken Allegorien der Herrschertu- Ein möglicher Anlass für die Erstellung des genden gesetzt, und der Herrscher zum einen Katalogs mag der 1656 erfolgte Abtransport als Kriegsheld, zum anderen als Friedensfürst der Bilder aus Brüssel über Passau nach Wien dargestellt: Friedrich Wilhelm bringt mit Pax und gewesen sein, als Leopold Wilhelm von seiner Minerva die Waffen in den Tempel des Mars und Statthalterschaft zurücktrat.33 David Teniers d. J. die Kriegsbeute in den Tempel der Musen, er tritt fertigte deshalb parallel zu einem in dieser Zeit als Förderer von Ackerbau, Viehzucht, Handel abgefassten Inventar [1647/1659] kleine Repro- und Verkehr auf, und ihm wird als fürstlichem duktionen der Gemälde in Öl an [sog. ‚modelli‘ Bauherrn gehuldigt (Wiesinger 119-120). oder ‚pasticci‘], – in Abweichung vom üblichen Verfahren, bei dem eine Zeichnung zur Vorbe- reitung eines Stiches verwendet wird.34 Das Sammeln als agonale Tat – Erz­ Frontispiz des Theatrum pictorium zeigt die mä- zenatischen Taten Leopold Wilhelms in allegori- herzog Leopold Wilhelm und das scher Form und kennzeichnet damit den Helden Theatrum pictorium als Kunsthelden. [Abb. 6] Im Zentrum steht das durch diverse Gemälde und Drucke bekannte Das Bild des ‚Kunsthelden‘ wird jedoch nicht nur Porträt des Erzherzogs als Bildnismedaillon. Es durch die Tugend irenischer Herrschaft konstitu- wird von einem Blumen sprießenden Ährenkranz iert, auch die Sammlung wird als wichtiger Fak- gerahmt, in dem links ein Gewehr und der Kom- tor bildwürdig. Leopold Wilhelm, der mit geist­ mandostab stecken und rechts eine Palette mit lichen Würden betraute jüngere Bruder Kaiser Malerstab hängt – die harmonische Verbindung Ferdinands III., bis 1646 Oberbefehlshaber der von ‚arte et marte‘. Leopold Wilhelms Motto kaiserlichen Armee, wusste seine Kunstsamm- ­‚Fortiter et Suaviter‘ [‚tapfer und milde‘] zieht sich lung, die er während seiner Zeit als Statthalter als Band durch den Kranz. Das Medaillon steht der Niederlande in Brüssel (1647-1656) auf- auf einem zweigeschossigen Sockel, einem gebaut hatte, in diesem Sinne zu inszenieren. Symbol der Festigkeit und Unerschütterlichkeit Eine Verknüpfung von Sammlung, Kennerschaft – ein vielsagendes Motiv im Kontext eines ge- und Herrscherrepräsentation, mit der Intention gen Konkurrenz beharrlichen Kunstsammlers. der Verbreitung, bietet der graphisch illustrierte Der untere Teil des Sockels ist zu einem Podest

helden. heroes. héros. Christina Posselt-Kuhli

22 erweitert, auf dem Minerva mit dem Gorgoneion herrscherlichen Mäzenatentums präsentiert sich gerüstet zur Rechten des Erzherzogs steht. Der die Fruchtbringende Gesellschaft in Karl Gus- Sockel trägt eine Inschrift mit der Widmung des tav von Hilles Text Der Teutsche Palmenbaum ­Amphitheatrum picturarum35 an den Erzherzog von 1647 als Statuen in den Nischen eines Pan­ sowie die Datierung 1658. Minervas Blick rich- theons. [Abb. 7] In genea­logischer Ableitung tet sich auf einen geflügelten Putto, vor dem ein reihen sich Ascenas – von Sigmund von Birken Gemälde steht: die Violante von Tizian [früher in seinem Chur und Fürstlichen Sächsischen Palma Vecchio zugeschrieben].36 Ihr Zeigefinger Helden-Saal […], [Nürnberg 1687] als ‚Urvater weist auf einen anderen Putto, der von rechts der Deutschen‘ beschrieben –, Karl der Große, heranschwebt und ein weiteres Gemälde trägt, Rudolph I. und drei Mitgliede­r der Sprachge- das er in die Galerie von Porträts im Hintergrund sellschaft, nämlich Friedrich Wilhelm von Bran- einzureihen trachtet. Somit entspinnt sich zwi- denburg, ‚der Befreiende‘ [= Herzog August von schen Minerva und den beiden Putten ein inner- Braunschweig-Lüneburg] und ‚der Nehrende‘ bildlicher Dialog darüber, welche Bilder es wert [= Fürst Ludwig zu Anhalt] aneinander, wie die sind, in eine erzherzogliche Galerie integriert zu Beschriftung angibt. Sie alle sind als Herrscher, werden. Die gezeigten – und somit als heraus- teils in Phantasierüstung, mit Herrscherinsig- ragend gekennzeichneten – Gemälde fungieren nien und in verlebendigter Pose dargestellt. Im als Pars pro Toto der gesamten Sammlung, die Zentrum steht eine weibliche Figur mit einem mit der Weisheit Minervas und der Kennerschaft Ährenkranz auf dem Haupt. In der rechten Hand Leopold Wilhelms zusammengetragen wurde. präsentiert sie ein geöffnetes Buch und einen Ein dritter geflügelter Putto präsentiert das Bild mit Federn geschmückten Helm, in der linken des sogenannten Bravo von Tizian [ehemals das Wappen mit dem Palmenbaum. Am obe- Giorgione zugeschrieben].37 Aufgeschlagene ren Ende dieses Wappens sprießt ein geöffne- Bücher unterschiedlichen Formats, darunter ein ter Granatapfel. Zwei angeschnittene Palmen Notenbuch und ein Skizzenbuch, ein Blatt aus schließen die Darstellung auf beiden Seiten ab. eine ­r Münzsammlung sowie zwei Nägel zum Auf- Bei der Erklärung der Impresen der Mitglieder hängen der Bilder, runden die Hinweise auf die der Fruchtbringenden Gesellschaft heißt es bei Sammlung ab. Die Szenerie wird hinterfangen Hille: von einer Nischenarchitektur mit fünf Pilastern, die von Porträtbüsten gekrönt werden. Damit er- Der Vielgekornte [= Dietrich von dem Wer- folgt die Glorifizierung des Erzherzogs nicht nur der, CP-K]. Ein aufgeborstener Granat­ auf allegorischer Ebene, sondern sie reiht ihn apfel. Abkülend stärket. – Der vielgekornet heißt / führt die Granatenkron; / Ihr Pupur- auch in die Tradition antiker Gelehrsamkeit ein. körner Saft abkülend stärkt die Glieder: / So war es noch im 17. Jahrhundert üblich, Biblio- Jens deut die dapfre Faust / den Krieg= theken nach antikem Vorbild mit Büsten berühm- und Siegeslohn / Und dieses seine Kunst ter Philosophen und Autoren zu schmücken, der Teutschen HeldenLieder. (Hille 183) eine seit der frühen Neuzeit etablierte eigene Reihe großer Männer, die den Kanon von Herr- Das Frontispiz des Theatrum pictorium vermit- schern und Kriegern erweiterte. Eine spezifische telt ebenfalls eine Heldenrolle mit dem Bild eines Reihe berühmter Männer entwickelte sich auch Kunst liebenden Herrschers, dessen Kunstver- im Deutschland des 17. Jahrhunderts im Kontext stand seine Sammlung zu qualitätvoller Auser- der bereits erwähnten Sprachgesellschaften. Die lesenheit erhebt. Sein tugendhafter Eifer, den etymologische Ableitung der deutschen Sprache er mit heroischer Stärke gegen Widerstände von den Hebräern an Ascenas – Noahs Uren- und Konkurrenz einsetzt, gilt ebenso der Kunst kel – und über die Griechen ins Lateinische wird wie seiner eigenen Repräsentation. Das Medi- häufig begleitet von einer genealogischen Abfol- um seiner Sammelleidenschaft entspricht dem ge, bei der die jeweiligen in den panegyrischen seiner Memoria.40 Nimmt man Sandrarts Aus- Schriften geehrten Fürsten passenderweise von sagen und die anderer Zeitgenossen ernst und Ascenas, Alexander dem Großen, Augustus, Karl bedenkt man das System von kultureller Re- dem Großen oder Karl V. abstammen.38 Entspre- präsentation und Zeremoniell, so erblicken wir chende Darstellungen [vornehmlich auf Frontis- in der Inszenierung Leopold Wilhelms mehr als pizen] zeigen diese Filiation in einer Art Helden- eine politische und militärische Kompensation, saal oder Heldengalerie.39 Nicht selten wird das die er zweifellos auf kulturellem Gebiet fand.41 Motiv des Parnass als heroisches Symbol aus- Sammeln wird als agonale Kulturtat konstruiert, gestaltet, der ebenso wie der Heldensaal zudem die auch als solche wahrgenommen und in Bild in der [Buch-]Graphik eine Entsprechung hat. und Text vermittelt wurde. Zwar sammeln im 17. Die Form der Ruhmes­halle mit genealogischer Jahrhundert längst auch vermehrt Adelige und Rahmung konnte auch im Kontext der Sprach- Bürger [auch hiervon zeugt Sandrarts Teutsche gesellschaften eingesetzt werden. Als Adaption Academie ausführlich], doch das Monopol der

helden. heroes. héros. Der ‚Kunstheld‘ im Spannungsfeld zwischen Krieg und Frieden heroischen Darstellung liegt bei den Fürsten. Henry Peachams The Compleat Gentleman 23 Diese unterschied­lichen Modi [oder ‚Stilhöhen‘] [1622/1634] entsprach. Letzterer konzentrierte der Repräsentation herausragender Sammlun- sich vor allem auf die Vorbildlichkeit von [auch gen soll an einem abschließenden Beispiel deut- antiken] Kunstwerken, die ein gebildeter Adeliger lich gemacht werden. kennen sollte (Fatticcioni 24-25).45 Eine bildliche Als ein besonders bekannter Vertreter re- Inszenierung dieser Strategie zeigt das Porträt präsentiert etwa Thomas Howard, der 21. Earl Arundels von Daniel Mytens. [Abb. 8] Der Earl ist of Arundel, die Gruppe von [Hoch]adeligen, die vor seiner Skulpturengalerie so inszeniert, dass sich auf dem Feld des kulturellen Mäzenaten- das Trompe-l’œil einen Verlebendigungseffekt tums verdient machte und zur Ausstattung ihrer der Venus pudica-Statue durch Arundels Zeige- Palais wie zur Erinnerung an ihre Taten Kunst stock hervorruft und – allgemeiner gefasst – für kaufte bzw. in Auftrag gab und sich ausländische die Wiedererweckung der Antike durch Arundel Kunstmärkte durch Mittelsmänner erschloss.42 steht.46 Dabei befanden sich jedoch [noch] nicht Arundel nutzte ganz gezielt das Sammeln für alle im Gemälde gezeigten Statuen in Arundels seine Selbstdarstellung.43 Auf Geheiß seiner Besitz, so dass die bildliche Aussage auch einen Gattin Alathea Talbot wurde Franciscus Junius’ Anspruch vermittelt und auf die Bereitschaft zum De pictura veterum 1638 ins Englische über- potentiell konkurrierenden Kunsterwerb ver- setzt, dessen Widmung den englischen König weist.47 Charles I. adressiert:

Let me pass over in silence [such as I may be silent about what here matters most] Das Profil des Kunsthelden Your great zeal in propagating the liberal arts. Under this resplendent banner, as Der semantischen Fülle des Heldenbegriffs under a benign star, Your Illustrious Maj- im 17. Jahrhundert kann durch die Gestalt des esty, having established the blessings of Kunsthelden in Panegyrik und bildlichen Dar- peace throughout the realm, now happi- stellungen ein spezielles Profil gegeben werden. ly also has dispersed the darkness of an earlier age. (Junius 318)44 […] Wherever Der ‚Kunst-Held‘ kann sich dank des anerkann- we look, You are restoring, preserving, ten ‚symbolischen Kapitals‘ der Kulturpflege im advancing, and bringing together the arts, Deutschland des 17. Jahrhunderts in den Rei- and are the sole bestower of happiness, gen der heroischen Modelle einreihen. Die Ein- the measure of justice, and the very model bindung in die bzw. Verbindung mit der göttlichen of the best of princes. (Junius 319) und mythologischen Sphäre heben den Herr- scher als Machtfigur heraus. Dominante Formen Auch den Triumphgedanken und das Motiv von der Repräsentation wie die Apotheose des Herr- ‚arma et litterae‘ spricht Junius an: „Under so schers durch die Künste, das Rollenporträt als great a Maecenas painting triumphs and will Herkules musagetes, Apoll oder Augustus, und be triumphant in the future. For who will dare weitere Bildformeln, die eine Bildpolitik bzw. das despise what he sees Your Majesty hold dear?“ Bekenntnis – ob nun wahr oder idealisiert – zur ( ­Junius 321) Junius, Arundels Bibliothekar, gibt Kunst vermitteln, werden dabei variantenreich wohl auch mit einem weiteren Ausspruch die eingesetzt. Nur einzelne bildliche und sprach- Meinung Arundels wieder: „The arts inclined liche Mittel konnten in diesem Beitrag skizziert men to peace, consecrated the memory of the werden. Mit der dominanten Gestalt der Miner- great, and showed virtue as the pattern of the va werden die Eigenschaften eines Friedens- glorious life.“ (Vickers 7) fürsten und Kriegshelden, aber auch die eines Dieses Lob der Kunstförderung kann Arun- Beschützers der Künste als notwendige, sich del auch auf sich beziehen. In der Antike sah er ergänzende Komponenten fürstlicher Politik vor- ein [moralisches] Vorbild für seine eigene Zeit geführt. Die bildlichen Formeln zeitgenössischer und die zeitgenössische Kunstproduktion als Herrscherrepräsentation – göttergleiche Insze- „relevant to the needs of Jacobean England“ nierung, Platzierung auf dem Parnass, Symbolik ( ­Howarth 24). Arundel war darüber hinaus be- des Glanzes durch Aureolen [auch dies eine in strebt, seine eigene aristokratische Position und diesem Rahmen nicht darzustellende Fülle] – er- die des alten Adels insgesamt gegen den auf- halten durch den Bezug zu den Künsten eine steigenden neuen Adel am Hof der Stuart zu ver- spezifische Ausprägung, die ihre Analogien in teidigen. So setzte er auch das Kunstsammeln den literarischen Zeugnissen der Zeit hat. in seinen politischen Bestrebungen ein, das sich mit aristokratischen Werten ebenso vertrug wie 1 Der Aufsatz behandelt einen Teil eines größeren For- mit seiner auch an der Antike geschulten Erzie- schungsprojektes unter dem Titel „Kunst-Held versus hung – und damit dem Ideal des Cortegiano bzw. Kriegs-Held. Heroisierung durch Kunst im Kontext von Krieg und Frieden in der Frühen Neuzeit“ innerhalb des

helden. heroes. héros. Christina Posselt-Kuhli

24 DFG-geförderten SFB 948 „Helden – Heroisierungen – He- Palmbaum. […]. Nürnberg: Endter, 1647: 14; Zesen, Philipp roismen. Konjunkturen und Transformationen von der Antike von. Das Hochdeutsche Helikonische Rosenthal […]. Ams- bis zur Moderne“ an der Universität Freiburg. terdam: Konrad, 1669: 47; Gutachten des Ezzenden (= Ru- dolph von Dietrichstein) 1647, abgedruckt in Krause, Gott- 2 Zu diesem Ansatz grundsätzlich Oevermann, Ulrich. lieb. Der Fruchtbringenden Gesellschaft ältester Ertzschrein. „Für ein neues Modell von Kunst- und Kulturpatronage.“ Die Briefe, Devisen und anderweitige Schriftstücke. Urkundlicher Kunst der Mächtigen und die Macht der Kunst. Untersuchun- Beitrag zur Geschichte der deutschen Sprachgesellschaften gen zu Mäzenatentum und Kulturpatronage (Wissenskultur im 17. Jahrhundert. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1855. und gesellschaftlicher Wandel, 20). Hg. Ulrich Oevermann Hildesheim: Olms, 1973: 94-97; Harsdörffer, Georg Philipp. u. a. Berlin: Akademie Verlag, 2007: 13-23. Poetischer Trichter. […]. Durch ein Mitglied der hochlöb­ 3 Da Chronos häufig gefesselt, am Boden liegend oder lichen Fruchtbringenden Gesellschaft. Zum zweiten Mal auf- schlafend gezeigt wird, lässt dieses Motiv zuweilen die ge- gelegt und an vielen Orten vermehret. Nürnberg: Wolfgang fahrvolle Kraft Chronos’ noch durchscheinen bzw. seine Zäh- Endter, 1648-1653, Erster Theil, 1650 (Erstausgabe 1647): mung so bedeutsam werden. 123-137ff. [Anhang: Unvergreifliches Bedencken von der 4 Im 18. Jahrhundert lässt sich dies auch an einigen ge- Rechtschreibung und Schriftscheidung unserer Teutschen nealogischen Werken ablesen, vgl. etwa die Titelblätter zu Heldensprache]; vgl. dazu Stoll, Christoph. Sprachgesell- Banduri, Anselmo. Imperium orientale sive antiquitates Con- schaften im Deutschland des 17. Jahrhunderts. Fruchtbrin- stantinopolitanae. Bd. I. Paris: Jean Baptiste Coignard, 1711; gende Gesellschaft, Aufrichtige Gesellschaft von der Tannen, Herrgott, Marquard. Genealogia diplomatica Augustae gen- Deutschgesinnte Genossenschaft, Hirten- und Blumenorden tis Habsburgicae, Bd. I. Wien: Kaliwoda, 1737 oder Leibniz, an der Pegnitz, Elbschwanenorden. München: List, 1973 so- Gottfried Wilhelm und Christian Ludwig Scheidt. Origines wie grundlegend Engels, Heinz. Die Sprachgesellschaften Guelficae, Bd. I. Göttingen: Orphanotropheum Moringense, des 17. Jahrhunderts (= Beiträge zur deutschen Philologie, 1750. 54). Gießen: Schmitz, 1983. Zur semantischen Bestimmung des „Kunsthelden“ vgl. auch 5 Der Sentenz „veritas filia temporis“, die in Aulus Gellius’ den Aufsatz: Posselt-Kuhli, Christina. „Der „Kunstheld“: eine Noctes Atticae (12.11.7) belegt ist, liegt die Vorstellung zu- semantische Spurensuche in Panegyriken des 17. Jahrhun- grunde, dass es eine Wahrheit gibt, die [ergänzend zu an- derts.“ Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen 35.1(2014): deren frühneuzeitlichen Auffassungen] verborgen liegt und 41-67. sich nicht selbst enthüllt, sondern ans Licht gebracht werden muss. 12 Dass nicht ausschließlich herrscherliche Sammlungen berücksichtigt wurden, zeigt, dass die Bedeutung der Kunst- 6 Vgl. hierzu Hoberg, die in ihrer Dissertation das in der förderung als heroische Tat ebenfalls in das soziale Selbst- französischen Kunst des 17. und 18. Jahrhunderts zutage verständnis adeliger Gruppen einfließt, die im Ruhmerwerb tretende historische Bewusstsein im Kontext von Kunst­ durch Kunst eine konsensträchtige Herrschaftsstrategie zur theorie und -historiographie gewinnbringend analysiert (Ho- Verfügung haben, mithilfe derer man auch die eigene Moral berg 20-32). und Tugend hervorheben kann. 7 Für das Zeitalter Louis’ XIV erzeugt das Bild des Gol- 13 Vgl. dazu Schreurs, Anna. „Apoll und der Zodiacus: Die denen Zeitalters in der Wiedererweckung der Künste damit Fruchtbringende Gesellschaft zieht auf den Parnass. Anmer- einen „spezifischen Epochenbegriff“ (Hoberg 7). kungen zum Frontispiz von Sandrarts Iconologia Deorum.“ 8 Öl auf Leinwand, 141 x 185,5 cm, 1666, Versailles, Zentren und Wirkungsräume der Antikerezeption. Zur Be- Musée National du Château. deutung von Raum und Kommunikation für die neuzeitliche Transformation der griechisch-römischen Antike, Akten der 9 Möglicherweise ist hiermit nicht eine allgemeine genealo- Tagung zu Ehren von Henning Wrede an der Humboldt-Uni- gische Ableitung vom griechischen Heros gemeint, sondern versität Berlin, Februar 2005. Hg. Kathrin Schade u. a. Müns- ein Verweis auf einen Vorfahren des Großen Kurfürsten, Al- ter: Scriptorium, 2007: 151-158. brecht Achilles (1470-1486). Dieser erhielt seinen Beinamen von Enea Silvio Piccolomini, vgl. Neugebauer, Wolfgang. Die 14 Vgl. Sandrart 1680, Iconologia Deorum, Eigene Bena- Hohenzollern, Bd. 1: Anfänge, Landesstaat und monarchi- mung der Mitglieder des Palmenordens [I]. 21. Juni 2014 sche Autokratie bis 1740. Stuttgart u. a.: Kohlhammer, 1996: und Sandrart 1680, Ico- 58. nologia Deorum, Ehren-Preiß [XI], 21. Juni 2014 . 10 Zur Fruchtbringenden Gesellschaft vgl. neben der kri­ tischen Ausgabe der Briefe, Beilagen und Akademiearbeiten 15 Diese Passage der Teutschen Academie dürfte von (Reihe I), Dokumente und Darstellungen (Reihe II) im Auftrag Martin Limburger verfasst worden sein. Der unter dem der Herzog-August-Bibliothek, Hg. Martin Bircher und Klaus Dichternamen Myrtillus schreibende Lyriker war Nachfolger Conermann seit 1991 und dem von Martin Bircher besorgten Sigmund von Birkens im Pegnesischen Blumenorden. Vgl. Ausstellungskatalog Im Garten der Palme: Kleinodien aus Laufhütte, Hartmut. „Sigmund von Birken und Joachim von dem unbekannten Barock. Die Fruchtbringende Gesellschaft Sandrarts Teutsche Academie.“ Aus aller Herren Länder. Die und ihre Zeit. Berlin: Akademie-Verlag, 1992 die Einzel­ Künstler der ‚Teutschen Academie‘ von Joachim von Sand- untersuchungen von Herz, Andreas. „Aufrichtigkeit, Vertrau- rart (Frankfurt am Main, 09.12.-11.12.2010), erscheint 2014, en, Frieden: eine historische Spurensuche im Umkreis der zitiert nach der Manuskriptfassung: 1-30, 18; Stauffer, Her- ‚Fruchtbringenden Gesellschaft‘“. Euphorion 105 (2011): mann. Sigmund von Birken (1626-1681). Morphologie seines 317-359; Herz, Andreas und Ball, Gabriele. „Friedenssehn- Werks. Tübingen: Niemeyer, 2007, Bd. II: 1073-1075. sucht und Spracharbeit. Die Fruchtbringende Gesellschaft 16 Öl auf Leinwand, 162 x 200 cm, 1682, Schloss Charlot- 1637-1638.“ Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Lan- tenburg, Stiftung Preußische Schlösser und Gärten. deskunde 17 (2008): 47-84 sowie Herz, Andreas. „Der edle Palmenbaum und die kritische Mühle. Die Fruchtbringende 17 Pinselzeichnung auf schwarzer Kreide, 635 x 689 mm, Gesellschaft als Netzwerk höfisch-adeliger Wissenskultur aus drei Blättern zusammengeklebt, Braunschweig, Herzog der frühen Neuzeit.“ Denkströme. Journal der Sächsischen Anton Ulrich-Museum, vgl. Lossow, Hubert. Michael Will- Akademie der Wissenschaften 2 (2009). 27. April 2014 mann (1630-1706), Meister der Barockmalerei. Würzburg: . Bergstadtverlag, Korn, 1994: B 22. 11 Sigmund von Birken auf Georg Neumark in Der 18 Vgl. Sandrarts panegyrische Charakterisierung des Neu=Sprossende Teutsche Palmbaum […]. Nürnberg: Hoff- Herrschaftsstils Kurfürst Karls II. von der Pfalz: „Dieses man, 1668: VIII, b 6[r]; Hille, Karl Gustav von. Der Teutsche Hoch-Fürstliche Chur-Haus war iederzeit / wie gesagt / al- ler Studien und Tugenden Nähr-Mutter / und gewohnt / nach

helden. heroes. héros. Der ‚Kunstheld‘ im Spannungsfeld zwischen Krieg und Frieden

Hinlegung der schweren Regiments- Verrichtung sich mit Willmanns Gemälde untersucht wird (erscheint im Tagungs- 25 dergleichen kunstreichen Ubungen zu ergetzen / und zu ei- band Heinzer, Felix u.a. Hg. Imitatio heroica: Heldenanglei- ner Zeit den Scepter in der einen / die Feder in der andern chung im Bildnis von der Antike bis zum Ende des 18. Jahr- Hand zu führen. Und solcher lobreichen Fusstapfen folgen hunderts. Würzburg: Ergon, 2015). mercklich nach Se. Durchl. der Chur-Prinz CAROLUS, von 30 Dazu Wiesinger, Lieselotte. Das Berliner Schloss. Von Dero hoher Tugend und Verstand viel zu sagen wäre“ (San- der kurfürstlichen Residenz zum Königsschloß. Darmstadt: drart 1679, II (Skulptur): 76. 21. Juni 2014 ). M. Preußische Schlösser in der Zeit vom Großen Kurfürs- 19 Vgl. auch Kantorowiscz, Ernst H. „The Sovereignity of ten bis zu Friedrich Wilhelm IV. Berlin: Verwaltung d. Staatl. the Artist. A Note on Legal Maxims and Renaissance Theo- Schlösser u. Gärten, 1936. ries of Art.“ De artibus opuscula XL. Essays in honor of Erwin 31 „Gegen Ende seiner langen Regierungszeit wünsch- Panofsky. Hg. Millard Meiss. New York: University Press, te sich der Kurfürst in der Rolle eines siegreichen Fürsten 1961, Bd. I: 267-279 und Clements, Robert J. Picta Poesis. zu sehen, der sich als Mäzen und Wohltäter seiner Terri- Literary and Humanistic Theory in Renaissance Emblem torien hervortat.“ Vgl. Hahn, Peter-Michael. „Dynastische Books (= Temi et testi, 6). Rom: Storia e Letteratura, 1960: Selbstdarstellung und Militärmacht. Kriegerische Symbolik 135-149. als höfische Zeichensprache in Brandenburg-Preußen im 20 „L’vno dell’attione di guerra, & l’altro dello studio, & opere 17. Jahrhundert.“ Frieden und Krieg in der Frühen Neuzeit. delle lettere“. Die europäische Staatenordnung und die außereuropäische Welt. Hg. Ronald G. Asch. München: Fink, 2001: 115-138, 21 „Così celebri sue fatiche meritò d’esser numerato fra più hier 126, Anm. 34). degni Heroi“. 32 Die Editio princeps zudem auf Französisch und Spa- 22 Vergleiche das Titelblatt zu Diego de Saavedra Fajardos nisch. Zum Theatrum pictorium vgl. Klinge, Margret. „David Idea de un Príncipe político cristiano representada en cien Teniers d. J. – Theatrum pictorium.“ Krijg en kunst. Leopold empresas [München 1640], die beiden Darstellungen Allego- Willem (1614-1662), Habsburger, landvoogd en kunstver- rie auf die Geburt Prinz Frederik Hendrik von Oranien [1650] zamelaar. Hg. Jozef Mertens u. a. Ausst.-Kat. Landcom- sowie die Erziehung des Prinzen [1649] im Oranjezaal des manderij Alden Biesen. Bilzen: Alden Biesen Kasteel, 2003: Huis ten Bosch in Den Haag oder die retrospektive Allego- 101-108. Insgesamt sind fünf Editionen bekannt: 1660, 1673, rie auf die Erziehung des Kurfürsten Johann Wilhelm von 1684, ca. 1700 und 1755 (Klinge 32). Zum Theatrum pic- der Pfalz in einem Gemälde von Giovanni Antonio Pellegrini torium vgl. auch Bähr, Astrid. Repräsentieren, bewahren, [1713-15, München, Bayerische Staatsgemäldesammlun- belehren: Galeriewerke (1660 - 1800). Von der Darstellung gen]; siehe dazu Pfeiff 110-115. Als komplementäre weise herrschaftlicher Gemäldesammlungen zum populären Bild- Ratgeberin neben Mars tritt Minerva auch in der Verherrli- band (= Studien zur Kunstgeschichte, 178). Hildesheim u. chung des jungen Kurprinzen Josef Ferdinand von Bayern, a.: Olms, 2009: 23-42 und David Teniers and the theatre of einem Kupferstich von Melchior Küsel, auf. Mit Kriegsge- painting, Ausst.-Kat. Courtauld Institute of Art Gallery, Som- räten, Waffen und Karten ‚dienen‘ die beiden Götter dem erset House, London, 19.10.2006-21.01.2007. Hg. Ernst Prinzen, der in einem mit Lorbeer umrahmten Medaillon- Vegelin van Claerbergen. London: Courtauld Institute of Art porträt unterhalb einer triumphbogenähnlichen Architektur Gallery, 2006. glorifiziert ist; vgl. Österreichische Nationalbibliothek, Inv.-Nr. PORT_00050782_01. 33 Zum Schwerpunkt der Sammlung und ihrer Repräsenta- tion sowie den Kriterien der Auswahl für die Publikation siehe 23 „Dimostrano, che per la fama, ò delle scienze, ò dell’armi, Thomas 74-75. la nobiltà si acquista“. 34 Ein ähnliches Verfahren ist für Antonis van Dycks Icono- 24 „Minervæ mit den Degen in der Faust den Feind auß graphia überliefert, die modelli sind hier jedoch als Grisaillen Seinen Landen jagende / mit der andern aber die schüch- ausgeführt, vgl. Klinge 26. ternen und Vertriebenen Musen biß in Seinen Hochfürstl. Pallast begleitende / in Marmel gebildet / künstlich geschil- 35 SERENISS. PRINCIPI / LEOPOLDO GVILLIEL: / Archi­ dert / zu sehen ist“ [Hochverdienter Helden Lorber: Siegs- duci Austr. etc. / Dno. suo clement: / HOC AMPHITHEA­ und Ehrenpalmen, welche von der Fama dem Churfürsten TRVM / PICTVRARVM / ex suæ Serent: archetypis / delinea­ Friedrich Wilhelm zu bereitet. Berlin: Rupert Völker, 1685: tum sua manu / dedicauit / Ao. MDXLVIII. 24]. Benutzt wurde das digitalisierte Exemplar der Sächsi- 36 Sie galt lange als Geliebte Tizians, als ursprünglicher schen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Besitzer des Bildes ist Alfonso d’Este [vermutlich Alfonso I., mit der Signatur Hist. Boruss. 409. 21. Juni 2014 1476-1534] belegt, der sowohl militärischen als auch mäze- . natischen Ruhm genoss; vgl. Pokorny-Waitzer, Elisabeth. 25 Die Beschreibung der Kunstsammlungen, die Sandrart „Dokumente zu einer Violante von Tizian.“ Jahrbuch des nicht selbst besucht hat, entnimmt er wie er selbst angibt Kunsthistorischen Museums Wien 12 (2010): 125-127. den Relations Historiques et curieuses de voyages en Al- 37 In der Sammlung Hamilton erscheint das Bild im Inventar lemagne, Angleterre, Hollande, Bohême, Suisse [...]. Lyon: von 1638 als Gemälde Tizians, in den Inventaren von Leo- Claude Muguet, 1676 des Kunst- und Antiquitätenhändlers pold Wilhelm 1649 [„Un Brave qui va assasiner un homme“] Charles Patin. und 1659 wird dann Giorgione zum Künstler erklärt, vgl. 26 Hoberg leitet die Herrscher-Chronos-Ikonographie auch Lauber, Rosella. „‚Il vero oracolo di Vinegia tutta‘: il Bravo vom kunsttheoretischen Thema der Verleumdung des Apel- di Tiziano e Giovanni Antonio Venier, muovendo l’animo al les ab, das dadurch auch eine politische Dimension annimmt. ‚firmamentum‘.“ Studi tizianeschi 2 (2004): 11-30, 17. Die dargestellten Lusius und Trebonius stehen als ‚exemplum 27 Sandrart 1680, Iconologia Deorum [II]. 27. April 2014 virtutis‘ für Gerechtigkeit, Ehre und Eloquenz. . 38 Zwar wurde im 17. Jahrhundert vermehrt auf durch 28 Federzeichnung auf blauem Papier, 304 x 370 mm, Quellen abgesicherte Genealogien Wert gelegt, aber die al- Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum, vgl. Lossow ten Abstammungsthesen wurden weiterhin verwendet und B 23. behielten zum Teil wohl auch ihre Glaubwürdigkeit in der 29 Zur Heroisierung unter dem Aspekt der imitatio heroi- zeitgenössischen Rezeption, vgl. Rohmer, Ernst. „Die Hir- ca, d. h. der Angleichung an Helden oder Götter, vgl. auch ten in der Grotte. Zur Funktion genealogischen Wissens in den Beitrag der Autorin: „Ars et maiestas – Formen der imi- den Schriften des Sigmund von Birken.“ der Franken Rom. tatio heroica im barocken Herrscherbildnis“, in dem auch

helden. heroes. héros. Christina Posselt-Kuhli

26 Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun- the seven­teenth century. Thomas Howard Earl of Arundel. derts. Hg. John Roger Paas. Wiesbaden: Harrassowitz, Oxford: Ashmolean Museum, Univ. of Oxford, 1985; Ders. 1995: 276-288, 279. „The Arundel collection. Collecting and patronage in Eng- land in the reigns of Philip III and Philip IV.“ The sale of the 39 Vgl. etwa das Thesenblatt mit der von Wolfgang Kilian century. Artistic relations between Spain and Great Britain, gestochenen Allegorie, die einen österreichischen Fürsten 1604-1655. Ausst.-Kat. Museo Nacional del Prado, 13.03.- als Apoll auf dem Pegasus vor dem Parnass mit Musen 02.06.2002. Hg. Jonathan Brown und John Elliott. New Ha- und einer Reihe ganzfiguriger Porträts österreichischer ven: Yale Univ. Press u. a., 2002: 69-86; Ders. „A question of Universitätsgründer zeigt (Michels, Anette. Philosophie und attribution. Art agents and the shaping of Arundel collection.“ Herrscherlob: Anfänge und Entwicklung des süddeutschen Your humble servant. Agents in early modern Europe. Hg. Thesenblattes im Werk des Augsburger Kupferstechers Hans Cools u. a. Hilversum: Verloren, 2006: 17-28. Wolfgang Kilian [1581 - 1663]. 2 Bde. Münster: Lit, 1987: 346-349); die von Johann Ludwig Schönleben verfasste Dis- 44 „Junius’ Dedication for the First Edition, De Pictura Ve- sertatio Polemica De Prima Origine Augustissimae Domus terum.“, enthalten in Junius, Franciscus. The Painting of Habspurgo-Austriacae […] 1680 zeigt die im Text dargeleg- the Ancients / De pictura veterum. According to the Eng- te genealogische Ableitung der Habsburger auch bildlich im lish translation [1638] (= California studies in the history of Kupfertitel mit Statuen der Regenten aus dem Hause Habs- art, 22). Hg. Keith Aldrich. Berkeley u. a.: Univ. of California burg von Rudolf I. bis Leopold I., dem das Werk gewidmet ist. Press, 1991: 318. 40 Pierre LeMoyne verwendet für das Frontispiz seiner Gal- 45 Peacham widmete seinen Compleat Gentleman Lord lerie des femmes fortes [Paris 1647], gestochen von Charles Arundels Sohn und bezeichnet William Howard selbst in sei- Audran, zwar eine ähnliche Komposition: die Infantin Anna nem Tagebuch 1622 als großen ‚virtuoso‘; vgl. The Diary of von Österreich steht mit Ruhmespalme und Lorbeerkranz John Evelyn, Bd. 3: Kalendarium, 1650-1672. Hg. E. S. de gekrönt auf einem Podest mit der auf den Titel des Werks Beer. Oxford: Clarendon Press, 1955: 326 [19. Juni 1662]. verweisenden Inschrift, umgeben von herrscherlichen Tu- 46 Zu diesem Bild existiert noch ein Pendant, dass seine genden wie Abundantia und Magnificentia. Das Postament Frau Alatheia Talbot vor der Flucht einer Bildergalerie zeigt wird hinterfangen von einer Nischenarchitektur mit allegori- [Öl auf Leinwand, 1616, Arundel Castle]. schen Statuen. Doch wird Anna, der das Werk gewidmet ist, nicht als Kunstheldin gefeiert, sondern als eine der in LeMoy- 47 Vgl. Gilman, Ernest B. Recollecting the Arundel Circle. nes Schrift beschriebenen starken Frauen und damit als Tu- Discovering the Past, Recovering the Future (= Literature gendheldin. Diese Konstellation macht LeMoyne in seiner and the Visual Arts. New Foundation 16). Bern u. a.: Lang, panegyrischen Epistel auf die Königin mit der Erklärung des 2002: 36; zur Sammlung siehe auch Jaffé, David. „The Earl Frontispizes deutlich. Dennoch nutzte auch die französische and Countess of Arundel: Renaissance Collectors.“ Apollo Regentin nach dem Tod Ludwigs XIII. [1643] Kunstwerke 1996: 1-37. für die Manifestation ihres politischen Anspruchs. Vgl. dazu Baumgärtl, Bettina und Neysters, Silvia Hg. Die Galerie der starken Frauen – La Galerie des Femmes Fortes. Regen- tinnen, Amazonen, Salondamen. Ausst.-Kat. Kunstmuseum Düsseldorf. München u. a.: Klinkhardt & Biermann, 1995. Literatur 41 Bereits für François I lässt sich durch den Erwerb von vielen qualitativ hochwertigen Antiken, Gemälden und Skulp- Börsch-Supan, Helmut. Die Kunst in Brandenburg-Preußen: turen in Italien ab 1528 und der Einladung Michelangelos Ihre Geschichte von der Renaissance bis zum Biedermeier, 1529 nach Frankreich von dem Versuch sprechen, „den im dargestellt am Kunstbesitz der Berliner Schlösser. Berlin: Damenfrieden ausgesprochenen Verzicht auf seine territo- Mann, 1980. rialen Ansprüche in Italien durch einen gezielten Kunstraub Buck, August. „‚Arma et litterae‘ – ‚Waffen und Bildung‘. Zur zu kompensieren“ (Tauber, Christine. „Der Künstler als Höf- Geschichte eines Topos.“ (= Sitzungsberichte der Wissen- ling: Rosso Fiorentinos Bild ‚Moses verteidigt die Töchter schaftlichen Gesellschaft an der Johann-Wolfgang-Goethe- des Jethro‘ als Allegorie einer gelungenen Patronagebezie- Universität Frankfurt am Main, Bd. 28, Nr. 3). Stuttgart: Stei- hung.“ Die Kunst der Mächtigen und die Macht der Kunst. ner, 1992. Untersuchungen zu Mäzenatentum und Kulturpatronage (= Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, 20). Hg. Galland, Georg. Der Große Kurfürst und Johann Moritz Ulrich Oevermann u. a. Berlin: Akademie Verlag, 2007: von Nassau. Studien zur Brandenburgischen und Hollän­ 127-150, 128). dischen Kunstgeschichte. Frankfurt am Main: Keller, 1893. 42 Zu Praxis und Status adeligen Sammelns vgl. auch die Hille, Karl Gustav von. Der Teutsche Palmbaum. Nürnberg, ausführliche Studie von Polleroß, Friedrich. Die Kunst der 1647 (= Die Fruchtbringende Gesellschaft. Quellen und Do- Diplomatie. Auf den Spuren des kaiserlichen Botschafters kumente in vier Bänden, Bd. II. Hg. Martin Bircher). Repro- Leopold Joseph Graf von Lamberg (1653-1703). Petersberg: graphischer Nachdruck. München: A. Francke, 1970. Imhof, 2010. Hoberg, Annegret. Zeit, Kunst und Geschichtsbewusstsein. 43 Zu Arundels Sammlung mit ihren Beständen an Ge- Studien zur Ikonographie des Chronos in der französischen mälden [1655 Inventar: 248 sakrale Stücke, 185 Porträts, Kunst des 17. Jahrhunderts. Diss. Phil. Universität Tübin- 57 mythologische Bilder, 48 Landschaften, 20 Allegorien, gen 2007, Online-Ressource. 7 Stillleben, 3 Historienbilder], Graphiken und Zeichnun- Klessmann, Rüdiger. „Anton Ulrich als Kunstsammler.“ Her- gen siehe Jaffé, David. The Earl and Countess of Arundel. zog Anton Ulrich von Braunschweig. Leben und Regieren Renaissance Collectors. Ausst.-Kat. J. Paul Getty Museum mit der Kunst, Ausst.-Kat. Herzog Anton Ulrich-Museum Malibu. London: Apollo Magazine, 1995; Cesareo, Antonello. Braunschweig. Hg. Rüdiger Klessmann. Braunschweig: „‚His House was resplendent with wonderful paintings and Herzog Anton Ulrich-Museum, 1983: 147-152. fine ancient statues.‘ Nuova luce sulla collezione Arundel da un inventario inedito.“ Da razionalismo al rinascimento: Lossow, Hubert. Michael Willmann (1630 - 1706), Meister per i quaranta anni di studi di Silvia Danesi Squarzina. Hg. der Barockmalerei. Würzburg: Bergstadtverlag, Korn, 1994. M. Giulia Aurigemma. Rom: Campisano, 2001: 378-384; Mai, Ekkehard u. a., Hg. Triumph und Tod des Helden. Euro­ Angelicoussis, Elizabeth. „The collection of classical sculp- päische Historienmalerei von Rubens bis Manet, Ausst.- tures of the Earl of Arundel, ‚Father of Vertu in England‘.“ Kat. Wallraf-Richartz-Museum Köln u. a., Mailand u. a.: Journal of the history of collections 16 (2004): 143-159 sowie Electa, 1988. die Studien von Howarth, David. Patronage and collecting in

helden. heroes. héros. Der ‚Kunstheld‘ im Spannungsfeld zwischen Krieg und Frieden

Pfeiff, Ruprecht. Minerva in der Sphäre des Herrscherbildes 27 von der Antike bis zur Französischen Revolution (= Bonner Studien zur Kunstgeschichte, 1). Münster: Lit, 1990 (zugl. Diss. Phil. Univ. Bonn 1989). Ripa, Cesare. Iconologia overo descrittione di diverse imagi- ni cavate dall’ antichità, e di propria inventione. Rom: Lepi- do Feay, 1603. Rollenhagen, Gabriel. Nucleus emblematum selectissimo- rum […]. Köln: Crispin de Passe, 1611. Sandrart, Joachim von. Teutsche Academie der Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste, 3 Bde. Nürnberg 1675-1680, zit. nach der wissenschaftlich kommentierten Online-Edition. Hg. Thomas Kirchner u. a., 2008-2012. 21. Juni 2014 . Thomas, Petra. „Der Katalog im Bild – das Bild im Katalog. Anmerkungen zur Präsentation einer Gemäldesammlung in Bildern von David Teniers d. J.“ Forschung 107 (2004): 57-84.

helden. heroes. héros. Christina Posselt-Kuhli

28 Abbildungen

Abb. 1: Joachim von Sandrart, Teutsche Academie, 2. Titelkupfer Iconologia deorum

helden. heroes. héros. Der ‚Kunstheld‘ im Spannungsfeld zwischen Krieg und Frieden

29

Abb. 2: Michael Willmann, Allegorie auf den Großen Kurfürsten als Beschützer der Künste, Öl auf Leinwand, 162 x 200 cm, 1682, Schloss Charlottenburg, Stiftung Preußische Schlösser und Gärten

helden. heroes. héros. Christina Posselt-Kuhli

30

Abb. 3: Cesare Ripa, Iconologia deorum, 1603: Auttorità o Potesta

helden. heroes. héros. Der ‚Kunstheld‘ im Spannungsfeld zwischen Krieg und Frieden

31

Abb. 4: Cesare Ripa, Iconologia deorum, 1603: Merito

helden. heroes. héros. Christina Posselt-Kuhli

32

Abb. 5: Michael Willmann, 2. Entwurf zur Allegorie auf den Großen Kurfürsten, Federzeichnung auf blauem Papier, 304 x 377 mm, Braunschweig, HAUM

helden. heroes. héros. Der ‚Kunstheld‘ im Spannungsfeld zwischen Krieg und Frieden

33

Abb. 6: David Teniers, Theatrum pictorium, Frontispiz, Kupferstich, 1658

helden. heroes. héros. Christina Posselt-Kuhli

34

Abb. 7: Karl Gustav von Hille, Der Teutsche Palmbaum, 1647

Abb. 8: Daniel Mytens, Thomas Howard, Second Earl of Arundel and Surrey, Öl auf Leinwand, 207 x 127 cm, 1618, London, National Portrait Gallery

helden. heroes. héros. Der ‚Kunstheld‘ im Spannungsfeld zwischen Krieg und Frieden

Abbildungsverzeichnis 35

Abb. 1: Joachim von Sandrart, Teutsche Academie, 2. Titel- kupfer Iconologia deorum, Nachweis: Universitätsbiblio- thek Heidelberg, CC BY-SA 3.0 DE. Abb. 2: Michael Willmann, Allegorie auf den Großen Kur- fürsten als Beschützer der Künste, Öl auf Leinwand, 162 x 200 cm, 1682, Schloss Charlottenburg, Stiftung Preu- ßische Schlösser und Gärten, Nachweis: Stiftung Preußi- sche Schlösser und Gärten, Fotograf: Jörg P. Anders. Abb. 3: Cesare Ripa, Iconologia deorum, 1603: Auttorità o Potesta, Nachweis: Universitätsbibliothek Heidelberg, CC BY-SA 3.0 DE. Abb. 4: Cesare Ripa, Iconologia deorum, 1603: Merito, Nachweis: Universitätsbibliothek Heidelberg, CC BY-SA 3.0 DE. Abb. 5: Michael Willmann, 2. Entwurf zur Allegorie auf den Großen Kurfürsten, Federzeichnung auf blauem Papier, 304 x 377 mm, 1682, Braunschweig, HAUM, Nachweis: Wagner, Franz, Hg. Michael Willmann: Studien zu seinem Werk. : Verlag des Salzburger Barockmuseums, 1994, S. 12, Abb. 4. Abb. 6: David Teniers, Theatrum pictorium, Frontispiz, Kup- ferstich, 1658, Nachweis: van Claerbergen, Ernst Vegelin, Hg. David Teniers and the Theatre of Painting, London, 2006, Fig. 24. Abb. 7: Karl Gustav von Hille, Der Teutsche Palmbaum, 1647, Nachweis: © Herzog August Bibliothek Wolfenbüt- tel, Signatur: 166.13 Eth [http://diglib.hab.de/drucke/166- 13-eth/start.htm?image=00009]; CC BY-SA 3.0 DE (Abruf: 16.12.2014). Abb. 8: Daniel Mytens, Thomas Howard, Second Earl of Arundel and Surrey, Öl auf Leinwand, 207 x 127 cm, 1618, London, National Portrait Gallery, Nachweis: © National Portrait Gallery, London.

helden. heroes. héros. 36

helden. heroes. héros. DOI 10.6094/helden.heroes.heros./2014/02/04

Isabelle Chariatte 37

Transfigurations du héros dans la culture mondaine du siècle classique : Madeleine de Scudéry, La Rochefoucauld, le chevalier de Méré

Introduction de la défaite de la Fronde et de l’établissement progressif d’une politique absolutiste qui soumet N’est-ce pas une tentative paradoxale de cher- l’ancienne aristocratie au nouveau pouvoir royal cher des traces d’héroïsme dans la culture mon- centraliste, le modèle héroïque ne peut être per- daine puisqu’au XVIIe siècle le héros est avant pétué que s’il est délogé de sa réalité historique tout associé à une éthique de la gloire construite et transposé à la sphère littéraire. Une fois que sur sa mise en scène brillante ? Celle-ci s’op- le glas a sonné pour la conception sociopolitique pose à l’ethos d’humilité recherché par la culture du héros, un véritable engouement littéraire pour mondaine qui s’appuie sur le naturel de l’hon- les mises en scène de personnages héroïques nête homme et sur le refus même de mettre en se manifeste dans les milieux mondains. Dans évidence le moi.1 D’une part, le théâtre corné- ces lieux de première réception littéraire, Cor­ 5 lien chante le héros assumant, dans sa généro- neille lit ses pièces avant de les représenter. sité, les impulsions de l’âme et sacrifiant, dans Le cercle de Mme de Rambouillet est une scène 6 son élan vers la gloire, affectivité et sensibilité.2 importante pour la querelle du Cid. Les romans D’autre part, dans la culture mondaine, l’honnête scudériens qui chantent aussi bien l’héroïsme homme refuse l’extraordinaire, s’adonne à un que la sociabilité sont très en vogue parmi les 7 travail subtil pour parfaire son apparence et re- mondains, qui aiment à se reconnaître dans les cherche une symbiose avec son entourage. Ce rôles extraordinaires que retracent d’eux les por- modèle atteint la perfection par un art de vivre : traits à clé. Dans sa correspondance avec Mme il maîtrise les codes subtils de la civilité, en par- de Sévigné, Bussy-Rabutin appelle sa maî­tresse ticulier la conversation comme expression d’une « Chimène » [il s’agit de Mme de Montglas] et sensibilité envers l’autre dans l’espace social.3 l’associe ainsi à l’héroïne du Cid tout en s’attri- La réalité sociohistorique du XVIIe siècle dés­ buant indirectement le rôle de Rodrigue (Sévigné amorce néanmoins ce paradoxe, car les grands I, 24, 29, 211). Cette correspondance foisonne salons – berceaux de la sociabilité – accueillent par ailleurs de citations, tirées des tragédies leurs invités, issus de l’ancienne noblesse at- de Corneille, qui apportent un commentaire sur tachée à un modèle de civilité construit sur les telle ou telle situation, souvent sans aucune re- valeurs héroïques comme l’honneur, la gloire, le lation avec le fait divers rapporté (p. ex. Sévigné mérite et le courage. Pensons au Grand Condé, I, 142, 165). L’identification à des personnages à La Rochefoucauld ou à la Grande Demoiselle courageux et hors-norme dans les romans ain- et à Mme de Longueville qui, en participant si que l’imbrication de vers tirés de tragédies tous activement aux combats de la Fronde, in- dans les discours mondains retracent le portrait carnent d’une certaine façon l’adhésion à l’idéal d’une noblesse qui se projette dans un univers héro­ïque. Cependant, ils cultivent aussi assidu- romanesque peuplé de héros, de chevaliers ou ment la sociabilité dans les salons. L’ancienne de nymphes (Génétiot, Vincent Voiture 257). Le nob­lesse adhère au nouveau modèle de civilité côtoiement de l’héroïsme et de la mondanité, fondé sur l’urbanité, développée par Guez de deux modèles de civilité apparemment si oppo- Balzac, et sur l’honnêteté, considérée comme sés dans leurs valeurs et dans leur rhétorique, la continuation des modèles étrangers, à l’instar appelle ainsi à s’interroger sur les liens entre le de celui de la cour de Ferrare, du Courtisan de héros traditionnel et la culture mondaine. Les Baldassare Castiglione ou de L’oráculo manual valeurs héroïques usuelles entretiennent-elles de Baldasar Gracián.4 Le héros guerrier se ci- avec les valeurs civiles des rapports de pré- vilise en honnête homme lorsqu’il paraît dans sence, de rupture ou de continuation ? L’idéal les espaces mondains. Mais en raison à la fois héroïque laisse-t-il des traces dans l’idéal mon- helden. heroes. héros. Isabelle Chariatte

38 dain ? Le héros sera-t-il sacrifié en faveur de capable de véhiculer toutes les valeurs cultivées l’honnête homme ? Par le biais de trois textes, dans les salons. Marquée par la présence civi- Clélie de Madeleine de Scudéry, les Maximes lisatrice des femmes,11 la rhétorique mondaine de La Rochefoucauld et Des Agréments du che- refuse le pathos du héros traditionnel et tend au valier de Méré, il sera possible d’interroger les but unique et suprême – celui d’être agréable. Il enjeux des valeurs héroïques dans la fabrication faut savoir plaire, bien sûr à la dame qui reçoit, d’un idéal mondain. mais aussi à tout le cercle. L’art de la conver- sation s’inscrit alors dans la tradition rhétorique de l’aptum et du decorum, notions cicéroniennes déjà retravaillées dans les traités de civilité ita- Héroïsme et sociabilité : deux liens et espagnols et qui s’ancrent par la suite modèles de civilité incompatibles ? dans la conception de l’honnête homme en France. L’idéal héroïque de la première moitié du XVIIe A partir de cet aperçu, on serait enclin à dé- siècle est construit sur une longue tradition dont duire que ces deux modèles de civilité s’excluent les étapes les plus significatives sont constituées sur tous les plans. L’héroïsme place au centre de par le modèle aristotélicien du Magnanime, éla- son éthique de la gloire des valeurs « mâles »,12 boré dans l’Éthique à Nicomaque,8 ensuite par inscrites dans la tradition chevaleresque, féo­ la définition de la ‘grandeur’ développée par les dale et guerrière, tandis que la culture mondaine moralistes romains et enfin par le modèle chré- se fonde sur la sociabilité, traditionnellement tien médiéval du chevalier. Sous Louis XIII, et liée au « féminin ». L’éclat du héros se heurte particulièrement dans le théâtre de Corneille, à l’idée de l’harmonie sociale recherchée par l’idéal héroïque s’exprime par l’éthique de la l’honnête homme « qui ne se pique de rien » gloire, qui s’oppose à la sévérité néostoïcienne.9 (La Rochefoucauld max. 203). Les moyens rhé- Le héros manifeste une énergie individuelle toriques opposent la déclamation héroïque à la qui exalte le moi. La confiance dans les forces finesse mondaine. Le héros et l’honnête homme et dans les passions humaines le conduit à se semblent donc profondément incompatibles de battre pour servir l’honneur et la gloire jusqu’au par leur nature, leur mise en scène du moi et leur sacrifice de soi en faveur de la collectivité. Par rhétorique. Or, de la même façon que ces deux ailleurs, le héros se réclame des moyens rhé- conceptions de l’être humain coexistent dans toriques de l’orateur, de sa mise en scène par la réalité sociohistorique, qu’elles se côtoient, la parole et de la déclamation. Cette rhétorique se fréquentent et sont incarnées dans certains s’inscrit dans la tradition jésuite de la chaire ainsi personnages historiques, elles sont travaillées, que dans celle de l’éloquence du barreau. repensées et interrogées par la littérature de la Dans cette même première moitié du XVIIe seconde moitié du XVIIe siècle. siècle, qui chante l’héroïsme et les valeurs qui l’accompagnent d’honneur, de gloire et de gran- deur, s’instaure en France un nouveau modèle de civilité. Celui-ci prend naissance et se déploie Les romans de Madeleine de dans les salons, appelés à l’époque « ruelles » Scudéry : alliance de l’héroïsme et organisés autour de dames, dont nous sont et de la sociabilité restés en particulier les noms de Mme de Ram- bouillet, de Mlle de Montpensier, de Mme de La Les romans scudériens [Madeleine de Scudé- Sablière, de Mme de Sablé ou de Mme de La- ry 1607-1701] forment une étape déterminante fayette. En accueillant les Grands de l’époque, le expliquant les imbrications de la culture héro­ premier salon, celui de la marquise de Rambouil- ïque et mondaine. Si les plus longs romans de let et de sa fille, absorbe le modèle de civilisation la littérature française Artamène ou Le Grand héroïque, mais le civilise grâce au contact avec Cyrus et Clélie13 chantent des personnages une nouvelle esthétique élaborée par les gens dont les prouesses prouvent le courage illimité de lettres, tels Guez de Balzac, Vincent Voiture, et inimitable dans des combats extraordinaires Gilles Ménage, Georges et Madeleine de Scu- admirés par tous, ces textes absorbent aussi le déry ou Mme de Sévigné, qui participent tous modèle de civilité des salons, ce qui se reflète 10 au développement de l’esthétique classique. dans les longs passages de conversations pro- Le nouveau canon à la mode est désormais im- posant des analyses subtiles des passions et prégné d’un art de vivre marqué de réciprocité, des actions humaines. Ils composent donc une d’égalité, de respect, mais aussi de naturel, de symbiose parfaite des deux modèles – héroïque sensibilité, de douceur, de gaieté et d’enjoue- et mondain. D’une part, ils traduisent de façon ment. Ces cercles privés cherchent à créer un idéalisée la réalité sociopolitique de l’époque, bonheur social reposant sur la conversation des années 1640-1660 environ, marquée par

helden. heroes. héros. Transfigurations du héros l’élan de l’ancienne noblesse encore attachée Mais Madame, je suis contraint d’avouer 39 aux valeurs de l’honneur, de la gloire et de la que je n’ai jamais rien vu de plus beau que générosité et qu’elle défend une dernière fois Clélie ; car imaginez-vous qu’elle n’a pas lors de la Fronde. D’autre part, ces romans an- seulement tout ce qui fait la grande beau- noncent la nouvelle réalité socioculturelle des té, c’est-à-dire les cheveux blonds, les salons fondée sur le raffinement et la subtilité. yeux brillants, le tour du visage agréable, la bouche bien faite, les dents belles, le Cependant, dans ces romans, ces deux univers teint admirable, les mains merveilleuses, ne font pas que se juxtaposer, car les héros en et la physionomie spirituelle, mais qu’elle incarnent une réelle symbiose, en entrelaçant la a encore tous les charmes de la beauté. grandeur héroïque aux valeurs sensibles. Alors Car elle a l’air galant et modeste ; elle a la que le héros cornélien doit sacrifier sensibilité et mine haute et douce ; et il ne lui manque affectivité à la gloire, le héros scudérien touche rien de tout ce qui peut imprimer du res- à son accomplissement à condition qu’il les assi- pect et donner de l’amour à tous ceux qui mile ; l’héroïsme mâle est conjugué à la douceur la voient. Mais ce qui la rend encore plus féminine. Ceci est valable pour les personnages aimable, c’est qu’elle a autant d’esprit et masculins et féminins qui témoignent de leur que de beauté. Sa vertu, quoiqu’extrême, n’a pourtant rien d’altier ni de rude ; au nature extraordinaire à la fois par leurs actions contraire il y a quelque chose de si aisé, héroïques et par leur maîtrise de la conversa- et de si galant dans sa conversation, tion. Le portrait d’Aronce, brossé dans Clélie, qu’on est charmé d’être auprès d’elle ; propose la définition d’un « homme accompli » car encore que Clélie ait l’âme ferme, et (Scudéry vol. 1, 71) : hardie, et qu’elle l’ait beaucoup au-dessus de son sexe, elle a pourtant une douceur [...] Premièrement Aronce a infiniment de si engageante, qu’on ne peut lui résister ; l’esprit ; il l’a grand, ferme, agréable, et et cette grandeur d’âme qui lui fait mépri- naturel tout ensemble [...]. Pour du cœur, ser les plus grands périls, quand elle s’en Aronce en a autant qu’on peut en avoir voit menacée, n’empêche pas qu’elle n’ait […] celui qui pardonne aux faibles et qui même une certaine modestie craintive sur tient autant de la générosité que de ce le visage, qui sert encore à la rendre plus qu’on appelle précisément courage et va- aimable. Cependant quoiqu’elle n’ait rien leur. De plus, Aronce a l’âme tendre, et le de fier ni de superbe dans la mine, elle cœur sensible ; il aime ses amis comme a pourtant l’air noble, la grâce assurée, lui-même ; il les sert avec ardeur [...]. Il a et l’action fort belle et fort libre. (Scudéry, de la douceur, de la bonté, et un charme Clélie I, 107-108) inexplicable dans sa conversa­tion, qui le rend maître du coeur de tous ceux qui Comme c’était le cas pour Aronce, le but du l’approchent ; et pour le définir en peu de portrait de Clélie est de souligner sa perfection. mots, Aronce pourrait être admirablement Conforme au code traditionnel, celle-ci se dé- honnête homme, de quelque condition sign­e par la beauté qui s’adapte cependant aux qu’il fût né, car il a toutes les vertus qu’on pourrait désirer en tous les hommes. normes précieuses ; en d’autres termes, Made- (Scudéry vol. 1, 71-72) leine de Scudéry brosse un portrait qui n’en est pas un, puisque tous les adjectifs res­ ­tent impré- cis projetant une image de la beauté féminine, La perfection du protagoniste de Clélie provient qui reste insaisissable mais idéale. Ensuite, l’au- précisément du rapprochement des valeurs hé- teure procède à une définition de l’excellence de roïques et sensibles et ceci dans toutes les di- Clélie dans les dimensions de l’esprit, du cœur mensions de l’être humain. Son esprit évoque et de l’âme tout en associant systématiquement d’une part les qualités héroïques [« grand, les valeurs héroïques aux valeurs mondaines. ferme »], d’autre part, il rappelle les valeurs clés Attardons-nous un moment sur les adjectifs ca- de l’espace mondain [« agréable et naturel »]. ractérisant la protagoniste. « Elle a l’air galant et 14 Son cœur est habité par le courage, mais il est modeste » ; « la mine haute et douce » ; « [elle aussi sensible et enclin à l’amour, à la compas- imprime] du respect et [donne] de l’amour » ; sion et à l’amitié. Enfin, le héros scudérien maî- elle a « l’âme ferme et hardie » tout en ayant trise parfaitement l’art de la conversation qui le « une douceur si engageante, qu’on ne peut lui porte à la perfection et à un statut d’« homme résister ». Sa « grandeur d’âme » lui permet d’af- accompli ». fronter les plus grands périls tout en ayant « une Pour assurer un effet de miroir, Madeleine certaine modestie craintive sur le visage ». de Scudéry ne manque pas de retracer aussi le Madeleine de Scudéry associe ici les op- portait de Clélie comme femme accomplie, en posés pour assurer la perfection de Clélie. travaillant néanmoins par un biais différent l’al- Alors que dans le portrait d’Aronce, les valeurs liance des valeurs héroïques et sensibles : des deux univers – héroïque et sensible – se

helden. heroes. héros. Isabelle Chariatte

40 complètent par juxtaposition, l’association des courtisans, le projet de civilité lancé par le biais deux systèmes de valeurs, dans l’exemple fémi- des romans de Madeleine de Scudéry passe ce- nin, permet de définir le juste milieu et d’écarter pendant rapidement de mode. toute éventuelle connotation négative. L’héroïne scudérienne est galante et modeste, car si elle n’était que galante, elle pourrait être coquette, alors que l’association à la modestie garantit à la Les Maximes de La Rochefoucauld : galanterie sa pureté. Si elle était uniquement mo- critique de l’héroïsme dans l’espace deste, on pourrait la considérer comme une per- mondain sonne retirée, timide et faible, tandis que le rap- prochement à la galanterie, donc à son antipode, Malgré l’appartenance de La Rochefoucauld à la rend parfaite. Les autres couples d’épithètes l’ancienne noblesse [il est duc et pair de France] opposés fonctionnent tous de la même manière : et son passé de frondeur, représenté dans ses être à la fois haute et douce, inspirer du respect Mémoires par une mise en scène excessive de et de l’amour, avoir de la grandeur d’âme et de l’héroïsme, les Maximes s’inscrivent dans une la modestie craintive. Cet assemblage de quali- entreprise moraliste. L’auteur ne chante ni l’hé- tés opposées excluant toute déviation définit la roïsme ni la sociabilité, mais pose un regard dé- perfection de Clélie. Madeleine de Scudéry re- sabusé sur la société contemporaine qu’il consi- court aussi aux conceptions traditionnellement dère mue par l’amour-propre, la fortune et les mâles et féminines, puisque le courage est as- humeurs. Dans ses 504 maximes, publiées entre socié d’abord aux hommes, comme l’indique 1665 et 1678, La Rochefoucauld se montre très « l’âme ferme est hardie [qui] est [...] beaucoup critique à propos de tout système de valeurs, au-dessus de son sexe ». L’auteur adopte ainsi et particulièrement à propos de celui lié à l’an- deux types de procédés différents pour exposer cien idéal héroïque.15 C’est pourquoi Bénichou l’achèvement de ses personnages masculins ou associe de façon très judicieuse la morale des féminins. Si, dans l’univers scudérien, le héros Maximes de La Rochefoucauld à la « démolition réunit en lui les qualités à la fois héroïques et du héros », démolition qu’il explique principale- sensibles pour en démontrer leur complémen- ment par la progression de l’augustinisme dans tarité, l’héroïne fait preuve d’une symbiose des la seconde moitié du XVIIe siècle. Effectivement, opposés annonçant sa perfection qui repose sur dans les Maximes, bien souvent, la gloire est la pureté des valeurs dont tout excès corrosif est réduite à une expression de l’amour-propre qui écarté. abaisse autrui pour mieux enfler le moi. Le cou- Au lieu d’opposer l’héroïque au mondain, rage n’est en réalité que vanité, honte ou désir Madeleine de Scudéry les conjugue. Les valeurs de rendre la vie commode et agréable.16 La gé- attribuées traditionnellement à l’univers mâle nérosité comme principe même du héros a per- et féminin se complètent désormais de sorte à du sa signification et est réduite à une ambition conférer aux personnages une dimension par- déguisée. « Ce qui paraît générosité n’est sou- faite (Chariatte 132-140). Le roman scudérien vent qu’une ambition déguisée qui méprise de joue ainsi un rôle capital dans le rapprochement petits intérêts, pour aller à de plus grands. » (La de la culture héroïque et mondaine, puisque, Rochefoucauld max. 246) Alors que certaines grâce à sa dimension fictive, il n’en montre pas maximes confirment effectivement une vision une image paradoxale, mais idéale, projetant un dépréciative de l’idéal héroïque, d’autres en re- nouveau modèle de civilité : héroïsme et sensi- connaissent la validité. bilité ne sont plus des forces antagonistes, mais se complètent pour représenter des exemples­ L’intrépidité est une force extraordinaire de d’êtres humains parfaits et accomplis qui, tou- l’âme qui l’élève au-dessus des troubles, jours dans la tradition du héros, gagnent l’admi- des désordres et des émotions que la ration de tous. vue des grands périls pourraient exciter Madeleine de Scudéry tente ainsi de faire en elle ; et c’est par cette force que les une synthèse entre un ancien modèle de civili- héros se maintiennent en un état paisible, et conservent l’usage libre de leur raison té fondé sur les valeurs féodales et un nouveau dans les accidents les plus surprenants et construit sur les valeurs mondaines, tels le na- les plus terribles. (La Rochefoucauld max. turel, la bienséance, la sensibilité, la conversa- 217) tion, l’honnêteté. Dans la période de transition avant l’affirmation du règne absolutiste de Louis Il serait donc erroné de conclure que La Roche- XIV, ce modèle romanesque connaît beaucoup foucauld réduit tout principe héroïque à l’amour- de succès. Avec la mise en place du règne du propre. L’œuvre discontinue des Maximes roi Soleil qui asservit de plus en plus l’ancienne ré­clame une lecture nuancée qui exclut la démo- noblesse et instaure une véritable culture de lition radicale du héros. D’ailleurs, parmi toutes

helden. heroes. héros. Transfigurations du héros les maximes consacrées aux valeurs héroïques, Rochefoucauld, sont absorbées par l’intériorité 41 La Rochefoucauld oscille souvent entr­e une dé- et donc transfigurées afin de conférer une gran- finition positive et négative. L’ambition peut être deur morale et une connaissance subtile de la dégradée à un « effet[s] de l’humeur et des pas- sociabilité. L’homme accompli n’est pas décoré sions, et de jalousie » (La Rochefoucauld max. du « masque » de l’honnêteté, comme le sug- 7) ou valorisée en tant qu’« activité et ardeur de gère Starobinski, mais il intègre et transcende l’âme » (La Rochefoucauld max. 293). les qualités liées au courage pour se parfaire et La peinture dialectique des valeurs héroïques devenir tout à la fois acteur et spectateur de ses permet au moraliste d’en faire un déplace- qualités sur la scène mondaine. Le combat hé- ment passionnant, qu’il est possible d’illustrer à roïque s’est entièrement déplacé du champ de l’exemple de la gloire. Profondément dépréciée bataille vers l’intériorité où il est glorieux d’éra- dans les Maximes, la gloire semble n’exprimer diquer les obstacles empêchant l’honnêteté de plus qu’un besoin égoïste. Le plus souvent, elle s’exprimer pleinement. est dénoncée comme finalité intéressée d’une L’absorption des valeurs héroïques dans l’in- action, surtout dans le milieu social : tériorité procède à une époque qui se détache du modèle héroïque. Ces années correspondent Rien n’est moins sincère que la manière à la fin de la morale néostoïcienne et de l’idéal de demander et de donner des conseils. aristotélicien du Magnanime, à l’échec de la Celui qui en demande paraît avoir une dé- Fronde – à laquelle La Rochefoucauld a parti- férence respectueuse pour les sentiments cipé, à la progression de l’augustinisme dans le de son ami, bien qu’il ne pense qu’à lui faire approuver les siens, et à le rendre ga- monde et surtout à l’affirmation de l’absolutisme rant de sa conduite. Et celui qui conseille sous le règne de Louis XIV. Si tous ces facteurs paie la confiance qu’on lui témoigne d’un socioculturels récusent l’héroïsme comme mo- zèle ardent et désintéressé, quoiqu’il ne dèle de civilité, celui-ci se déplace entièrement cherche le plus souvent dans les conseils vers l’intériorité où il est redéfini afin de perpétuer qu’il donne que son propre intérêt ou sa une grandeur morale à l’être humain – précisé- gloire. (La Rochefoucauld max.116) ment dans la configuration de l’honnête homme.

La gloire, comme toute autre expression héro­ ïque, est contraire à la sociabilité qui recherche l’échange réciproque de la parole et une har- Des Agréments du chevalier de monie sociale construite sur un pied égalitaire. Méré : refus ou transfiguration du Incompatible avec la sociabilité, la gloire ainsi modèle héroïque ? que toutes les valeurs héroïques sont dénon- cées dans l’espace de l’échange civil. Toutefois, Le chevalier de Méré construit son modèle de le moraliste procède à une réorientation extraor- civilité sur l’honnêteté à partir de l’espace de dinaire : « Il est aussi honnête d’être glorieux sociabilité marqué par la présence des dames. avec soi-même qu’il est ridicule de l’être avec les En ouverture Des Agréments [1676], Méré dédie autres. » (La Rochefoucauld max. 307) son texte à Madame de ***18, chante sa beauté Pour La Rochefoucauld, les valeurs héro­ et l’associe aux muses qui inspirent les poètes ïques ne peuvent subsister dans l’espace social et qui savent parfaire les deux dimensions es- que si elles sont intériorisées. Seulement sous sentielles de l’être humain – le cœur et l’esprit. cette forme-là, la gloire ne se confond pas à (Méré, Des Agréments 9) Cette entrée dans le l’élan individuel cherchant à éblouir les autres texte le place d’emblée sous l’empire féminin, et réclamant l’admiration de tous. Elle se trans- d’une part en récupérant la tradition courtoise de forme alors en un sentiment de grandeur inté- la dame qui inspire le chevalier ou le troubadour, rieure qui confère une valeur morale à l’honnête d’autre part, en évoquant la conception mytholo- homme. Dans ce sens, le processus d’intério- gique des grâces qui donnent le souffle créateur risation correspond aussi à une « purification » aux poètes. Le théoricien Des Agréments place des pas­sions. Alors que les romans scudériens ainsi son propos sous l’égide de l’esthétique, de chantent des protagonistes à la fois héroïques l’inspiration et de la dame, donc de l’univers fé- et sensibles admirés par tous, l’honnête homme minin – trois dimensions qui toutes sont fonda- de La Rochefoucauld intériorise les valeurs hé- 17 mentales pour la formation de l’honnête homme. roïques – tout comme d’ailleurs les valeurs Dans Des Agréments, Méré érige en maxime sensibles (Chariatte 152-166). La perfection de capitale du savoir-vivre mondain la qualité de l’être humain semble encore être construite sur plaire dans le monde, d’inspiration néoplatoni­ la coprésence de ces valeurs antinomiques qui, cienne et déjà travaillée dans L’Astrée.19 Les comme déjà pour le roman scudérien, ne s’ex- agréments sont l’expression d’une quête d’un cluent pas, mais qui, dans la perspective de La idéal dans l’espace social et civil – aussi bien

helden. heroes. héros. Isabelle Chariatte

42 pour l’homme que pour la femme. Pour Méré, leur du moi est fortement honnie dans l’espace l’être humain touche à son accomplissement civil où il faut, à partir de l’aptum, s’effacer, ne se et atteint sa perfection en société grâce à un piquer de rien ni affirmer sa grandeur. La grande travail sur lui-même qui consiste à polir, entre éloquence fait place au style de la mediocritas, autres, les qualités du cœur et de l’esprit pour se propre à l’espace de politesse. Alors que, sur la rendre agré­able aux autres. Les agréments s’ap- scène cornélienne, le héros chante sa gloire et prennent en fréquentant le monde, mais leurs en fait preuve par ses actions brillantes, sur la moyens d’expression sont si subtils que seul le scène mondaine, l’honnête homme exprime sa discernement, appelé « bon goût », permet de les perfection par le biais de la gentillesse, de la percevoir et d’en être touché. Quelles sont alors délicatesse et de la création d’un espace libre les aménités qui décorent l’honnête homme ? de réciprocité dans lequel l’excellence n’est ja- Les façons de faire pour plaire ne suive­nt pas de mais éclatante. Elle peut au contraire être per- règ ­les fixes, mais sont l’expression d’un discer- çue à l’aide du bon goût qui donne le discerne- nement subtil suggérant comment se comporter ment pour les qualités élevées, mais discrètes dans quelle situation. On plaît lorsque le corps et de l’honnête homme – « un brillant sans éclat » l’esprit agissent de concert et expriment le natu- d’après Vanhouck. Tout ce qui éblouit et réclame rel, la joie et la confiance. Cette conception des de l’admiration est considéré par Méré comme agréments rappelle le decorum de Cicéron (De faux et illusoire. C’est uniquement l’expression Officiis I, 35). L’honnête homme refuse tout ce discrète de son excellence qui rend l’honnête qui est artificiel, superficiel ou hypocrite et agit homme plus aimable et qui lui confère du mérite. conformément à sa nature, soumise à un tra- Celui-ci n’est plus construit sur les codes mili- vail imperceptible. Il en résulte le naturel, le bon taires des actions valeureuses et honorables, air et l’humeur enjouée qui ne font qu’insinuer mais transposé à la sociabilité. La notion de gran- la perfection de l’honnête homme. La quête du deur – telle qu’affichée par le héros cornélien – juste milieu réclame une certaine modération, est, elle aussi, entièrement civilisée, c’est-à-dire mais n’exclut pas la surprise ni l’excellence. Au qu’elle définit celui qui maîtrise parfaitement les contraire, les talents accompagnés d’une adroit­e codes de politesse et qui sait plaire. C’est ainsi connaissance rendent l’honnête homme plai- que Méré récupère les notions de grandeur, de sant. Son mérite, sa grandeur et son excellence mérite et de perfection qui qualifient traditionnel- ne le décorent pas de façon éclatante, car ce qui lement le héros et qu’il les transpose à l’univers éblouit est considéré comme superficiel et faux : de la sociabilité. « Ce qui plaît consiste en des choses presque Toutefois, l’attitude critique de Méré face au imperceptibles. » (Méré, Des Agréments 14) Et héros se limite à sa mise en scène et à sa rhé- ce n’est qu’« à la seconde vue » que la quali- torique. Dans la Conversation 6, le théoricien té de l’honnête homme transparaît et peut être de l’honnêteté souligne l’importance de la gloire pleinement appréciée. Quelle place peut alors dans la construction des héros et des rois. « La encore prendre le héros qui construit son rayon- gloire est le plus beau de leur bien et leur prin- nement sur la gloire, la grandeur et la générosité cipal intérêt. Tous les héros et tous les grands du moi ? Le modèle héroïque peut-il coexister à hommes s’y sont dévoués. » (Méré, Conversa- celui de l’honnête homme, doit-il être intériorisé tions 80) Pour aller à la gloire et récolter l’hon- ou transfiguré ? Doit-il être sacrifié au profit de neur, ils expriment avec discernement leur gran- l’harmonie sociale ? deur d’âme et leur mépris de la mort. César est A première vue, Méré semble récuser très cité en exemple : « César avait toujours la gloire nettement la conception traditionnelle du héros : devant les yeux qui lui faisait prendre le parti le plus héroïque. » (Méré, Conversations 91-92) Le caractère héroïque n’est pas fait pour Alors que ces réflexions pourraient faire croire plaire, au moins comme on le représente que Méré accepte, dans le contexte politique ou ordinairement. ‹ Ma vertu pour le moin­s ne militaire, pleinement le modèle héroïque tradi- m’abandonne [trahira] pas. › [Cinna, I, 4]. tionnel dont le principe même est la gloire, cette Il faut bien que cela se devine, et que le procédé le donne à connaître. Mais ce conversation avance une série d’arguments as- n’est pas le moyen de faire aimer sa vertu, sociant les qualités héroïques aux plaisirs de la ni même de persuader qu’on a du mérite, vie en société, « comme de nous entretenir libre- que d’en parler si ouvertement. (Méré, ment avec les personnes que nous aimons, et de Des Agréments 15) pouvoir disputer de certains avantages où la for- tune et la grandeur n’ont point de part. [...] Il faut Méré rejette la démarche cornélienne qui fait dé- avoir de la complaisance en galant homme pour clamer au héros, par le biais de la grande rhéto- rendre la vie agréable. » (Méré, Conversations rique, sa nature glorieuse ; ceci va entièrement à 84) Méré entremêle ainsi les qualités civiles de la l’encontre de l’honnête homme. La mise en va- galanterie aux qualités héroïques et les conjugue

helden. heroes. héros. Transfigurations du héros adroi­tement, car seules les qualités de l’esprit et refusant catégoriquement l’admiration. « Un 43 de l’enjouement confèrent la véritable grandeur honnête homme doit vivre à peu près comme un et le véritable bonheur aux princes et aux héros. grand prince qui se rencontre en un pays étran- « Je trouve bien plus beau ce je ne sais quoi ger sans sujets et sans suite, et que la fortune de civil et de majestueux tout ensemble qui fait réduit à se conduire comme un honnête particu- sentir avec plaisir que de certains princes sont lier. » (Méré, Des Agréments 21) les maîtres : plus ils s’approchent, plus on se re- Enfin, pour illustrer sa définition de la gran- cule et surtout les honnêtes gens qui n’abusent deur, Méré fait une comparaison entre deux jamais de rien. » (Méré, Conversations 85) Méré palais royaux : « Le Louvre est plus grand que fait remonter ce modèle de sociabilité à L’Astrée, Versailles, mais Versailles est plus beau, plus et cite la maxime « ‘Aime si tu veux être aimé’ » noble, et plus agréable que le Louvre, et même (Méré, Conversations 86) qui, bien qu’elle soit il sent plus cette véritable grandeur qui plaît aux adaptée ici au texte de d’Urfé, est tirée de Sé- personnes de bon goût. » (Méré, Des Agré- nèque, Lettres à Lucilius, 9, 6.20 C’est en récu- ments 22) La vraie grandeur n’est donc ni celle pérant le modèle de l’amour néo-platonicien de qui paraît à première vue ni celle qui correspond d’Urfé que Méré peut justifier le passage du mé- à des critères politiques, mais elle est celle qui rite construit sur les actions héroïques au mérite confère au bâtiment une valeur esthétique, et fondé sur l’amour défini ici comme lien social : donc supérieure, comme en témoignent les ad- « L’on élève ou l’on abaisse le mérite selon qu’on jectifs comparatifs « plus beau, plus noble et aime ou qu’on hait les gens. » (Méré, Conver- plus agréable ». La véritable grandeur ne peut sations 86) Dans sa description de César, Méré être saisie que si l’on est doté du « bon goût », va jusqu’à le décorer de qualités civiles qui, à c’est-à-dire d’une perception esthétique qui se elles seules, expliqueraient le succès de ses situe au-delà des catégories de l’entendement et campagnes. Il s’avère ainsi que même dans le qui procure une vision plus subtile de la réalité.22 cas de personnages militaires comme César, ce Dans la suite de cette réflexion, ni la grandeur du ne sont en fin de compte que les qualités civiles Louvre ni celle de Versailles ne sont associées à qui contribuent à la perfection et à l’excellence leur valeur politique, car cette dimension s’avère du héros, même dans ses actions militaires et être entièrement contraire à la sociabilité : « Le valeureuses.21 commandement des inférieurs sent plus l’escla- Quoique le héros cornélien soit banni de vage arrogant que le maître absolu, car il n’a rien l’univers de sociabilité, en raison de l’éclat de de civil ni de noble. » (Méré, Des Agréments 22) sa mise en scène et de sa rhétorique contraire En introduisant le terme « esclavage arrogant », à celle de l’honnête homme, Méré reconnaît Méré procède à un renversement extraordinaire néanmoins que, dans l’espace de la guerre et de la notion héroïque de la grandeur, qui désor- de la politique, la gloire et le mérite doivent im- mais n’est plus liée à la noblesse ni à l’exercice pérativement être complétés par des qualités so- du pouvoir politique, mais au contraire elle est ciables afin d’éviter toute forme de barbarie. Cet entièrement et uniquement rattachée à la civilité. exemple démontre clairement que Méré érige Le héros traditionnel associé historiquement à les qualités sociables en principe suprême de sa l’aristocratie et à la gouvernance s’exprime, chez conception de l’être humain, même de celle du Méré, par le biais de l’espace d’intériorité et de héros, sans lesquelles l’homme ne peut accéder civilité. Les notions de grandeur, de noblesse et à sa perfection ni dans l’univers héroïque ni dans de mérite sont alors redéfinies comme capacité l’univers mondain. à plaire dans le monde. L’éclat du héros qui se C’est ainsi que Méré redéfinit dans l’espace perçoit à première vue est considéré, dans l’es- mondain les notions attribuées traditionnelle- pace mondain, comme obstacle au vrai « bon ment au héros. Pour l’honnête homme, la vraie air », qui est plus caché et qui n’est perceptible grandeur ne procède pas de « la fortune », mais qu’à un deuxième regard – soulignons-le, uni- elle « vient du cœur et de l’esprit » et s’exprime quement pour ceux qui ont le goût fait. dans « l’air noble » (Méré, Des Agréments 20- Si le héros se met au service de la collectivité 21). Considérée comme la qualité héroïque par politique pour combattre au nom de l’honneur et excellence depuis Aristote, la grandeur est, d’une de la gloire, l’honnête homme sert la collectivi- part, intériorisée dans l’humilité du cœur, d’autre té civile en plaisant, assurant ainsi la cohésion part, elle est civilisée et s’exprime par l’esprit en- sociale. Il ne s’agit pas d’un sentiment égoïste, joué qui doit plaire. L’esprit fin, la modestie et la issu de l’amour-propre, comme diraient les jan- gentillesse apparaissent sans éclat dans la mine sénistes de l’époque, mais d’un élan vers l’autre et dans l’union heureuse des actions du corps et dans le but de garantir le bonheur social. Le re- de l’esprit. En vertu de vouloir plaire, l’honnête gard admiratif des autres qui confirme au héros homme est décoré d’une « humeur enjouée » son statut extraordinaire n’est plus recherché. exprimant une « grande confiance », ornement Le combat héroïque s’est non seulement inté-

helden. heroes. héros. Isabelle Chariatte

44 riorisé [comme chez La Rochefoucauld], mais il agréments présents chez les honnêtes gens qui s’est aussi esthétisé, puisqu’il s’agit pour Méré de par leur état de perfection suscitent chez les de polir toutes les aspérités de sorte que l’indi- autres le désir de se parfaire et d’imiter les qua- vidu se fonde parmi les honnêtes gens et qu’il lités des honnêtes gens. Tous ces attributs que contribue à la progression de la collectivité vers Méré reconnaît à l’honnête homme sont effec- un idéal de perfection. L’honnête homme combat tivement les signes de l’accomplissement d’un les obstacles qui se trouvent en lui. Il se parfait à être humain. Son excellence sert-elle de point de la fois par son contact avec le monde et par son référence et d’exemple à suivre pour les autres ? regard autoréflexif et autocritique. « Que si le Ou cette perfection se communique-t-elle aux premier [des moyens] réussit mal, on a recours autres par la grâce et l’air de l’honnête homme ? à un autre, et par la suite de réflexions et à force S’agit-il d’un modèle ou s’agit-il d’une source de se corriger on se rend honnête homme, et par d’inspiration qui entraîne les autres vers la per- conséquent agréable. » (Méré, Des Agréments fection ? Méré semble adopter les deux points 22-23) L’honnêteté de Méré est donc un idéal de vue : l’honnête homme est acheminé vers le vers lequel on aspire par le moyen déterminant perfectionnement de sa nature qui représente qui est celui de plaire. une entreprise à vie, d’autre part, une fois que Enfin, pour se rendre agréable, il faut suivre l’honnête homme ou l’honnête femme a atteint la bienséance, la vraie, celle qui vient du cœur un degré d’excellence, celle-ci rayonne sur les et de l’esprit, et non pas de la fortune. Son ex- autres afin de les « sauver », comme le dit Méré. pression est l’humilité dont le modèle est donné L’honnête homme se confond ici avec un autre par l’enseignement du Christ (Méré, Des Agré- modèle de perfection, qui est celui du saint. La ments 28-29). Méré transforme alors les agré- civilité va alors pour Méré jusqu’à absorber les ments d’un principe de civilité au principe même dimensions laïque et spirituelle. C’est dans cet de l’humanité tenant compte de sa dimension espace que l’être humain travaille à son perfec- spirituelle. « [...] c’est un péché que de déplaire tionnement en transcendant toutes les catégo- [...] Car il me semble presque impossible d’ai- ries dans le seul but d’exprimer sa complétude mer ce qui déplaît. » (Méré, Des Agréments 29) pour lui et pour les autres. Le message chrétien de l’amour du prochain est réinterprété en fonction des agréments comme premier principe de l’être humain. Tout en avan- çant, de façon presque polémique, une solution Conclusion purement mondaine dans le débat janséniste autour de la grâce divine, Méré érige les agré- Le parcours du héros scudérien à l’honnête ments en facteurs primordiaux et déterminants homme de Méré a permis d’articuler les liens pour le salut de l’humanité : entre héroïsme et honnêteté dans la culture mondaine du siècle classique et d’en définir les Quand je pense que le Seigneur aime ce- enjeux pour la création de l’idéal de l’honnête lui-ci et qu’il hait celui-là sans qu’on sache homme. Ces trois textes représentent trois cas pourquoi, j’en trouve point d’autre raison de figure qui se complètent mutuellement. Dans qu’un fonds d’Agréments qu’il voit dans les romans de Madeleine de Scudéry, l’univers l’un et qu’il ne trouve pas dans l’autre, et héroïque est juxtaposé à l’univers mondain sur je suis persuadé que le meilleur moyen, et un pied d’égalité et ce n’est que cette associa­ peut-être le seul pour se sauver c’est celui tion, voire cette conjugaison des deux univers qui de plaire. (Méré, Des Agréments 29) confère aux protagonistes leur statut de héros et D’après ce passage, l’amour de Dieu est sen- d’héroïnes. Madeleine de Scudéry célèbre ainsi sible à celui qui sait plaire. C’est ainsi que les un modèle de civilité qui vise à la complétude agréments sont mis sur un pied d’égalité avec de l’être humain grâce à la complémentarité des l’amour chrétien. Par cette absorption du mo- pôles opposés. Ces forces antagonistes ne se dèle chrétien dans celui de l’honnêteté fondée combattent plus ou ne forment plus d’obstacles sur les agréments, Méré fait passer la concep­ à surmonter, comme c’est le cas dans le théâtre tion de l’honnête homme d’une dimension laïque cornélien, mais elles s’associent sous forme de et profane à un message spirituel et moral, car symbiose. Héroïsme et culture mondaine sont entrelacés afin de célébrer un nouveau modèle « Il ne faut qu’un honnête homme pour inspirer e les bonnes mœurs au plus méchant peuple de de civilité vers le milieu du XVII siècle, au mo- la terre, et pour donner envie à tous ceux d’une ment où les anciennes valeurs féodales et hé- cour sauvage et grossière, d’être honnêtes roïques cèdent peu à peu leur place aux valeurs gens : ce que je dis d’un honnête homme, se courtisanes dans la réalité sociopolitique. Dans doit aussi d’une honnête femme. » (Méré, Des ce sens, les romans de Madeleine de Scudé- Agréments 31) Le salut du monde passe par les ry peuvent être considérés comme célébration

helden. heroes. héros. Transfigurations du héros romanesque et idéalisante du modèle de civilité modèle héroïque semble rester sous-jacent à la 45 lancé par les salons. Ils reflètent le goût mondain culture mondaine, mais de manière transfigurée. de la part de l’ancienne noblesse pour une mise La perfection du héros construite sur la gloire en scène héroïque et romanesque de la réalité éclatante est transférée à l’excellence de l’hon- tout en suggérant la perpétuation de l’héroïsme nête homme qui ne se perçoit que subtilement, dans un nouveau modèle de civilité que les mais qui entraine définitivement les autres vers Grands incarnent. l’idéal d’honnêteté. Toujours selon Méré, ce mo- Pour le moraliste La Rochefoucauld, les va- dèle de civilité ne demeure pas dans l’univers leurs héroïques ont certes leur validité dans confiné de quelques happy few, au contraire, l’univers héroïque, mais sont incompatibles avec l’honnêteté agit sur toute­ l’humanité et contient l’espace de civilité. Elles ne peuvent subsister le pouvoir de la perfectionner. que si elles sont transposées à l’intériorité de L’honnête homme peut ainsi être considéré l’être humain. On ne peut être glorieux qu’avec comme une projection idéale d’une transfigura- soi-même, en d’autres termes, le mérite ne dé- tion silencieuse du héros par le processus de pend pas de la reconnaissance que l’on reçoit, civilisation. Dans une forme intériorisée, esthé- mais il exprime les valeurs de sincérité et d’inté- tisée et civilisée, les traits du héros traditionnel, grité morale. Pour La Rochefoucauld, seule l’in- notamment ceux de grandeur, de gloire et de tériorisation et l’épuration de l’héroïsme confère mérite, décorent toujours l’honnête homme – à l’honnête homme un statut supérieur dans la « héros mondain ». Ce glissement de sens rap- culture mondaine. pelle la qualité d’absorption propre à la culture Enfin, tout comme La Rochefoucauld, le mondaine, car bien qu’elle paraisse entièrement chevalier de Méré rejette l’air héroïque dans la opposée aux valeurs et aux représentations tra- culture mondaine, car il se heurte profondément ditionnelles de l’esprit héroïque, elle les récupère aux agréments et au bon goût. La mise en scène tout en leur attribuant une nouvelle définition. du héros déplaît profondément à l’honnête Toute époque réclame ainsi ses héros pourvus homme imprégné de naturel. Néanmoins, nous de grandeur, de noblesse et de mérite. Qu’on retrouvons chez Méré les termes de grandeur, parle d’admiration ou d’agréments, de gloire ou de mérite, d’honneur et de noblesse qui ne sont de naturel – il s’avère qu’à tous les âges, la quête pas seulement intériorisés, comme chez La Ro- d’un idéal de perfection permet d’interroger si ce chefoucauld, mais dont la définition est profondé- n’est de faire avancer l’histoire culturelle de l’hu- ment esthétisée et civilisée dans le but de plaire. manité. C’est la grande maxime de l’honnête homme. En passant par la synthèse de l’héroïque et du mondain incarnée dans les protagonistes scudé- 1 Cette opposition de deux modèles de civilité s’exprime riens, puis chez La Rochefoucauld par la critique de façon pertinente dans le langage d’Alceste et de Philinte du Misanthrope acte I, scène 1. Alceste défend les valeurs de l’héroïsme dans l’espace mondain où il ne morales par le biais d’un vocabulaire héroïque, alors que peut subsister que sous forme intériorisée, nous Philinte incarne l’homme de sociabilité – l’honnête homme avons enfin pu considérer chez Méré que les faisant primer la civilité sur la sincérité d’Alceste qui sacrifie notions traditionnellement héroïques de gran- les bienséances. deur, de mérite et de noblesse sont entièrement 2 Sur le héros cornélien, voir les études de Fumaroli, Dou- esthétisées jusqu’à faire coïncider l’idéal de so- brovsky, Kruse, Rohou. ciabilité avec le message chrétien et à conférer 3 La notion d’honnête homme évolue au cours du XVIIe siècle, comme en témoignent les définitions avancées par une dimension spirituelle à l’honnêteté. La ci- Faret, Madeleine de Scudéry, La Rochefoucauld, Pierre Ni- vilité permet ainsi que les modèles du héros et cole ou par le chevalier de Méré. Nous retiendrons ici celle du saint fusionnent, en soulignant leur caractère du chevalier de Méré, qui propose la définition la plus subtile « héroïque » qui les rapproche et dont le but est de l’honnêteté. Sur l’honnêteté, voir en particulier les études d’Oskar Roth et d’Emmanuel Bury. d’être au service de l’émancipation de la collecti- vité. 4 Voir les études de Bury et de Steigerwald. En analysant l’élan vers l’accomplissement 5 Voir la correspondance de Mme de Sévigné. de l’être humain dans des contextes sociocultu- 6 Voir Bury. e rels aussi différents que le milieu du XVII siècle, 7 La correspondance de Mme de La Fayette nous apprend qui annonce la fin de l’époque féodale, et la se- que chaque nouveau tome des romans de Madeleine de conde moitié du siècle, qui célèbre l’établisse- Scudéry est attendu avec impatience. ment de la société de cour, nous avons consta- 8 Sur le modèle aristotélicien de la magnanimité, voir Fu- té que certaines valeurs héroïques, comme la maroli 323-349. grandeur, le mérite et l’honneur, sont mainte- 9 Voir Levi chap. 7. nues, mais redéfinies et profondément réorien- 10 Sur l’importance des salons pour l’établissement de l’es- tées d’abord vers l’intériorité, puis vers la civilité, thétique classique, voir les études de Génétiot, Viala et Stei- pour qu’elles soient adaptées à leur milieu. Le gerwald.

helden. heroes. héros. Isabelle Chariatte

46 11 Nous adhérons ici à l’idée de la fonction civilisatrice des Castiglione, Baldassare. Il libro del Cortegiano. Milan : Gar- femmes dans les salons, telle que développée par Timmer- zanti, 1987. manns. Chariatte, Isabelle. La Rochefoucauld et la culture mon- 12 La proposition de Douvrovsky de valeurs « mâles » daine. Portraits du cœur de l’homme. Paris : Classiques nous paraît particulièrement pertinente dans une perspec- Garnier, 2011. tive « gender ». Le héros mâle s’oppose ainsi au caractère Cicéron, Marcus Tullius. De officiis. Stuttgart : Reclam, 2007. féminin qui s’exprime dans les valeurs et la rhétorique des salons. Corneille, Pierre. Œuvres complètes. Paris : Gallimard, 1980-1987. 13 Sur les romans scudériens, consulter les études de Baa- der, Denis, Morlet-Chantalat et Penzkofer. Denis, Delphine et al. éd. Madeleine de Scudéry : une femme de lettres aux XVIIe siècle. Arras : Artois Presses 14 Ou la valeur, comme on disait au XVIIe siècle. Université, 2002. 15 Voir La Rochefoucauld max. 1, max. 15, max. 16, max. Denis, Delphine. La muse galante. Poétique de la conversa- 63, max. 116, max. 150, max. 198, max. 213-221, max. 233, tion dans l’œuvre de Madeleine de Scudéry. Paris : Cham- max. 244, max. 246, max. 248, max. 266, max. 268, max. pion, 1997. 280, max. 285, max. 293, max. 308, max. 365, max. 490. Dens, Jean-Pierre. « Le chevalier de Méré et la critique mon- 16 Par exemple, La Rochefoucauld max. 220 : « La vanité, daine. » XVIIe siècle 101 (1973): 41-50. la honte, et surtout le tempérament, font souvent la valeur des hommes, et la vertu des femmes. » Voir aussi La Roche- Doubrovski, Serge. Corneille et la dialectique du héros. Pa- foucauld max. 213. ris : Gallimard, 1963. 17 Au sujet de la gloire et de l’héroïsme chez La Rochefou- D’Urfé, Honoré. L’Astrée. Paris : Champion, 2011. cauld, voir Roth 304, Kruse 61-80, Chariatte 152-158. D’Urfé, Honoré. La Sylvanire ou la Morte-Vive. Toulouse : 18 On suppose qu’il s’agit de Madame la Maréchale de Clé- Société de Littératures classiques, 2001. rambault, voir Méré 9, n. 1. Fumaroli, Marc. Héros et orateurs. Rhétorique et dramatur- 19 Dans la théorie néoplatonicienne de l’amour, l’union gie cornéliennes. Genève : Droz, 1990. avec l’autre passe par le renoncement total de soi dans le Génétiot, Alain. « Vincent Voiture, inventeur de la littérature but de plaire. « Puis qu’on ne se rend parfaitement honneste mondaine et galante. » Il confronto letterario XXVII (2010) : homme que quand on a dessein de plaire, & ce dessein de 245-263. plaire ne peut venir que d’un fort grand attachement, ou du desir de le persuader. » D’Urfé, L’Astrée. 31 juillet 2014. Génétiot, Alain. Poétique du loisir mondain. De Voiture à La Fontaine. Paris : Champion, 1997. 20 Cette maxime de Sénèque sera reprise dans La Sylva- Gracián, Baltasar. L’art de prudence. Paris : Payot, 1994. nire ou la Morte-vive de d’Urfé, acte I, scène 1, v. 224 [« Il Kruse, Margot. « Ethique et critique de la gloire dans la litté- faut aimer si l’on veut être aimé. »]. rature française du xviie siècle. » Beiträge zur französischen 21 Cette même hiérarchie des valeurs, selon laquelle les Moralistik. Éd. Joachim Küpper et al.. Berlin : Walter de valeurs sociables procurent aux valeurs héroïques leur véri- Gruyter, 2003 : 61-80. table grandeur, est exprimée dans l’oraison funèbre pronon- Lafayette, Marie-Madeleine de. Correspondance. Paris : cée par Bossuet pour le Grand Condé le 2 mars 1687. Les Gallimard, 1942. qualités extraordinaires de son courage sont ancrées dans la bonté chrétienne qui les « [aide] à se communiquer davan­ La Rochefoucauld, François de. Maximes. Paris : Classiques tage ». Les « douceurs de la société », le « plus grand bien Garnier, 1999. de la vie humaine », sont assurées grâce à « sa conversation Levi, André. French moralists. The Theory of the Passions [qui] était un charme » et à l’amitié qu’il place au premier 1585-1649. Oxford : Clarendon Press, 1964. rang. Bossuet 200-201. Méré, chevalier de. Œuvres complètes. Paris : Klincksieck, 22 Dans son article, Dens développe l’idée du goût comme 2008. faculté critique dont est doté l’honnête homme. Molière. Le Misanthrope. Paris : Librairie Générale Fran- çaise, coll. Le Livre de Poche, 1986. Morlet-Chantalat, Chantale. La Clélie de Mademoiselle de Scudéry. Paris : Champion, 1994. Bibliographie Penzkofer, « L’art du mensonge ». Erzählen als barocke Lügenkunst in den Romanen von Mademoiselle de Scudé- Aristote. Ethique à Nicomaque. Paris : Librairie Générale ry. Tübingen : Gunter Narr, 1998. Française, coll. Le Livre de Poche, 1992. Rohou, Jean. Le XVIIe siècle. Une révolution de la condition Baader, Renate. Dames de lettres. Autorinnen der preziösen, humaine. Paris : Seuil, 2002. hocharistokratischen und modernen Salons, 1649-1698. Roth, Oskar. Die Gesellschaft der Honnêtes Gens. Heidel- Stuttgart : Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1986. berg : Carl Winter, 1981. Bénichou, Paul. Morales du Grand Siècle. Paris : Gallimard, Scudéry, Madeleine de. Artamène ou le Grand Cyrus. 31 juil- 1948. let 2014 Bossuet, Jacques Bénigne. Œuvres. Paris : Gallimard, coll. Scudéry, Madeleine de. Clélie. Histoire romaine. Paris : La Pléiade, 1961. Champion, 2001-2003. Bury, Emmanuel. Littérature et politesse. L’invention de Sénèque, Lucius Annaeus. Lettres à Lucilius. Paris : Gar- l’honnête homme. Paris : puf, 1996. nier-Flammarion, 1992. Bury, Emmanuel. « Espaces de la République des Lettres. Sévigné, Marie de. Correspondance. Paris : Gallimard, coll. Des cabinets savants aux salons mondains. » Histoire de La Pléiade, 1972. la France littéraire. Classicismes XVIIe - XVIIIe siècle. Ed. Jean-Charles Darmon et al. Paris: puf, 2006 : 88-116. Starobinski, Jean. « La Rochefoucauld et les morales subs- titutives. » La N.R.F. juillet et août (1966): 16-34 et 211-29.

helden. heroes. héros. Transfigurations du héros

Steigerwald, Jörn. Galanterie. Die Fabrikation einer natürli- 47 chen Ethik der höfischen Gesellschaft (1650-1710). Heidel- berg : Winter, 2011. Timmermans, Linda. L’accès des femmes à la culture (1598- 1715). Paris : Champion, 1993. Viala, Alain. La France galante. Paris : puf, 2008.

helden. heroes. héros. 48

helden. heroes. héros. DOI 10.6094/helden.heroes.heros./2014/02/05

Christina Posselt-Kuhli – Jakob Willis 49

« La voilà, cette main, qui se met en chaleur »

Intermediale Heroisierungsstrategien bei Molière und Pierre Mignard am Beispiel des Gedichts La Gloire du Val-de-Grâce

1. Einleitung zu Beginn der Arbeit am Fresko aber bereits historischer Fakt gewordene Geburt des lange Das für Molières Gedicht La Gloire du Val-de- ersehnten Sohnes, der der königlichen Dynastie Grâce (1669) titelgebende Fresko in der Kirche den Fortbestand sichert, wird so als Zeichen des Val-de-Grâce in Paris, von Pierre Mignard unter göttlichen Beistands inszeniert. Rückbezug auf die barocken römischen Kup- Auf diese Ausgangssituation nimmt auch ein pelausmalungen von Correggio, Lanfranco und paratextuelles Element von Molières Gedicht Pietro da Cortona zwischen 1663 und 1666 ge- Bezug: In der Vignette zu Beginn des Textes schaffen1 und von Charles Perrault noch Jahre wird eine Malerwerkstatt gezeigt und damit auf später als „plus grand morceau de peinture à die handwerklichen wie wissenschaftlichen Be- fresque qui soit dans l’Europe“ (Perrault 476) be- dingungen der Produktion von Kunstwerken ver- zeichnet,2 öffnet dem Betrachter den Blick zum wiesen [Abb. 2] – ebenso wie die anderen Kup- Himmel [Abb. 1]. In konzentrischen Kreisen sind ferstiche wurde die Vignette von Mignard selbst Gruppen von Heiligen, Märtyrern, Aposteln und entworfen und von François Chaveau gestochen Propheten als Gefolge der zentralen Figuren am und somit bewusst eingeschrieben in das Spiel höchsten Punkt der Kuppel angeordnet. Dort von Text und Bild, das Molière innerhalb sei- gipfelt der himmlische Reigen in der Dreifaltig- nes Gedichtes entwirft, wie noch zu zeigen sein keit (Christus und Gottvater, zwischen ihnen in wird. Diese Szene ist auf der gleichen Textseite einer Lichtgloriole die Taube des Heiligen Geis- mit dem Auftrag und der Stifterin in Bezug ge- tes), an die Anne d’Autriche ihren Wunsch ad- setzt – in der Initiale ‚D‘ des Gedichts erscheint ressiert: die Geburt eines Thronfolgers für das Anne d’Autriche, die in einem Hermelinmantel französische Königreich. Die Stifterin,3 deren vor einer Art Altar kniet, auf dem eine Krone und Rolle durch das Kirchenmodell in ihren Händen ein Buch abgelegt sind. Sie hält auch hier ein kenntlich gemacht ist, wird durch die räumliche Kirchenmodell, die Repräsentation von Val-de- Teilhabe an der göttlichen Sphäre besonders Grâce, in Händen und blickt nach oben ins gött- hervorgehoben.4 In dreifacher Rolle wird sie liche Licht. als Königin, als Königinmutter und als Regen- Das Gedicht, das Molière 1669 auf das Fres­ 6 tin figuriert.5 Nicht nur der ‚très chrétien Roi‘ von ko seines engen Freundes Mignard verfasste, Gottes Gnaden – hier Saint Louis (Louis IX), der fügt sich in die Reihe der Lobgesänge ein, die Anne gegenüber platziert ist und wie diese den Zeitgenossen wie Perrault auf das Gemälde an- bourbonischen Königsmantel trägt (Germann stimmten. Es betont die enge Verbindung von 52-53) –, auch die Königin wird damit in Gottes Dichtung und Malerei, die in der Tradition des ‚ut Nähe gerückt: umarmt von der Heiligen Anna pictura poiesis‘ als Schwesternkünste bezeich- kniet sie in anbetender Haltung, in ihrer Pose net werden, und wird, so die These, vor dem Hin- und Gestik damit ähnlich der über ihr auf ei- tergrund einer komplexen literatur- und kunstpo- ner Wolkenbank sitzenden Maria. Die von den litischen Entstehungssituation zu einem Medium Benediktinerinnen von Val-de-Grâce verehrte der Heroisierung von Maler und Autor. Während Jungfrau Maria wird so mit dem Mutterwunsch Mignard in seinem Kuppelfresko die Herrscherin bzw. dem Muttersein der Königin in Verbindung Anne d’Autriche durch die Nähe zur Sphäre des gebracht (1638 wird Louis XIV geboren; bei der Göttlichen indirekt divinisiert, stilisiert Mo­lière Weihe der Kirche im Jahre 1665 ist er bereits in seinem Gedicht Mignard zum Künstlerhel- 27 Jahre alt). Außerdem drückt die Komposition den und schafft es, durch die Heroisierung des die göttliche Begünstigung ihrer Herrschaft aus. Freundes auch die eigene Kunst aufzuwerten. Die in der Kuppel noch als Wunsch dargestellte, helden. heroes. héros. Christina Posselt-Kuhli, Jakob Willis

50 Im Folgenden wird in einem ersten Schritt eine handlungstragende Figur eines literarischen Heuristik entwickelt, die es erlaubt, Strategien der oder kinematografischen Werkes, ab einem Heroisierung in unterschiedlichen Medien nach- bestimmten Zeitpunkt auch unabhängig davon, zuvollziehen, bevor in einem zweiten Schritt das ob diese Hauptfigur noch heroische Züge im ur- Gedicht unter Berücksichtigung seiner kunst­- sprünglichen Sinne trägt.9 Zum Zwecke einer sys- theoretischen und kunstpolitischen Kontexte tematischen Minimaldefinition, die freilich nicht eine eingehende Analyse erfährt. Neben den über den Status einer Heuristik hinauskommt, literarischen und kunsttheoretischen Diskursen ließen sich die ‚heroischen Helden‘, um die es sollen dabei auch die bislang kaum beachteten dieser Untersuchung geht, durch die allesamt Kupferstiche der beiden ersten Editionen des notwendigen, für sich aber nicht hinreichenden Gedichts in die Interpretation der intermedial Attribute ‚Autonomie‘, ‚Transgressivität‘, ‚Agona- gestalteten heroischen Motive einbezogen wer- lität‘ und ‚Charisma‘ charakterisieren.10 Der Held den.7 oder die Heldin ist eine Figur, deren Exzeptio- nalität sich als Schnittmenge eben jener Eigen- schaften konstituiert. Heroisierungen sind vor diesem Hintergrund 2. Intermediale Heroisierungs­ Verfahren, durch die einer Figur heroische Attri- strategien – einige theoretische bute zugeschrieben werden. Diese „vollziehen Überlegungen und stabilisieren sich […] in sozialen und kom- munikativen Prozessen, die medialer Präsenta- Heroisierungen, so lässt sich zeit- und kultur­ tion bedürfen und affektiv wie normativ aufge- übergreifend sagen, sind kommunikativ-mediale laden sind“ (von den Hoff u. a. 8). Neben den Strategien und Verfahren, durch die eine Figur produzierenden Akteuren, wie etwa Dichtern, als Heros, d. h. als Held oder Heldin, gekenn- Malern oder, seit der Moderne, Journalisten, sind zeichnet wird. Möchte man, was bislang kaum an Prozessen der Heroisierung immer auch ver- systematisch geschehen ist,8 derlei Prozesse schiedene Publika beteiligt, die eine bestimmte genauer beschreiben, sollte erst einmal geklärt Figur, so die Strategie denn Erfolg hat, als einen werden, was man unter einem Held, einer Hel- Helden oder eine Heldin wahrnehmen und ver- din bzw. einer heroischen Figur versteht. ehren. Die Konstruktionen und Inszenierungen Bei einem Helden handelt sich um eine meist des Heroischen sind vielfältiger Art, so dass sie maskuline Figur, die durch außergewöhnlich an dieser Stelle nur kursorisch erwähnt werden mutige Taten dazu beiträgt, das je nach kulturel- können: lem Kontext und Wertesystem anders definierte Neben der einfachen Bezeichnung einer Fi- ‚Gute‘ unter großem persönlichen Einsatz zu gur als ‚Heros‘, ‚Held‘, ‚hero‘, ‚héros‘, ‚eroe‘ usw., erkämpfen oder zu verteidigen. Neben Göttern die, sei es schriftlich oder mündlich, im Bereich gehören Helden dabei zum unverzichtbaren des Sprachlichen operiert, ist hier vor allem das imaginativen Personal aller Kulturen von der Einordnen in eine heroische Genea­logie zu nen- Antike bis zur Gegenwart, wobei mit Blick auf nen. Indem die betreffende Figur mit bereits das Heldenpantheon der christlich-abendlän- etablierten Helden des kulturellen Repertoires dischen Kulturgeschichte festgestellt werden verglichen wird, werden die (heroischen) Eigen- kann, dass darin fiktiv-mythologische Figuren schaften der Modellfigur auf sie übertragen. Die wie Achill, Perseus und Herkules neben histo- Malerei kennt dabei Verfahren wie die bildliche rischen Persönlichkeiten wie Alexander dem Amalgamierung von Modell und historischer Großen, Luther und Napoleon stehen. Helden, oder mythologischer Figur in der porträthaften so ist einzuschränken, sind immer nur Helden Angleichung des Herrschers an einen Helden für und innerhalb einer bestimmten sozialen zum Zwecke der Sichtbarmachung von Tugen- Gruppe. Für diese erfüllen sie als Projektions- den und Qualitäten, die dem Helden eignen und und Identifikationsfiguren soziale, politische und auf den Herrscher übertragen werden. Die Lite- ethisch-moralische Funktionen. ratur kann ihrerseits auf Reihungen, Allegorien, Grundsätzlich müssen zwei unterschiedliche Symbole, Metaphern und Vergleiche zurückgrei- Verwendungsweisen des Begriffs ‚Held‘ vonei- fen. Eines solchen Vergleichs bedient sich bei- nander abgegrenzt werden: Der ursprüngliche spielsweise Jean Racine, wenn er in der épître semantische Bereich bezieht sich auf den alt- au Roi zu seiner Tragödie Alexandre le Grand griechischen Begriff des Heros (ἥρως) im Sinne auf eine für die Zeit und die Textsorte paradig- eines Kriegers oder Halbgottes und meint jene matische Art und Weise formuliert: außergewöhnlich tapferen Figuren wie Perseus, Il faut auparavant m’essayer encore sur Hektor und Achill. Der später hinzugekommene quelques autres Héros de l’Antiquité: Et Bereich, der außerhalb des Untersuchungs- je prévois qu’à mesure que je prendrai horizonts dieser Analyse liegt, bezeichnet die de nouvelles forces, V. M. [Votre Majesté;

helden. heroes. héros. Intermediale Heroisierungsstrategien bei Molière und Pierre Mignard

Anmerkung der Verfasser] se couvrira ‚Held‘ oder ‚Heldin‘, als exzeptionelle Figuren 51 Elle-même d’une gloire toute nouvelle; des Heroischen dargestellt werden. Eine Reihe que nous la reverrons peut-être, à la tête dieser Strategien lassen sich auch in Molières d’une Armée, achever la Comparaison Enkomium beobachten. qu’on peut faire d’Elle et d’Alexandre, et ajouter le titre de Conquérant à celui du plus sage Roi de la Terre. (Racine 124) 3. Heroisierungsstrategien in Zusätzlich zur Nennung und zur Einbettung Molières Gedicht La Gloire du in eine heroische Genealogie seien noch zwei weitere Verfahren genannt: die Hervorhebung Val-de-Grâce der Figur mittels räumlicher Positionierung und Farbgebung sowie ihre Repräsentation durch Molières Langgedicht La Gloire du Val-de-Grâce Symbole des Heroischen. Erstgenanntes Ver- (1669) entsteht zu einer Zeit, als der Dramatiker, fahren zielt darauf ab, den exzeptionellen Status seit 1665 Leiter der ‚Troupe du Roi‘ und damit der zum Helden ernannten Figur auch sprach- unter besonderer Protektion durch Louis XIV, mit lich-medial auszudrücken und findet, oft im Stücken wie Le Misanthrope (1666), Amphytrion Verbund mit anderen Heroisierungsverfahren, (1668) und L’avare (1668) große Bühnenerfolge medienübergreifend Anwendung. Besonders feiert und, wenngleich nicht unumstritten, auf häufig werden die Figuren durch ihre außerge- dem Gipfel seines Ruhmes angelangt ist. Wenn wöhnliche Größe gekennzeichnet, so etwa bei vor diesem Hintergrund die Hauptintention des verschiedenen Reiterstandbildern und anderen Werkes wohl darin zu sehen ist, dass Molière monumentalen Heldenstatuen wie Michelange- sein Ansehen und seine Machtstellung dazu los David11. Auch großformatige Gemälde wie nutzt, um einen guten Freund als Künstlerhel- Poussins Raub der Sabinerinnen12 oder LeBruns den zu stilisieren (und damit Mignards Erschaf- 18 Einzug Alexanders in Babylon13 vermitteln den fung von Kunst als heroische Tat darzustellen) , exzeptionellen Status der heroisierten Figuren geht es ihm zweifelsohne auch darum, eine vor durch die Dimension der Bildfiguren. Die Hervor- allem auf das Kolorit ausgerichtete Kunsttheorie hebung kann aber auch dadurch erfolgen, dass für sich zu nutzen [vgl. 3.3.1], die auf das eige- die Helden durch eine Form des Glanzes als ne Theaterschaffen zurückverweist und somit ‚Lichtfiguren‘, als Quelle oder Zentrum von Licht- auch ihn selbst als Künstler heroisiert (Molière 19 strahlen, inszeniert werden.14 Während dieser in 1349). unterschiedlichen Medien Anwendung findende Glanz des Helden als indexikalisches Zeichen die sprachlich nicht fassbare auratische Präsenz 3.1. Formale und inhaltliche der heroischen Figur zum Ausdruck bringen soll (Soeffner 55)15, zielen andere Verfahren der Re- Bestimmung präsentation darauf ab, die Figur durch symboli- sche Zeichen als Held oder Heldin zu konstruie- Das aus 366 sich paarweise reimenden Alexan­ ren. Diese letztgenannten Darstellungsverfahren dri­nern aufgebaute Gedicht ist in 15 Sinnein- sind besonders in den bildenden Künsten weit heiten unterteilt. In der ersten Einheit (V. 1-18) verbreitet, wo etwa die Nähe zum Göttlichen bzw. wendet sich der Dichter bzw. seine lyrische zu den Göttern oder die Krönung durch Götter Sprecher­instanz an die Kirche Val-de-Grâce, de- oder Personifikationen und Allegorien wie Ruhm ren Ruhm ihm Anlass für sein Werk ist bzw. deren und Fama den Heldenstatus in der Komposition Ruhm er gewillt ist, durch das eigene Schaffen zu visualisieren.16 Auch nobilitierende Architektur­ mehren. Besonders das „chef-d’œuvre fameux“ elemente, Attribute wie das Löwenfell und die (V. 14), Mignards Fresko, wird dabei schon zu Keule des Herkules, die auf Alexander den Gro- Beginn gepriesen und als „plus bel effet des ßen verweisende Anastole römischer Porträts,17 grands soins“ (V. 17) der Stifterin Anne d’Autriche die Schleuder Davids und der Lorbeerkranz bezeichnet. Der zweite Abschnitt (V. 19-38) stellt der siegreichen Heroen werden verwendet, um dann eine direkte Ansprache an Mignard dar, die Figuren symbolisch zu heroisieren. zum einen darauf abzielt, das Ingenium des Ma- Neben diesen Verfahren, die für sich in der lers zu betonen („Toi qui, dans cette coupe à ton Forschung zum Teil bereits intensiv besprochen vaste génie / Comme un ample théâtre, heureu- wurden, müssen insbesondere auch jene Stra- sement fournie“, V. 19-20) und zum anderen die tegien zum Bereich der Heroisierung gerechnet Frage aufwirft, welches geheime Wissen, wel- werden, durch die bestimmte Figuren mit den ches Vermögen, ja welches „feu divin“ (V. 27) die oben genannten Attributen Autonomie, Trans- geniale Kunst möglich mache. „Dis nous“, for- gressivität, Agonalität und Charisma, und oftmals dert Molière, „quel est ce pouvoir, qu’au bout des ohne die explizite Nennung der Bezeichnung doigts tu portes“ (V. 27-31). Da der angesprochene helden. heroes. héros. Christina Posselt-Kuhli, Jakob Willis

52 Maler jedoch stumm bleibt und sein wertvolles zum Ironischen tendierender Art als „[p]urs es­ Geheimnis nicht lüften möchte, wendet sich der prits“ (V. 211) und „[b]eaux temples des vertus“ Poet im dritten Abschnitt (V. 39-50) dem Gemäl- (V. 212) bezeichnet werden und unter­streicht, de selbst zu, das als „école ouverte“ (V. 44) das dass die Schwestern an dem Fresko spüren Schweigen bricht: „[T]on pinceau s’explique, et könnten, wie sich die „ardeur de vos désirs“ trahit ton silence“ (V. 39). (V. 221) verdopple. Nach diesem von sexuellen Dieses Motiv nimmt auch die bereits er- Doppeldeutigkeiten geprägten Abschnitt,20 der wähnte Vignette zu Beginn des Gedichts auf gerade auch im zeitlichen Kontext der seit dem [Abb. 2]. So wie Molière eine ‚Schule des Se- Stück Le Tartuffe anhaltenden klerikalen Kritik hens‘ durch seine Beschreibung aller Bestand- als spielerische Provokation zu verstehen sein teile der Kunst nach zeitgenössischen kunst- dürfte, wendet sich Molière nun voller Dank an theoretischen Vorstellungen eröffnet [vgl. 3.2.], Rom (V. 227-236), das nicht nur seit jeher Vor- befinden sich die im Kupferstich gezeigten Putti bild gewesen sei, sondern zudem auch ganz in der ‚Schule der Kunst‘, der Malerwerkstatt. entschieden mit dazu beigetragen habe, dass Auf die Inspiration der ‚arcanae‘ der Musen Mignard während seines langen Aufenthalts dort folgt somit die praktische Bildproduktion. Unter zu dem „grand homme“ wurde, der, „devenu tout der Ägide Minervas, die als Büste auf einem Romain“ (V. 234), nun Frankreich neuen Glanz Sockel in der Mitte des Raumes wacht, üben sich verleihe. In der darauf folgenden Sinneinheit die Putti im Zeichnen (nach antiken Vorbildern, (V. 237-279) widmet sich der Dichter der Technik als welche Minerva dargestellt ist), in der Pers- der Freskomalerei und breitet ein Argument aus, pektivlehre und im nächsten Schritt womöglich das deren Überlegenheit über die Ölmalerei ver- auch dem dritten Teil der Malerei, der Farbe (der deutlichen soll: Im Anschluss an die heroische Putto ganz links scheint Farbe anzureiben). Pa- Darstellung des Freskomalers, dessen „main lette und Malerstab sowie Messinstrumente, ein prompte“ (V. 267) das „grand génie“ (V. 242) zei- Globus und Bücher im Hintergrund verweisen ge, schildert der Verfasser in knappen Worten die auf die Verbindung von Handwerk und Wissen- allgemeine Rezeption des Kuppelfreskos bei Hof schaft. Als intellektuelle Kunst der ‚imitatio‘ wird und in der Stadt (V. 280-289) und betont, dass die Malerei durch die beiden Masken am Kamin das Gemälde gerade auch deshalb auf großes ausgewiesen und damit ihre Fähigkeit, nachzu- Wohlgefallen gestoßen sei, weil es als „belle in- ahmen und zu täuschen im Spiel von ‚imitatio‘ connue“ (V. 282) eine Neuheit in Paris dargestellt und ‚dissimulatio‘, alludiert. habe: „Jamais rien de pareil n’a paru dans ces Sehr ausführlich und mit Verweis auf eine lieux“ (V. 281).21 Die beiden nächsten Abschnitte Vielzahl kunsttheoretischer Motive, die noch handeln dann von der wohlwollenden Aufnahme genauer zu betrachten sein werden, wird in den des Kunstwerks durch den König (V. 291-303) folgenden drei Abschnitten von Molières Gedicht und seinen Finanzminister und ‚Surintendant beschrieben, welche Prinzipien eines vollkom- des Bâtiments, Arts et Manufactures‘‚ Jean- menen Kunstwerks das Fresko den interessier- Baptiste Colbert (V. 304-312). Zum einen hebt ten Betrachter lehren kann: diese sind ‚invention‘ Molière bezüglich des Königbesuchs in formvoll- (V. 51-104), ‚dessein‘ (V. 105-152) und ‚couleur‘ endeter panegyrischer Manier hervor, dass der (V. 153-186). Nachdem Molière in den drei lan- Verdienst des Werkes erst durch die „éclatante gen Abschnitten somit die von Mignard wie von visite“ (V. 292) des urteilskräftigen „roi judicieux“ kaum einem anderen Maler beherrschten Prin- (V. 301) und seine in zwei Worten vorgetrage- zipien der idealen Kunst expliziert und dem Le- ne „éloge glorieux“ (V. 302) hervorgetreten sei, ser dadurch vermeintlich auch den Schlüssel zum anderen schildert er, wie Colberts guter Ge- zur Reproduktion des „éclatant morceau de sa- schmack „suit celui de son maître“ (V. 303) und vante peinture“ (V. 15) an die Hand geliefert hat, er folgerichtig „[a] senti même charme“ (V. 304). betont der Verfasser im siebten Sinnabschnitt Im daran anschließenden Abschnitt lässt Mo­ (V. 187-206), dass ein geniales Kunstwerk wie lière den Genius Mignards noch einmal in einer das Fres­ko Mignards selbst dann nicht nachge- eindringlichen Beschreibung aufblitzen, indem ahmt werden könne, wenn man, wie soeben von er das Geschehen deiktisch vergegenwärtigt Molière persönlich kundig durchexerziert, sein und performativ nachvollziehbar macht (V. 313- Wesen bis ins letzte Detail beschreiben würde. 326). Als würde der Maler, einem Wunder gleich, Der geniale Künstler verfüge über Talente, die gerade vor seinen Augen agieren, heißt es: „La sich schlichtweg nicht erlernen ließen: „Il y faut voilà, cette main, qui se met en chaleur: / Elle des talents que ton mérite joint; / Et ce sont des prend les pinceaux, trace, étend la couleur […]“ secrets qui ne s’apprennent point“ (V. 194-195). (V. 313-314). Nach dieser zweiten, in seiner rhe- Im nun folgenden Passus wendet sich Molièr­e torischen Gestaltung im Vergleich zum Beginn an die Schwestern des Benediktinerordens der des Gedichts deutlich eindrücklicheren Glori- Kirche Val-de-Grâce, die in hyperbolischer, leicht fizierung des genialen Künstlers, wendet sich

helden. heroes. héros. Intermediale Heroisierungsstrategien bei Molière und Pierre Mignard

Moliè­re im letzten Sinnabschnitt des Gedichts Regelkanon jedoch nicht zu entsprechen. Tat- 53 noch einmal an Colbert, um diesen daran zu er- sächlich stand Mignard in direkter Konkurrenz zu innern, dass geniales Künstler- und höfisches LeBrun – beide bemühten sich um königliche Auf- Bittstellertum einander ausschließen („Qui se träge, darunter Porträts der königlichen Familie23 donne à sa cour, se dérobe a son art“, (V. 346)) – und waren auch in Bezug auf die ‚Académie‘ und dass er, auch im eigenen Interesse, nichts Rivalen. Einen Eintritt in die Akademie verwei- unversucht lassen solle, um die wahre Kunst gerte Mignard, der nicht unter die Ägide des sie- und die wahren Künstler zu fördern: „C’est ainsi“,­ ben Jahre jüngeren LeBrun geraten wollte, bis so der mahnende Schlussgedanke, „que des er schließlich 1690, nach dem Tod des ‚Premier arts la renaissante gloire / De tes illustres soins Peintre du Roi‘, selbst Direktor der ‚Académie‘ ornera la mémoire“ (V. 263-264). Die heroische wurde. Die Rivalität der Künstler wurde jedoch ‚fama‘ der Mächtigen, daran lässt Molière keinen nicht nur auf dem Feld der Malerei ausgetragen, Zweifel, hängt ganz entschieden von der medi- sondern auch im institutionalisierten Kontext der alen Konstruk­tionsleistung der Künstler ab. Nur ‚Académie‘, in dem sich in den 1660er Jahren wenn Dichter, Maler und andere Kunstschaffen- die Textgattungen Kunstkritik und -theorie eta­ de die Leistungen der Mächtigen – hier Colberts blierten. Molière bezieht sich in seinem Gedicht und des Königs Engagement für die Künste – in auf eine Reihe von Autoren und Schriften, die ihren Werken in zeitlose Formen brächten, so auf kunsttheoretischem und ästhetischem Feld will Molière verstanden werden, könnten diese miteinander rivalisierten, wobei der grundle- sich einen dauerhaften Ehrenplatz im kollektiven gende Text für seine Argumente schon lange in Gedächtnis der Menschheit sichern.22 Dass da- Charles-Alphonse Dufresnoys De arte ­graphica mit auch der Künstler Anteil an der heroischen erkannt worden ist. Der seit einem gemeinsa- ‚memoria‘ hat, ist eine tradierte Vorstellung (man men Romaufenthalt mit Mignard befreundete denke beispielsweise nur an das berühmte Mo- Künstler, der auch an der Kuppelausmalung von tiv des ‚aere perennius‘ bei Horaz), in die sich Val-de-Grâce beteiligt war, verfasste zwischen Molière und über ihn auch Mignard als Künstler- 1635 und 1656 sein lateinisches Gedicht als helden einschreiben. eine Art Theorie zur Malerei Mignards. Schließ- lich war es aber der Kunstschriftsteller Roger de Piles, der 1668 – nach der Publikation des latei- 3.2. Kunstpolitische Hintergründe nischen Textes durch Mignard – unter dem Titel und intertextuelle Bezüge L’Art de Peinture eine französische Übersetzung veröffentlichte, die jedoch durch Änderungen im Bevor es in der Folge darum geht, die unter- Text, Anmerkungen und eine den Akademiefor- schiedlichen Heroisierungsstrategien herauszu- derungen nach allgemeingültigen Kunstregeln arbeiten, die Molière in seinem Lobgedicht auf entsprechende ‚table de préceptes‘ stärker zu Mignards Kuppelfresko verfolgt, ist es nötig, die einem Reflex der aktuellen akademischen Kunst kunstpolitischen Hintergründe und intertextu- geworden war. Diese fast noch druckfrische Stel- ellen Bezüge der Werke zu erläutern, ohne die lungnahme zu den Aufgaben der französischen Molières Gedicht nicht adäquat erfasst werden Kunst war der Text, den Molière seinem Gedicht kann. Gerade in einer Zeit wie der französischen zugrunde legte und damit sowohl den Diskurs Klassik, in der die künstlerische Produktion sehr der ‚Académie‘ aufgriff als auch eine lobende stark im Zeichen von Politik und Ökonomie steht, Beschreibung von Mignards künstlerischen Prin- müssen Heroisierungen immer auch als Teil be- zipien realisierte. rufsfeldbezogener Strategien betrachtet werden. Pierre Mignard, der über 20 Jahre in Rom ge- lebt und gearbeitet hat, kam 1655 nach Paris – 3.3. Heroisierungsstrategien eine Stadt, die kunstpolitisch von der ‚Académie Royale de Peinture et de Sculpture‘ beherrscht Inwiefern in dieser Lobrede Heroisierungsver- wurde. Unter dem Vorsitz ihres Direktors fahren zum Einsatz kommen, soll nun genauer Charles LeBrun erarbeitete sie Grundlagen und erörtert werden. Im Rückgriff auf die im theore- Regeln für die Malerei, die im absolutistischen tischen Teil formulierten Überlegungen lassen Frank­reich hauptsächlich der Herrscherpane- sich im Zusammenwirken von Text und Grafik gyrik diente. Heroische Themen und ein klarer insgesamt sechs verschiedene Strategien nach- Bildaufbau sollten das Bild eines tugendhaften weisen, wobei die ersten fünf davon auf kunst- und im Kampf bewährten Louis XIV vermit- theoretische Argumente rekurrieren, die sechste teln. Der Figurenreichtum und der Akzent auf hingegen auch deutlich die formalen Attribute die koloristische Lichtwirkung, die Mignard in des Heroischen betont. Anlehnung an die genannten italienischen Vor- bilder einsetzt, scheinen dem akademischen helden. heroes. héros. Christina Posselt-Kuhli, Jakob Willis

54 3.3.1. Heroisierungsstrategie I handwerkliche und geistige Kraft verlangt, er- – das Kolorit laubt sie es doch nicht, einmal aufgetragene Partien zu korrigieren: „Avec elle il n’est point de retour à tenter; Et tout au premier coup se doit Molière hebt in Mignards Werk die ‚variété‘ und exécuter“ (V. 261-262). Geistesgegenwärtigkeit, Lebendigkeit hervor, beides Kategorien, die Entscheidungsfreudigkeit und Handlungsbereit- eine lange Tradition in der italienisch geprägten schaft, allesamt charakteristische Eigenschaften Kunsttheorie haben. Der Dreiklang von ‚inven- heroischer Figuren, werden als Tugenden des tion‘, ‚dessein‘ und ‚couleur‘, wie er seit Leon Freskomalers beschrieben. In der Beschreibung Battista Alberti, später von Paolo Pino und Lo- Molières gleicht die so beschriebene Leistung dovico Dolce in Anlehnung an Quintilians rheto- des Künstlerhelden, der den entscheidenden rische Einteilungen etabliert wurde, hat immer Moment, den ‚Kairos‘, für sein Werk nutzt, ei- wieder unterschiedliche Gewichtungen erfahren. ner regelrechten Heldentat: „[L]a fresque est Molière betont vor allem, dass das Kolorit, d. h. pressante, et veut sans complaisance / Qu’un die Auswahl, Harmonie, Schattierung und Zu- peintre s’accomode à son impatience; La traite à sammensetzung der Farben, in seiner Wirkung sa manière, et d’un travail soudain / Saisisse le den Effekt des ‚rilievo‘ hervorrufe (Dufresnoy moment, qu’elle donne à sa main“ (V. 255-258). V. ­267-301, De Piles V. XXXI). Der dabei ge- Schon Vasari hatte angesichts des hohen Tem- zogene Vergleich mit den Bildhauern und der pos, das die Arbeit an einem Fresko erfordert, Reliefwirkung von Skulpturen findet sich bereits die Qualität der ‚Männlichkeit‘ in die Malereitheo- bei Baldassare Castiglione, Giorgio Vasari, Leo­ rie eingeführt und auch Molière greift diesen To- nardo da Vinci, Giovanni Battista Armenini bis pos auf, wenn er von den „mâles appas“ (V. 274) hin zu André Félibien. Der meisterhafte Einsatz des Freskos spricht, das über die ansonsten des ‚chiaroscuro‘, von Farbe, Licht und Schat- weit verbreitete Ölmalerei „emporte la victoire“ ten, wird somit zum einen in Konkurrenz zur (V. 272). Die Ölmalerei, in der LeBrun gemeinhin Gattung der Bildhauerei gesetzt, zum anderen gepriesen wird, gerät somit als weiblich konno- wird damit auch eine Richtung innerhalb der Ma- tierte Kunst in der Hierarchie der Bildkünste ins lerei zur überlegenen Malweise erklärt. Molière Hintertreffen und wird in dem Gedicht alleine den zufolge ist Mignards meisterhafter Umgang mit schwächlichen „peintres chancelants“ (V. 253) dem Kolorit ein regelrechter „achèvement de anempfohlen. Im Fresko dagegen „se rencontre l’art“ (V. 160), der ihn Apelles, einem der gro- unie / La pleine connaissance avec le grand gé- ßen Kunsthelden der Antike, ebenbürtig macht nie“ (V. 263-264). (V. 156). Das martialische und pathetische Vo- kabular, das Molière verwendet, um den dyna- mischen Effekt des ‚rilievo‘­ zu beschreiben, rückt die Kunst Mignards dann auch semantisch in die 3.3.3. Heroisierungsstrategie III Sphäre des Heroischen: „La fierté de l’obscur sur – das Ingenium la douceur du clair / Triomphant de la toile, en tire avec puissance / Les figures que veut garder Des Weiteren rühmt Molière die ideale „beau- sa résistance, / Et malgré tout l’effort qu’elle op- té parfaite“ (V. 111) des Kuppelfreskos – eine pose à ses coups, / Les détache du fond, et les vollkommene Schönheit, die sich in ihrer äs- amène à nous“ (V. 182-186). Wüsste man nicht, thetischen Ausgestaltung über das Naturvorbild dass der Dichter hier metaphorisch von einem erhebe. Da die Natur nicht perfekt sei, könne ‚Kampf‘ der hellen und dunklen Farbeindrücke der Künstler das Vorbild absoluter Schönheit spricht, könnte man angesichts der Begriffe von nur aus vielen Beispielen nehmen und mit an- ‚fierté‘, ‚Triomphant‘, ‚puissance‘, ‚résistance‘, gemessener „varietà“ (V. 133) zusammenfügen, ‚effort‘ und ‚coup‘ meinen, man habe es mit der um die Komposition so der idealen Gestalt an- Schilderung einer kriegerischen Auseinander- zunähern.25 Der „peintre commun“ (V. 135) da- setzung zu tun.24 gegen, von dem Mignard als geniale Figur des Exzeptionellen abgegrenzt wird, ergehe sich in immer gleichen, das Auge ermüdenden Formen: 3.3.2. Heroisierungsstrategie II „De redites sans nombre il fatigue les yeux“ – das Fresko (V. 137). Zur Fähigkeit, das Beste aus der Na- tur auszuwählen, müsse aber auch noch das Ingenium des Künstlers hinzutreten. Dieses sei Ein weiteres malereispezifisches Argument für sowohl göttliche Kraft (furor divinus, „feu divin“ die Heldenhaftigkeit Mignards bezieht sich auf (V. 27)) als auch intellektuelle Qualität („nobles die Technik der Freskomalerei. Diese Technik, pensées“ (V. 24))26 und würde nur wenigen Aus- in der Mignard arbeitet und damit, laut Mo­lière, nahmegestalten zuteil. Das Ingenium, so hebt LeBrun übertrumpft, ist eine Malweise, die große

helden. heroes. héros. Intermediale Heroisierungsstrategien bei Molière und Pierre Mignard

Molière wiederholt hervor, habe man oder man 3.3.4. Heroisierungsstrategie IV 55 habe es nicht – es sei „pouvoir“ (V. 31), „lar- – die Geschichtskonstruktion gesse“ (V. 131), „présents du Ciel“ (V. 199) und lasse sich nicht erlernen, so sehr man es auch Molière folgt in seinem Gedicht der Geschichts- versuche. Noch lange bevor die Genieästhetik konstruktion eines dunklen und ungebildeten Mit- im 18. und 19. Jahrhundert dominant werden telalters („fade goût des ornements gothiques“ sollte, lässt sich in Molières Lobgedicht die Stra- (V. 84), „siècles ignorants“, (V. 85)), in dem die tegie erkennen, Mignard als „génie“ (V. 19, V. 62, Errungenschaften der Antike untergegangen V. 242, V. 264, V. 305) bzw. als verdienstvollen sind. Diese wurden erst mit der Frühen Neuzeit „grand homme“ (V. 234, V. 332, V. 341) und da- wiederentdeckt und im Laufe der Zeit zu neuem mit als Künstlerhelden zu glorifizieren.27 Indem Glanz gebracht.33 Angesichts des Erstarkens Molière Harmonie, Illusionismus und Grazie der französischen Kunst und Literatur im Barock sowie eine kohärente Bildganzheit in Mignards und in der Klassik teilen Molière und De Piles die Fresko lobt, zeichnet er den Künstler besonders Überzeugung, dass man sich einem neuen Gip- aus, und das bei gleichzeitiger Missachtung der fel annähere.34 War es für Dufresnoy noch un- von LeBrun vorgegebenen Regel. Der ‚Premier vorstellbar, dass moderne Künstler wieder das Peintre du Roi‘ plädierte nämlich für eine Zentra- Niveau eines Zeuxis oder Apelles erreichen,35 lisierung der Bildelemente, d. h. die Ausrichtung sieht Molière in Mignard eine diesen antiken Vor- auf eine Haupthandlung mit überschaubarer An- bildern vergleichbare Künstlernatur. Als Apelles zahl von Bildfiguren, die – in Übereinstimmung ebenbürtiger Künstler wird er zur Gallionsfigur mit Colberts Kulturprogramm – das Ideal der seines Zeitalters erhoben und die etablierten auf den König als Zentrum ausgerichteten Po- Kunsthelden Giulio Romano, Annibale Carracci, litik mit ästhetischen Mitteln unterstützen soll- Raffael und Michelangelo als „Mignards de leur te.28 Mignards Figurenstrudel entsprechen nicht siècle“ (V. 277) bezeichnet.36 Damit wird also dieser Vorgabe der ‚Académie‘, die Hauptfigur nicht etwa Mignard zum neuen Raffael erklärt, zu betonen. Dennoch erreicht auch er es, die sondern vielmehr dieser qua anachronistischem wichtigsten Figuren in ganzer Gestalt (d. h. nicht Umkehrschluss zu einer Präfiguration des fran- verdeckt durch andere Figuren), in anatomischer zösischen Barockmalers. Korrektheit und als besonders schöne Erschei- Neben Raffael (für die Invention), Michel­ nungen darzustellen. Gemäß der italienischen angelo (Komposition, Form), Romano und Car- Kunsttheorie, die literarische, höfische und piktu- racci führt Molière auch Correggio (Licht und rale Diskurse einbezieht, soll der Maler dabei mit Schatten) und Tizian (Harmonie des Kolorits) als Schnelligkeit und ‚sprezzatura‘ verfahren – dem weitere Vorläufer in der Genealogie heroischer berühmten, mit Baldassare Castiglione und dem bzw. gottähnlicher Künstlernaturen an. Raffael idealen Auftreten des Hofmannes assoziierten und Michelangelo wurden in der Kunstliteratur Begriff29 – und somit auch die schwierigen Par- häufig mit dem Epitheton ‚göttlich‘ hervorgeho- tien seines Gemäldes so aussehen lassen, als ben und auch Tizians Bezeichnung als „Diuu­s wären sie mit Leichtigkeit gefertigt.30 Mit dieser appellatus“ (V. 534) wird in der von Molière ambivalenten Betonung der bei großem Einsatz übernommenen Reihe bei Dufresnoy genannt. dennoch mühelos wirkenden Kunstfertigkeit Mignard wird als neuer Apelles in diese Folge zeichnet Molière letztlich auch das Bild eines aufgenommen, die göttliche Qualität dabei aber Künstlers, das dem Ideal des ‚honnête homme‘ auf sein Werk bezogen: ebenso wie Zeuxis „fit entspricht, wie es in Frankreich bereits in den aller du pair avec le grand Apelle“ (V. 155), zeigt 1630er Jahren an besonders prominenter Stel- sich auch Mignard dem antiken Vorbild durch le von Nicolas Faret in seinem Buch L’Honnête sein malerisches Talent als ebenbürtig.37 Wie Homme ou l’art de plaire à la cour (1630) mo- die italienisch konnotierte Technik des Freskos delliert worden war.31 In der für Molières Gedicht wird Mignard in Molières Gedicht als „Romain“ charakteristischen Verbindung von Kraft und (V. 234) bezeichnet und im zeitgenössischen Leichtigkeit kommt damit eine Form von Hel- System kultureller Referenzen durch diese be- dentum zum Ausdruck, die im Einklang mit den deutungsreiche Nennung auch in die Nähe mondänen ästhetischen Idealen der zeitgenös- anderer römischer Heldenfiguren gerückt, die sischen Eliten zwischen ‚la cour‘ und ‚la ville‘ – beispielsweise vermittelt über viel gespielte, steht.32 gelesene und diskutierte Dramen wie Corneilles Horace (1641), Cinna ou la clémence d’Auguste (1643), La mort de Pompée (1644), Sertorius (1662) oder Othon (1665) – die Heldendiskurse der Zeit stark prägten.38

helden. heroes. héros. Christina Posselt-Kuhli, Jakob Willis

56 3.3.5. Heroisierungsstrategie V wird.41 Mit Saturn verbindet sich so eine posi- – der Kupferstich oder der tive Zeitvorstellung, die Lügen und Neid durch ihre Entlarvung besiegt und die Wahrheit – die unsterbliche Ruhm in der Kunst und Wissenschaft liegt – ans Licht bringt.42 Als die wahre Kunst gilt dabei Mignards „La Peinture peignant d’aprés la Verité, qui lui Malerei, sein Ingenium und sein Talent in allen 39 est montrée par le Tems” – die so von Simon- drei Teilen (Idee, Komposition/Zeichnung und Philippe Mazières de Monville in dessen Bio- Kolorit), wie sie in den die Malerei flankierenden graphie zu Pierre Mignard beschriebene Alle- Figuren personifiziert sind. Molières Geschichts- gorie setzt einen programmatischen bildlichen konstruktion vom dunklen Mittelalter und der neu Schlusspunkt, der seit der mit Privilège verse- erstrahlenden Gegenwart geht völlig auf in der henen Edition 1669 kontinuierlich Verwendung Ikonographie des Chronos als Wiedererwecker findet und die literarischen Heroisierungsstrate- der Künste, die die Kunstförderung des Herr- gien Molières durch weitere mediale Formen der schers allegorisiert und im Kult um Louis XIV Hervorhebung ergänzt. Zu sehen ist in diesem gipfelt (Hoberg 6-7). Der unsterbliche Ruhm, Kupferstich die in Rückenansicht gezeigte Per- der Mignard zuteil wird und der ihn über Chro- sonifikation der Malerei, die von Chronos auf nos erhebt, gründet sich auch auf Molières Text, das Modell, die (nackte) Wahrheit, hingewiesen dessen letzte Zeilen auf der gleichen Seite wie wird [Abb. 3]. Neben den Kunstzitaten, die Mig- der Kupferstich abgedruckt sind. Somit sind es 40 nard damit aufruft, spielt er mit Überlagerungen zwei Kunstwerke bzw. Künste, die vor Chronos mehrerer topischer Szenen. Eine Bedeutungs- bewahrt und von Louis XIV gefördert werden: ebene liegt in der Vorbildhaftigkeit der Natur- das Fresko Mignards und die Dichtung Molières. schönheit, die in der Kunst als ideale Schönheit zur Vollendung gebracht wird. Die Landschaft im Hintergrund markiert dabei den Anteil der Natur, die venusartige Wahrheit steht hingegen 3.3.6. Heroisierungsstrategie VI auf gerastertem Boden, bereit, von der Malerei – die formalen Attribute des auf der Leinwand festgehalten zu werden. Dass Heroischen Chronos und Wahrheit ein zusammengehöriges Paar bilden, wird nicht nur durch dessen Gestik Neben diesen im weitesten Sinne kunsttheo- und das Attribut der Sanduhr in den Händen der retisch motivierten und begründeten Heroisie- Frau deutlich, ihre Verbindung erschließt sich rungsstrategien finden sich über den Text verteilt dem gelehrten Leser auch durch die ‚Veritas filia auch Beispiele dafür, dass Mignard von Molière Temporis‘-Allegorie (die Wahrheit als Tochter der noch auf einer anderen Abstraktionsebene mit Zeit). Mit der Malerei erweitert sich das Schema den vier oben genannten formalen Attributen des jedoch noch und alludiert die von Plinius be- Heroischen, namentlich Autonomie, Transgres- richtete Apelles-Kampaspe-Szene. Der antike sivität, Agonalität und Charisma, als heroische Maler, mit dem Molière Mignard im Gedicht ver- Figur gekennzeichnet wird. gleicht, genoss laut Plinius nicht nur das Privileg, Die Autonomie, d. h. die Handlungsmächtig- Alexander den Großen zu malen, er durfte auch keit und die selbstbestimmte Tätigkeit Mignards, dessen Geliebte Kampaspe porträtieren. Bei ei- wird immer wieder besonders betont: So wird nem Besuch in Apelles’ Atelier bemerkt Alexan- er beispielsweise als ein Maler beschrieben, der, dass sich der Maler in sein schönes Modell der das Fresko „traite à sa manière“ (V. 257) verliebt hat und überlässt ihm daraufhin groß- und sich ganz seinen „emplois de feu“ (V. 348) zügig seine Geliebte. Dieses Motiv, das die Be- verschreibt. Während die gewöhnlichen Ma- ziehung zwischen Herrscher und Künstler und ler Techniken wie die Ölmalerei wählen, die es ihre reziproke Rangsteigerung zum Thema hat, ihnen erlauben, die zögerlich getroffenen Ent- dient zunächst der Heroisierung Mignards durch scheidungen zu korrigieren, trägt Mignard mit den Vergleich mit dem exzeptionellen antiken kräftigen und souveränen „coups de pinceau“ Künstler Apelles. Zudem wird Louis XIV durch (V. 177) seine Farben auf die Kuppel der Kirche die Beziehung Künstler – Mäzen mit Alexander Val-de-Grâce auf. In diesem Zusammenhang und damit einem der profiliertesten Helden der wird die Tatkraft des heroischen Malers wie- Tradition in Bezug gesetzt. Der König erscheint derholt auch metonymisch mit der erregten und als Chronos bzw. Saturn, d. h. allegorisiert in der schnell agierenden Hand gleichgesetzt: Einmal Gestalt eines Gottes, und übernimmt dessen Ei- ist es die „main prompte à suivre un beau feu qui genschaft als Kunstförderer. Nicht die zerstöreri- la guide“ (V. 267), ein andermal ist es die „main, sche Zeit ist nämlich mit Chronos figuriert, son- qui se met en chaleur“ (V. 313). dern das Anbrechen einer neuen Zeit, in der die

Kunst zu neuer Blüte und neuem Glanz geführt

helden. heroes. héros. Intermediale Heroisierungsstrategien bei Molière und Pierre Mignard

Die Transgressivität, d. h. die Überschreitung „pouvoir“ (V. 31), mit Gaben, die als „largesse“ 57 von Normen, der Bruch mit den Konventionen (V. 131) und „présents du Ciel“ (V. 199) bezeich- und die Erschließung neuer Handlungsmuster net werden, ausgestattet wird, hebt er sich als und Werte, wird Mignard von Molière ebenfalls ein auserwähltes Individuum von der Masse ge- wiederholt zugeschrieben. So wird beispielswei- wöhnlicher Künstler ab. Molière schwärmt, dass se darauf verwiesen, dass er sich in allen Be- seine Werke ein gewisser Zauber („merveille“, langen vom „peintre commun“ (V. 135) abhebt (V. 204); „miracles“ (V. 286)) umspiele, der sich und als „grand peintre“ (V. 131) eine Stellung als Phänomen des Inkommensurablen letztlich außerhalb des Gewöhnlichen einnimmt. Das allen rationalen Erklärungsversuchen entziehe. Fresko mit seiner besonderen Betonung des Mignards Kunstwerke „font voir / Ce que l’esprit Kolorits, das – wie bereits oben ausführlich er- de l’homme a peine à concevoir“ (V. 325-326). läutert wurde – in Kontrast zum normativen Ma- Für die starke Anziehungskraft, die sie so auf die lereiprogramm der ‚Académie‘ stand, lässt Mig- Betrachter ausüben, findet sich gleich eine gan- nard als einen innovativen Künstler erscheinen, ze Reihe von umschreibenden Begriffen. Einmal der bewusst die Konfrontation mit der kunst- ist die Rede von „charme“ (V. 29), ein andermal politischen Obrigkeit sucht. Immer wieder hebt von „force“ (V. 30) und nachdem es einmal heißt, Molière (aus kunsthistorischer Sicht zu Unrecht) dass das Kunstwerk „[a]ttirera les pas des sa- hervor, dass ein Fresko wie jenes Mignards ein vants curieux“ (V. 206), gipfelt die Schilderung absolutes Novum darstelle („Cette belle peinture der charismatischen Wirkung des Schöpfers und inconnue en ces lieux“, (V. 238), „Jamais rien seines Kunstwerks bezüglich der Höflinge in der de pareil n’a paru dans ces lieux“ (V. 281)), das Feststellung, es habe „pour quelque temps fixé das Publikum überwältige und in seinen Bann l’inquiétude; / Arrêté leur esprit; attaché leurs re- schlage: „Et la belle inconnue a frappé tous les gards“ (V. 288-289). Indem das Gemälde durch yeux“ (V. 282). Damit greift Molière eine wichtige sein „brillant de grandeur“ (V. 93), seinem Ein- rezeptionsästhetische Beschreibungskategorie druck von Licht und Größe, gleich doppelt visuell auf: das Staunen, das sich in der überraschen- hervorsteche, ziehe es die Zuschauer in seinen den Erscheinung des Kunstwerks und der künst- charismatischen Bann. Diese Wirkung ist auch lerischen Fertigkeit begründet, wurde – häufig im dem strahlenden Helden eigen. Vergleich mit der Dichtung – als bedeutungsvol- ler Affekt von Lomazzo, Armenini, Comanini und Zuccari beschrieben.43 Die Agonalität Mignards, d. h. seine Kampf- 4. Ut pictura poiesis bereitschaft, sein leidenschaftlicher Einsatz und seine Freude am Wettstreit, ist ein weite- Molière widmet sich in seinem Gedicht aber rer Punkt, der für die Heroisierung des Malers nicht nur lobend Mignard und seinem Werk, son- in dem Gedicht von entscheidender Wichtig- dern, so die These, schafft es dabei auch auf keit ist. Zum einen ist in diesem Kontext immer subtile Art und Weise, sich qua Fremdheroisie- wieder die Rede von den gewaltigen „travaux“ rung selbst zu heroisieren. Bevor es in der Folge (V. 37, V. 236, V. 331) und dem „effort“ (V. 41) darum geht, dies herauszuarbeiten, sei in aller des Künstlers, der sich ganz in den Dienst seiner Kürze gezeigt, wie Molière sich unter Rückgriff Werke stellt. Und zum anderen stilisiert Mo­lière auf kunst- und literaturtheoretische Topoi als die Auseinandersetzung zwischen den unter- sprachbegabter Kunstkenner inszeniert, der da- schiedlichen Malstilen zu einem erbitterten Wett- durch zwar noch kein Held, wohl aber eine be- streit, in dem Mignards Freskotechnik „[s]ur les wundernswerte Ausnahmegestalt ist. Als solche honneurs de l’autre emporte la victoire“ (V. 272). zeigt er sich letztlich selbst dem König ebenbür- Weiter oben konnte bereits gezeigt werden, dass tig, wird dieser doch auch als ein Mann beschrie- der Dichter mit Begriffen wie ‚fierté‘, ‚puissance‘, ben, der mit einem „goût délicat des savantes ‚résistance‘, ‚effort‘ und ‚coup‘ zudem systema- beautés (…) [d]écide sans erreur, et loue avec tisch auf eine kriegerisch-agonale Semantik zu- prudence“ (V. 294-296). rückgreift. Das Charisma schließlich, d. h. die göttliche Begabung, die auratische Wirkung und die An- 4.1. Kunstkennerschaft ziehungskraft, die Mignard bzw. seinem Kunst- werk zugesprochen wird, ist ein letztes Attribut des Heroischen, das von Molière im Verbund Die Beschreibung des Kuppelfreskos leitet Mo- mit den Kennzeichen Autonomie, Transgressi- lière, wie bereits weiter oben gezeigt werden vität und Agonalität verwendet wird, um seinen konnte, als ‚Schule des Sehens‘ ein. In der pa- Freund zum Künstlerhelden zu stilisieren. Indem radoxen Definition des Kunstwerks als „école Mig­nard als genialer Künstler mit einer göttlichen ouverte“ (V. 44) und Mysterium, hält er nicht nur das Talent des Künstlers hoch, das letztlich allen helden. heroes. héros. Christina Posselt-Kuhli, Jakob Willis

58 Regeln enthoben ist, sondern erklärt sich auch über den ganzen Text verteilt immer wieder eine selbst zum Kunstkenner und -vermittler. Obwohl wesenhafte Nähe zwischen den beiden Künsten Molière selbst kein Mitglied der Académie ist, betont wird, und zum anderen vergleicht, inwie- verfügt er doch über genügend theoretisches fern die Charakterisierung der Kunst Mignards Wissen, um sich in seinem Lobgedicht als fach- auf Grundsätze der Poetologie Molières zu- kundiger ‚amateur‘ darzustellen, der darüber rückzuführen ist.49 So wird die durch das Fresko hinaus das Vermögen besitzt, das Kunstwerk ausgestaltete Kuppel etwa als ein „ample thé­ durch seine Sprachfertigkeit blicklenkend dem âtre“ (V. 20) und ein „spectacle“ bezeichnet, in Betrachter näherzubringen.44 dem die „première figure“ bzw. der „héros“ dem Der auf die Ars Poetica des Horaz zurückge- „spectateur“ gegenüber als „plus beau person- hende Topos des ‚ut pictura poiesis‘, den Molière­ nage“ eine besondere „rôle“ (V. ­92-98) einnimmt. verwendet, um die Nähe der Künste Dichtung und Das Theater und die Malerei, das suggerieren Malerei im Sinne eines Schwesternverhältnisses Molières Ausführungen, bedienen sich gleicher („la Poésie, et sa sœur la Peinture“, (V. 63)) zu oder doch zumindest ebenbürtiger Mittel, um betonen, ist in den kunsttheoretischen Schriften den „achèvement de l’art“ (V. 160) zu realisieren. des 17. Jahrhunderts gängige Münze und über- So sieht Molière – wie Hénin es ausdrückt – in rascht deshalb kaum. Er findet sich in Molières Mignards Freskomalerei den „reflet de sa propr­e Text in einer Formulierung, die den von Plutarch pratique“ (Hénin 41). Genau genommen ist es überlieferten Ausspruch des Simonides auf- der Autor, der die Qualitäten der Malerei be- greift, wonach die Malerei stumme Dichtung und schreibt und damit seine eigenen Fähigkeiten an die Poesie sprechende Malerei sei: „ces deux den Endpunkt des Vergleichs setzt – es braucht sœurs si pareilles/ Charment, l’une les yeux, et den Dichter und Kunstkenner Molière, um die l’autre les oreilles“ (V. 67-68). Auch mit dem Rat, außergewöhnliche Qualität der Schöpfung Mig- sich beim Malen nach den Gesten der Stummen nards zu verstehen und zu vermitteln. zu richten, pflegt Molière die kunsttheo­retische Tradition (Alberti, Leo­nardo).45 Die Beziehung der Künste wurde dabei ob ihrer Kunstmittel und 4.2. Selbstheroisierung qua Fremd­ Wirkung häufig auch als Paragone, als Wettbe- werb und Rivalität dargestellt – ein Standpunkt, heroisierung der in Molières Umfeld unter anderem von Claude Perrault, Sekretär der ‚Petite Académie‘46 Über die größtenteils topische Engführung der und später auch Mitglied der ‚Académie Royale beiden Kunstformen hinaus lässt sich auch de Peinture et de Sculpture‘ sowie Organisator nachweisen, dass die Heroisierung Mignards der ‚Conférences‘, vertreten wurde.47 Jean de La eine Selbstheroisierung Molières impliziert. Fontaine bringt diese rivalisierende Haltung zum Indem signifikante Parallelen in der Spezifik Ausdruck, wenn er, der Dichter, in seinem Frag- der beiden künstlerischen Ansätze betont wer- ment gebliebenen Langgedicht Le Songe de den, treten beide als Künstlerhelden hervor. Vaux von 1671 provokativ zuspitzt: „Enfin, j’imite Die lebhafte „diversité“ der Formen, Farben tout par mon savoir suprême; / je peins, quand und Figuren (V. 133), die das Fresko Mignards il me plaît, la peinture elle-même“ (La Fontaine wirklichkeitsgetreu erscheinen lässt, ist ein we- 108). Für Molière sind Dichtung und Malerei je- sentliches Merkmal der großen Charakter- und Sittenkomödien Molières. In diesen als „miroirs doch gleichwertige Ausdrucksmittel, was nicht 50 zuletzt dadurch zu Tage tritt, dass er Metaphern publics“ (Molière 502-503) konzipierten Stü- aus dem Bereich des Theaters verwendet, um cken werden repräsentative Figuren der Zeit Mignards Fresko zu beschreiben. Wie bereits mit ihren Lastern und Schwächen dargestellt, wobei großer Wert darauf gelegt wird, dass die René Bray, Emmanuelle Hénin und Jacqueline 51 Lichtenstein zeigen konnten, handelt es sich „peinture de leurs défauts“ (Molière 93) nicht bei Molières Bildbeschreibung aber interessan- im rein Typenhaften verharrt, sondern die Vielfalt terweise nicht um eine traditionelle Ekphrasis der Charakterzüge individueller ‚personnages‘ („Le poème (…) ne décrit point l’œuvre qui lui erkennen lässt. In der Einleitung zur Neuauf- donne son titre.“ (Bray 194)), sondern vielmehr um lage der Gesammelten Werke Molières heben eine „théorie enveloppée de fiction dramatique“ Georges Forestier und Claude Bourqui bezüg- (Hénin 34)48 bzw. eine „véritable théorie colorist­e lich dessen ‚programme de peinture de mœurs‘ de la peinture“ (Molière 1349), die sowohl als in diesem Sinne auch hervor, dass sich Molière eine Apologie des Malstils Mignards als auch der als erster Komödiendichter seiner Zeit explizit eigenen Dramenkunst verstanden werden kann. mit den verschiedenen Werten und Verhaltens- Dieser freilich an keiner Stelle explizit gemach- weisen seines durchaus heterogenen Publikums te Argumentationszusammenhang wird augen- auseinandergesetzt habe: „Par rapport à celles scheinlich, wenn man zum einen beachtet, wie de ses prédecesseurs et de ces concurrents, les comédies de Molière se singularisaient donc par

helden. heroes. héros. Intermediale Heroisierungsstrategien bei Molière und Pierre Mignard un degré absolument inédit d’intégration des va- schnell und kunstfertig auszuführen, an zentraler 59 leurs du public“ (Molière, I, 30). Stelle erwähnt, um sich selbst qua Fremdheroi- Auch schreibt Molière der Kunst Mignards sierung zu einem Helden der literarischen Kunst und seinem eigenen Theater eine ähnliche Wir- zu stilisieren. kung zu. Mignards Fresko habe „touché de la cour le beau monde savant“ und selbst auf die weniger gebildeten Höflinge einen starken Ef- fekt ausgeübt. Es habe „fixé l’inquiétude; / Arrêté 4.3. Die Künstler auf dem Parnass leur esprit; attaché leurs regards“ (V. 285-289). In La critique de l’École des femmes expliziert Der dem Gedicht in der Edition von Le Petit Uranie dem ganz ähnlich Molières Verständnis voran­gestellte Kupferstich Minerve conduisant der Komödie, wenn sie sagt: „Pour moi, quand la Peinture sur le Parnasse [Abb. 4] greift die je vois une Comédie, je regarde seulement si Thematik der Selbstheroisierung qua Fremd­ les choses me touchent“ (Molière, I, 507). Auch heroisierung auf. Er zeigt, wie die Allegorie der wenn sich Molière in dem stark poetologisch ge- Malerei von Minerva, der Schutzgöttin der Male- prägten Stück klar von der aristotelischen Poe- rei, auf den Parnass geführt wird, wo die Musen 52 tik abgrenzt, unterstreicht er doch die affektive zu Füßen ihres Gottes Apoll ruhen. Wirkung, die einen zentralen Wert der dramati- Dieser, lorbeerbekrönt und mit seinem Attri- schen Kunst ausmache. Steht bei Aristoteles mit but, der Leier, im Arm, kann durch Embleme des Blick auf die Tragödie die kathartische Wirkung Rahmens – eine weitere Leier, flankiert von zwei der Affekte ‚phobos‘ und ‚eleos‘ im Mittelpunkt, Adlern – und der darüberstehenden strahlenden 53 so ließe sich Molières wirkungsästhetisches Pro- Sonne mit Louis XIV assoziiert werden. Der gramm freilich besser auf die Begriffe ‚toucher‘ König bietet den Künsten und Wissenschaften und ‚plaire‘ zuspitzen – eine Wirkung, die sich ‚sicheres Asyl‘, sein politischer Erfolg wird mit ihm zufolge auch bei der Betrachtung von Mig­ dem Aufstieg und der Entwicklung der franzö- nards Fresko einstelle. sischen Künste als Zeichen seiner Macht paral- Dass sich Molière durch die Engführung der lelisiert: „et même à mesure que les Armes de besagten ästhetischen Gestaltungsprinzipien Sa Majesté faisoient de nouvelles conquêtes, implizit auch selbst heroisiert, wird besonders ils faisoient aussi de nouveaux progrez pour dann deutlich, wenn man bedenkt, welcher Stel- rendre plus mémorable le règne de ce puissant 54 lenwert der Fähigkeit zum schnellen Handeln in Mo­narque“ (Félibien 7). Obwohl Apoll meist der weiter oben analysierten Heroisierung Mig­ deutlicher mit der Dichtung (etwa durch das nards zukommt. Die „justesse rapide“ (V. 268), Attribut der Leier) als mit der Malerei assoziiert mit der dieser seinem „travail soudain“ (V. 257) wird, kann mit der Sonnenemblematik im Umfeld im Fertigungsprozess des Freskos nachkommt, Louis‘ auch auf die Bildende Kunst verwiesen lässt sich sehr gut auf Molières eigenen Schaf- werden. Laut Perraults mythischer Schöpfungs- fensprozess rückbeziehen. In dem selbstrefe- geschichte der Malerei ist es die Louis-Apoll re- rentiellen Einakter L’Impromptu de Versailles, präsentierende Sonne, die „mit ihren Strahlen 1663 uraufgeführt, aber erst 1682 posthum pu- jedem Ding seine Farben wie mit dem Pinsel“ 55 bliziert, lässt Molière seinen gleichnamigen Pro- (Brassat 360) verleiht. Der Herrscher erscheint tagonisten ausdrücklich den Wert des schnellen durch die Überblendung mit dem Musengott Arbeitens hervorheben: Apoll selbst als heroischer ‚Schöpfer‘ – eine seit der Renaissance gebräuchliche Bezeichnung Molière: Mon Dieu, Mademoiselle, les für Künstler, die ihre intellektuelle und geistige Rois n’aiment rien tant qu’une prompte Qualität betont. Dank der Förderung des schöp- obéissance […]. Ils veulent des plaisirs ferisch-heroischen Königs Louis-Apoll wird die qui ne se fassent point attendre […] et Malerei in das Reich der Musen aufgenommen lorsqu’ils nous ordonnent quelque chose, und damit – ähnlich der Aufnahme von Helden in c’est à nous à profiter vite de l’envie où den Götterhimmel Olymp – heroisiert. ils sont. Il vaut mieux s’acquitter mal de Vermittelt über die Heroisierung der Malerei ce qu’ils nous demandent, que de ne s’en acquitter pas assez tôt; et si l’on a la honte wird in dem Kupferstich aber auch die Dichtung de n’avoir pas bien réussi, on a toujours la ausgezeichnet: Durch das bekannte Wortspiel gloire d’avoir obéi vite à leurs commande- von Apelles und Apollo, der in erster Linie der ments. (Molière 823) Gott der Dichtkunst ist, wird der bereits im Ge- dicht mit dem Topos der Schwesternkünste reali- Gerade die von Louis XIV beauftragten Stücke sierte Vergleich von Malerei und Dichtung aufge- mussten oftmals unter erheblichem Zeitdruck nommen. Es ist in einer weiteren Bezugsebene fertig gestellt werden und es überrascht nicht, nicht nur der Maler Mignard – vertreten durch die wenn Molière die exzeptionelle Fähigkeit, Werke Allegorie der Malerei –, sondern auch der Dichter

helden. heroes. héros. Christina Posselt-Kuhli, Jakob Willis

60 Molière auf dem Weg zum Parnass, zum Musen- diesem Fall direkt von Mignard und dem Fresko gott Apoll. Dies wird nicht nur im Bild durch die in Val-de-Grâce, indirekt von Molière und seinem Zuständigkeitsbereiche von Minerva (Kunst) und dichterischen Schaffen – stehen sich zwei Medi- Apoll (Dichtung) inszeniert, sondern erschließt en jedoch nicht konkurrierend gegenüber, viel- sich auch durch den Umstand, dass der Kupfer- mehr gehen sie eine schwesterliche Beziehung stich ein paratextuelles Element des Gedichtes ein. Mit den Heroisierungsstrategien begegnen von Molière ist. Die Kunst und die Dichtung sind Molière und Mignard, gewissermaßen vereint als über das Medium des Druckes damit auch auf heroische Kampfgefährten, ihren Kritikern und einer ganz konkreten, materialen Ebene mitei­ schlagen diese mit den Waffen ihrer künstleri- nander verbunden. schen Theorie und Praxis.

1 Der Illusionismus der figurenreichen Spiralstruktur, die ein Abbild der göttlichen Unendlichkeit suggeriert, wurde zu- 5. Fazit erst 1530 in der Himmelfahrt Mariä im Dom zu Parma von Correggio zelebriert. Auch Lanfranco in Sant’ Andrea della Valle in Rom schuf ein ähnlich strukturiertes Kuppelfresko, Das Gedicht La Gloire du Val-de-Grâce ist ein gefolgt von Cortonas Trinität 1647-51 und der Himmelfahrt herausragendes Beispiel intermedialer Heroi- Mariä 1659-60 in der Chiesa Nova (Santa Maria in Vallicella). sierungsstrategien. Vor dem Hintergrund einiger 2 Der Hinweis auf die Rezeption des Werkes, insbeson- allgemeiner theoretischer Überlegungen konn- dere auch bei Perrault, ist Jacqueline Lichtensteins Notice te das Enkomium mitsamt seiner Kupferstiche in der Ausgabe der Bibliothèque de la Pléiade zu verdanken. Vgl. dazu Molière 1347. gewinnbringend einer konkreten Modellanalyse unterzogen werden. Dabei wurde gezeigt, in- 3 Die Abtei wurde 1621 von Anne d’Autriche gegründet. Für den Bau der neuen Kirche von Val-de-Grâce legte Louis wiefern (künstlerisches) Heldentum mit sozialen XIV 1645 den Grundstein. Er wurde nach Plänen von Fran- Funktionalisierungen wie auch mit Prozessen çois Mansart begonnen, nach einer Bauunterbrechung durch der interpersonalen Zuschreibung und der me- die Fronde dann von Jacques Lemercier, Pierre Le Muet und dialen Kommunikation verbunden ist. Das Phä- Gabriel Le Duc vollendet. nomen der Heroisierung konnte selbst wiederum 4 Dies ist der einzige Ort ihrer Darstellung als Ganzfigur, im Spannungsfeld von künstlerischer Praxis, im dekorativen Programm der Kirche ist die Königin sonst vertreten durch Wappen oder Monogramm. Kunsttheorie und professioneller Pragmatik ver- 5 Vgl. dazu Germann, Jennifer. „The Val-de-Grâce as a ortet und am Analysegegenstand des Enkomi- Portrait of Anne of . Queen, Queen Regent, Queen ums nachgewiesen werden. Mother.“ Architecture and the Politics of Gender in Early Die in Molières Lobgedicht angelegte Inter- Modern Europe. Hg. Helen Hills. Aldershot: Ashgate, 2003: medialität ergibt sich nicht nur thematisch durch 47-61 und Rotmil, Lisa A. „Understanding Piety and Reli- gious Patronage. The Case of Anne of Austria and the Val- die literarische Beschreibung eines Kunstwerks. de-Grâce.“ Art in Spain and the Hispanic World. Essays in Durch den Topos des ‚ut pictura poiesis‘, den Honor of Jonathan Brown. Hg. Sarah Schroth. London: Hol- Molière beziehungsreich ausgestaltet, setzt er berton, 2010: 267-281. seinen Künstlerhelden Mignard mit sich selbst 6 Das Privilège der ersten, bei Jean Ribou 1669 in Paris als Heldenmacher in Beziehung. Das lebhafte erschienenen Ausgabe ist auf den 5.12.1668 datiert. Sehr Kolorit, dem eine wesentliche Rolle im Zusam- wahrscheinlich hat es unmittelbar davor aber bereits Lesun- gen Molières im Salon der Mlle de Bussy gegeben. Vgl. dazu menhang diesr Argumentation zukommt, zeich- Molière 1346. Zur Freundschaft der beiden Künstler vgl. ebd. net Molière zufolge nicht nur Mignard gegen- und Bray 194. über LeBrun aus, sondern wird zur Chiffre für 7 Es kann vermutet werden, dass Molière selbst mit Mig­ das eigene literarische Schaffen. Eine ähnliche nard, der die zeichnerischen Vorlagen schuf, über die Plat- Parallelisierung verbindet die Technik der Fres- zierung und Gestaltung der Kupferstiche übereinkam. Die komalerei mit Molières Produktionsweise: Beide Illustration von gedruckten literarischen Werken war im 17. Jahrhundert üblich und wurde zunehmend als ergänzen- setzen einen schnell, entschlossen und beherzt der und erklärender Buchschmuck verstanden. Zwar hatte agierenden Künstler voraus, der sich damit als auch der Verleger ein kaufmännisches Interesse an der Aus- heroische Figur des Außergewöhnlichen vom gestaltung des Druckes, doch sind die Abbildungen in Mo- ‚artiste commun‘ abhebt. lières Gedicht argumentativ so tiefgründig, wie es nur eine Zusammenarbeit zwischen Autor und Künstler erlaubt. Der Vor dem Hintergrund der virulenten Debatten ausführende Kupferstecher François Chauveau illustrier- der ‚Académie‘ und dem sensiblen Verhältnis te einige Werke von Molière, La Fontaine und Racine (vgl. zur kunstfördernden Obrigkeit stehen Künstler Funke, Fritz. Buchkunde. Ein Überblick über die Geschichte wie Molière und Mignard unweigerlich in Kon- des Buches. 6. überarb. und ergänzte Aufl. München: Saur, 1999: 291). kurrenzen und Abhängigkeiten, die anhand der besprochenen Heroisierungsstrategien letzt- 8 In weiten Bereichen der Geistes- und Sozialwissen- schaften wird bislang oftmals mit Begriffen wie ‚Held‘, ‚he- lich auch als intermedialer Wettstreit und als roisch‘ und ‚Heroisierung‘ sowie ihren jeweiligen Derivaten Überbietungsstrategie der ‚richtigen‘ Kunstmit- operiert, ohne sie theoretisch und methodisch weiter ein- tel verstanden werden müssen. Durch die He- zugrenzen und in ihren jeweiligen sozialen, kulturellen und roisierung des Künstlers und seiner Kunst – in medialen Konfigurationen zu verorten. Der Freiburger SFB 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“, in dessen

helden. heroes. héros. Intermediale Heroisierungsstrategien bei Molière und Pierre Mignard interdisziplinärem Kontext beide Autoren forschen, hat sich Verhandlungen über Krieg und Frieden eingesetzt werden 61 diese fehlende historisch perspektivierte Analyse zum Ziel (vgl. Jacob-Friesen, Holger. „Malender Philosoph, Gelehrter gesetzt. Der vorliegende Beitrag widmet dem Phänomen der Edelmann und Diplomat. Zu Rubens’ Selbstverständnis und Heroisierung zum einen eine dezidiert theoretische Aufmerk- Selbstdarstellung.“ Peter Paul Rubens. Ausst.-Kat. Wupper- samkeit, vollzieht dieses zum anderen aber auch an der kon- tal 2012-2013. Hg. Gerhard Finckh u. a. Wuppertal: Von der kreten Auseinandersetzung mit schriftlichen und pikturalen Heydt-Museum, 2012: 128-145); Poussin überwindet agonal Zeugnissen nach. die Grenzziehungen französischer und italienischer Kunst und damit nationale Schranken. Insbesondere die Literatur 9 In Frankreich vollzieht sich diese Weitung des Begriffs und Biographik hat mit topischen Überhöhungsstrategien héros etwa in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Herbert Kolb regen Anteil an der Heroisierung von Künstlern (vgl. den geht in einem insgesamt gut dokumentierten Aufsatz der in Vorbereitung befindlichen Sammelband Helm, Katharina Kongruenz und Differenz der als „moralisch“ und „literarisch“ u. a. Hg. Künstlerhelden? Heroisierung und mediale Insze- bezeichneten Heldenbegriffe nach, gibt allerdings einen fal- nierung von Malern, Bildhauern und Architekten. Merzhau- schen Erstbeleg für die Verwendungsweise von héros als sen: ad picturam, 2015). Hauptfigur an: Er führt ihn auf das Examen von Corneilles Polyeucte zurück, übersieht dabei aber, dass dieses erst 19 Die Tatsache, dass sich Molière in der Entstehungszeit der Edition von 1660 beigefügt wurde und nicht schon, wie des Gedichts trotz des allgemeinen Erfolgs auch mit der fälschlicherweise angenommen, der Erstausgabe von 1643. teilweise sehr erbitterten Kritik an seinem bereits 1664 ur- Vgl. Kolb, Herbert. „Der Name des ‚Helden‘: Betrachtun- aufgeführten, aber erst im Februar 1669 in einer deutlich gen zur Geltung und Geschichte eines Wortes.“ Zeiten und veränderten Version endgültig auf die Bühne gebrachten Formen in Sprache und Dichtung. Hg. Karl-Heinz Schirmer. Stück Tartuffe ou l’Imposteur auseinandersetzen musste, Wien: Böhlau, 1972: 384-406. legt ebenfalls nahe, dass er in dem Gedicht auch in eigener Sache spricht. Vgl. dazu auch Hénin 44. 10 Die Begriffe werden unter 3.3.6. näher erläutert. Vgl. dazu auch den Grundlagentext des Freiburger SFB 948 „Hel- 20 Auch andere Begriffe aus dem Bereich des Leiden­ den – Heroisierungen – Heroismen“, in dem unter anderem schaftlichen („brûlent“ (V. 220), „soupirs“ (V. 222), „embras- diese vier Attribute im Sinne einer Wittgenstein’schen ‚Fa- ser“ (V. 223)) tragen an dieser Stelle mit dazu bei, leichte milienähnlichkeit‘ zur heuristischen Bestimmung heroischer Zweifel an der Stimmigkeit der Verbindung zwischen dem Figuren angeführt werden: von den Hoff u. a. 8. sinnlichen Gemälde und seinem keuschen geistlichen Um- feld zu nähren. 11 Vgl. speziell für den Aspekt der Heroisierung Hans W. Hubert zu Michelangelos David-Statue: Hubert, Hans 21 Neu war die Technik des Freskos zwar in Frankreich W. „Gestalten des Heroischen in den Florentiner David- nicht, wie Molière behauptet, doch wurde mit Mignard ein Plastiken.“ Heroen und Heroisierungen in der Renaissance neuer Höhepunkt erreicht. (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 22 Aleida und Jan Assmann haben mehrfach auf die erin- 28). Hg. Achim Aurnhammer u. a. Wiesbaden: Harrassowitz, nerungsstabilisierende „Verbindung von Text und Name“ hin- 2013: 181-218. gewiesen. Als klassisches Beispiel führen sie die „Sieges-, 12 Ca. 1637-38, Öl auf Leinwand, 159 x 206 cm, Paris, Helden- und Preislieder der mündlichen Kultur“ an, doch Musée du Louvre; eine zweite Fassung in New York, Metro- auch die schriftliche Herrscherpanegyrik soll der Sicherung politan Museum of Art. der ‚fama‘ dienen. Vgl. Assman, Aleida u. a. „Schrift und Ge- dächtnis.“ Schrift und Gedächtnis. Archäologie der literari- 13 1661-65, Öl auf Leinwand, 707 x 450 cm, Paris, Musée schen Kommunikation I. Hg. Aleida Assmann u. a. München: du Louvre. Fink, 1983: 265-284, hier 276-277. 14 Der Frage nach den Formen auratischer Repräsentation 23 Molière erwähnt in seinem Gedicht die Arbeiten Mig­ des Helden in Frankreich vom 17. bis zum 19. Jahrhundert nards im Schloss von Saint-Cloud. Dort schuf der Künstler gehen Andreas Gelz und Jakob Willis in einem romanisti- in Stuck eingelassene Leinwandbilder für den Bruder des schen Teilprojekt des SFB 948 nach. Königs. Von der ausgestatteten Galerie d’Apollon mit dem 15 Im Anschluss an Soeffners Überlegungen zum Heiligen flankierenden Salon de Mars und dem Cabinet de Diane, die lässt sich zeigen, wie der Held über indexikalische Zeichen 1870 zerstört wurden, haben sich Zeichnungen, Kupfersti- wie den Glanz als reines Präsenzerlebnis und als ein inkom- che, Tapisserien und Fotos erhalten. Vgl. Widauer, Heinz. mensurables Phänomen des Exzeptionellen konstruiert wird. Die französischen Zeichnungen der Albertina. Vom Barock 16 Heroisierung und Divinisierung verfügen somit über ein bis zum beginnenden Rokoko (beschreibender Katalog der vergleichbares Repertoire an Verfahren, weshalb beide, Handzeichnungen in der Albertina, X). Hg. Klaus Albrecht nicht zuletzt auch durch den antiken Ursprung der Helden Schröder. Wien u. a.: Böhlau, 2004: 42-43. als Halbgötter, nicht immer klar voneinander abzugrenzen 24 Die Semantik findet sich in der Zeit beispielsweise ­ in sind. Das Heroische kann ebenso im Zeichen des Religiösen den heroischen Tragödien Pierre Corneilles. Seit seinem auftreten, wie das Religiöse im Zeichen des Heroischen, so epochemachenden Stück Le Cid (1637), das ein starkes dass es beispielsweise auch schwierig bis unmöglich ist, ein Individuum im Konflikt mit den moralischen Normen der Phänomen wie den Glanz des Helden losgelöst von seinen Gesellschaft und im Kampf gegen eine äußere Gefahr religiösen Implikationen zu betrachten. des Landes glorifiziert, wurde Corneille im Frankreich des 17 Zur Imitation Alexanders des Großen im römischen Bild- 17. Jahrhunderts als wichtigster Autor heroischer Stoffe nis und der besonderen Rolle der Stilisierung der Haartracht wahrgenommen. Ein wertvoller aktueller Überblick über zen- vgl. Fittschen, Klaus. „‚Barbaren-Köpfe‘: Zur Imitation Alex- trale Positionen der Corneille-Forschung bezüglich der Fra- anders des Großen in der mittleren Kaiserzeit.“ The Greeks ge des Heldentums findet sich bei Dufour-Maître, Myriam. Renaissance in the Roman Empire. Hg. Susan Walker u. Héros ou personnages? Le Personnel du théâtre de Pierre a. (Papers from the tenth British Museum Classical Collo- Corneille. Mont-Saint-Aignan: Presses Univ. de Rouen et du quium). London: University of London Institute of Classical Havre, 2013: 7-17. Studies, 1989: 108-113. 25 Für diesen Vorgang hat sich der Topos von Zeuxis und 18 Dass auch Künstler zum Helden stilisiert werden kön- den Jungfrauen von Kroton in der Kunstliteratur fest etabliert. nen, zeigt sich in diversen Formen der Fremd- und Selbsthe- Plinius berichtet, wie Zeuxis die schönsten Jungfrauen der roisierung: Michelangelo etwa ist der ‚göttliche‘ Künstler; Insel als Modelle für seine ideale Statue der Helena in sei- Rubens inszeniert sich als Malerfürst, dessen politisch und nem Atelier versammelte (Plinius. Naturalis Historia. XXXV: intellektuell aufgeladene Werke sogar in diplomatischen 64).

helden. heroes. héros. Christina Posselt-Kuhli, Jakob Willis

62 26 „Geniumque scientia complet“ (V. 65); „Haud quis- qui sait si admirablement tromper la vue, il se rendit égal au cumque uiris diuina haec munera dantur“ (V. 91); bei De Pi- fameux Apelle […], et qui mérita pour toujours la réputation les XIX. „Qu’il ne faut pas trop s’attacher à la nature, mais qu’il s’est établie par tout le monde.“ (De Piles, zit. nach Duf- l’accomoder à son génie“ (Dufresnoy 468-487). Die neopla- resnoy 471-472). tonische Auffassung des ‚furor divinus‘ als eine Inspiration, 36 Paul Mignard, der Neffe des Künstlers, lobt bezeichnen- die auch der Poesie zugrunde liegt, wurde von Lomazzo auf derweise in einer Ode auf LeBrun, die der Akademie gewid- die figurativen Künste ausgedehnt (Lomazzo, Gian Paolo. met ist, den Rivalen seines Onkels als „l’Apelle de notre âge Scritti sulle arti I. Hg. Roberto Paolo Ciardi. Florenz: Marchi par Apollon“, vgl. Mai 235. & Bertoldi, 1973: LXXVII). 37 Der erste Historiograph der Académie, Guillet de Saint- 27 Zur wechselvollen Geschichte der Konzepte von ‚génie‘ Georges, bestätigt diese Rezeption Mignards und nimmt und ‚grand homme‘ sowie ihrer Interferenzen mit dem Kon- dabei auf Molière und LeBrun Bezug: „Hé quoi! disait-on à zept des Helden vgl. u. a. Gaehtgens, Thomas W. Hg. Le cul- Le Brun, croyez-vous que M. Mignard ait besoin d’un Mo- te des grands hommes. Paris: Ed. de la Maison des Sciences lière pour publier que Jules, Annibal et Michel-Ange ont été de l’Homme, 2009; Dufief, Pierre-Jean u. a. Hg. L’écrivain les Mignards de leur siècle? Ce qu’il a fait depuis la mort et le grand homme. Genf: Droz, 2005; Minois, Georges. Le de Molière confirme ce que cet auteur a dit de lui. On dé- culte des grands hommes. Des héros homériques au star sire partout de ses ouvrages […]. Vos patrons mêmes en system. Paris: Audibert, 2005. veulent dans leurs cabinets. Il est estimé en France aussi 28 Vgl. Held, Jutta. „Die Pariser ‚Académie Royale de bien qu’ailleurs par tout ce qu’il y a de grand.“ (Zit. nach Fon- Peinture et de Sculpture‘ von ihrer Gründung bis zum Tode taine, André. Académiciens d’autrefois. Le Brun – Mignard Colberts.“ Europäische Sozietätsbewegungen und demokra- – Les Champaigne – Bosse – Jaillot – Bourdon – Arcis – Pail- tische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen let, etc. Paris: Laurens, 1914: 167). Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung. Hg. 38 Eingebettet in die auf kunstpolitischer Ebene geführte Klaus Garber. Tübingen: Niermeyer, 1996, Bd. II: 1748-1779, ‚Querelle des anciens et des modernes‘ konnte die Rivali- hier 1779. tät zwischen Mignard und LeBrun auch als nationale und 29 Hierzu Burke, Peter. The Fortunes of the ‚Courtier‘. jeweils anders kulturhistorisch geprägte Konkurrenz verstan- The European Reception of Castiglione’s Cortegiano. Cam- den werden. Dass zumindest mit dem Erfolg italienischer bridge: Polity Press, 1995. Künstler in Frankreich eine Orientierung an Italien üblich war, ist in prominentester Form an der sog. Ersten Schule von 30 Zum Zusammenhang von ‚ingenium‘, ‚imitatio‘, ‚aemu Fontainebleau (1530-1570) ersichtlich: François I berief zur latio‘, ‚sprezzatura‘ im Kontext von Begabung, Virtuosentum Ausstattung des Schlosses vornehmlich italienische Künstler und Genie vgl. Emison, Patricia A., Creating the ‚Divine‘ Art- (Rosso Fiorentino, Primaticcio, Nicolò ell’Abbate). Den Kul- ist. From Dante to Michelangelo (Cultures, Beliefs and Tradi- turtransfer, der dabei stattfand, versuchte Kardinal Mazarin tions, 19). Leiden u. a.: Brill Academic Pubs, 2004: 19-58 und später zu intensivieren, doch brachten auch die aus seiner Krieger, Verena. Was ist ein Künstler? Genie – Heilsbringer Heimat importierten Kunstwerke ein ‚römisches Klima‘ nach – Antikünstler. Eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöp- Paris. Sowohl die Gründung der französischen Akademie in ferischen. Köln: Deubner, 2007: 19-21 und 35-39. Rom als auch Dufresnoys Kompilation italienischer Theo­ 31 In der Kunst wurde das Ideal der ‚sprezzatura‘ ausge- rien für seinen Regelkodex französischer Malerei zeugen hend von Baldassare Castigliones Ideal des Hofmannes schließlich von einer auch im 17. Jahrhundert noch gültigen bereits im 16. Jahrhundert angestrebt. Insbesondere Raffael Italienorientierung. wurde diese Qualität in seinen Werken häufig attestiert. 39 Monville, Simon Philippe Mazière de. La Vie der Pierre 32 Diese Form eines mondän-galanten Heroismus fand Mignard Premier Peintre du Roy, Par M. l’Abbé de Monville ihren Niederschlag beispielsweise in der Gattung des ‚roma­n avec Le Poëme de Moliere sur les Peintures du Val-de- héroïque‘, mit der Autoren und Autorinnen wie Gautier Grâce. Paris: J. Boudot u. a., 1730. Diese Biographie enthält de Costes de La Calprenède und Madelaine de Scudéry auch sieben Kupferstiche zur Beschreibung der Kuppel von zwischen 1630 und 1660 große Publikumserfolge erziel- Val-de-Grâce. Das Fresko wurde also auch noch 35 Jahre ten. Vgl. zum Heroismus im heroisch-galanten Roman bei nach Mignards Tod als eines seiner Hauptwerke angesehen. Madelaine de Scudéry: Chariatte, Isabelle. La Rochefou- 40 Die Figur des Chronos ist dem Herkules Farnese nach- cauld et la culture mondaine. Portraits du cœur de l’homme. gebildet, Pictura erinnert an Michelangelos Sibyllen in der Paris: Classiques Garnier, 2011: 132-144. Sixtinischen Kapelle und die allegorische weibliche Figur 33 Auch für Giorgio Vasari galten insbesondere die Goten in konnte überzeugend mit Rubens’ Venus des Parisurteils dieser Vorstellung als barbarische Kunstbanausen. Während bzw. einer Venus von Hans Baldung Grien in Bezug gesetzt er in ihrer Malerei nur „Hampelmänner und Plumpheiten“ werden, die sich ehemals im Besitz des Duc de Richelieu be- sieht, erkennt er auch in der Architektur das Fehlen jegli- fand und in einem Kupferstich Verbreitung fand; vgl. Hoberg cher Ordnung, Abmessung, Anmut, von ‚disegno‘ und Ver- 90. nunft, „da jegliche Form und gute Praxis durch den Tod der 41 Zur gewandelten Bedeutung der Chronos-Ikonographie Künstler und die Beschädigung und Zerstörung der Werke in der französischen Kunst des 17. Jahrhunderts vgl. Hoberg verlorengegangen war“ (Vasari, Giorgio. Kunstgeschichte 34. und Kunsttheorie. Eine Einführung in die Lebensbeschrei- bungen berühmter Künstler. Neu übers. von Victoria Lorini. 42 Vgl. den Katalogbeitrag zu Nicolaes Verkolje: Schuma- Hg., eingeleitet und kommentiert Matteo Burioni u. a. Berlin: cher, Andreas. „Die Künste und die Wissenschaften besie- Wagenbach, 2004: 64); vgl. auch Brandeis, Marcus. La ma- gen die Zeit.“ Mai u. a. Wettstreit der Künste. Malerei und niera tedesca. Eine Studie zum historischen Verständnis der Skulptur von Dürer bis Daumier. Ausst.-Kat. Haus der Kunst Gotik im Italien der Renaissance in Geschichtsschreibung, München u. a. Wolfratshausen: Ed. Minerva u. a., 2002: 274. Kunsttheorie und Baupraxis. Weimar: VDG, 2002. Auf die besondere Ikonographie des Chronos als Beschüt- zer der Künste hat Anna Schreurs anhand des Gemäldes 34 Vgl. dazu den Kommentar Dufresnoys 308-309. Minerva und Saturn beschützen die Künste von Joachim von 35 „Nec qui Chromatices nobis hoc tempore partes / Re­ Sandrart aufmerksam gemacht; vgl. Schreurs, Anna. „Der stituat, quales Zeuxis tractauerat olim, / Huius quando maga ‚Teutsche Apelles‘ malt die Götter Minerva und Saturn. Jo- uelut arte aequauit Apellam / […] meruitque coloribus altam/ achim von Sandrarts ikonographische Spielereien.“ Joachim Nominis aeterni famam toto orbe sonantem“ (V. 256-260); von Sandrart: ein europäischer Künstler und Theoretiker zwi- „aussi ne voit-on personne qui rétablisse la ‚cromatique‘, et schen Italien und Deutschland. Hg. Sybille Ebert-Schifferer qui la remette en vigueur au point que la porta Zeuxis […] et u. a. München: Hirmer, 2009: 51-67.

helden. heroes. héros. Intermediale Heroisierungsstrategien bei Molière und Pierre Mignard

43 Vgl. Logemann, Cornelia. „Neugierde und Staunen.“ 17. Jahrhunderts. Diss. Phil. Universität Heidelberg 1943: 7. 63 Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Idee, Methoden, Be- Dufresnoys Text endet mit dem Hinweis auf den gallischen griffe. Hg. Ulrich Pfisterer, 2. erw. und aktualisierte Auflage Herkules, der mit Feuer und Schwert den spanischen Löwen Stuttgart u. a.: Metzler, 2011: 305-309. bekämpft (V. 548-549). Die literarischen Taten des Kunst- schriftstellers werden so mit den militärischen Heldentaten 44 Durch die Ausbildung der durch die Académie beförder- des Königs (es ist unklar, ob hier Louis XIII oder Louis XIV ten Laienkritik, so Félibien, hätten sich überhaupt erst sach- gemeint ist, vgl. Dufresnoy 398) verglichen, die in Rom er- verständige ‚amateurs‘ herausgebildet, die ein Kunstwerk sonnenen Kunstprinzipien mit nordalpinen Herrschertugen- zu lesen verstünden: „En effet, l’academie estant remplie de den parallelisiert. scavans hommes, il n’y a point de beautez dans un ouvrage qu’on ne remarque ny aussi de deffauts pour petits qu’il soi- 55 Parallèle des Anciens et des Modernes, zit. nach Bras- ent qu’on ne fasse voir.“ (Germer 371). sat, Wolfgang. Das Historienbild im Zeitalter der Eloquenz. Von Raffael bis Le Brun (Studien aus dem Warburg-Haus, 6). 45 Vgl. Dufresnoy V. 9-10, 12-13, 128. Berlin: Akademie-Verlag, 2003: 360. 46 Die 1663 gegründete Petite Académie war in ihren ­Anfangsjahren für alle künstlerischen Belange zuständig, später konzentrierte sie sich auf die Arbeit an der Histoire métallique, einer Vita Louis XIV in Medaillen. (Vgl. Jacquiot, J. „Ce que l’Académie royale des inscriptions et médailles Literatur a fait pour la ville de Lyon.“ Actes du congrès national des sociétés savantes d’Archéologie. Paris: Impr. nat., 1965: Bray, René. „Les principes de l’art de Mignard confrontés 249-273, hier 263). Zur Position Perraults als Organisator avec la poétique classique: le poème de Molière sur La der Kunstpolitik zum Ruhme Louis XIV vgl. Mai 143. Gloire du Val-de-Grâce.“ Actes du cinquième Congrès in- 47 Aus dieser Position adressiert Perrault sein Gedicht La ternational des langues et littératures modernes. Florenz: Peinture an LeBrun, den er darin zum vorbildlichen Maler sti- Valmartina, 1955: 193-199. lisiert, dessen hierarchischen Status er damit unterstreicht De La Fontaine, Jean. Le Songe de Vaux. Hg. Eleanor Tit- und dessen ästhetische Einstellungen er teilt. Deshalb wur- comb. Genf u. a.: Droz, 1967. de diese Schrift auch häufig als Gegenmodell zu Molières Gedicht gesehen, da in beiden Publikationen die jeweiligen Dufresnoy, Charles-Alphonse. De arte graphica (Paris 1668). künstlerischen Rivalen als Vorbilder präsentiert werden. Hg., übersetzt und kommentiert Christopher Allen u. a. Doch wird bei Perrault Mignard gar nicht erwähnt. Vgl. dazu Genf: Droz, 2005. Perrault, Charles. La Peinture. Hg. und kommentiert Jean- Germer, Stefan. Kunst – Macht – Diskurs. Die intellektuelle Luc Gautier-Gentès. Genf: Droz, 1992: 162. Karriere des André Félibien im Frankreich von Louis XIV. 48 Die Autorin weist in ihrem Artikel auch darauf hin, dass München: Fink, 1997. bereits Boileau das Gedicht als „traité complet de peinture“ Hénin, Emmanuelle. „Du portrait à la fresque, ou du Sicilien bezeichnet haben soll. Vgl. dazu Hénin 30. au Val-de-Grâce. Molière et la peinture.“ Œuvres et Cri- 49 Emmanuelle Hénin hat diese These bereits überzeugend tiques 29.1 (2004): 30-56. vertreten und konnte zeigen, wie sich sowohl die comédie- Hoberg, Annegret. Zeit, Kunst und Geschichtsbewusstsein. ballet Le Sicilien von 1667 als auch das Gedicht La Gloire du Studien zur Ikonographie des Chronos in der französischen Val-de-Grâce als ein „clef de l’esthétique de Molière, formu- Kunst des 17. Jahrhunderts. Diss. Phil. Universität Tübin- lée en termes picturaux“ (Hénin 43) verstehen lassen. René gen 2007. Online-Ressource 3. April 2014 . la poétique classique“ (Bray 196) und nennt, ohne dies zu- friedenstellend zu begründen, so unterschiedliche Autoren Mai, Werner Willi Ekkehard. Le portrait du roi. Staatsporträt wie Malherbe, Boileau und Corneille. und Kunsttheorie in der Epoche Ludwigs XIV. Zur Gestalti- konographie des spätbarocken Herrscherporträts in Frank- 50 Uranie verwendet diesen Begriff in dem an poetologi- reich. Diss. Phil., Bonn: 1975. schen Selbstbezügen reichen Stück La critique de l’École des femmes (1663). Molière. Œuvres complètes. Hg. Georges Forestier. 2 Bde., Paris: Gallimard, 2010. 51 Aus dem Vorwort zur Version des Tartuffe von 1669. Perrault, Charles. Les Hommes illustres. Kommentierte Aus- 52 Die auf der Titelseite verwendete Graphik – ein von der gabe. Hg. D. J. Culpin u. a. Tübingen: Narr, 2003. Sonne angestrahltes Kreuz mit Engelputten und der Inschrift ‚In hoc signo vinces‘ – bindet zwar den Sonnenkönig als Racine, Jean. Œuvres complètes. Hg. Georges Forestier. Autorität und Adressat ein. Tatsächlich handelt es sich bei Bd. 1, Paris: Gallimard, 1999. der Darstellung jedoch um das Druckersignet des Libraire Soeffner, Hans-Georg. „Symbolische Präsenz: unmittelbare der Académie française und bezieht sich nicht inhaltlich auf Vermittlung - zur Wirkung von Symbolen.“ Phänomenologie das Gedicht von Molière oder allegorische Darstellungen von und Soziologie: theoretische Positionen, aktuelle Problem- Mig­nard. felder und empirische Umsetzungen. Hg. Jürgen Raab. On- 53 Louis wurde als Mäzen sowohl mit Alexander dem line-Publikation 2008. 3. April 2014 : 53-64. Charmois, der Louis dafür lobt, Frankreich Ruhm und den von den Hoff, Ralf u. a. „Helden – Heroisierungen – Hero- Künsten ihren ersten Rang unter den ‚artes liberales‘ ver- ismen. Transformationen und Konjunkturen von der Antike schafft und so Paris zum Parnass erhoben zu haben: „die bis zur Moderne. Konzeptionelle Ausgangspunkte des Son- Acca­demia als neuer Parnass der Künste und an seiner derforschungsbereichs 948.“ Hg. SFB 948. helden. hero- Spitze Ludwig als Apollon Musagetes.“ Vgl. Frenssen, Birt­e. es. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 1 (2013): „... des großen Alexanders weltliches Königsscepter mit 7-14. DOI 10.6094/helden.heroes.heros./2013/01/03. des Apelles Pinsel vereinigt“. Ikonographische Studien zur ‚Künstler- / Herrscher-Darstellung‘. Diss. Phil. Universität Köln: 1995: 67. 54 Félibien, André. „Conférences de l’académie royale de l’année 1667.“ Paris 1669, zit. nach Fegers, Hans. Das politische Bewusstsein in der französischen Kunstlehre des

helden. heroes. héros. Christina Posselt-Kuhli, Jakob Willis

64 Abbildungen

Abb.1: Gottvater umgeben von Heiligen, Märtyrern, Aposteln und Propheten

helden. heroes. héros. Intermediale Heroisierungsstrategien bei Molière und Pierre Mignard

65

Abb. 2: Titelvignette und Initiale

helden. heroes. héros. Christina Posselt-Kuhli, Jakob Willis

66

Abb. 3: Allegorie der Malerei

helden. heroes. héros. Intermediale Heroisierungsstrategien bei Molière und Pierre Mignard

67

Abb. 4: Minerva führt die Malerei auf den Parnass

helden. heroes. héros. Christina Posselt-Kuhli, Jakob Willis

68 Abbildungsverzeichnis

Abb.1 [Gottvater umgeben von Heiligen, Märtyrern, Aposteln und Propheten, Pierre Mignard, 1665, Paris, Val-de-Grâce, Kuppelfresko, Nachweis: http://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Mignard_Val_de_Gr%C3%A2ce.jpg (Abruf: 03.09.2014)] Abb. 2 [Titelvignette und Initiale, Molière, La gloire du ­Val-de-Grâce, 1669, Le Petit, Paris, S. 5, gestochen von François Chaveau, Nachweis: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/ btv1b86120703/f13.image.r=La%20gloire%20du%20Val-de- gr%C3%A2ce.langDE (Abruf: 03.09.2014)] Abb. 3 [Allegorie der Malerei, Molière, La gloire du ­Val-de-Grâce, 1669, Le Petit, Paris, S. 26, Kupferstich von François Chaveau, Nachweis: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/ btv1b86120703/f13.image.r=La%20gloire%20du%20Val-de- gr%C3%A2ce.langDE (Abruf: 03.09.2014)] Abb. 4 [Minerva führt die Malerei auf den Parnass, Molière, La gloire du Val-de-Grâce, 1669, Le Petit, Paris, S. 3, Kup- ferstich von François Chaveau, Nachweis: http://gallica.bnf. fr/ark:/12148/btv1b86120703/f13.image.r=La%20gloire%20 du%20Val-de-gr%C3%A2ce.langDE (Abruf: 03.09.2014)]

helden. heroes. héros. DOI 10.6094/helden.heroes.heros./2014/02/06

Nikolas Immer – Maria Schultz 69

Lützows wildester Jäger Zur Heroisierung Theodor Körners im 19. und 20. Jahrhundert1

I. „Erinn’rung an die große Zeit“. die Gedichte Körners gehörten, war vermittels Die Profilierung eines Heldenbilds Tagespresse und Einblattdrucke verhältnismä- ßig weit verbreitet. Auch mit seinem Drama Zriny (1812) hatte der Dichter in Wien bereits einiges Die Konstruktion nationaler Identitäten erfordert Aufsehen erregt. Im Jahr 1814 erschien posthum verbindliche Vergangenheitsversionen. In Erin- die von Körners Vater herausgegebene Samm- nerungsgemeinschaften, die auf lokaler, regio- lung Leyer und Schwerdt, die eine breitere Re- naler und nationaler Ebene entstehen, werden zeption der Werke Körners ermöglichte und bis über den Rekurs auf bestimmte Aspekte der zum Zweiten Weltkrieg immer neue Auflagen er- Vergangenheit kollektive Identitäten geschaffen. lebte.5 Vor allem das Gedenken an Kriege, an militäri- Die zahlreichen Vertonungen von Körners sche Führer sowie an gefallene Soldaten trägt Dichtungen steigerten den Bekanntheitsgrad maßgeblich zur gesellschaftlichen Einheitsbil- seiner Werke. Wie Erhard Jöst dargelegt hat, dung bei. Die Konservierung, Formulierung und führte der Umstand, dass Körner den Tod für Vermittlung von Erinnerungen erfolgt wiederum das Vaterland wiederholt als heldenhafte Konse- durch diverse Medien, die einander affirmieren, quenz patriotischen Handelns verklärt hatte und negieren oder relativieren können.2 Am Beispiel schließlich bei einem Einsatz des Lützower Frei- des bekannten Dichters und Kriegsfreiwilligen korps erschossen wurde, zu einer immanenten Carl Theodor Körner (1791-1813) sollen im Fol- Wort-Tat-Verknüpfung. Sie trug maßgeblich zur genden die Formierung, Tradierung und Modifi- positiven Bewertung und enormen Verbreitung zierung zentraler Heroisierungsformen während seiner Lyrik bei.6 Während gegen Ende des 19. des 19. und 20. Jahrhunderts untersucht wer- Jahrhunderts erneut die „Erinn’rung an die große den. Dabei wird zum einen nach den politischen Zeit“ (Boxberger 4) der antinapoleonischen Krie- Funktionalisierungen dieser Heldenbilder, zum ge in einem Sonettenkranz auf Theodor Körner anderen nach ihren medienspezifischen Darstel- beschworen wurde, akzentuierte der Literatur- lungsqualitäten zu fragen sein. Schließlich sollen historiker Wilhelm Kosch noch in seiner Antholo- auch die Transformationsprozesse berücksich­ gie Deutsche Dichter vor und nach 1813 (1925) tigt werden, die sich zwischen den einzelnen Er- das patriotische Mobilisierungspotential von Kör- innerungsmedien beobachten lassen. ners Dichtungen: Die Verehrung Körners setzte mit seinem frühzeitigen Tod ein. Neben der dauerhaften Ver- Theodor Körner kann literarisch freilich ankerung seiner Kampf- und Freiheitslieder im nicht so hoch gewertet werden, wie er im kollektiven Gedächtnis etablierte sich schon bald Andenken der patriotischen Jugend fort- ein umfassender Erinnerungskult. Bedeutungs- lebt. Die liebenswürdige Persönlichkeit tragende Lebensmomente des ‚Dichterhelden‘ des im Felde gefallenen Heldenjünglings Körner wurden in Romanen, Gemälden, Denk- verklärt seine Dichtungen heute noch. mälern oder Verfilmungen festgehalten.3 Zu Be- Der Hauch seiner glühenden deutschna- ginn des 19. Jahrhunderts begünstigten meh- tionalen Begeisterung erfaßt uns, wenn rere Faktoren die Heldenstilisierung Theodor das Lied von Lützows wilder verwegener Jagd erklingt; stumm ergriffen lauschen Körners. Wie René Schilling herausgearbeitet wir in Andacht seinem Gebet während hat, wurde Körner von der bürgerlichen Jugend der Schlacht; mit ihm unterscheiden auch als Vorbild verehrt und sein früher Tod 1813 zum wir zwischen Männern und Buben; das 4 Märtyrertod stilisiert. Die patriotische Lyrik aus Schwertlied, das er wenige Stunden vor der Zeit der Napoleonischen Kriege, zu der auch seinem Abschied vom Leben gedichtet

helden. heroes. héros. Nikolas Immer, Maria Schultz

70 hat, zündet immer wieder. Überhaupt sind „Verbreitung und Dekodierung nationaler Sym- in seiner Sammlung Leier und Schwert, bole“ und bestimmter Narrative einen gemein- in der er auch friedlichen Empfindungen samen „Kommunikationsraum“ (Förster 52-55). Ausdruck verleiht, diejenigen Lieder die Die Ereignisse des frühen 19. Jahrhunderts besten, die als Gelegenheitsgedichte waren wichtige Bezugspunkte für diese kollek- entstanden, unmittelbar ans Leben an- tive Selbstvergewisserung der bürgerlichen und knüpfen, wirklichen Vorgängen entquollen sind. (Kosch VIII-IX) kleinbürgerlichen Leserschaft. Zu den prominen- ten historischen Personen gehörte auch Theo- Schließlich trug auch Körners Zugehörigkeit zum dor Körner, der im Jahr 1863 anlässlich seines Lützower Freikorps zur fortdauernden Erneue- 50. Todestages besonders häufig in der Garten- 11 rung seines Andenkens bei. Das Freikorps war laube behandelt wurde. Die Heldenstilisierung bereits 1813 aufgrund seiner überregionalen Zu- erfolgte auf unterschiedlichen Ebenen, wie im sammensetzung in der Öffentlichkeit als „Symbol Folgenden gezeigt werden soll. der deutschen Einheit und Freiheit“ (Hagemann Die politische Instrumentalisierung: Bereits 408) verehrt worden. Ferner war die Verklärung zwei Jahre vor dem Jubiläum von 1863 erschien des Todes für das Vaterland sowohl als Teil des in der Gartenlaube ein anonymer Aufsatz über zeitgenössischen patriotischen Diskurses als Theodor Körners Tod und über den Ort, an dem auch nach 1815 von Bedeutung.7 Exemplarisch er gefallen war. Körner wird darin als unsterb- 12 schrieb Christoph August Tiedge in seinem Ge- licher Volksheld bezeichnet, dessen Todes- dicht Körners Grab (1815): „Wo habt ihr meinen umstände ebenso beschrieben werden wie die 13 Jüngling hin begraben? | bezeichnet mir zu sei- Memorialkultur am Ort seines Todes. Adressat ner Gruft den Pfad! | Er schlaf’ im Nachhall sei- dieser Schilderungen war die Jugend, die nach ner Liedergaben, | im Nachglanz seiner schöns- Ansicht des Autors „vor allem die hohe ethische ten Heldentat!“ (zit. nach Wohlrabe I, 105)8 Mit und nationale Bedeutung einer solchen Erschei- der „Gruft“ des Jünglings spielte Tiedge auf Kör- nung begreifen, achten und lieben lernen“ (Kör- ners Grab in Wöbbelin an, das sich im Laufe des ners Todesstätte 790) sollte. Die bisher nicht er- 19. Jahrhunderts zu einem Wallfahrtsort entwi- reichten Ziele der liberalen Bewegung sollte die ckelte und bis ins 20. Jahrhundert hinein über Jugend mit ihrer vorwärtstreibenden Kraft wie textliche und bildliche Darstellungen einen enor- zuvor der „Jüngling“ Körner erkämpfen. men Bedeutungszuwachs erfuhr.9 René Schilling hat gezeigt, wie Körner als bürgerlicher Heldenjüngling verklärt und für die Vorstellungen vom Nationalstaat instrumenta- lisiert wurde.14 Dies geschah, wie auch weitere II. „Die großen Tage und Thaten von Artikel in der Gartenlaube verdeutlichen, vor 1813“. Die Gedenkkultur der Garten- dem Hintergrund der Enttäuschung der liberalen laube Bewegung. So schrieb 1863 ein anonymer Re- dakteur der Zeitschrift über die Einsegnung des Lützower Freikorps im schlesischen Rogau: Was für die Erinnerungskultur im Allgemeinen gilt, lässt sich auch in Hinblick auf die Heroisie- Einer ernsten, schönen Feier galt es, der rung von Theodor Körner konstatieren: Jubilä- Einsegnung, der Todesweihe einer herr- umsjahre evozieren für historische Daten und lichen Schaar von Jünglingen und Män- Personen besondere Aufmerksamkeit. Die Er- nern, welche entschlossen waren, Blut eignisse der napoleonischen Zeit waren 1863, und Leben dem Vaterlande zu opfern. zum 50. Todestag des Dichters und zum 50. […] Eine größere Idee lebte in ihnen. Jahrestag bedeutender Schlachten der Napole- Ein deutsches Freicorps wollten sie sein, onischen Kriege, allen voran der Völkerschlacht denn dem ganzen deutschen Vaterlande bei Leipzig, bereits historisiert. Die Erinnerung galt ihr Blut und Leben. […] Fragen wir jetzt nach fünfzig Jahren, welcher Lohn an Theodor Körner erlebte, wie sich anhand ist dem Volke für die großen Tage und unterschiedlicher Medien nachvollziehen lässt, 10 Thaten von 1813 geworden? Wir müs- einen ersten Höhepunkt. Einen neuen Grad sen erröthen, wir haben nur die eine Ant- der Verbreitung erreichte die 1853 gegründete wort: sie sind ihm mit Undank gelohnt! Zeitschrift Die Gartenlaube. Deren Herausgeber (Volksschwur 180, 182-183) nahmen als Publikum explizit die Familien ins Visier und erzielten enorme Auflagen mit Kol- Weiterhin war im achten Heft der Gartenlaube portagevertrieb und moderater Preisgestaltung. von 1863 zu lesen, dass Theodor Körner nicht Die erfolgreiche Zeitschrift trug erheblich zur na- nur durch seine Gesänge, sondern auch durch tionalen Identitätsstiftung bei, wie Birthe Förster seine Tat „den wehrhaften Männern Deutsch- am Beispiel des Königin-Luise-Mythos heraus- lands ein unsterbliches Beispiel“ (Körner’s Leier gearbeitet hat. Sie schuf über die massenhafte 116) hatte geben wollen. Dabei stellt der Autor

helden. heroes. héros. Zur Heroisierung Theodor Körners im 19. und 20. Jahrhundert die Verknüpfung von Heldentum und Lyrik her- gleichsam als Reliquien. Ihre Bedeutungszu- 71 aus: „Aber als Held und Dichter wollte er sterben, schreibungen sind Ausdruck einer Erinnerungs- noch hatte er Macht über seine Sinne und blu- praxis in einer Zeit des Wandels vom kommu- tend entwarf er das herrliche Sonnet: Abschied nikativen zum kulturellen Gedächtnis, wo das vom Leben.“ (Körner’s Leier 119) Wie auch in Ende der Zeitzeugenschaft für die Gesellschaft anderen Körner-Artikeln zitiert der Verfasser absehbar ist. Etwas mehr als zehn Jahre später Passagen aus Körners Gedichten, teilweise so- entstand ein weiterer zentraler Ort des Helden- gar ganze Strophen. Neben den intertextuellen gedenkens, welcher der Präsentation vieler der Bezügen zu Körners populärer Lyrik wurden in den Beiträgen erwähnten Körner-Besitztümer auch bildliche Darstellungen in die Vergangen- diente und der bis zu seiner Zerstörung 1945 heitsdeutungen eingebunden. Die Artikel über existierte: das Körner-Museum in Dresden. Mit Körner verbreiteten beispielsweise Bilder von der Einweihung am 28. März 1875 sollte es sich den Körner-Gräbern in Wöbbelin, von Körners zu einem der wichtigsten Orte im Rahmen der Fahrt von Zschocher nach Leipzig, der Einseg- auf Körner bezogenen Erinnerungskultur entwi- nung des Lützower Freikorps in Rogau und dem ckeln.17 Tod des Dichters.15 Diese Darstellungen waren in den folgenden Jahrzehnten fest mit der Hel- denerzählung über Körner verknüpft. Das fortgeschriebene Gedächtnis: Neben der III. Der „Wildeste beim Vordringen“. politischen Instrumentalisierung lässt sich der Stilisierungstendenzen der Körner- Versuch ausmachen, die verschiedenen münd- Belletristik lichen, schriftlichen und materialen Erinnerun- gen an Körner zu erfassen und für die Zukunft Auch andere Publizisten der 1860er Jahre, wie 16 zu sichern. Im Jubiläumsjahr 1863 ging es in beispielsweise der Schriftsteller Heribert Rau, der Gartenlaube um Körners Tod, um die Kenn- zogen eine Verbindung zwischen dem Tod des zeichnung seines Grabes durch Denkmäler und populären Dichters und den Forderungen der um die Frage, welche Überreste die Zeiten über- Liberalen nach der Einheit und Freiheit Deutsch- dauert haben. Im Mittelpunkt standen weniger lands. Sie spielten, für den zeitgenössischen biografische Details oder die Bedeutung seiner Leser verständlich, auf die gescheiterte Revo- Lyrik, sondern vielmehr die Frage von Überlie- lution von 1848/49 sowie auf das nicht einge- ferung und Augenzeugenschaft. Dadurch wurde löste Verfassungsversprechen des preußischen dem Leser suggeriert, Teil einer Gemeinschaft Königs an. Die oftmals massenhaft rezipierten zu sein, die sich kollektiv an Körner erinnert Geschichtsfiktionen transportierten demnach ak- und die materialen Überreste des toten Helden tuelle politische Anliegen ihrer Autoren. Wie die ebenso zu bewahren versucht wie alle irgendwie Forschungen zu literarischen Texten als Erinne- zugänglichen Informationen über dessen Leben. rungsmedium gezeigt haben, führte die Lektüre Immer wieder zitieren die Autoren aus privaten, historischer Romane zur Konstituierung von Er- bisher unveröffentlichten Erinnerungen von ‚Zeit- innerungsgemeinschaften. Die Texte boten ihren genossen‘ und beschreiben die Form der Über- Lesern Geschichtsbilder, Werte, Normen und lieferung von Gegenständen aus Körners Besitz: Identifikationsmuster an, die sie für sich erschlie- ßen konnten.18 Dabei stellten belletristische Wer- Wir können heute unseren Lesern die in- ke über die Vergangenheit einen beliebten Lese- teressante Mittheilung machen, daß die stoff dar. Zwischen 1815 und 1945 wurden die treue Pflegerin des muthigen Freiheits- Revolutions- und Napoleonischen Kriege beson- kämpfers jetzt noch und zwar in unserer 19 unmittelbaren Nähe, in dem benachbar- ders oft in historischen Romanen thematisiert. ten Dorfe Groß-Zschocher, lebt. […] Sie In den Vergangenheitsfiktionen über diese Krie- gerieth nach dem Tode ihres wackeren ge finden sich immer wieder Verweise auf Theo- Mannes oft in große Bedrängnisse, aber dor Körner: Zum einen tritt er als Nebenfigur der keine Noth konnte sie dazu bewegen, Handlung auf, zum anderen enthalten die Werke den silbernen Becher, den ihr Körner Zitate aus seiner Lyrik. Dass ein Autor Theodor aus Dankbarkeit verehrte und den sie Körner zur Hauptfigur seines Romans erhob, jetzt noch besitzt, zu veräußern. Sie weiß geschah allerdings erst verhältnismäßig spät. heute noch viel aus jener Zeit zu erzäh- Einen Anlass dafür bot, wie im Falle von Heribert len und erinnert sich aller Einzelheiten je- Raus ‚vaterländischem‘ Roman Theodor Körner ner Begebenheit mit treuem Gedächtniß. (Pflegerin 176) (1863), das 50. Jubiläum des Jahres 1813 bzw. der 50. Todestag des Dichters.20 Die Aufmerk- Der Silberbecher, sein Schwert, seine Leier samkeit für diese Ereignisse wollte auch Ro- oder das von Emma Körner geschaffene Bildnis bert Rösler nutzen, der unter dem Pseudonym ihres Bruders aus dem Jahr 1813 erscheinen ‚Julius Mühlfeld‘ ein Werk über Theodor Körner helden. heroes. héros. Nikolas Immer, Maria Schultz

72 (1862) schrieb, das einander abwechselnde ro- Volkes. Der Dichter wird bei Rösler zum Inbegriff manhafte und biografische Passagen enthält. des Freikorps: „Theodor Körner und die Lützo- Beide Werke sind zeitlich schon so weit von den wer Freischaar sind von jetzt an unzertrennbar. geschilderten Ereignissen entfernt, dass sie nur Die Interessen des Einen wurzeln in der Andern noch partiell auf das kommunikative Gedächt- und gestalten sich nach dem Befinden und Wir- nis Bezug nehmen können. Bemerkenswert ist, ken derselben.“ (Rösler 185) Dennoch stellt der dass diese historische Relation Auswirkungen Autor Unterschiede zwischen seiner Hauptfigur auf die ästhetische Komposition hatte – etwa im und den anderen Freiwilligen heraus, die für sei- Hinblick auf die Einführung einer auktorialen Er- ne Konstruktion des Helden nötig sind: Körner zählerfigur, auf die Kennzeichnung der Quellen gilt ihm als der geselligste, sozialste und patri- sowie die Erwähnung anderer Erinnerungsmedi- otischste der Truppe, der noch dazu die augen- en wie das Körner-Grabdenkmal in Wöbbelin.21 blickliche Stimmung in Poesie zu überführen ver- Rösler hatte sich bereits zuvor in seinem his- standen habe.23 Körners Gedicht Lützows wilde, torischen Roman Gefangen und befreit (1860) verwegene Jagd zitiert Rösler in seinem Kapitel mit der napoleonischen Zeit befasst, wenngleich über die Lützower ebenso zur Gänze wie das mit mäßigem Erfolg. Seine „der Belehrung des Bundeslied vor der Schlacht, das Körner inmit- Volkes gewidmete“ Schrift über Theodor Körner ten seiner schlafenden Kameraden im Morgen- oder die späteren Werke über die preußische grauen als Ergebnis seiner nächtlichen Gedan- Königin Luise und den Krieg von 1870/71, so ken gedichtet habe.24 Im Anschluss an die letzte ein Rezensent Ende der 1880er Jahre, „erfül- Strophe kommentiert der Autor: „Diese Körner- len dagegen den Zweck, den sie verfolgen, und sche Dichtung, welche so recht der Erguß eines sind deshalb auch in weite Kreise gedrungen“ todesmuthigen Gemüthes dem Kampfe gegen- (Brümmer 243). Rösler stilisiert Körner zu ei- über genannt werden muß, ist eine der schöns- nem „Heldenjüngling“, der die Deutschen erst ten, welche wir von ihm besitzen.“ (Rösler 197) „wieder groß“ gemacht habe (Rösler 4) und der Nur folgerichtig mag es dem Leser erscheinen, folglich ewig im Gedächtnis des Volkes weiter- dass Körner in Röslers Schilderung auch der leben werde. Er beschreibt das Elternhaus, die „Wildeste beim Vordringen“ war und sich „von Kindheit und die Jugend des Dichters in Dres- der Thatenlust hinreißen [ließ], ohne der eigenen den und wechselt dann im dritten Kapitel über Klugheit und dem Rufe des Signalhorns Gehör Körners Zeit als Bergstudent in Freiberg in den zu geben.“ (Rösler 241) So ereilte ihn dann auch romanhaften Stil. In die auktoriale Erzählung flie- jener „Heldentod“, den der Autor im Gedächtnis ßen Dialoge sowie viele Zitate aus Körners Lyrik der Nation zu verankern beabsichtigte. oder seinen Briefen ein. Darüber hinaus werden In den folgenden Jahren erschienen keine sogar Rezensionen seiner frühen Werke, die in belletristischen Werke über Theodor Körner, der Entstehungszeit des Romans oder wenige auch wenn das Thema der antinapoleonischen Jahre zuvor publiziert worden waren, diskutiert. Kriege im Genre weiter präsent blieb. Nach der Solche Einschübe nutzt Rösler, um Körner po- Gründung des Deutschen Kaiserreiches ermög- sitive Eigenschaften, wie etwa Bescheidenheit, lichten die zunehmende Alphabetisierung und zuzuschreiben.22 Schließlich muss Körner, der die gesunkenen Kosten bei der Herstellung von Liebling der Frauen und der moralisch integre Druckerzeugnissen immer mehr Menschen die Romanheld, in den Kampf ziehen. Das späte- Lektüre von Romanen. Die Jugendliteratur er- re Ableben des Protagonisten deutet der Autor oberte mit integrierten Buchillustrationen den bereits frühzeitig durch ein Zitat aus einem Brief Markt. Neben dem Jahr 1813 avancierte auch an den Vater an. So ist in gesperrten Lettern zu der historische Theodor Körner vielfach zum lesen: „Aber Vater, meine Meinung ist die: zum Gegenstand dieser Bücher, die nicht zuletzt der Opfertode für die Freiheit und für die Ehre sei- nationalen Mobilisierung der männlichen Ju- ner Nation ist Keiner zu gut, wohl aber sind Viele gend für zukünftige Kriege dienten.25 So erklärt zu schlecht dazu!“ (Rösler 130) Demgegenüber beispielsweise Anton Ohorn im Vorwort seiner zeichnet der Autor ein Bild des preußischen Kö- mehrfach aufgelegten geschichtlichen Erzäh- nigs als Zauderer, der mit seiner Politik Körners lung Lützows wilde Jagd, in der Theodor Körner Engagement und das seiner Kameraden behin- als Nebenfigur auftritt: dert habe. Die Fürsten der Rheinbundstaaten, so Rösler, seien im Gegensatz zum Volk noch Lützow’s wilde, verwegene Jagd ist un- auf Napoleons Seite gewesen und „bereit, die sterblich geworden, wie der Dichter, der Schmach Deutschlands mit dem Schwerte in der unter diesem Namen sie besungen hat, und der in ihren Reihen bei Gadebusch Hand gegen deutsche Brüder zu vertheidigen.“ den Heldentod starb. […] Die Thätigkeit (Rösler 140) Das Handeln des Lützower Frei- des tapferen Häufleins bildet den ge- korps, das eine ausführliche Würdigung erfährt, schichtlichen Hintergrund der vorliegen- steht stellvertretend für die Opferbereitschaft des den Erzählung, die in ihren historischen

helden. heroes. héros. Zur Heroisierung Theodor Körners im 19. und 20. Jahrhundert

Momenten sich an die besten Quellen hält, […] Die unvergänglichen Kriegslieder, 73 und die sich die Aufgabe gestellt hat, die die Körner vor seinem frühen Heldentod Begeisterung für das Vaterland im Herzen sang, sind in aller Munde […]. Mit Körner des deutschen Volkes und besonders der war gleichzeitig Josef von Eichendorff aus deutschen Jugend beleben und fördern zu unserm Wien zum Befreiungskampf des helfen. (Ohorn 3-4)26 Jahres 1813 gezogen. Auch er hat die Begeisterung für Deutschtum und Freiheit Hatte schon das Jahr 1863 nachhaltig zur Ak- mit der Liebe zu Österreich und Wien all- tualisierung des Gedenkens an die antinapo- zeit verbunden. (Kralik 93, 95) leonischen Kriege beigetragen, lässt sich mit Blick auf die Hundertjahrfeiern des Jahres 1813 In Wien fand sogar eine Theodor-Körner-Feier von einem Höhepunkt der zivilen und militäri- vor dem ehemaligen Wohnhaus des Dichters schen Erinnerungskultur und Gedenktradition unter Beteiligung offizieller Vertreter der Stadt im Kaiserreich sprechen.27 Die Erinnerungen an statt, in der die Vaterlandsliebe als wichtiges Theodor Körners Tod fügten sich in diese Ent- Vermächtnis Körners für die Jugend betont wur- wicklung ein. Im Jubiläumsjahr 1913 erschienen de. Der Vizebürgermeister beendete seine Rede eine Vielzahl von Büchern und Gedenkschriften vor dem Körner-Haus schließlich mit deutlichen über Körner, viele davon mit Illustrationen und Bezügen zur Gegenwart: Abbildungen von Körner bzw. mit legendenhaft stilisierten Szenen seines Lebens versehen. Die Wie vor 100 Jahren so ist auch heuer die Kriegsfackel in Europa entfacht. Aber stereotypen Narrative und Bilder wurden von welcher Gegensatz! Während damals Ös- den Verfassern für unterschiedliche Leserkreise terreich genötigt war, mit eiserner Faust aufbereitet. Die Kurzfassung dieser verbreiteten einzugreifen, genießen wir heute dank der Heldenerzählung ist bei Wilhelm Wohlrabe zu Fürsorge unseres erhabenen Kaisers den finden: Frieden. (zit. nach Kralik 126)

Sein engeres Vaterland aufgebend, eine Sowohl im Ersten Weltkrieg als auch in der Wei- glückverheißende Lebenslaufbahn abbre- marer Republik blieben Theodor Körner und chend, von einer zärtlich geliebten Braut seine pathetische, zur Tat auffordernde Lyrik sich losreißend, tritt Theodor Körner, der populär. Für die Propagierung eines überstei- frühere Bergstudent im Frühling des Er- hebungsjahres in Lützows Freischar ein, gerten Nationalismus und die Mobilisierung von wird von seinen Kameraden zum Offizier Kriegsfreiwilligen war der Rückgriff auf den ge- erwählt, beim Überfall des Korps am 17. gen Franzosen kämpfenden Freiwilligen von Juni in Kitzen schwer verwundet, kehrt, 1813 bestens geeignet. Der Erste Weltkrieg kaum genesen, zur ‚wilden, verwegenen veränderte aber den Erfahrungshorizont der Le- Jagd‘ zurück, und wird einige Tage später ser belletristischer Werke über die nun hundert im Gefecht bei Gadebusch von Feindes- Jahre zurückliegenden Napoleonischen Kriege. kugel zu Tode getroffen. Im wörtlichsten Die Autoren dieser Bücher schrieben vor dem Sinne ist er ‚Held und Sänger‘ seiner Zeit Hintergrund ihrer Erlebnisse an Front oder ‚Hei- 28 […]. (Wohlrabe I, 53) matfront‘ unter gewandelten gesellschaftlichen und politischen Bedingungen. So wurde nun Im Unterschied zu vielen anderen historischen auch die Beteiligung von Frauen am Kampfge- Personen der napoleonischen Zeit, sieht man schehen der Kriege zwischen 1792 und 1815 vom Kaiser der Franzosen ab, der hier eine Son- thematisiert, die zuvor nur eine marginale Rolle derstellung einnimmt, fällt in Hinblick auf Theo­ gespielt hatte.30 Auch die Darstellung von Theo­ dor Körner eine politische Inanspruchnahme dor Körner veränderte sich im Hinblick auf die für unterschiedliche Regionen auf: vom sächsi- Vorstellungen vom Tod und Charakter des Dich- schen Ort seiner Kindheit, über seine damalige ters, wie im Folgenden gezeigt wird. Wirkungsstätte am Theater in Wien, über die Der Heldentod: Mit dem Rekurs auf Körner preußische Provinz Schlesien, wo seine Einseg- und auf die ebenfalls im Lützower Freikorps un- nung im Lützower Freikorps erfolgte, bis hin zum ter dem Pseudonym ‚August Renz‘ kämpfende in Mecklenburg gelegenen Ort seines Todes und ‚Heldenjungfrau‘ Eleonore Prochaska machte 29 In einer an die Bürger Wiens Grabdenkmals. beispielsweise der Romanautor Hermann Stod- adressierten Gedenkschrift von Richard Kralik te ein geschlechterübergreifendes Identifikati- wird diese regionale Inanspruchnahme exemp- onsangebot, das auch in anderen Erinnerungs- larisch sichtbar: medien zu finden ist.31 In seinem Roman Das preußische Mädchen (1932) schildert der Autor Die patriotische Lyrik der Liederreihe Ley- er und Schwert wurzelt noch im Boden von zwar keine Begegnung zwischen den histori- Wien, wo Körner seine Braut zurückließ. schen Figuren, da es diese in der Vergangen- heit nie gegeben hatte. Er spielt dafür aber mit helden. heroes. héros. Nikolas Immer, Maria Schultz

74 der Möglichkeit, dass Eleonore Prochaska Kör- Die Eiche zu Wöbbelin rauscht über dem ner im Rahmen der Einsegnung des Freikorps Grabe des deutschen Sängers ein weh- in Schlesien 1813 gesehen haben könnte. Die mütiges und doch stolzes Lied von deut- Einsegnung interpretiert Stodte als „Bruderkuss“ scher Treue, auf die der Heldentod sein (Stodte 134), aus der eine „Todesgemeinschaft“ blutrotes Siegel gedrückt hatte. (Blasius (Stodte 142) hervorgegangen sei. Körners Tod 209) fürs Vaterland avanciert folgerichtig in der Ro- Schon wenige Jahre nach dem Zweiten Welt- manhandlung zum Vorbild für Prochaskas eige- krieg sollten in der DDR erneut historische Er- nes Ableben: „Wie herrlich mußte das Land sein, zählungen und Romane das ‚Heldentum‘ Kör- für das ein Körner starb! […] Körner sollte vo- ners verkünden. Ein weiteres Mal wurde die rangehen.“ (Stodte 142) Der Verfasser, dessen Konstruktion des Helden mit einer spezifisch Sohn im Ersten Weltkrieg gefallen war und dem politischen Ausdeutung verknüpft.34 er den Roman postum widmete, sprach ihm zu- dem eine allgemeingültige, zeitenüberdauernde Bedeutung zu: IV. „Schwerterklingen und Eichen- Nur freiwilliges Opfer schuf aus Menschen die höheren Wesen, die den Sinn des Le- rauschen“. Die Körner-Porträts auf bens erfuhren und das Schicksal zu wen- Sammelbildern und Postkarten den vermochten. […] Tod war mehr als Le- ben. Sterben für das Herrlichste, für das Schon Erhard Jöst hat beiläufig darauf auf- Volk und das Land und die Freiheit – das merksam gemacht, dass insbesondere die His­ war die Vollkommenheit, die den Men- torienmalerei des 19. Jahrhunderts „zur hero- schen möglich war. (Stodte 143-144) isch-verklärten Ideologisierung“ (Jöst 313) von Theodor Körners Vita beigetragen hat.35 Zu den Die Führerfigur: Das Bild von Theodor Körner bekanntesten Darstellungen zählt Georg Fried- als charismatischem Führer wurde zu Beginn rich Kerstings Gemälde Auf Vorposten (1815), der 1930er Jahre in unterschiedlichen Medien auf dem Ferdinand Hartmann, Theodor Körner aufbereitet.32 Es fand seinen Ausdruck etwa in und Karl Friedrich Friesen zu sehen sind, die auf Carl Boeses Filmbiografie Theodor Körner. Ein einer Lichtung vor einer Eiche rasten.36 Sein als deutsches Heldenleben (1932), aber auch auf vorbildhaft inszenierter Einsatz in den Freiheits- dem heroisierenden Cover von Rudolph Her- kriegen wurde von Malern wie Otto Donner von zogs zeitgleich publiziertem Roman Horridoh Richter, Richard Knötel oder Rudolf Trache im Lützow! [Abb. 1].33 Auch im historischen Roman Verlauf des 19. Jahrhunderts wiederholt ins Bild wurde dieses Heldenbild aufgegriffen, insbeson- gesetzt.37 Doch erst über die Reklamekunst, die dere von Richard Blasius. Dessen Roman Söh- sich seit den 1880er Jahren auch in Deutsch- ne der Heide (1941) unterscheidet sich durch land durchzusetzen begann,38 wurde der ‚Dich­ seinen parataktischen Stil und den wiederholten terheld‘ Körner im kollektiven Gedächtnis visuell Imperativen deutlich von der Gestaltung frühe- verankert. Ungeachtet der unüberschaubaren rer Körner-Romane. Im zeittypischen Duktus Vielzahl an Motiven bildete die Historien- und wird Körner von Blasius als Führer des Lützower Militärmalerei einen thematischen Schwerpunkt Freikorps gekennzeichnet: der Reklame-Sammelbilder.39 So gab beispiels- Schweres Schicksal lag auf der sanges- weise die Schokoladen-Firma ‚Stollwerck‘ seit frohen, liederreichen Schar, der ihr Dich- 1897/98 mehrere Sammelalben heraus, deren ter Theodor Körner mindestens ebenso zehntes den Titel Helden-Album. Helden des zur Volkstümlichkeit verhalf wie ihr Führer. Geistes und vom Schwert (1908/09) trug.40 Unter Theodor Körner! der Rubrik ‚Freiheitshelden‘ [Gruppe 446] findet Die Jäger zu Fuß drängten sich um ihn, sich als dritte Abbildung auch Richard Knötels wenn er in ihre Nähe kam. Die Reiter hat- Darstellung von Theodor Körner [Abb. 2], der ten ihn ja immer. Seine Lieder erklangen noch in weiteren Serien der Stollwerck-Alben auf dem Marsche, am Wachtfeuer und im vorkommt.41 Im Begleittext zu Knötels Figuren- Quartiere. (Blasius 208) bild wird Körner in der populären Doppelrolle von ‚Dichter‘ und ‚Held‘ gepriesen: Blasius’ Deutung von Körner als charismati- schem Führer erfährt nochmals eine Steigerung, […] Beim Vortrag eines seiner feurigs- als dessen Ableben zum Heldentod verklärt wird: ten Lieder, des todesfrohen Du Schwert an meiner Linken! hat ihn der Künst- Aber dann ein Tag der Trauer, des ler dargestellt. Es war das letzte Lied Schmerzes! das er, kurz vor seinem Tode, dichtete. Gadebusch! […] In seinen Liedern, durch die es wie

helden. heroes. héros. Zur Heroisierung Theodor Körners im 19. und 20. Jahrhundert

Schwerterklingen und Eichenrauschen lyrische Aussage unterstreicht. Die leichte Unter- 75 tönt, lebt er ‚als Dichter und als Held‘ fort. sicht betont seine heroische Entschlossenheit, (Jussen 27909)42 während der in spannungsreichen Rosatönen gehaltene Hintergrund sowohl das „Schlachten- Gewissermaßen als ‚Verbindungsmedium‘ von donnerwetter“ (SW I, 94) als auch die affektive bildungsbürgerlicher Gemäldekunst und alltags- Stimmung des Sprechers verbildlicht.50 kultureller Reklamekunst begann sich gegen Der Opfertod: Die zweite Postkarte [Abb. 4] Ende des 19. Jahrhunderts die Postkarte zu zeigt die Reproduktion eines Gemäldes von Otto etablieren, deren Hochphase in den 1890er Jah- Heichert und ist mit der Überschrift „Körner’s 43 ren einsetzte. Neben der Ausprägung diverser Abschied vom Leben“ sowie den Versen „Die Postkartenmotive wurde sie unter anderem für Wunde brennt, | Die bleichen Lippen beben“ be- propagandistische Zwecke eingesetzt, indem druckt.51 Über den Titel wird explizit auf Körners Persönlichkeiten oder Ereignisse der deutschen autobiografisches Sonett Abschied vom Leben Vergangenheit gezielt stilisiert und mythisiert verwiesen, das er nach eigenen Angaben wäh- 44 wurden. Beispielsweise hat Otto May anhand rend seiner Verwundung in der Nacht vom 17. des preußischen Generals Gerhard von Scharn- zum 18. Juni 1813 gedichtet hat.52 Angesichts horst demonstriert, wie genau sich dessen glo- des drohenden Todes erblickt der verletzte Spre- rifizierter Lebenslauf anhand des Kommunikati- cher erinnerungsgesättigte „gold’ne Bilder“ und 45 onsmediums ‚Postkarte‘ nachvollziehen lässt. gelangt zu der beruhigenden Einsicht, dass die Für Theodor Körner wiederum haben Jutta Assel im Herzen bewahrte „Freiheit“ (SW I, 101) den und Georg Jäger in drei Dokumentationen zu- Tod überdauern wird. Da diese Freiheit letzt- sammengestellt, in welcher thematischen Vielfalt lich die Gestalt eines „lichten Seraph[s]“ (SW I, Postkarten von dem ‚Dichterhelden‘ vor allem im 101) annimmt, wird ersichtlich, dass auch die- 46 frühen 20. Jahrhundert produziert wurden. Auf sem Gedicht ein indirektes, mit der patriotischen der Grundlage dieser Sammlungen sollen drei Pflichterfüllung verklammertes Heilsversprechen repräsentative Erscheinungsformen der Körner- eingeschrieben ist. Am Ende erscheint der sol- Heroisierung vorgestellt werden. datische Opfertod als notwendige Bedingung Der Kriegsgottesdienst: Auf der ersten Post- der paradiesischen Glückseligkeit. Heichert karte [Abb. 3] ist die Reproduktion eines von Os- hingegen verzichtet bei seiner Darstellung des mar Schindler signierten und auf den 14. Sep- verwundeten Lützower Jägers sowohl auf die tember 1914 datierten Gemäldes abgedruckt, kriegsreligiöse Aussagetendenz des Gedichts 47 das die Inschrift trägt: „Vater ich rufe Dich“. Da- als auch auf die Dramatisierung seiner Todeser- mit zitiert Schindler den Anfangs- und Schluss- wartung. Über die zitierten Verse wird die Auf- vers von Körners Gebet während der Schlacht, merksamkeit zwar auf die Kopfwunde des ver- dessen fünfte Strophe zusätzlich unterhalb der sehrten Dichters gelenkt, gleichzeitig aber wirkt 48 Reproduktion wiedergegeben wird. In diesem dieser in seiner an einen Baumstamm gelehnten Sakralgedicht, das im Ersten Weltkrieg in den Haltung vergleichsweise entspannt. Nur der gen Messen vor dem Abmarsch der Soldaten an Himmel gerichtete Blick deutet an, dass es sich 49 die Front gesungen wurde, inszeniert Körner tatsächlich um „Körner’s Abschied vom Leben“ unter Rekurs auf die liturgischen Elemente der handelt. Anrufung, Segnung und Preisung einen pathos- Das Heldengedenken: Auf der dritten Post- geladenen Kriegsgottesdienst. Dabei folgen aus karte [Abb. 5] ist das Chemnitzer Körner-Denk- der Verpflichtung, das „Heiligste […] mit dem mal zu sehen, das zu den vielgestaltigen Erin- Schwerte“ (SW I, 95) schützen zu wollen, sowohl nerungsorten gehört, die im Laufe des 19. und die unbedingte Subordination unter die göttliche 20. Jahrhunderts in Form von Denkmälern, Ge- Führerschaft als auch die bereitwillige Hingabe denksteinen und Gedenkstätten geschaffen wur- des eigenen Lebens. Schließlich mündet die mi- den.53 Nach der 1863 gepflanzten ‚Körner-Eiche‘ litaristische Instrumentalisierung der Gebetsform hatte der 1891 gegründete ‚Körner-Tisch‘ gegen in die apotheotische Vereinigung von lyrischem Ende des 19. Jahrhunderts genügend Geld ge- Sprecher und göttlicher Instanz: „Wenn mich sammelt, um das Denkmal bei dem Dresdner die Donner des Todes begrüßen, | Wenn meine Bildhauer Heinrich Epler in Auftrag zu geben. In Adern geöffnet fließen: | Dir, mein Gott, dir er- Orientierung an dem Dresdner Körner-Standbild geb’ ich mich!“ (SW I, 95) Körners repräsentative von 1871 schuf Epler eine ca. drei Meter hohe Kommunikationssituation, in der ein sprechen- Bronzestatue, die am 18. Oktober 1901 auf dem des Ich die kollektive Kriegsbegeisterung stell- Körner-Platz in Chemnitz eingeweiht wurde und vertretend exponiert, wird von Schindler auf den die in selbstbewusster Haltung die linke Hand Autor selbst übertragen. Auf seinem Gemälde mit einem geöffneten Buch nach vorn streckt.54 ist es Körner, der sein Schwert beherzt umklam- Dass es sich bei dem Buch um Körners berühm- mert hält und mit seiner kraftvollen Haltung die te Gedichtsammlung Leyer und Schwerdt (1814)

helden. heroes. héros. Nikolas Immer, Maria Schultz

76 handelt, verdeutlicht der Sockel des Standbilds, Obwohl dieser Historienfilm das zeitgenössische auf dem das Frontispiz der Lyrikanthologie ab- Bedürfnis nach filmästhetischer Begeisterung of- gebildet ist. Damit präsentiert Epler den Dichter fenbar nur unzureichend zu stillen vermochte, ist als jenen „verweg’nen Zitherspieler“ (SW I, 59), ihm „das heroische Narrativ des Nationalismus“ als der er sich in der Zueignung von Leyer und (Nieberle 86) inhärent, das ein unbestimmtes, Schwerdt seinen Lesern vorstellt. Die Postkarte pauschal gegen ‚fremde‘ Unterdrücker gerich- wiederum vergegenwärtigt Standbild und Sockel tetes Freiheitspathos zum Ausdruck bringt. Die in Form eines Buntdrucks, der im Ansichtskarten- filmische Inszenierung Körners wird dabei de- Verlag Ottmar Ziehers hergestellt wurde.55 Über zidiert am medial vermittelten Dichtergedenken ihre Verweisfunktion wird die Postkarte schließ- ausgerichtet. So scheint beispielsweise die Kon- lich als doppeltes Erinnerungsmedium kenntlich: stellation der trauernden Lützower, die Körners Zum einen wird mit der Person Körners an den Leiche umstehen, der Figurenanordnung auf ‚Dichterhelden‘ und sein literarisches Vermächt- Otto Donner von Richters Gemälde Die Lützo- nis erinnert, zum anderen wird mit der Darstel- wer an der Leiche Körners nachempfunden.58 lung des Chemnitzer Denkmals seine eminente Die Popularität dieser Szene wurde zusätzlich Bedeutung für das nationale Bewusstsein unter- dadurch gesteigert, dass die 1898 gegründe- strichen. te ‚Deutsche Mutoscop- und Biograph-Gesell- schaft‘ jenes Filmstill als Postkarte in Umlauf brachte [Abb. 6].59 V. „Frei – oder todt!“ Die filmische Während Franz Porten bereits vor dem Ers­ Präsentation von Körners Vita ten Weltkrieg Persönlichkeiten aus der preußi- schen Geschichte filmisch vergegenwärtigte,60 Mit der „Ablösung des patriotisch-wehrhaf- erlebte der Preußenfilm erst in den 1920er und frühen 1930er Jahren seinen eigentlichen ten Bürgerhelden durch den reichsnationalen 61 Kriegshelden“ (Schilling 171) vollzog sich zwi- Aufschwung. Am Beginn dieser Entwicklung schen 1891 und 1914 ein paradigmatischer stand die vierteilige Filmbiografie über Fried- Wandel in der kollektiven Vorstellung von hero- rich den Großen [Fridericus Rex, R: Arzén von ischer Männlichkeit. Wie bereits am Ende des Cserépy, D 1920-22], die mit ihrer „Fixierung auf dritten Abschnitts ausgeführt, wurde Theodor eine meist einsam entscheidende Führerfigur Körner im unmittelbaren Vorfeld des Ersten genreprägend“ (Stiasny 272) wurde. Es folgten Weltkriegs zu einer charismatischen Heldenfigur Filmbiografien über Ferdinand von Schill [Die elf mit vorbildhaften Qualitäten stilisiert.56 In diesem Schillschen Offiziere, R: Rudolf Meinert, D 1926; Umfeld wachsender Körner-Begeisterung ent- Neufassung als Tonfilm 1932], Johann David stand die Filmbiografie Theodor Körner. Von der Ludwig Yorck von Wartenburg [Yorck, R: Gustav Wiege bis zur Bahre [R: Franz Porten/Gerhard Ucicky, D 1931], Gebhard Leberecht von Blü- Dammann, D 1912], die am 26. August 1912 cher [Marschall Vorwärts, R: Heinz Paul, D 1932] erstmals gezeigt wurde.57 Franz Kafka, einer der und schließlich auch über Theodor Körner. Der frühen Kinobesucher, notierte am 25. September zweite Körner-Film, der den Titel Lützows wilde Jagd [R: Richard Oswald, D 1927] trägt, wurde über eine Vorführung: „Kinematograph im Lan- 62 destheater. […] Körners Leben. Die Pferde. Das am 21. Februar 1927 in Berlin uraufgeführt. weiße Pferd. Der Pulverrauch. Lützows wilde Doch obwohl die Mehrzahl der Preußenfilme Jagd.“ (Kafka 211) Die von Kafka vermerkte Prä- „demonstrative Exempel der patriotischen Ergrif- senz der Pferde legt bereits nahe, dass es sich fenheit“ (Koller 167) lieferte, wurde Lützows wil- bei dem Historienfilm tatsächlich um ein „patri- de Jagd nur bedingt als Zeugnis des erstarkten otisches Kolossal-Gemälde“ (zit. nach Nieberle „Hurra-Patriotismus“ (Nieberle 90) gewertet, wie 84) handelte, wie es im zugehörigen Werbetext eine zeitgenössische Rezension in der Lichtbild- hieß. Doch trotz des hohen Aufgebots von 1.500 Bühne [1927] belegt. Diese Einschätzung dürfte Darstellern fand die Filmbiografie in der zeitge- nicht zuletzt der melodramatischen Qualität die- nössischen Presse keinen Anklang: ses Historienfilms geschuldet sein, zumal in der angeführten Rezension betont wurde, dass des- Armer Theodor Körner! Die ganze lodern- sen „Hauptwert“ auf den „seelischen Konflikte[n] de Begeisterung des Heldenjünglings der einzelnen Personen“ (zit. nach Nieberle 90) in ein paar burschikosen und ein paar liege.63 Rührszenen abgetan. […] Man stelle sich Am 4. Oktober 1932 wurde in Dresden un- das vor: ein gewaltiger, welterschüttern- ter dem Titel Theodor Körner. Ein deutsches der Völkerkampf auf das Niveau einer Heldenlied [R: Carl Boese, D 1932] schließlich Dilettantenvorstellung in einem klein- der dritte Körner-Film uraufgeführt, der im Ge- städtischen Kränzchen herabgezogen. gensatz zu den zwei vorangehenden Stummfil- (Rennert 131) men zu den frühen deutschen Tonfilmen zählt.64

helden. heroes. héros. Zur Heroisierung Theodor Körners im 19. und 20. Jahrhundert

Bereits der Untertitel dieses ‚Gesinnungsfilms‘ biografischen Gründen wechselseitig durchdrin- 77 weckte die Erwartung,65 eine heroisch stilisierte gen: der empfindsame Held, der patriotische Dichtervita geboten zu bekommen, wie sie auch Dichter und der wagemutige Kämpfer. das Filmplakat verbildlichte [Abb. 7]. An zentra- Der empfindsame Held: Die Filmbiografie ler Position ist ein Porträt des Protagonisten zu setzt mit der Darstellung von Körners Studenten- sehen, der von dem erfolgreichen Kammersän- zeit ein, in der er sich als Mitglied des Leipziger ger Willi Domgraf-Fassbaender gespielt wurde. Korps ‚Thuringia‘ mit adligen Studenten duel- Das Porträt der Filmfigur wird von mehreren liert.70 Im Anschluss an eine Mensur muss Körner martialischen Szenen gerahmt, die von Körners aus der Universitätsstadt fliehen. Unterwegs trifft kampferfülltem Leben zeugen. Die Filmbiografie er auf die ihm noch unbekannte Antonie Adam- wiederum spannt einen zeitlichen Bogen von der berger, die ihn in ihrer Kutsche versteckt, so dass Jugend Körners bis zu seinem Tod bei Gade- er seinen Verfolgern entgehen kann.71 Als er si- busch. Dabei werden wiederholt Kernpassagen cheren Boden erreicht hat, verlässt er sein Ver- aus seinen lyrischen Dichtungen eingeschaltet, steck und wendet sich an seine Retterin: „Ich bin die entweder mit patriotischer Inbrunst rezitiert ganz benommen. Ich weiß nicht, ist es von der oder chorisch in Liedform vorgetragen werden. gewonnenen Freiheit oder von dem süßen Duft Körner erscheint in diesem Zusammenhang als meines Gefängnisses.“ (TK 00:11:35-00:11:41) „orphische Gestalt propagandistischer Dichtung“ Charmant verbindet Körner den indirekten Dank (Nieberle 91), was durch die Filmmusik unterstri- für seine Rettung mit einem Kompliment für die chen wird, die Werner Schmidt-Boelcke in An- hilfreiche Unbekannte. Ihre Identität wird al- lehnung an bekannte Vertonungen von Körner- lerdings schon bald gelüftet, da Körner ihr am Liedern komponierte.66 Wiener Hoftheater wiederbegegnet. Nach einer Die politische Tendenz von Boeses Film­ raschen Annäherung ist er bereits zu ihrem Ver- biografie wird bereits in den ersten Sequenzen lobten geworden, der ihr abends vor dem Fens- sichtbar. Als sich zwei Passanten begegnen, ter ein Liebeslied darbringt. Körner wird dabei behauptet der erste: „wo drei Deutsche sind, in halbnaher Einstellung und leichter Untersicht […] sind drei Parteien“, woraufhin sein Beglei- gezeigt [Abb. 8], wie er die erste bis dritte Stro- ter entgegnet: „das nützt der Napoleon aus und phe des Gedichts Ständchen singt.72 Gegen hetzt Deutsche gegen Deutsche“ (TK 00:04:50- Ende seines Gesangs löst sich Antonie von ihrer 00:05:00). Es lässt sich nicht nur festhalten, Freundin, um zu Körner zu eilen. Während der dass in der Aussage des ersten Sprechers ein Dichter noch die letzten Verse singt, beginnt An- „antiparlamentarische[r] Grundtenor“ (Koller tonies Freundin zwei Verse aus Körners Trauer- 161) aufscheint, sondern auch, dass der Hin- spiel Zriny zu lesen: „Da fliegt die Brandrakete in weis auf Napoleon angesichts der zersplitterten die Stadt. | Das Feuer faßt, schon brennt’s an –“ Parteienlandschaft der Weimarer Republik als (SW II, 190, Szene III/10; TK 00:24:34-00:24:38) direkte Warnung vor einem potentiellen Aggres- Mit dieser Resemantisierung wird nicht nur die sor verstanden werden kann.67 Die indirekt anvi- ursprüngliche Kriegsmetaphorik in eine Liebes­ sierte Einheit der Deutschen findet dagegen im metaphorik umcodiert, sondern auch die Kon­ kameradschaftlichen Kampfverband der Lützo- stellation des Heldenpaares von Zriny und seiner wer Soldaten ihr positives Vorbild. Ferner wird „Heldenbraut“ (SW II, 190, Szene III/10) Eva, die die französische Hegemonie in den Preußenfil- sich trotz der fallenden Brandraketen in den Ar- men wiederholt als ‚Joch‘ apostrophiert, womit men liegen, auf Körner und Antonie übertragen. zugleich, wie Wolfgang Koller herausgestellt Auf diese Weise wird der empfindsame Lieb­ hat, der Versailler Friedensvertrag von 1919 in haber Körner zu einem heroischen Lieb­haber den Blick genommen ist.68 Angesichts dieses aufgewertet. politischen Bezugs erfüllt die Heroisierung Kör- Als Körner jedoch vom Aufruf des preußi- ners die Aufgabe, das Aufbegehren gegen das schen Königs Friedrich Wilhelm III. zur Bildung ‚Joch‘ der Fremdherrschaft als exemplarisch und von freiwilligen Jäger-Detachements hört und nachahmenswert darzustellen. Mit dieser Stili- erfährt, dass fast das gesamte Leipziger Korps sierung Körners zu einem ‚Auserwählten‘ wird Thuringia in das Lützower Freikorps eingetreten zugleich der Führerkult des Nationalsozialismus sei,73 gerät Körner in den Konflikt zwischen Pflicht antizipiert, wie ihn Siegfried Kracauer in seiner und Neigung. Da er sich entschließt, seinem Va- Deutung des Weimarer Kinos Von Caligari zu terland zu dienen, muss er auf das Liebesglück Hitler (1947) beschrieben hat.69 Gleichwohl zeigt mit Antonie verzichten. Sowohl die sturmbeweg- Boese auch Körners menschliche Seite, indem te Gartenlandschaft als auch die spannungsrei- er dessen tragische Beziehung zu der österrei- che Filmmusik kehren seine starke emotionale chischen Schauspielerin Antonie Adamberger Bewegung hervor.74 Um die Dringlichkeit der herausstellt. So werden drei strukturgebende patriotischen Pflichterfüllung und die Bedeu- Rollenbilder entfaltet, die sich allein schon aus tungstiefe der Entscheidung zu unterstreichen,

helden. heroes. héros. Nikolas Immer, Maria Schultz

78 werden in kurzer Folge drei Blitze eingeblendet, Adlers Schwung | Der vaterländ’sche Geist, | womit Boese auf das klassische Arsenal hero- Und noch lebt die Begeisterung, | Die alle Ketten isch-erhabener Bildtopik zurückgreift. Während reißt. | Und wie wir hier zusammenstehn | In Lust Antonie ihren Geliebten zurückzuhalten ver- und Lied getaucht, | So wollen wir uns wieder sucht, bekräftigt dieser seine Standhaftigkeit mit sehn, | Wenn’s von den Bergen raucht.“ (SW I, den ersten zwei Versen aus dem Gedicht Män- 79; TK 00:02:0300:02:22) Getragen von dieser ner und Buben, die später an prominenter Stelle pathetisch exponierten ‚Begeisterung‘ stimmen in Veit Harlans Propagandafilm Kolberg [1945] die Bundesbrüder sofort in das Bundeslied ein, zitiert werden: „Das Volk steht auf, der Sturm dessen letzte Strophe variierend gesungen bricht los; | Wer legt noch die Hände feig in den wird: „Ein festes Herz | In Lust und Schmerz, | Schooß?“ (SW I, 109; TK 00:28:38-00:28:43)75 In Kampf und Noth, | Frei – oder todt!“ (SW I, Körners Entschlossenheit wird währenddessen 209; TK 00:02:55-00:03:10)77 Schließlich trägt durch ein Close-up akzentuiert [Abb. 9]: Sein Körner die letzten vier Verse aus seinem Gedicht Blick schweift über Antonie hinweg und richtet Was uns bleibt vor: „Ob die Nacht die freud’ge sich auf das imaginierte Ziel, in Kürze ein Mit- Jugend tödte, | Für den Willen giebt es keinen glied von Lützows Freikorps zu werden. Tod; | Und des Blutes deutsche Heldenröthe | Auf diese Abschiedsszene wird im Verlauf der Jubelt von der Freiheit Morgenroth!“ (SW I, 108; Filmhandlung noch zweimal rekurriert. Der erste TK 00:03:37-00:03:49) Bereits diese Auszüge Rückbezug erfolgt, als sich Körner im Lützower umreißen schlagwortartig Körners dichtungspo- Lager mit dem Soldaten August Renz unterhält, litisches Programm: Der Gemeinschaftsbund, der sich später als die unter Pseudonym kämp- den der „vaterländ’sche Geist“ stiftet, bildet die fende ‚Heldenjungfrau‘ Eleonore Prochaska Vorstufe für eine künftige Kriegsgemeinschaft. entpuppt.76 Als sie auf ihre Liebesbeziehungen Angesichts des Schematismus „Frei – oder todt“ zu sprechen kommen, wird erneut die Garten- erscheint die kommende heroische Bewährung szene eingeblendet, die in Körners Erinnerung wie eine alternativlose Notwendigkeit. Dabei um einen Dialog erweitert wird. Am Ende formu- wird die angestrebte Freiheit gezielt ideologisch liert Antonie den flehentlichen Appell: „Du – mit überhöht, indem das „Morgenroth“ den Anbruch deiner Freiheit, was geht denn dich das an? Du einer neuen Zeit metaphorisch ankündigt. Der bist doch ein Dichter.“ (TK 00:38:44-00:39:19) Freiheitsbegriff selbst bleibt jedoch weitgehend Körner hingegen verdeutlicht mit seinem Enga- unbestimmt und erweist sich daher als an- gement im Lützower Freikorps, dass sich der schlussfähig für konkrete politische Funktionali- Typus des Dichters durchaus produktiv mit dem sierungen.78 des Helden verbinden kann. Der zweite Rückbe- An späterer Stelle wird Körner als der schöp- zug erfolgt, als sich Körner nach seiner schwe- ferische Dichter präsentiert, der an seinem Trau- ren Verwundung bei seinen Eltern aufhält und erspiel Zriny arbeitet. Sofort liest der hinzugetre- dort nochmals auf Antonie trifft. Als er sich ent- tene Intendant des Wiener Hoftheaters einige schließt, erneut zu Lützow zurückzukehren, wird Verse aus dem Reflexionsmonolog Zrinys vor: die erste Abschiedsszene strukturell aufgegriffen „Ich fühl’ es klar, ich kämpfte nicht vergebens; und in der Bildsprache intensiviert. Denn wäh- | Durch Todesnacht bricht ew’ges Morgenroth. rend sich Körner vom Pferd zu Antonie hinab- | Und muß ich hier mit meinem Blute zahlen, | beugt [Abb. 10], umarmt sie ihn eindringlich und Ein Gott vergilt mit seines Lichtes Strahlen!“ (SW fleht schon beinahe kläglich: „Geh nicht von uns! II, 222, Szene V/2; TK 00:17:47-00:18:00) Der Bleib hier!“ (TK 01:02:04-01:02:06) Dass Körner ungarische Graf Nikolaus Zrínyi, der in Körners dennoch unbeirrt an seiner Pflichterfüllung fest- Trauerspiel gegen den türkischen Kaiser Soli- hält, verdeutlicht nicht nur seine Antwort, son- man zu Felde zieht, demonstriert mit seiner Nie- dern auch die nachfolgende Kameraeinstellung derlage, dass noch „der eigene Untergang [als] [Abb. 11]. Die Verwendung der Totalen hat den ein moralischer Sieg“ (Luckscheiter 284) ange- Effekt, dass der in Rückenansicht davonreitende sehen werden könne. Auch wenn der Intendant Körner angesichts des großformatigen Himmels- von dieser Stoffwahl abrät,79 erweist sich der ausschnitts einsam und beinahe verloren wirkt. ‚Dichterheld‘ Zrínyi als zentrale Bezugsfigur für Die inszenierte Vereinzelung des Helden veran- Körner. Dabei zählt für den Dramatiker insbeson- schaulicht noch einmal deutlich, dass die hero- dere die wirkungsästhetische Rezeptionskraft ische Bewährung das Opfer des Liebesglücks seines Stücks: „Aufreizen soll es alle Deutschen erfordert. von Nord bis Süd! Einig zu sein, wenn es gilt, das Der patriotische Dichter: In dieser Rolle wird Vaterland zu befreien!“ (TK 00:18:19-00:18:24) Körner in die Filmbiografie eingeführt, da er Körner erkennt seinen literarischen Werken folg- eingangs vor seinen Bundesbrüdern des Leip- lich die konkret gesellschaftspolitische Funktion ziger Korps Thuringia die siebente Strophe des zu, zum patriotischen Freiheitskampf aufzufor- Gedichts Trost rezitiert: „Und noch regt sich mit dern. Diese Auffassung korrespondiert mit der

helden. heroes. héros. Zur Heroisierung Theodor Körners im 19. und 20. Jahrhundert

Einschätzung Lützows, der Körner an späterer abgeschiedenen Dichters wird nur noch durch 79 Stelle bescheinigt, seine „Freiheitslieder“ seien die Montage im zugehörigen Themenheft des seine „besten Werber“ (TK 00:30:55-00:30:59). Illustrierten Film-Kuriers gesteigert [Abb. 14], die Um die Soldatengemeinschaft ideologisch zu den aufgebahrten Körner neben der trauernden stabilisieren, wird schließlich das prominente Eleonore Prochaska und den das Grab umste- Freiheitslied Lützows wilde, verwegene Jagd ge- henden Lützowern zeigt. sungen, das zum „Marsch- und Schlachtlied der Dass Körners ideelles Vermächtnis auch in kühnen Krieger“ (Film-Kurier [5]) avanciert.80 Zukunft fortexistieren wird, bekräftigt Eleonore Der wagemutige Kämpfer: Dass Körner die Prochaska mit ihren Schlussworten: „Theodor heroischen Ideale nicht nur dichterisch pro- Körner ist nicht tot. Seine Lieder, die zur Frei- pagiert, sondern auch tatkräftig umzusetzen heit riefen, werden immer leben.“ (TK 01:11:56- versucht, betont er bereits mit seiner agitatori- 01:12:02) Damit wird die bleibende Aktualität der schen Rede, als er in Lützows Freikorps eintritt. Befreiungslieder angesprochen, denen insbe- An seine künftigen Mitstreiter gewendet, fordert sondere 1932 die Aufgabe zukommt, den ‚vater- er enthusiastisch: „Frisch auf, ihr Jäger! Frei ländischen Geist‘ zu mobilisieren.83 Im Vorder- und flink, die Büchse von der Wand! Der Mu- grund steht nicht ein historisch adäquates Bild tige bekämpft die Welt! Frisch auf den Feind! Körners, sondern das „spektakuläre Tableau“ Frisch in das Feld – fürs deutsche Vaterland!“ (Nieberle 93), das den Freiheitsimpuls seiner (TK 00:31:03-00:31:13) Auch wenn Körners Be- Heldenlieder und seines Heldendramas Zriny teiligung an den Kampfhandlungen der Lützower popularisieren soll. Auch wenn die Realisierung zunächst nicht eigens vorgeführt und er vielmehr dieser wirkungsästhetischen Zielstellung allen- als treusorgender Kamerad am Krankenbett der falls in begrenztem Rahmen gelang,84 wird der verwundeten Eleonore Prochaska gezeigt wird, Filmbiografie eine entscheidende Gedächtnis- stellt er spätestens im Gefecht mit den französi- funktion zugewiesen: Sie soll nachhaltig den pa- schen Truppen des Generals François Fournier- triotischen Gemeinsinn im kollektiven Bewusst- Sarlovèse sein Kriegsheldentum unter Beweis.81 sein aktualisieren. Nach einem schweren Säbelhieb sinkt er im Gehölz bei Großzschocher zu Boden und erin- nert mit der Körpergeste des sterbenden Helden [Abb. 12] an Otto Heicherts Gemälde Körner’s VI. „Das Volk steht auf, der Sturm Abschied vom Leben [Abb. 4]. Ohne jedoch auf bricht los“. Resümierender Blick auf Körners gleichnamiges Sonett einzugehen, folgt eine instrumentalisierte Heldenfigur filmintern die Überblendung zu Toni, die im Rah- men einer Theaterprobe eine Passage aus Zriny Nach seinem frühen Tod wurde der Dichter und rezitiert: Kriegsfreiwillige Theodor Körner rasch zu ei- ner kanonischen Heldenfigur aufgewertet. Im […] wie er mir den […] Abschied 19. und noch in der ersten Hälfte des 20. Jahr- Mit dem gezognen Säbel zugewinkt – hunderts war er als bedeutende nationale Iko- Es ist der letzte Gruß, rief’s mir, der letzte! Dort draußen lauert der Verrath auf ihn, ne über eine Vielzahl von Erinnerungsmedien Dort draußen ist der Liebe Tod bereitet! im kollektiven Gedächtnis verankert. Blieb sein Da zuckt’ es mir versengend durch die dichterisches Werk über etliche Neuauflagen Brust, und Wiederabdrucke im öffentlichen Bewusst- Das Auge brach, des Herzens Pulse sein präsent, etablierten zunächst die Artikel der stockten, Gartenlaube ein populäres Bild des ‚Dichterhel- Wie Traum des Todes kam es über mich. den‘ Körner. Wie in den historischen Romanen (SW II, 131, Szene II/1; des 19. Jahrhunderts wurde er wiederholt für die TK 00:53:09-00:53:45) Vorstellung von einem deutschen Nationalstaat instrumentalisiert. Die Aufbereitung seiner Vita An dieser Stelle wird die von Körner stilisier- im Rahmen geschichtlicher Romane diente pri- te Heldenvita Zrinys am direktesten auf seine mär der Identifikation mit dem heroischen- Vor eigene Lebenssituation projiziert. Auch wenn bild und sollte sekundär die männliche Jugend Körner dank der Pflege Eleonore Prochaskas mobilisieren. Während der Gedenkjahre 1863 schon bald wieder zu Kräften kommt, antizipiert und 1913 verdichteten sich die Schilderungen diese Todesvision bereits Körners nahenden seines Lebens zu einem typisierten Heldennar- Untergang. Sein patriotisches Engagement wird rativ, das beispielsweise Wilhelm Wohlrabe ver- schließlich durch die stimmungsvolle Totenwa- gegenwärtigte. Gleichzeitig wurden die Gedenk- che gewürdigt [Abb. 13], bei der die trauernden schriften mit stilisierten Szenen aus Körners Lützower eine Strophe aus Lützows wilder, ver- 82 Vita versehen, die ebenso wie die heroischen wegener Jagd singen. Diese Verklärung des Historiengemälde das allgemeine Bild prägten.

helden. heroes. héros. Nikolas Immer, Maria Schultz

80 Aus diesem Repertoire speisten sich wiederum vorläufigen Höhepunkt erreicht.86 Kaum noch die Sammelbilder und Postkarten, die nicht nur etwas erinnerte an den einstigen Sänger, des- zur massenmedialen Verbreitung von Körner- sen Lieder angeblich den Berlinerinnen so man- Motiven beitrugen, sondern auch, wie im Falle chen „bodenlosen Wonneseufzer“ entlockt hat- der Denkmal-Postkarten, den Erinnerungsbezug ten (Heine II, 55).87 Theodor Körner war über die intermedial erweiterten. Den Konvergenzpunkt mediale Aufbereitung vielmehr zu einer Projek- dieser Entwicklung bildeten schließlich die Film- tionsfigur geworden, die den massenhaften Tod biografien Körners, in denen zentrale ­ Narra für das Vaterland legitimieren sollte. tionsmuster aufgegriffen, prägnante Passagen aus seinen Dichtungen zitiert sowie etablierte 1 Körners Werke (1838) werden im Folgenden über die Si- Gedenkorte filmisch inszeniert wurden. Am pro- gle ‚SW‘, der Film Theodor Körner. Ein deutsches Heldenlied filiertesten gelang es Carl Boese, den prominen- (1932) über die Sigle ‚TK‘ zitiert. Vgl. das Literaturverzeich- ten Lützower Jäger als empfindsamen Helden, nis. patriotischen Dichter und wagemutigen Kämpfer 2 Vgl. Erll 165. zu präsentieren. 3 Vgl. Szépe 295-297. Während im 19. Jahrhundert über Theo- 4 Vgl. Schilling 133-158, 236-248, 271-286. dor Körner verstärkt an die nationale Hochzeit 5 Vgl. Disselkamp. der antinapoleonischen Kriege erinnert wurde, 6 Vgl. Jöst 319. intensivierte sich um 1913 und zu Beginn der 1930er Jahre die ideologische Vereinnahmung 7 Vgl. Hagemann 340-350. des ‚Dichterhelden‘. Spätestens mit der Aus- 8 Vgl. auch Wohlrabe I, 106, mit Hinweisen auf die Körner- stellung Grossdeutschlands Freiheitskampf, die Nekrologe von Friedrich Rückert und Emanuel Geibel. die Staatlichen Museen Berlin als „eine Art von 9 Beispielsweise wurde im Dresdner Körner-Museum Kriegsmaßnahme“ (Katalog 7) durchführten, Ernst Weickers Aquarell Theodor Körners Grab zu Wöbbelin im Jahre 1813 gezeigt. Vgl. Gedenkbuch 44. Zu Abbildungen bekam die Instrumentalisierung Körners explizit der Grabstätte vgl. Kammerhoff 30, 32. Größere Verbreitung propagandistische Züge. Mit dem Porträt von fanden die Beschreibungen in der Gartenlaube (1861/1863) Dora Stock, der Erstausgabe von Leyer und und die Darstellung von Brasch. Schwerdt sowie mit Kerstings Gemälde Auf Vor- 10 Vgl. Schilling 126-168. posten wurden populäre Erinnerungsmedien zu- 11 In 15 von 48 Ausgaben des Jahrgangs 1863 erschienen sammengetragen, um in nationalsozialistischer Artikel über Körner. Vereindeutigung die idealtypische „Verbindung 12 Vgl. Körners Todesstätte 789. von Geist und Wehrwillen“ am Beispiel Körners 13 Vom Denkmal bei Rosenberg wird sogar eine Abbildung zu veranschaulichen (Katalog 146). Des Wei- gezeigt. teren wurde die martialische Formel „Das Volk 14 Siehe Anm. 3. steht auf, der Sturm bricht los“ (SW I, 109) aus 15 Vgl. Heft 8, 12, 27 und 35 der Gartenlaube (1863). Körners Gedicht Männer und Buben öffentlich- 16 Vgl. vor allem Ackermann; Schröder; Körner’s Leier; keitswirksam in den ‚Durchhaltefilm‘ Kolberg Körner’s Todesstätte; Festgräber; Körner-Gräber; Besuch integriert. Schon am 18. Februar 1943 hatte bei Körner’s Pflegerin. Joseph Goebbels diesen Vers in seiner Pro- 17 Das Körner-Museum wurde von Emil Peschel, einem klamation des ‚totalen Kriegs‘ aufgegriffen und der wichtigsten Körner-Biografen, im ehemaligen Dresdener zu der ‚Parole‘ umgeformt: „Nun, Volk, steh auf Wohnhaus der Familie Körner gegründet. Er sammelte die und Sturm, brich los!“ (Goebbels) Während die Uniform und Waffen des Dichters und stellte dessen letztes, blutgetränktes Tagebuch als Reliquie aus. Neben anderen staatliche Propaganda versuchte, eine Volksge- Bildern waren dort das Kreidebildnis von Emma Körner, das meinschaft heraufzubeschwören, über Selbst- während seines letzten Dresden-Aufenthalts 1813 entstan- und Feindbilder eine gemeinsame Identität zu den war, sowie Otto Donner von Richters Gemälde Theodor konstruieren und vor allem nach den Rückschlä- Körners Freunde, von dem gefallenen Waffengefährten in Wöbbelin abschiednehmend zu sehen. Vgl. Körner-Muse- gen im Krieg vermehrt die Kampfbereitschaft zu um; Gedenkbuch 9, 41-44, 51; Bauer 243-245. Fotografien fördern, wurde der Rekurs auf Theodor Körner von Vitrinen mit Körner-Devotionalien aus dem 1945 zerstör- und die antinapoleonischen Kriege bemerkens- ten Dresdener Körner-Museum ebenso wie Reproduktionen werterweise auch von der politischen Opposition der genannten Bilder sind abgedruckt bei Kammerhoff. eingesetzt. So parallelisierte die Widerstands- 18 Vgl. Erll 143-193. gruppe ‚Die weiße Rose‘ den Kampf gegen die 19 Die quantitative Analyse hat ergeben, dass zwischen NSDAP mit dem Freiheitskampf gegen Napole- 1815 und 1945 im deutschsprachigen Raum über 560 Ro- mane (Erstausgaben) zu diesem Thema von deutschen on und bekräftigte ihren mobilisierenden Appell Autoren erschienen, hinzu kamen Übersetzungen aus an- mit einem Zitat aus Körners Soldatenlied Aufruf: deren Nationalliteraturen. Eine große Hilfe für die Ermittlung „Frisch auf, mein Volk! Die Flammenzeichen historischer Romane zu den Kriegen zwischen 1792 und rauchen“ (Scholl; SW I, 83).85 Mit dieser gegen- 1815 war die umfangreiche Datenbank, die im Rahmen des Projektes ‚Historische Romane‘ an der Universität Innsbruck läufigen Funktionalisierung hatte die ideologi- aufgebaut wurde. Vgl. http://www.histrom.literatur.at; Zugriff: sche Vereinnahmung des ‚Dichterhelden‘ ihren 03.08.2014.

helden. heroes. héros. Zur Heroisierung Theodor Körners im 19. und 20. Jahrhundert

20 Zur Analyse von Raus Roman vgl. Schultz 313-318. 46 Vgl. Assel/Jäger I, II, III. 81 21 Was die Kennzeichnung der Quellen betrifft, wurde expli- 47 Zu Osmar Schindler vgl. Biedermann/Dehmer. Der zit auf Gesamtausgaben der Werke Körners, auf historiogra- schma­le Katalog enthält leider keine Informationen über fische Werke, auf Biografien, sowie auf publizierte Ego-Do- Schindlers Körner-Gemälde. kumente Bezug genommen. Zu den von Rau und Mühlfeld 48 Vgl. SW I, 94-95. zitierten Erinnerungsschriften vgl. Nissen. Zur Erwähnung Wöbbelins vgl. Rau II, 396; Mühlfeld 4, 247-250. 49 Vgl. Sauermann 273. 22 Vgl. Rösler 66-67. 50 Die Rosafärbung des Hintergrunds erinnert überdies an den rosafarbenen Schein, mit dem Friedrich Schillers Jung- 23 Vgl. Rösler 188-189. frau von Orleans (1801) am Ende der Tragödie überwölbt 24 Vgl. Rösler 195; SW I, 101-103, 91-94. wird. 25 Das Lützower Freikorps und Theodor Körner behandeln 51 Zu verschiedenen Varianten dieser Postkarte vgl. Assel/ u. a. Grabi; Ohorn; Sommer. Jäger I. 26 Ohorns geschichtliche Erzählung ist mit einigen Abbil- 52 Der Untertitel des Sonetts lautet: „Als ich schwer verwun- dungen versehen. Die Illustration der Aufbahrung Körners er- det und hülflos in einem Holze lag und zu sterben meinte“ innert in ihrer Bildkomposition und -sprache an Otto Donner (SW I, 101). von Richters Gemälde Die Lützower an der Leiche Körners 53 Zu den Körner-Gedenkstätten als Postkarten-Motive vgl. (1845). Vgl. Ohorn 139. Assel/Jäger II. 27 Vgl. Meteling 295. 54 Vgl. Körner-Denkmal 90. Zum Körner-Standbild in Dres- 28 Im Kontext dieser Schilderung ist das Pastellporträt Kör- den vgl. Bauer 242. ners von Emma Körner abgebildet. Ähnliche Deutungen wie 55 Auf der Postkarte ist seitlich vermerkt: „Heliocolorkarte bei Wohlrabe finden sich auch in historischen Romanen. Vgl. von Ottmar Zieher, München“. Vgl. Kugler. exemplarisch Grabein. 56 Siehe Anm. 31. 29 Vgl. Schubert; Gedenkbuch; Kralik. Theodor Körner wird bei Fritz Löffler zum „Beitrag“ (Löffler 69) Sachsens an den 57 Vgl. Nieberle 83-89; Rother 63. Erfolgen des Jahres 1813 stilisiert. 58 Zu dieser Parallele vgl. Nieberle 87, wo das Gemälde 30 Vgl. May; Stodte; von der Vring. Richters und das entsprechende Filmstill nebeneinander ab- gebildet sind. Eine farbige Reproduktion von Richters Ge- 31 Zu Eleonore Prochaska vgl. Bauer 70-75; Bastet/Göt- mälde bieten Assel/Jäger I. Dass die Figurenanordnung auf ting-Nilius. Richters Gemälde ihrerseits der Konstellation auf Jacques- 32 Vgl. Schilling 183-195, wo Schilling zahlreiche Artikel Louis Davids Gemälde Der Ballhausschwur (1791) nach- ausgewertet hat, die anlässlich von Körners 100. Todestag empfunden sei, hat Kirstin Anne Schäfer behauptet. Vgl. am 26. August 1913 erschienen waren. Die wachsende Schäfer 191. Körner-Begeisterung erstreckte sich auch auf die Schulen, 59 Ebenfalls abgebildet bei Jutta Assel und Georg Jäger, wie Barbara Hanke exemplarisch nachgewiesen hat. Für das ohne dass dort auf die Filmvorlage hingewiesen wird. Vgl. Schuljahr 1914/15 lautete beispielsweise eine Themenstel- Assel/Jäger I. lung: „Was lehrt uns Theodor Körner für den gegenwärtigen Krieg?“ (Hanke 52) 60 Neben Portens Körner-Film ist sein dreiteiliger Film von der Königin Luise (1912/13) zu nennen. 33 Auf Boeses Filmbiografie wird im fünften Abschnitt detail- liert eingegangen. – Die Gestaltung des Buchcovers ist an 61 Vgl. Koller 155, wo ein Diagramm zum „Verlauf der deut- Richard Knötels Gemälde Theodor Körner liest seine Kriegs- schen Spielfilmproduktion über die Revolutions- und Napole- lieder vor angelehnt. Vgl. Bauer 54. Einige Jahre später er- onischen Kriege“ für die Zeit zwischen 1913 und 1945 abge- schien ebenfalls zu Körner: Hofer. bildet ist. 34 Vgl. Püschel; Löwe; Völkel. 62 Vgl. Stiasny 294; Nieberle 89-91. Zu alternativen Filmti- teln, die direkt auf Körner Bezug nehmen, vgl. ebd. 89. 35 Jösts Argumentation zielt jedoch allein auf die Verklä- rung des „Dichterheldentodes“ (Jöst 313). 63 Andernorts wurde der Film allerdings als ‚kitschig‘ und ‚verlogen‘ abgelehnt. Vgl. Koller 169. 36 Zum Gehalt von Kerstings Gemälde vgl. Schäfer 190- 191. 64 Vgl. Stiasny 295; Nieberle 91-95. 37 Zu den Körner-Gemälden Knötels und Traches vgl. Bau- 65 Vgl. Koller 176. er 54-55. 66 Vgl. Bockstiegel 61. 38 Zu den Anfängen der Reklamekunst vgl. Lorenz 11. 67 Vgl. Nieberle 92. 39 Vgl. Lorenz 39; Breidenbach 214-215. 68 Vgl. Koller 153, 165-166. 40 Vgl. Epple 169. 69 Vgl. Nieberle 91; Stiasny 270. Im Gegensatz zur Kon- 41 Vgl. Lorenz 120. Knötels Reklamebild ähnelt seinem junktur der Preußenfilme behauptet Kracauer, dass die anti- Gemälde Körner liest seine Kriegslieder vor. Vgl. Bauer napoleonischen Kriege „zur Zeit vom Aufstieg Hitlers etwas 54. Weitere Körner-Reklamebilder von Knötel enthalten die abgelegen schienen“ und wertet Theodor Körner zu einer Stollwerck-Serien Deutschlands Freiheitssänger [Album 14, „mittelmäßigen Filmbiographie“ (Kracauer 318, Anm. 24) ab. Gruppe 526, Bild 4], Der Frühjahrs-Feldzug [Album 14, Grup- 70 Vgl. Jäger 378-379. pe 531, Bild 6] und Die Augustschlachten [Album 14, Gruppe 532, Bild 3]. 71 Diese frühe Begegnung zwischen Körner und Antonie Adamberger ist frei erfunden. 42 Jussen 27909. Zu Körners Gedicht Du Schwert an mei- ner Linken! bzw. seinem Schwertlied vgl. SW I, 113-116. 72 Vgl. SW I, 312-313; TK 00:23:18-00:24:38. Von der ers­ ten Strophe werden nur die ersten vier und von der zweiten 43 Vgl. Kotłowski 13. Strophe nur die zweiten vier Verse gesungen. Die vierte Stro- 44 Vgl. Faulstich 180. phe fehlt ganz. 45 Vgl. May 2010. 73 Vgl. TK 00:27:06-00:27:17. helden. heroes. héros. Nikolas Immer, Maria Schultz

82 74 Zu dieser Szene vgl. auch Horak 121-122. Anonym. „Ein Besuch bei Theodor Körner’s Pflegerin in Groß-Zschocher“. Die Gartenlaube 12 (1863): 407-408. [Zi- 75 Gegenüber der Textvorlage weicht der zweite Vers in der tiert als: Besuch bei Körner’s Pflegerin] Verfilmung minimal ab, in der Körner fragt: „Wer legt jetzt die Hände noch streng in den Schoß?“ Zur Funktion des Körner- Anonym. „Die Körner-Gräber und ihre alten Wächter“. Die Zitats in Kolberg vgl. Paret. Gartenlaube 12 (1863): 420-423. [Zitiert als: Körner-Grä- ber] 76 Siehe Anm. 30. Anonym. „Die Wöbbeliner Festgräber“. Die Gartenlaube 12 77 In der zitierten Körner-Ausgabe findet sich das Gedicht (1863): 549-551. [Zitiert als: Festgräber] unter dem Titel Weinlied. Anonym. „Körner-Denkmal in Chemnitz.“ Die Kunst für Alle 78 Vgl. Weber 312. 17 (1902): 90. [Zitiert als: Körner-Denkmal] 79 Körner hatte dagegen für die Wahl dieses Stoffes viel Assel, Jutta, und Georg Jäger. „Körner-Motive auf Postkar- Zuspruch bekommen. Vgl. Luckscheiter 275. ten. Eine Dokumentation. Körner und die Lützower Jäger.“ 80 Lützows wilde, verwegene Jagd wird von Körner am Goethezeit-Portal, Stand: Januar 2014. Zugriff: 03.08.2014 nächtlichen Lager gesungen, während er von den Lützowern [Zitiert terbrochen, der den Überfall durch eine feindliche Patrouille als: Assel/Jäger I] anzeigt. Später übernimmt Friedrich Schillers Reiterlied die Assel, Jutta, und Georg Jäger. „Körner-Motive auf Postkar- gemeinschaftsstiftende Identifikationsfunktion für die Lützo- ten. Eine Dokumentation. Bildnisse, Erinnerungsorte und wer. Vgl. TK 00:49:11-00:50:01. Zur Popularität von Schil- Denkmäler.“ Goethezeit-Portal, Stand: Januar 2014. Zu- lers Reiterlied während der antinapoleonischen Kriege vgl. griff: 03.08.2014 [Zitiert als: Assel/Jäger II] Blick auf Körners Narbe behauptet: „das ist eine Handschrift, Assel, Jutta, und Georg Jäger. „Körner-Motive auf Postkar- die wir nicht vergessen werden“ (TK 01:02:51-01:02:54). Vgl. ten. Eine Dokumentation. Körner-Sprüche auf Postkarten Nieberle 92. im Ersten Weltkrieg.“ Goethezeit-Portal, Stand: Januar 82 Vgl. Nieberle 93. 2014. Zugriff: 03.08.2014 [Zitiert als: Assel/ Sigrid Nieberle eine zeitgenössische Rezension in Der Bild- Jäger III] wart ausfindig gemacht, in der es heißt: „Er [der Film] erzeugt aber viel eher Erinnerungsbilder, als daß er zu Handlungen Bastet, Marc, und Susanne Götting-Nilius. Eleonore Pro- veranlaßt“ (zit. nach Nieberle 91). chaska gestorben 1813 in Dannenberg. Fakten, Mythen, Rezeptionsgeschichte. Vastorf: Merlin, 2014. 85 Zur Rhetorik der Widerstandsgruppe Schulze-Boyens/ Harnack und der ‚Inneren Front‘ vgl. Scheel. Bauer, Frank. Horrido Lützow! Geschichte und Tradition des Lützower Freikorps. München: Schild-Verlag, 2000. 86 Zur Stilisierung Körners zum ‚russophilen Volksbefreier‘ in der DDR-Zeit vgl. Szépe 301-302. Biedermann, Heike, und Andreas Dehmer, Hg. Osmar Schindler in der Dresdener Galerie. Dresden: Sandstein, 87 Im dritten von Heinrich Heines Briefen aus Berlin, der 2011. auf den 7. Juni 1822 datiert ist, heißt es: „so steigt das Hoch- gefühl mancher Berlinerin, wenn sie ein Körnersches Lied Bockstiegel, Heiko. ‚Schmidt-Boelcke dirigiert‘. Ein Musiker- hört; sie legt die Hand graziöse auf den Busen, quietscht ei- leben zwischen Kunst und Medienlandschaft. Wolfratshau- nen bodenlosen Wonneseufzer […] und spricht: ‚Ich bin eine sen: Grimm, 1994. deutsche Jungfrau.‘“ (Heine II, 55) Boxberger, Richard von. Theodor Körner. Ein Sonettenkranz. Cassel: Carl Landsiedel, 1870. Brasch, Friedrich. Das Grab bei Wöbbelin oder Theodor Kör- ner und die Lützower. Schwerin: Stiller’sche Hofbuchhand- Literatur lung, 1861. Breidenbach, Joana. Deutsche und Dingwelt. Die Kommodi- fizierung nationaler Eigenschaften und die Nationalisierung 1813 bis 1815. Grossdeutschlands Freiheitskampf. Katalog deutscher Kultur. Münster: LIT, 1995. zur Ausstellung in der National-Galerie Berlin 1940. Berlin: Preussische Druckerei, 1940. [Zitiert als: Katalog] Brümmer, Franz. „Robert Rösler“. Allgemeine Deutsche Bio- graphie. Bd. 29. Leipzig: Duncker & Humblot, 1889: 242- A. B. „Körner’s Leier und Schwert. Nach ungedruckten Pri- 243. vatmittheilungen zweier Zeitgenossen Körner’s“. Die Gar- tenlaube 12 (1863): 116-120. [Zitiert als: Körner’s Leier] Das Körner-Museum zu Dresden, Körnerstraße Nr. 4, im ‚Körnerhause‘. Zur Erläuterung bei dem Besuche dessel- Ackermann. „Noch eine Erinnerung an Wöbbelin“. Die Gar- ben. Dresden: Verlag des Körner-Museums, 1876. [Zitiert tenlaube 12 (1863): 489-491. als: Körner-Museum] Anonym. „Theodor Körner’s Tod und Todesstätte“. Die Gar- Disselkamp, Martin. „Leyer und Schwerdt oder Ahnung und tenlaube 10 (1861): 789-790. [Zitiert als: Körner’s Todes- Gegenwart. Zwei Modelle des Heroischen zur Zeit der ‚Be- stätte] freiungskriege‘“. Ästhetischer Heroismus. Konzeptionelle Anonym. „Die Pflegerin Theodor Körner’s“. Die Gartenlaube und figurative Paradigmen des Helden. Hg. Nikolas Immer 12 (1863): 176. [Zitiert als: Körner’s Pflegerin] und Maren van Marwyck. Bielefeld: transcript, 2013. 223- Anonym. „Ein Volksschwur.“ Die Gartenlaube 12 (1863): 249. 180-184. [Zitiert als: Volksschwur]

helden. heroes. héros. Zur Heroisierung Theodor Körners im 19. und 20. Jahrhundert

Dresdner Lehrerverein und Sächsischer Pestalozzi-Verein, Kammerhoff, Ernst. Theodor Körner (Volksbücher der deut- 83 Hg. Theodor Körner. Gedenkbuch für die deutsche Jugend. schen Literatur, Nr. 6). Bielefeld: Velhagen & Klasing, [ca. Dresden: C. C. Meinhold & Söhne, 1913. [Zitiert als: Ge- 1910]. denkbuch] Körner, Theodor. Sämmtliche Werke. Im Auftrage der Mutter Epple, Angelika. Das Unternehmen Stollwerck. Eine Mikro- des Dichters hg. und mit einem Vorworte begleitet von Karl geschichte der Globalisierung. Frankfurt a. M.: Campus- Streckfuß. Rechtmäßige Gesammt-Ausgabe in vier Bän- Verlag, 2010. den. Berlin: Nicolai’sche Buchhandlung, 1838. [Zitiert als: SW] Erll, Astrid. Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart: J. B. Metzler, 2005. Koller, Wolfgang. Historienkino im Zeitalter der Weltkriege. Die Revolutions- und Napoleonischen Kriege in der europä- Faulstich, Werner. „Die Post- und Ansichtskarte“. Medien- ischen Erinnerung. Paderborn: Schöningh, 2013. wandel im Industrie- und Massenzeitalter (1830-1900). Hg. Werner Faulstich. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, Kosch, Wilhelm, Hg. Deutsche Dichter vor und nach 1813. 2004: 176-182. Befreiungskampf und Burschenschaft im Spiegel der zeit- genössischen deutschen Dichtung. Stuttgart: Strecker und Förster, Birthe. Der Königin Luise-Mythos. Mediengeschichte Schröder, 1925. des ‚Idealbilds deutscher Weiblichkeit‘, 1860-1960. Göttin- gen: V&R unipress, 2011. Kotłowski, Jan. Alte Postkarten als Kulturspiegel. Oldenburg: Bis, 1996. Freisler, Roland. „Das Todesurteil gegen Hans und Sophie Scholl sowie gegen Christoph Probst vom 22. Februar Kracauer, Siegfried. Von Caligari zu Hitler. Eine psychologi- 1943“. Zugriff: 03.08.2014 Baumgarten und Karsten Witte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 6. Auflage 2005. Goebbels, Joseph. „Rede im Berliner Sportpalast [„Wollt Ihr den totalen Krieg“] vom 18. Februar 1943“. Zugriff: Kralik, Richard. Die Befreiungskriege 1813. Festschrift zur 03.08.2014. Kugler, Adolf. „Ottmar Zieher’s Kunst- und Verlagsanstalt Grabein, Paul. ‚Die Flammenzeichen rauchen...‘. Roman aus München-Leipzig. Verlagsgeschichte und Biografie.“ der Zeit der Freiheitskriege. Leipzig: Grethlein & Co, 1913. AK-Express 114 (2005): 19-27. Grabi, M. „Verrat und Treue. Erzählung aus den vaterlän- Linder-Beroud, Waltraud. „‚An der Quelle saß der Knabe…‘. dischen Kriegen.“ Jugend-Gartenlaube. Farbig illustrierte Zur populären Rezeption von Schillers Liedern.“ Lied und Zeitschrift zur Unterhaltung und Belehrung der Jugend 4 populäre Kultur – Song and Popular Culture. Jahrbuch des (1894): 2-7, 26-34, 50-60, 74-85, 98-103, 122-125, 146- Deutschen Volksliedarchivs Freiburg 54 (2009): 185-222. 151, 170-175, 194-203, 218-227, 242-251, 266-273. Löffler, Fritz. Theodor Körner. Dichter und Freiheitsheld. Hagemann, Karen. ‚Mannlicher Muth und Teutsche Ehre‘. Dresden: Verlag Heimatwerk Sachsen, 1938. Nation, Militär und Geschlecht zur Zeit der Antinapoleoni- Lorenz, Detlef. Reklamekunst um 1900. Künstlerlexikon für schen Kriege Preußens. Paderborn: Schöningh, 2002. Sammelbilder. Berlin: Reimer, 2000. Hanke, Barbara. Geschichtskultur an höheren Schulen von Löwe, Hans. Sänger und Held. Eine Erzählung aus dem Le- der Wilhelminischen Ära bis zum Zweiten Weltkrieg. Das ben Theodor Körners. Berlin: Verlag der Nation, 1953. Beispiel Westfalen. Berlin: LIT, 2011. Luckscheiter, Roman. „Theodor Körners ‚Zriny‘-Drama und Heine Heinrich. Sämtliche Schriften. 6 Bde. Hg. Klaus Brieg- die Faszination von Tod und Niederlage.“ Militia et Litterae. leb. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 3. Auflage Die beiden Nikolaus Zrínyi und Europa. Hg. Wilhelm Kühl- 2005. mann und Gábor Tüskés unter Mitarbeit von Sándor Bene. Herzog, Rudolf. Horridoh Lützow! Der Roman eines Frei- Tübingen: Niemeyer, 2009: 274-284. schärlers. Berlin: Vier Falken, 1932. May, Otto. Scharnhorsts Leben und Wirken im Spiegel von Hofer, Klara. Das letzte Jahr. Roman um Theodor Körner. Postkarten. Begleitheft zur Ausstellung in der Rathaushalle Berlin: Ullstein, 1936. Hildesheim. Hildesheim: Tharax, 2010. Horak, Jan-Christopher. „Eros, Thanatos, and the Will to May, Werner. Mädchen im Soldatenrock. Die Geschichte des Myth: Prussian Films in German Cinema.“ Framing the Unteroffiziers Friederike Auguste Krüger. Reutlingen: Enß- Past. The Historiography of German Cinema and Televi- lin & Laiblin, 1940. sion. Hg. Bruce A. Murray und Christopher J. Wickham. Meteling, Wencke. „Der Ruhm verpflichtet! Regimenter als Carbondale: Southern Illinois University Press, 1992: 121- Träger kriegerisch-vaterländischer und konservativ-monar- 139. chischer Traditionsstiftung in Preußen in der ersten Hälfte Illustrierter Film-Kurier 14 (1932), Nr. 1844: Theodor Körner. des 19. Jahrhunderts.“ Militärische Erinnerungskulturen Ein deutsches Heldenleben. [Zitiert als: Film-Kurier] vom 14. bis zum 19. Jahrhundert. Träger – Medien – Deu- tungskonkurrenzen. Hg. Horst Carl und Ute Planert. Göttin- Jäger, Hans-Wolf. „Theodor Körner“. Neue Deutsche Biogra- gen: V&R unipress, 2012: 263-295. phie Bd. XII (1979). Hg. Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Berlin: Dun- Mühlfeld, Julius [= Robert Rösler]. Gefangen und befreit. Va- cker & Humblot, 1953 ff.: 378-379. terländisches Gemälde aus den Jahren 1806-1814. Wien: Kober & Markgraf, 1860. [Zitiert als: Rösler] Jöst, Erhard. „Der Heldentod des Dichters Theodor Körner. Der Einfluß eines Mythos auf die Rezeption einer Lyrik und Mühlfeld, Julius [= Robert Rösler]. Theodor Körner. Ein deut- ihre literarische Kritik.“ Orbis Litterarum 32 (1977): 309-340. sches Lebensbild. Anklam: Dietze, 1862. Jussen, Bernhard, Hg. Reklame-Sammelbilder. Bilder der Nieberle, Sigrid. Literarhistorische Filmbiographien. Autor- Jahre 1870-1970 mit historischen Themen. DVD-ROM. schaft und Literaturgeschichte im Kino. Mit einer Filmogra- Berlin: Directmedia, 2008. phie 1909-2007. Berlin, New York: de Gruyter, 2008. Kafka, Franz. Tagebücher 1910-1923. Hg. Max Brod. Frank- furt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag, 2. Auflage 1983.

helden. heroes. héros. Nikolas Immer, Maria Schultz

84 Nissen, Martin. Populäre Geschichtsschreibung. Historiker, Stodte, Hermann. Das preußische Mädchen. Schicksalswe- Verleger und die deutsche Öffentlichkeit (1848-1900). Köln: ge der Eleonore Prochaska. Berlin: Hayn’s Erben, 1932. Böhlau, 2009. Szépe, Helene. „Opfertod und Poesie. Zur Geschichte der Ohorn, Anton. Lützow’s wilde Jagd. Leipzig: Abel & Müller, Theodor-Körner-Legende.“ Colloquia Germanica 9 (1975): 4. Auflage 1905. 291-304. Paret, Peter. „‚Kolberg‘ (1945) as Historical Film and Histori- Theodor Körner. Ein deutsches Heldenlied. Reg. Carl Boese. cal Document.“ Historical Journal of Film, Radio and Televi- Deutschland, 1932. [Zitiert als: TK] sion 14 (1994): 433-448. Völkel, Ulrich. Mit Leier und Schwert. Roman um Theodor Püschel, Wolfgang Walter. Der Sänger der Schwarzen Frei- Körner. Berlin: Verlag der Nation, 1983. schar. Eine Erzählung um Theodor Körner. Berlin: Verlag Vring, Georg von der. Schwarzer Jäger Johanna. Roman. Neues Leben, 1954. Berlin: Deutscher Verlag, 1934. Rau, Heribert. Theodor Körner. Vaterländischer Roman in Weber, Ernst. „Der Krieg und die Poeten. Theodor Körners zwei Theilen. Dem deutschen Volke eine Gabe zur Erin- Kriegsdichtung und ihre Rezeption im Kontext des reform- nerung an die Befreiung Deutschlands im Jahre 1813 an politischen Bellizismus der Befreiungslyrik.“ Die Wieder- deren funfzigstem Jubiläum. 2 Bde. Leipzig: Thomas, 1863. geburt des Krieges aus dem Geist der Revolution. Studi- Rennert, Malwine. „Victor Hugo und der [sic] Kino. Franzö- en zum bellizistischen Diskurs des ausgehenden 18. und sische und deutsche Filmkunst.“ Bild & Film. Zeitschrift für beginnenden 19. Jahrhunderts. Hg. Johannes Kunisch und Lichtbilderei und Kinematographie 2 (1912/13): 129-131. Herfried Münkler. Berlin: Duncker & Humblot, 1999: 285- 325. Rother, Rainer. „Vom Kaiserreich bis in die fünfziger Jahre. Der deutsche Film.“ Mythen der Nationen: Völker im Film. Wohlrabe, Wilhelm. Die Freiheitskriege in Lied und Ge- Hg. Rainer Rother. Berlin: Deutsches Historisches Muse- schichte. 2 Bde. Leipzig: Dürr, 1912/13. um, 1998: 63-81. Sauermann, Eberhard. „Beschönigen und Verschweigen neuer Waffen in der Lyrik des Ersten Weltkriegs.“ Wahr- heitsmaschinen. Der Einfluss technischer Innovationen auf die Darstellung und das Bild des Krieges in den Medien und Künsten. Hg. Claudia Glunz und Thomas F. Schneider. Göttingen: V&R unipress, 2010: 273-285. Schäfer, Kirstin. „Die Völkerschlacht.“ Deutsche Erinne- rungsorte. Bd. II. Hg. Etienne François und Hagen Schulze. München: Beck, 2. Auflage 2002: 187-201. Scheel, Heinrich. „Die Rolle der Befreiungskriege in der il- legalen Widerstandsliteratur. − Dargestellt am Beispiel der Widerstandsgruppen Schulze-Boyens/Harnack und ‚Innere Front‘“. Das Jahr 1813. Studien zur Geschichte und Wir- kung der Befreiungskriege. Hg. Heinrich Scheel. Berlin: Akademie-Verlag, 1963: 207-233. Schilling, René. ‚Kriegshelden‘. Deutungsmuster heroischer Männlichkeit in Deutschland 1813-1945. Paderborn: Schö- ningh, 2002. Scholl, Hans und Sophie Scholl. „Flugblatt VI der ‚Weißen Rose‘“. Zugriff: 03.08.2014 Schröder, Wilhelm. „Eine Reliquie von Theodor Körner“. Die Gartenlaube (12) 1863: 288. Schubert, Heinrich. Der Dichter und Freiheitskämpfer Theo- dor Körner in Schlesien. Zur hundertjährigen Gedenkfeier der glorreichen Erhebung Preußens im Frühlinge 1813. Kattowitz: Böhm, 1913. Schultz, Maria. „‚Mit Gott, für König und Vaterland‘ – Erinnern und Erzählen für ein Massenpublikum. Die Darstellung von Kriegsfreiwilligen der napoleonischen Zeit in deutschspra- chigen Romanen des 19. Jahrhunderts.“ Militärische Erin- nerungskulturen vom 14. bis zum 19. Jahrhundert. Träger – Medien – Deutungskonkurrenzen. Hg. Horst Carl und Ute Planert. Göttingen: V&R unipress, 2012: 299-325. Sommer, Fedor. Bei den Lützowern und an der Katzbach. Er- zählung aus großer Zeit (Aus großer Zeit, Heft 2). Liegnitz: Carl Seyffarth, 1912. Stiasny, Philipp. „‚Die poetische Schmachtlocke sträubt sich hier ohne weiteres zur politischen Borste‘. Fridericus Rex und das Bild des Krieges im Weimarer Kino.“ Krieg und Mili- tär im Film des 20. Jahrhunderts. Hg. Bernhard Chiari, Mat- thias Rogg und Wolfgang Schmidt. München: Oldenbourg, 2003: 269-296.

helden. heroes. héros. Zur Heroisierung Theodor Körners im 19. und 20. Jahrhundert

Abbildungen 85

Abb. 1: Herzog, Rudolf. Horridoh Lützow! Der Roman eines Freischärlers (1932)

Abb. 2: [Richard Knötel:] Theodor Körner. Stollwerck’s Sammel-Album 10 (1908/09)

helden. heroes. héros. Nikolas Immer, Maria Schultz

86

Abb. 3: Postkarte. Recto: Bild: „Vater Ich Rufe Dich. O. Schindler 18. Sept. 1914.“

Abb. 4: Postkarte. Recto: „Körner’s Abschied vom Leben | Die Wunde brennt, | Die bleichen Lippen beben.“

helden. heroes. héros. Zur Heroisierung Theodor Körners im 19. und 20. Jahrhundert

87

Abb. 5: Postkarte. Recto: „Chemnitz, Körnerdenkmal“.

Abb. 6: Postkarte. Recto: „An der Bahre Körners.“ Verso: „Gruß aus… Theodor Körner. Ein Heldenleben.“

helden. heroes. héros. Nikolas Immer, Maria Schultz

88

Abb. 7: Illustrierter Film-Kurier 14 (1932), Nr. 1844: Theodor Körner. Ein deutsches Heldenleben, Titelblatt.

Abb. 8: Filmstill. Theodor Körner. Ein deutsches Heldenlied (1932), Zweiter Akt, 00:24:02.

helden. heroes. héros. Zur Heroisierung Theodor Körners im 19. und 20. Jahrhundert

89

Abb. 9: Filmstill. Theodor Körner. Ein deutsches Heldenlied (1932), Zweiter Akt, 00:28:38.

Abb. 10: Filmstill. Theodor Körner. Ein deutsches Heldenlied (1932), Vierter Akt, 01:02:06.

helden. heroes. héros. Nikolas Immer, Maria Schultz

90

Abb. 11: Filmstill. Theodor Körner. Ein deutsches Heldenlied (1932), Vierter Akt, 01:02:26.

Abb. 12: Filmstill. Theodor Körner. Ein deutsches Heldenlied (1932), Dritter Akt, 00:53:00.

helden. heroes. héros. Zur Heroisierung Theodor Körners im 19. und 20. Jahrhundert

91

Abb. 13: Filmstill. Theodor Körner. Ein deutsches Heldenlied (1932), Vierter Akt, 01:11:23.

Abb. 14: Illustrierter Film-Kurier 14 (1932), Nr. 1844: Theodor Körner. Ein deutsches Heldenleben, [7], Bildausschnitt.

helden. heroes. héros. Nikolas Immer, Maria Schultz

92 Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Herzog, Rudolf. Horridoh Lützow! Der Roman eines Freischärlers. Berlin: Vier Falken, 1932, Cover. Abb. 2: [Richard Knötel:] Theodor Körner. Stollwerck’s Sammel-Album 10 (1908/09), Serie „Freiheitshelden“, Bild 446/3. – Jussen 27908. Abb. 3: Postkarte. Recto: Bild: „Vater Ich Rufe Dich. O. Schindler 18. Sept. 1914.“ Bildunterschrift: „Vater, ich preise Dich! | ’s ist ja kein Kampf für die Güter der Erde; | Das Hei- ligste schützen wir mit dem Schwerte; | Drum, fallend und siegend, Preis’ ich dich, | Gott, dir ergeb’ ich mich! Theodor Körner.“ Gelaufen. – Privatbesitz. – Weitere Internetquelle: http://www.bildpostkarten.uni-osnabrueck.de/displayimage. php?pid=1387 &fullsize=1 Abb. 4: Postkarte. Recto: „Körner’s Abschied vom Leben | Die Wunde brennt, | Die bleichen Lippen beben.“ Nicht gelaufen. – Privatbesitz. – Weitere Internetquelle: http:// www.bildpostkarten.uni-osnabrueck.de/displayimage. php?pid=1380&fullsize=1 Abb. 5: Postkarte. Recto: „Chemnitz, Körnerdenkmal“. Ge- laufen. – Privatbesitz. – Weitere Internetquelle: http://www. historisches-chemnitz.de/altchemnitz/denkmaeler/koerner- denkmal/koernerdenkmal3.jpg Abb. 6: Postkarte. Recto: „An der Bahre Körners.“ Verso: „Gruß aus… Theodor Körner. Ein Heldenleben. Deutsche Mutoscop- und Biograph Gesellschaft. Verlag: E. Baumann, Berlin SW. 61. Kaiser Friedrich-Platz 2.“ Gelaufen. – Privat- besitz. – Weitere Internetquelle: http://www.goethezeitpor- tal.de/fileadmin/Images/db/wiss/bildende_kunst/ koerner/ luetzower_jaeger/Koerner_Bahre_Baumann__786x500_. jpg Abb. 7: Illustrierter Film-Kurier 14 (1932), Nr. 1844: Theodor Körner. Ein deutsches Heldenleben, Titelblatt. Abb. 8: Filmstill. Theodor Körner. Ein deutsches Heldenlied (1932), Zweiter Akt, 00:24:02. Abb. 9: Filmstill. Theodor Körner. Ein deutsches Heldenlied (1932), Zweiter Akt, 00:28:38. Abb. 10: Filmstill. Theodor Körner. Ein deutsches Heldenlied (1932), Vierter Akt, 01:02:06. Abb. 11: Filmstill. Theodor Körner. Ein deutsches Heldenlied (1932), Vierter Akt, 01:02:26. Abb. 12: Filmstill. Theodor Körner. Ein deutsches Heldenlied (1932), Dritter Akt, 00:53:00. Abb. 13: Filmstill. Theodor Körner. Ein deutsches Heldenlied (1932), Vierter Akt, 01:11:23. Abb. 14: Illustrierter Film-Kurier 14 (1932), Nr. 1844: Theodor Körner. Ein deutsches Heldenleben, [7], Bildausschnitt.

helden. heroes. héros. DOI 10.6094/helden.heroes.heros./2014/02/07

Robert Lukenda 93

Viva Garibaldi! – Heldentum und mediale Inszenierung am Übergang zur politischen Moderne

1. Einführung isoliert. Zudem hatte er in seiner militärischen Laufbahn mehr Niederlagen und Rückschläge Der italienische Freiheitskämpfer Giuseppe Ga­ als Erfolge aufzuweisen. ribaldi kann ohne Zweifel zum Kanon jener gro­ Garibaldis Ruhm mit seinem politischen Idea­ ßen Männer des 19. Jahrhunderts gerechnet lismus, seinen herausragenden Fähigkeiten als werden, die den Übergang in das Zeitalter der militärischer Führer gepaart mit einem rhetori­ politischen Moderne geprägt haben. schen Talent zur politischen Mobilisierung von Der ‚Held zweier Welten‘, wie er aufgrund Menschenmassen erklären zu wollen, würde je­ seines kämpferischen Engagements gegen doch eindeutig zu kurz greifen. Im Rahmen einer absolutistische Herrschaftssysteme in Euro­ ‚kulturalistischen‘ Geschichtsforschung, die in pa und Südamerika getauft wurde, erwarb sich den 1980er Jahren mit Konzepten wie Benedict schon zu Lebzeiten den Status einer internatio­ Andersons Imagined Communities, Eric Hobs­ nalen Berühmtheit. Wer war dieser Mann, der bawms und Terence Rangers The Invention of als „first celebrity of the modern political age“ Tradition oder Pierre Noras lieux de mémoire (Riall a) gefeiert wurde und über den die franzö­ Kontur gewann, wurde der Blick zunehmend sische Schriftstellerin George Sand im Mai 1860 für die imaginären und symbolischen Prozesse schrieb: geschärft, die das Zeitalter der Nationalstaatsbil­ dungen in und außerhalb Europas prägten. Vor Dieser Mann, der fast allein steht, ist ein diesem Hintergrund lässt sich nicht zuletzt auch Mann des Wunders; er lässt Throne erzit­ die Popularität des italienischen Freiheitskämp­ tern, er ist die Oriflamme, das feuerfarbe­ fers als Ergebnis komplexer Mechanismen der ne, sternenübersäte Banner einer neuen Traditionsstiftung begreifen, die zur Herausbil­ Ära. Ganz Europa richtet die Augen auf dung nationaler Freiheitsbewegungen und neu­ ihn und erwacht jeden Morgen mit der er patriotischer Ikonen führten. Der vorliegende Frage, wo er ist und was er tags zuvor ge­ Artikel wird daher den Versuch unternehmen, tan hat. (Sand 363-364) diesen Heldenkult in seinen Grundzügen – v. a. im Kontext zeitgeschichtlicher Faktoren der kol­ Noch heute gilt der 1807 in Nizza geborene Ga­ lektiven Bewusstseinsbildung – zu rekonstruie­ ribaldi als militärischer Wegbereiter der italieni­ ren und seine Entwicklung vor dem Hintergrund schen Einheit und bedeutendster Repräsentant geis­tiger und medialer Prozesse zu beschrei­ eines politischen Heldentums demokratischer ben.1 Prägung im 19. Jahrhundert. Für einen Mann von Aufgrund seiner herausragenden zeit­ bescheidener Herkunft war dies eine beachtliche geschichtlichen Bedeutung ist das Beispiel Karriere, zumal er Zeit seines Lebens kaum über Garibaldi nicht zuletzt dazu geeignet, zen­trale nennenswerte politische Macht verfügte (Riall a). Wesensmerkmale der Entstehung einer Hel­ Garibaldi schaffte den Sprung aus der Anonymi­ denkonzeption zu beleuchten, die sich an der tät auf die Bühne der großen Geschichte weitge­ Schwelle zur politischen Moderne herausgebil­ hend aus eigener Kraft. Zwar hatte er durchaus det hat. In dieser Hinsicht ist die Figur Garibaldi Fürsprecher, Gönner und Bewunderer, dennoch sowohl ‚Objekt‘ einer zeitgeschichtlich motivier­ war er mit seinen radikalen demokratischen An­ ten, politisch-kulturellen Dynamik – ein Produkt sichten, seiner unangepassten Lebensweise so­ politischer Ideale, kollektiver Sehnsüchte und wie seinem Hang zu militärischen Alleingängen romantischer Narrative im Zeitalter der Natio­ selbst in den Reihen der ideologisch bunt gefä­ nalstaatsbildung. Schriftsteller wie Victor Hugo cherten italienischen Nationalbewegung häufig feierten ihn als Vorkämpfer für die Freiheit der helden. heroes. héros. Robert Lukenda

94 Völker. Garibaldi inspirierte unzählige Literaten, von Journalisten, Schriftstellern und Fotografen die seine Lebensgeschichte zum Abenteuerro­ begleiten. Diese sorgten dafür, dass seine Taten man umschrieben und auf diesem Wege einen ihren Weg von den Schlachtfeldern in die breite Mythos schufen, in dem „fact and fiction, [...] no­ Öffentlichkeit fanden. Auch trat er selbst immer velistic fantasy and political truth“ (Riall b 162) wieder als Akteur in Erscheinung, wenn es da­ kaum mehr voneinander zu trennen waren. Der rum ging, sein öffentliches Bild zu beeinflussen Held Garibaldi ist zugleich jedoch auch aktives und sein politisches Erbe zu verteidigen – unter ‚Subjekt‘, das sich selbst gestaltet: In der Figur anderem mit einer Autobiographie und zwei Ro­ des Revolutionärs affirmierte sich ein Helden­ manen, die sich in ein kaum zu überblickendes tum, das sich als politisches, zugleich jedoch Feld biographischer Darstellungen einreihen, in in hohem Maße als ästhetisches und mediales der Garibaldi zur mythisch-romantischen Ikone Projekt begreift: Von der Kleidung bis hin zum der Zeitgeschichte verklärt wurde. Einsatz moderner Massenkommunikationsmittel zog er sämtliche Register, um jenen Charisma- Effekt zu erzielen, der darin besteht, „to interest a certain number of people in the glitter of his 2. Zeitgeschichtliche Voraussetzun- personality“ (Geertz 13). Er verfügte damit über gen jene „puissance communicative“ (Balzac 167), die der Erzähler in Balzacs Père Goriot den gro­ Als Zeitalter der politischen und kulturellen Na­ ßen Akteuren der Geschichte zuschrieb. tionalstaatsbildung war das 19. Jahrhundert Garibaldis kometenhafter Aufstieg zur schil­ europaweit eine Epoche des Personenkultes. lernden Berühmtheit wird in der Summe also Insbesondere das postrevolutionäre Frankreich, durch eine Reihe zeitgeschichtlicher Faktoren das in Sachen Erinnerungspolitik für aufstreben­ ermöglicht, die von Lucy Riall in einer Garibaldi de Nationen wie Italien zum Vorbild avancierte, Formula zusammengefasst wurden: prägte z. B. mit Ruhmeshallen wie dem Pariser ‚Panthéon‘ einen patriotischen Vergangenheits­ Garibaldi’s fame was a media creation. kult, dessen Kern das Gedenken an die ‚grands It was made possible by the expansion hommes‘ des Vaterlandes bildete.3 in print culture and the increase in mass Im Zeitalter des aufkeimenden nationalen Be­ literacy, and of a fit between the genres wusstseins versuchten italienische Schriftsteller of romantic popular fiction and the spread wie Ugo Foscolo, die den Idealen der französi­ of radical ideas. There was little that was spontaneous about Garibaldi’s appeal or schen Revolution nahestanden, die Italiener für its meaning, although its popular reception ihre Historie zu sensibilisieren. Die Erinnerung took everyone by surprise. Rather, it was an die Helden der Vergangenheit wie Dante, the result of a deliberate political strategy­ Machiavelli oder Giordano Bruno sollte der Be­ planned by the nationalist leader Giusep­ völkerung Handlungsvorbilder liefern, um die pe Mazzini, and implemented by him and einstige moralische und kulturelle Größe der Na­ a group of talented publicists. Using both tion zurückzuerlangen und die historische politi­ the printed word and the image they set sche Zersplitterung des Heimatlandes zu über­ out to promote Garibaldi as a real-life rad­ winden. Mit einer Vielzahl an Denkmälern und ical hero, and to identify him with the plot­ öffentlichen Gedenkfeiern wurde der neue Kult lines and themes of Italian romantic litera­ der ‚großen Männer‘ im entstehenden Gedächt­ ture. (Riall a)2 nis der aufstrebenden Nation verankert. Orte Neben geistigen, kulturellen und narrativen As­ wie das vermeintliche Dante-Grab in Ravenna pekten bilden insbesondere massenmediale oder die als nationale Ruhmeshalle verehrte Kir­ Entwicklungen im 19. Jahrhundert eine Grund­ che Santa Croce in Florenz mit den sterblichen voraussetzung für die Popularität Garibaldis. In Überresten Michelangelos und Galileis rückten Ermangelung politischer Gestaltungsmöglichkei­ wieder stärker in das öffentliche Bewusstsein. ten nutzte er gezielt die neuen Errungenschaf­ Sie avancierten zu Pilgerstätten und Stationen ten des technologischen Fortschritts sowie auch eines nationalen Erinnerungsparcours, auf dem die zunehmende Bedeutung visueller Medien, die Italiener im frühen 19. Jahrhundert ihre histo­ um sich und seine politischen Ziele ins rechte rische Größe ‚wiederentdecken‘ konnten. Licht zu rücken: In der Zeit nach 1848 war der ‚Held zweier Welten‘ eine der meistporträtierten Persönlichkeiten. Sein Konterfei zirkulierte in un­ zähligen Stichen, Lithografien und Fotografien. Früh erkannte Garibaldi die Bedeutung der mo­ dernen Kriegsberichterstattung. Auf seinen mili­ tärischen Feldzügen ließ er sich daher bewusst

helden. heroes. héros. Viva Garibaldi!

2.1. Moderne Helden: ‚hommes Der Held zeichnet sich hier v. a. dadurch aus, 95 d’action‘, ‚hommes de guerre‘ dass er im Gegensatz zum ‚grand homme‘, der vielfach allein und gegen die eigene Epoch­e handelt,6 an ihrer Spitze agiert und dabei in Im fortgeschrittenen 19. Jahrhundert vollzog exemplarischer Weise die kollektiven Sehnsüch­ sich in Italien eine signifikante Transformation te seiner Zeit verkörpert, wie Sand mit Blick auf des nationalen Heldenmodells: Die zunehmend Helden wie Garibaldi betont: revolutionäre Stimmung spülte insbesondere im Vorfeld des Ersten Unabhängigkeitskrieges von Sie vereinigen die Seele einer Nation in 1848/49 eine Reihe historischer Figuren ins öf­ sich, und wenn man wohl darauf achten fentliche Bewusstsein, die in der Geschichte will, dann wird man in diesem hier eine allenfalls Nebenrollen bekleidet hatten. Neue Art Personifikation des wiedererstehen­ Helden kamen plötzlich in Mode, die nicht mehr den Italiens mit seiner schmerzvollen Ver­ in erster Linie Kulturikonen – Literaten (Dante), gangenheit, seinen bitteren Dramen [...] Wissenschaftler (Galilei) oder Künstler (Michel­ sehen [...]. (Sand 363) angelo) –, sondern zumeist reine Kämpferty­ pen waren. Ritter und Heerführer wie Alberto da Guis­sano – Kriegsheld in der Schlacht von 2.2. ‚Melodramatisierung‘ der Legnano 1176, bei dem ein Bündnis oberitalieni­ scher Städte gegen Kaiser Friedrich Barbarossa Öffentlichkeit: Medien des triumphierte – avancierten zu Vorbildern junger kollektiven Bewusstseins patriotischer Generationen. Als vermeintliche historische Vorkämpfer für Freiheit und Selbst­ Da die Behörden zahlreicher Staaten auf der bestimmung des italienischen Volkes fanden italienischen Halbinsel zumeist versuchten, den sie Aufnahme in einen neuen Kanon von Nati­ nationalen Diskurs im Zeitalter der Restauration onalhelden, der in den ersten Jahrzehnten des durch Zensur und Verfolgung zu unterdrücken, 19. Jahrhunderts entstand und in der patrioti­ verlagerte sich der patriotische Nationalkult weit­ schen Literatur verbreitet wurde.4 gehend auf das Feld der Literatur und hier ins­ Die Popularisierung des Modells der ‚großen besondere auf die ‚neuen‘ Gattungen wie den Männer‘ ließ sich zugleich in ein nationales Ge­ historischen Roman und das Melodrama, die in schichtsverständnis einbetten, das insbesonde­ Ermangelung anderer Medien und Institutionen re in Frankreich großen Einfluss entfaltete und der kollektiven Bewusstseinsbildung zu Leitins­ die Rolle des Individuums in der Geschichte tanzen einer politischen Identitätskonstruktion hinterfragte. Mit ihrem Ansatz, die prägenden avancierten. Mehr noch als andernorts stand die historischen Persönlichkeiten aus ihrem sozia­ nationale Geschichtsdebatte in Italien, wo die len Kontext heraus verstehen zu wollen, sie als Romantik mit einer zeitlichen Verzögerung ein­ Produkte von Kultur und Gesellschaft sichtbar zu setzte, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts machen, vollzogen Historiker und Philosophen weitgehend im Zeichen des historischen Ro­ wie Thierry, Michelet oder Comte eine Abkehr mans. Autoren wie Massimo D’Azeglio setzten vom bekannten Carlyle’schen Diktum, wonach diese Medien der massentauglichen Geschichts­ die historische Entwicklung auf dem Wirken gro­ vermittlung gezielt dazu ein, ihrem Lesepublikum ßer Männer beruht.5 die Ereignisse und Helden einer als national ge­ Mit der „théorie de l’homme représentatif“ dachten Vergangenheit zu präsentieren. In die­ (Gérard 37) stellten sie die bekannten histo­ ser Zeit entstanden so eine Vielzahl historischer rischen Akteure in einen unmittelbaren, orga­ Romane, Melodramen und auch Opern (z. B. nisch-dynamischen Zusammenhang mit dem von Giuseppe Verdi), in denen angebliche Natio­ Volk oder der Nation als den eigentlichen trei­ nalgeschichte oft zu trivialen, emotional jedoch benden Kräften der Geschichte. Nicht zuletzt im höchst eingängigen Plots verschmolzen wurde, Geschichtsbild Michelets war damit letztendlich in denen italienische Helden gegen Fremdherr­ eine begriffliche Präferenz für den Terminus des schaft aufbegehrten, dramatische Abenteuer Helden verbunden, die auf einer klaren Unter­ durchzustehen hatten und dabei die Ehre der scheidung von ‚grand homme‘ und ‚héros‘ be­ gesamten Nation verteidigten.7 ruhte: Im Medium des historischen Romans als massentauglicher „Form melodramatischer [...] préférant le mot de héros pour sa conno­ Historiographie“ (Ihring 228) tritt der von Hay­ tation épique, à celui de grand homme qui den White in Metahistory: The Historical Imag- désigne, pour lui, une autorité politique ination in Nineteenth Century Europe (1973) ou institutionnelle extérieure à la vie du festgestellte Wirkungszusammenhang von his­ peuple. Le héros […] n’est rien sans l’im­ torischer und narrativer Darstellung besonders pulsion populaire qui le porte. (Gérard 43) offenkundig zu Tage. Vergangenheit wird im helden. heroes. héros. Robert Lukenda

96 Geschichtsroman nicht nur vermittelt, sondern Insofern präsentieren sie „[j]enseits von indivi­ gleichsam als melodramatisches Erlebnis er­ dualpsychologischer Ambivalenz und defizitärer zählt. Mit der Verdichtung des nationalen Frei­ Wirklichkeit [...] Archetypen heldenhafter Le­ heitskampfes auf einen Streit zwischen Gut und bens- und Todesauffassung.“ (Christadler 201)10 Böse, seiner sakralen Überhöhung, die den Hel­ Aus ihrer Perspektive lässt sich eine durch den zur hagiographischen Figur stilisiert, stellten Fremdherrschaft bestimmte Vergangenheit, in die in der italienischen Öffentlichkeit des frühen der es kaum Beispiele für erfolgreiche Revolten 19. Jahrhunderts omnipräsenten Medien und und Unabhängigkeitsbestrebungen gab, den­ Genres wie Melodrama, patriotische Oper oder noch als Heldengeschichte lesbar machen. Die auch Historienmalerei zentrale Kategorien der Märtyrer stehen für Leid und historische Konti­ Realitätswahrnehmung zur Verfügung, die auch nuität der Nation zugleich, da sie durch ihr Bei­ im Garibaldi-Kult wirksam werden sollten. Sie spiel signalisieren, dass nationale Werte selbst entfalteten gerade auch deshalb eine erhebliche in vermeintlich ‚unheroischen‘ Zeiten nie ganz Breitenwirkung, weil sie ein gesellschaftliches erloschen waren. Bedürfnis nach emotional erfahrbarer und „ar­ chetypischer“ (Schwaderer 173) Historie befrie­ digten und heroische Gegenwelten zur bürgerli­ chen Realität des 19. Jahrhunderts schufen.8 3. (Massen-)Mediale Kontexte Mit Blick auf Italien lässt sich von einer er­ heblichen ‚Melodramatisierung‘ der politischen In seiner Studie zur Entstehung des Nationalis­ Kultur und Gesellschaft im fortgeschrittenen mus (Imagined communities: reflections on the 19. Jahrhundert sprechen (Sorba 481-508). Eine origin and spread of nationalism, 1983) hat Be­ enge Verknüpfung von romantischen Narrativen, nedict Anderson auf die Bedeutung des Buch­ Zeitgeist und revolutionärer Praxis wurde nicht drucks und des Kapitalismus für den historischen zuletzt dort offenkundig, wo sich eine Art patrio­ Prozess der ‚Nationserfindung‘ verwiesen – Fak­ tischer Habitus herausbildete, der literarische toren, die es Gesellschaften ermöglichten, sich Plots gewissermaßen imitierte. Durch die Medi­ über bestehende geographische und soziale en der kollektiven Bewusstseinsbildung wurden Grenzen hinaus als ‚vorgestellte Gemeinschaf­ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht ten‘ zu begreifen und ein Bewusstsein kollektiver nur Motivationen, sondern konkrete Handlungs­ Zugehörigkeit auszubilden. motive tradiert: Zu jener Zeit entwickelte sich Während die Romantik und die Medien der beispielsweise die Praxis des Duells zwischen Vergangenheitsbildung wesentliche kognitive, jungen italienischen Patrioten und den Reprä­ narrative und kulturelle Voraussetzungen für den sentanten der Okkupationsmächte in vielen Aufstieg der Nation, ihrer Symbole und Heldenfi­ Teilen Italiens zu einer Hauptform des national guren schufen, eröffneten der wirtschaftliche, so­ inspirierten, heroischen Widerstandes, der litera­ ziale sowie auch der technologische Fortschritt rische Vorbilder nachahmte (Banti 139-148). und die damit einhergehenden neuen Entwick­ Das Heroische dieser Akteure wurde dabei lungen im Medienwesen der Heldeninszenie­ häufig mit Hilfe eines Kunstgriffes, der sich im rung im anbrechenden Zeitalter der politischen Sinne Hobsbawms als Prozess der Traditions­ Moderne bis dato ungekannte Möglichkeiten. erfindung beschreiben lässt, in ein mythisches Die zunehmende Technisierung des Druck­ Licht gerückt. Durch die Transposition religiöser wesens machte Literatur für breite Bevölkerungs­ Sinnelemente in den nationalen Diskurs wur­ schichten erschwinglich. Der Ausbau des Schul­ den die leidgeprüften Helden der Vergangenheit wesens trug zu einer signifikanten Erhöhung und Gegenwart in der patriotischen Rhetorik zu der Alphabetisierung in Europa bei und führte Märtyrern stilisiert. Die Verknüpfung von Ver­ auch in Italien zu einer beachtlichen Ausweitung gangenheit und christlicher Symbolik diente im des Lesepublikums. Prozesse wie Verstädte­ patriotischen Diskurs vor allem dazu, nationale rung sowie eine maßgebliche Verbesserung der und religiöse Identifikation miteinander zu ver­ Infra­struktur vereinfachten Vertrieb und Zirkula­ schmelzen und den neuen, quasi-sakralen Va­ tion von Presseerzeugnissen. Neben Buch und terlandskult glaubhaft in Geschichte und Tradi­ Zeitschrift etablierten sich moderne Formate wie tion zu verankern.9 Illustrierte, Taschenbuch sowie neue Gattungen In der Erinnerung kommt den für das Vater­ wie der Feuilleton- oder Fortsetzungsroman, land gefallenen Helden dabei oft eine Stellver­ die sich gezielt an ein Massenpublikum wand­ treterfunktion zu. Ob nun Jeanne d’Arc oder ten. Die Erfindung des Telegraphs erhöhte die Giordano Bruno – die Märtyrer der National­ Aktualität von Informationen und ermöglichte es geschichte sind oftmals zutiefst einsame oder Journalisten, zeitnah von den großen Ereignis­ tragische Figuren, deren Tapferkeit oft auch auf sen und bedeutenden Schauplätzen rund um das abwesende kollektive Heldentum verweist. den Globus zu berichten. Militärische Konflikte

helden. heroes. héros. Viva Garibaldi! wie der Krimkrieg avancierten zu regelrechten vertraut waren. Gesucht wurde eine charismati­ 97 medialen Events und Propagandaschlachten, sche Identifikationsfigur für die breite Masse, ein an denen eine breite internationale Öffentlichkeit Held aus ihrer Mitte, der die Bevölkerung mobili­ unmittelbar und auf vielfältige Weise – durch Te­ sieren konnte. legraphie, Zeitung, offizielle Pressemitteilungen Der Mann, der diese Kriterien erfüllte, war etc. – partizipieren konnte. Ihre Protagonisten Giuseppe Garibaldi, der 1848 nach langjährigem wie Garibaldi wurden auf diese Weise zu Per­ Exil in Südamerika wieder die öffentliche Bühne sönlichkeiten der Zeitgeschichte, die man sowohl in Italien betrat. Von Mailand bis Palermo wur­ in Rom, London als auch in New York kannte.11 de die Halbinsel von Aufständen erschüttert, in Durch die Lithografie und insbesondere die Er­ denen sich große Teile der Bevölkerung gegen findung der Fotografie drangen Ereignisse und die restaurativen Monarchien auf italienischem Helden zunehmend über bildliche Medien in das Boden erhoben. Garibaldi selbst war bei seiner kollektive Bewusstsein [s. auch Kap. 5]. Porträts Rückkehr längst kein Unbekannter mehr. Aus berühmter Persönlichkeiten wie Napoleon oder seiner Zeit in Südamerika eilte ihm ein gewisser Fotografien von zeitgenössischen Schlachten Ruf als tapferer Freiheitskämpfer voraus und die wie jener von Solferino im Jahre 1859 erreichten führenden Köpfe der demokratischen National­ dabei auch jene sozialen Milieus, in denen der bewegung trugen ihres dazu bei, ihn zum neu­ Analphabetismus nach wie vor weit verbreitet en Hoffnungsträger der ‚Wiedergeburt‘ Italiens war. Die gesellschaftlichen Eliten, insbesondere zu stilisieren, indem sie schon im Vorfeld der Napoleon und seine Nachfolger, verwendeten Revolution eine regelrechte internationale Me­ den Journalismus und die modernen Massen­ dienkampagne entfachten. Diese Kampagne, medien dabei immer öfter auch als Propaganda- die in der Betonung von Garibaldis militärischen und Herrschaftsinstrument. Fähigkeiten, seiner Tugendhaftigkeit und seines Die zunehmende mediale Durchdringung der außergewöhnlichen Mutes sowie auch seiner Gesellschaft eröffnete jedoch nicht nur den herr­ charismatischen, virilen Ausstrahlung seman­ schenden Klassen ungeahnte Möglichkeiten der tisch ganz bewusst den Anschluss an die in der Selbstinszenierung. Sie schuf die Voraussetzun­ Öffentlichkeit kursierenden Narrative und Hel­ gen für den Aufstieg neuer Persönlichkeiten, die, denmuster der patriotisch-fiktionalen Literatur wie Garibaldi, kaum über politischen Rückhalt suchte, hatte einen maßgeblichen Anteil daran, und Machtmittel verfügten. dass Garibaldi in den Augen seiner Mitmen­ schen schon vor seiner Rückkehr nach Italien eine mythisch-heroische Gestalt war und zur Projektionsfläche für die Hoffnungen der Mas­ 4. Garibaldi zwischen Wirklichkeit sen auf einen politischen Wandel avancierte. und Fiktion: Strategien der Dass sich Garibaldi sofort in ein aussichtsloses Mythisierung und Inszenierung militärisches Unterfangen stürzte – die Vertei­ digung der revolutionären Römischen Republik In Italien versuchten die intellektuellen Köpfe vor einer Übermacht französischer Truppen, die der italienischen Nationalstaatsbewegung, die den aus Rom geflohenen Papst wieder einset­ im frühen 19. Jahrhundert zwar noch kaum über zen wollten – schien seinen Ruf als mutiger, politischen Einfluss, wohl jedoch über Drucker­ selbstloser Kämpfer zu bestätigen, der nach pressen verfügte, durch die Verbreitung von dem Muster literarischer Helden der Vergangen­ Büchern, Zeitungen und Flugblättern aus dem heit handelt. Die Ereignisse um die Verteidigung Untergrund heraus die restaurative Ordnung zu der Römischen Republik von 1849 konnten und destabilisieren und die Massen für ihre liberalen sollten dabei durchaus vor dem Hintergrund his­ Gesellschaftsziele zu gewinnen. torischer Romanplots interpretiert werden: So Nach Überzeugung der patriotischen Vor­ wird in einem patriotischen Bestseller, Francesco denker bedurfte es in dieser Hinsicht jedoch Domenico Guerrazzis Roman L’assedio di Firen- weit mehr als medialer Propaganda, literarischer ze (1836), der die Belagerung von Florenz durch Gedächtnisarbeit und agitatorischer Rhetorik. die Truppen Karls V. im Jahre 1530 zum Thema Damit die patriotische Botschaft ihren Weg in hat, die Funktion des obersten Verteidigers der die Breite der Gesellschaft fand, musste sie mit florentinischen Republik vom tapferen ‚condot­ eindringlichen Symbolen und Ikonen verknüpft tiere‘ und glühenden Patrioten Francesco Fer­ werden, die geeignet waren, die nationale Sa­ ruccio bekleidet. In den Augen seiner Zeitgenos­ che zu repräsentieren, ihr ein Gesicht zu geben, sen erschien Garibaldi daher entsprechend oft zumal gerade im kulturell heterogenen Italien als Inkarnation des florentinischen Heerführers zentrale kollektive Identitätsbausteine wie eine Ferruccio (so z. B. in Abba 71). gemeinsame (Hoch-)Sprache oder ein geteil­ tes Geschichtsbild nur einer kleinen Minderheit helden. heroes. héros. Robert Lukenda

98 In der Zeit nach 1848/49, als die Erfahrungen des a man of extraordinary bravery ... with a revolutionären Doppeljahres in unzähligen Chro­ handsome countenance, well-built, full of niken und Tagebüchern zu einer Art nationalem strength and agility, imposing, proud and Erweckungsmoment verarbeitet wurden – zum theatrical ... of a few words and many ac­ ersten Mal hatten große Teile der italienischen tions, generous, tender ... [a] blond head, Bevölkerung wenn auch letztlich erfolglos gegen calm, even languid, eyes ... His life is but a series of adventures, travels, love-affairs, Fremdherrschaft und restaurative Herrschafts­ and of great sword-fights, just like the nov­ politik rebelliert –, entzündete sich auch um die els of Ariosto. (Garibaldi. Paris 1859, zit. Person Garibaldi ein regelrechtes mediales Feu­ n. Riall b 195) erwerk, das den Verteidiger der Römischen Re­ publik zum lebenden Mythos transformierte. Mit Castille erwähnt dabei jene Attribute und Ei­ Beginn der 1850er Jahre wurde Garibaldis Vita genschaften des romantischen Helden, dessen zu einem Narrativ, in dem die Grenzen zwischen innere Werte [Tugendhaftigkeit, außergewöhnli­ Realität und Fiktion zunehmend verschwammen. che Tapferkeit, edles Gemüt] und kämpferische Versteht man den Mythos einer gängigen Qualitäten sich in Verbindung mit seiner physi­ Definition Roland Barthes zufolge als Aussage schen Attraktivität – einer virilen, jedoch zugleich und Form (s. Barthes 193), deren innere Struk­ sanften Ausstrahlung – zu einem formelhaften turmerkmale [Quelle, Autorschaft etc.] in den Muster verbanden, das schon im frühen 19. Jahr­ Augen der Betrachter gleichsam verborgen, ja hundert zum gängigen Repertoire der fiktionalen geradezu aufgehoben scheinen, so kommt es Historienliteratur zählte. In einem historischen auch im Falle der medialen Darstellung Gari­ Roman D’Azeglios von 1833 wird Fieramosca, baldis zu einer organischen Verschmelzung von ein im Zeitalter des nationalen Aufbruchs gefei­ Faktischem und Fiktionalem – eine Entwicklung, erter ‚condottiere‘ aus dem frühen 16. Jahrhun­ die der italienische Freiheitskämpfer maßgeblich dert, auf recht ähnliche Weise porträtiert: selbst befeuerte und entschieden beeinflusste. In die frühen 1850er fielen die Anfänge einer Alle jedoch im Einklang lobten sein gu­ Literatur über Garibaldi, die das wachsende Inte­ tes Gemüth, seine Tapferkeit, sein höf­ resse eines nationalen wie auch internationalen liches Benehmen [...] ‚Euch gefällt sein Publikums an seiner Person bediente und ein Antlitz und wem würde es nicht gefallen? Hauptgrund für seinen enormen Popularitäts­ Welchen Werth hat die Schönheit eines zuwachs nach der 1848er-Revolution gewesen Mannes? Aber wenn ihr das Gemüth des Jünglings kennen würdet, dessen Edel­ sein dürfte. sinn und großartiges Herz! Was er die Mit dem Erscheinen der ersten, von Garibal­ Waffen in der Hand wagte mit tollkühnem di höchstpersönlich autorisierten Biographie aus Muthe [...]‘ (D’Azeglio 32) der Feder des italienischen Journalisten Giovan­ ni Battista Cuneo im Jahre 1850 wurde jenes Im Zuge jener Umschreibungsversuche, die sei­ narrative Prinzip aus der Taufe gehoben, das ne Lebensgeschichte zum Mythos transformier­ sich im weiteren Verlauf gewissermaßen ver­ ten, entwickelte sich Garibaldi Ende der 1850er selbständigte und Garibaldis Leben nach dem zum Gegenstand einer internationalen Unterhal­ Modell einer hagiographischen Erzählung als tungsindustrie. Sein Leben wurde nicht nur zu Genese einer historisch-mythischen Ausnahme­ biographischen Heldensagen und Abenteuerro­ figur beschrieb. Im Bestreben, Garibaldis Vita als manen mit Bestsellerstatus verarbeitet, sondern idealisierte, exemplarische Heldengeschichte inspirierte Theaterstücke sowie auch unzählige sichtbar zu machen, reicherte Cuneo historisch patriotische Gesänge und Volksdichtungen, die verbürgte Fakten mit fiktiven erzählerischen Ele­ den Mythos Garibaldi selbst in die entlegensten menten eines historischen Abenteuerromans an Gebiete Italiens und Europas trugen (s. Riall b (vgl. Riall b 148-149 u. 162-163). Die Fiktiona­ 151-154). lisierung von Garibaldis Leben nach dem Mus­ Der technologische Fortschritt und die damit ter populärer Abenteuergeschichten, die dem einhergehende mediale ‚Revolution‘, die eine romantischen Zeitgeist entsprachen, folgte im massenhafte Verbreitung von Porträts berühm­ Grundsatz einem dramaturgischen Schema, das ter Persönlichkeiten in Zeitungen, Illustrierten Garibaldis Leben als verdichtete Abfolge von oder auf Postkarten ermöglichten, hatten im fort­ Heldentaten, Abenteuern und Liebesgeschich­ geschrittenen 19. Jahrhundert großen Anteil an ten erschienen ließ. Ein von Hippolyte Castille der Entstehung einer bildlich dominierten Hel­ verfasster Lebensbericht zeichnete Garibaldi vor denkultur. Institutionen wie Museen, in denen diesem Hintergrund als Geschichte ‚besichtigt‘ werden konnte, schufen die Grundlagen für eine neuartige, visuell ge­ prägte Erinnerungskultur, die das Gedenken an die ‚großen Männer‘ prägen sollte.

helden. heroes. héros. Viva Garibaldi!

In seinem Buch Imageries hat Philippe Hamon pride themselves on their contempt for all 99 dargelegt, wie nicht nur der öffentliche Raum the observances most strictly enjoined on durch bildliche Medien wie Fotografie und Rekla­ regular troops. (Dandolo 204) me, sondern auch die Literatur im 19. Jahrhun­ dert von einer visuell geprägten Kultur er­obert Sein persönliches Kleidungsmarkenzeichen, wurde. In dieser Hinsicht zeugt nicht zuletzt die das rote Hemd, wurde in der Folgezeit zum biographische Literatur über Garibaldi vom Be­ Symbol einer patriotischen Generation zumeist mühen, „de transformer le corps en enseigne“ junger republikanischer Freiwilliger, die als (Hamon 15), den Helden in seiner Körperlichkeit ‚camicie rosse‘ [‚Rothemden‘] bzw. ‚garibaldini‘ strahlen zu lassen und sein Äußeres zur revolu­ an der Seite ihres Helden für den italienischen tionären Marke zu stilisieren. Auf den Schlacht­ Nationalstaat kämpften. feldern der nationalen Revolution brillierte mit Aus seiner Zeit als Guerilla-Kämpfer in Süd­ den Worten Sands „ein Ritter der alten Zeit“, amerika, um die sich schon vor seiner Rückkehr der durch „edles Aussehen“ und die „hinreißen­ nach Italien zahlreiche Abenteuergeschichten de [...] Kraft seines patriotischen Glaubens“ Be­ und Mythen rankten, umgab Garibaldi eine Aura wunderung hervorrief – ein „Führer“ (Sand 361), des Geheimnisvollen, ein verführerisches Maß der tollkühn und gleichzeitig bescheiden wirkte, an Exotik, das in der Literatur phantasiereich dessen körperliche Markenzeichen [braunge­ ausgeschmückt wurde, zumal er entgegen pat­ brannter, durchtrainierter Körper, langes Haar, riotisch-konservativen Vorstellungen in Südame­ Vollbart] in Kombination mit einem unkonventio­ rika eine brasilianisch-stämmige Frau namens nellen, schillernden Outfit [rotes Hemd, Poncho, Anita geheiratet hatte, die ihn auf seinen militäri­ Filzhut...] ihm die Aufmerksamkeit und Bewun­ schen Abenteuern begleitete. In dieser Hinsicht derung seiner Zeitgenossen sicherten: erwies sich Garibaldis Vita wie auch sein per­ sönlicher Lebens- und Kleidungsstil als geeig­ Il [Garibaldi] était vraiment magnifique [...] net, sowohl die patriotischen Hoffnungen seiner avec son chapeau de feutre écorné par Zeit als auch romantisch-bürgerliche Evasions­ une balle, sa chemise rouge, son pantalon vorstellungen, die nach Exotik und Überwindung gris traditionnel et son foulard noué autour der stark reglementierten, engen Lebenswelt de son cou et faisant capuchon en arrière. strebten, in sich zu vereinen. (Dumas 231) Die kursierenden literarischen Narrative und Topoi, die Garibaldis transgressives Potential be­ Mit Garibaldi affirmierte sich eine unangepass­ tonen, wurden in den visuellen Medien zumeist te, freigeistige Lebensform, ein ‚Antiheldentum‘, aufgenommen: So hat man den Helden häufig in das nicht nur gängigen Biographien und Le­ der auch literarisch gefeierten Pose des romanti­ bensmustern der großen Männer zuwiderlief, schen, verwegenen Abenteurers mit wehendem sondern allgemein mit Stilnormen seiner Zeit Haar, Vollbart und weitem, rotem Hemd, oft auch brach. Als „handsome human face of revolution“ mit Umhang dargestellt. Insbesondere seine lan­ (Riall a) eignete sich Garibaldi nicht nur als po­ ge Mähne und sein stattlicher Bart rückten Ga­ puläres charismatisches Markenzeichen einer ribaldi im Verbund mit Charaktereigenschaften aufstrebenden Nationalstaatsbewegung, die für wie Tapferkeit und Stärke ikonographisch in die eine bessere Zukunft kämpfte, sondern zugleich Nähe eines Löwen.12 als attraktiver Gegenentwurf einer traditionellen Zahlreiche Stiche und Zeichnungen lassen Machtelite – eine „poetische, mit dem Reize des dabei eine symbolisch-mythische Überhöhung Unbekannten umkleidete Figur“, die, wie Sand erkennen. So zeigte eine zur heimlichen Ver­ notierte, „in Frankreich alle Herzen und Phan­ breitung bestimmte, religiös verklärte Darstel­ tasien auf das Tiefste ein[nimmt].“ (Sand 361). lung aus den 1850er Jahren Garibaldi ebenfalls Zeitgenossen wie der Patriot Emilio Dandolo be­ mit langen Haaren und Vollbart in der markanten schrieben Garibaldi als antibürgerlichen Helden, Pose des Christus Pantokrator, der die rechte dessen unkonventionelles Äußeres und extra­ Hand mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger vagantes Auftreten dem gängigen Habitus und zum Segensgruß erhoben hat (vgl. Riall b 150). den Regeln des militärischen Apparates krass Als Produkt einer patriotischen Inszenierung, die zuwiderliefen, der jedoch gerade deshalb die den Gedanken der nationalen ‚Wiederauferste­ romantischen Phantasien seiner Zeitgenossen hung‘ mit der heilsgeschichtlichen Lehre ver­ zu beflügeln schien: knüpft, wird Garibaldi hier im Stile eines Messias porträtiert, der, so die dahinter stehende Bot­ Garibaldi and his staff were dressed in scarlet blouses, with hats of every possible schaft, von der Vorsehung dazu auserkoren wur­ form, without distinctions of any kind, or de, die italienische Nation von ihrem historischen any pretension to military ornament. They Leid zu erlösen.13 Dieses Kanonisierungsmodell rode on American saddles, and seemed to entfaltete in der italienischen Öffentlichkeit eine

helden. heroes. héros. Robert Lukenda

100 erhebliche Wirkung, da es an literarisch-hagio­ Angst- und Schmerzgesang zur Vervoll­ graphische Heldennarrative, insbesondere des ständigung; da liebt man den Helden und historischen Romans, anknüpfen konnte, in de­ weint mit ihm. (Sand 359) nen sich tapfere, edelmütige Helden, die in ihrer Tugendhaftigkeit und ihrem Sendungsbewusst­ sein an christliche Heiligengestalten erinnern, für 5. Garibaldis mediales ‚self- die nationale Gemeinschaft aufopferten und da­ fashion­ing‘: Selbstvermarktung bei nicht selten den Märtyrertod starben.14 Tex­ und Autobio­graphie te wie Sands Ode auf Garibaldi, die sein Leben und Wirken im Stile hagiographischer Erzäh­ Wie aus den bisherigen Kapiteln bereits hervor­ lungen beschreiben, belegen eine enge rheto­ ging, lässt sich die Popularität Garibaldis als Er­ rische und narrative Verknüpfung bildlicher und gebnis eines Diskurses sehen, in dem politische literarisch-textueller Medien, die den Helden der Visionen und romantischer Zeitgeist, Realität anbrechenden politischen Moderne als religiös und Fiktion zu einer patriotischen Heldensaga verklärte Erlöserfigur hervorbringen: verwoben wurden. Er verdankte sein Image als „picturesque outlaw“ (Riall b 154) dabei nicht [...] ich war in diesen Tagen nicht erstaunt, nur den zahlreichen politischen Weggefährten, das Portrait Garibaldis bei den frommen Biographen und Journalisten, die ihn zum Hoff­ Bergbewohnern des Velay und der Ce­ nungsträger eines neuen Zeitalters stilisierten, vennen zu sehen. Dieser berühmte Aben­ sondern wesentlich der Tatsache eines für die teurer, den gewisse furchtsame Geister damalige Zeit innovativen ‚self-fashioning‘, das sich unlängst noch als einen Banditen vor­ große Teile der Massenmedien nutzte und, an­ stellten, war da unter den Bildnissen der gefangen beim öffentlichkeitswirksamen Klei­ Heiligen aufgestellt. Und warum nicht? Warum sollte er nicht einen Platz unter dungsstil bis zur sorgsamen Preisgabe intimer den Beschützern des armen Volkes fin­ Lebensdetails, auf eine gezielte Publicity-Kam­ den, er, der in Bezug auf sein italienisches pagne hinauslief.15 Volk der Gründer des neuen Glaubens Zentrales Element dieser Strategie ist sicher­ ist? Seht doch, ob sein Wort nicht dem der lich seine Autobiographie, ein im 19. Jahrhundert ersten Christen ähnelt? In seinem Mun­ europaweit beliebtes, wenn nicht gar obligates de liegen nicht politische Thesen, nicht Medium der öffentlichen Selbstdarstellung, mit Theorien des materiellen Interesses. ‚Ich dem sich Garibaldi auch national betrachtet in bringe euch‘, sagt er, ‚Gefahr, Anstren­ eine Tradition illustrer Italiener des 18. bzw. frü­ gung und Tod. Ich will euch das Heil der hen 19. Jahrhunderts vom Schlage literarischer Seele und nicht die Ruhe es Körpers pre­ Berühmtheiten wie Vittorio Alfieri einreihte. Als digen. Erhebt euch also und folgt mir!‘ So sprach er zu den italienischen Landleuten, Medium, das weniger der Überlieferung histori­ und sie erheben sich und marschieren [...] scher Fakten, sondern in erster Linie der rück­ (Sand 357) blickenden Identitätskonstruktion verpflichtet ist, zeugt der selbstverfasste Lebensbericht vom In seiner Rolle als vaterländischer Messias wirk­ Bestreben, der Öffentlichkeit ein spezifisches te er umso natürlicher, zumal er für den Traum Bild der eigenen Person zu vermitteln und sich eines geeinten Italien immer wieder schwere damit – im Stile Chateaubriands – ein selbstbe­ Schicksalsschläge hinnehmen musste: Auf der stimmtes Denkmal ‚outre-tombe‘ zu setzen.16 Auf hektischen Flucht vor österreichischen Truppen der Grundlage des Rousseau’schen Vorbildes, durch Mittelitalien starb seine schwangere Frau der mit seinen Confessions den ersten Bestsel­ an Entkräftung. Garibaldi selbst floh in ein neues ler der modernen Autobiographie-Historie lande­ Exil nach Nordamerika. Seine Lebensgeschichte te, entwickelte sich die moderne Autobiographie bekam damit den Stempel der Leidensgeschich­ zum Medium der öffentlichen Selbstdarstellung, te aufgedrückt. Auch in diesem Punkt erschien in dem oft auch intimste Details aus dem Leben Garibaldis Leben seinen Zeitgenossen als preisgegeben wurden. Auf diese Weise entstand romantisch-tragisches Melodram: eine bis dato ungekannte Nähe zwischen Held und Rezipient, der durch die Lektüre nicht nur Man weiß, dass er geliebt hat, dass er unmittelbar an den Abenteuern, sondern auch eine Heldin zur Gefährtin hatte, und man am Seelenleben des Helden teilhaben konnte weiß, wie und wo er sie verlor. Jedenfalls (Riall b 162). ist das, was man wirklich von ihm weiß, Dieses Interesse an der Intimsphäre, das mehr als hinreichend, um es als ein Le­ von der biographischen Garibaldi-Literatur ben voll bewundernswürdiger Aufopfe­ mustergültig bedient und befeuert wurde, rung, bitterer Schmerzen und erprobtem Mute hoch zu schätzen. Das glorreiche war einerseits das Ergebnis einer entstehen­ Gedicht seines Lebens hat auch seinen den massenmedialen Unterhaltungsindustrie

helden. heroes. héros. Viva Garibaldi! romantisch-melodramatischer Prägung, folgte der Öffentlichkeit jenes Selbstbild des abenteu­ 101 aber andererseits zugleich auch einem sozi­ erlustigen und freiheitsliebenden Kämpfers, der al- und kulturgeschichtlichen Impuls, der sich die Weite der argentinischen Pampas liebt und auf die Beschäftigung mit den Protagonisten die Annehmlichkeiten des bürgerlichen Lebens der Geschichte auswirkte. Unter dem Einfluss verachtet, ins Bewusstsein zu rufen – ein hoch­ Miche­lets, der französischen Realisten und gradig romantisiertes Bild, das, wie zuvor bereits Positivisten bildete sich insbesondere in Frank­ geschildert, den Markenkern seiner Popularität reich zunehmend ein Interesse an der psycho­ bildet und das er durch seinen aus südamerika­ logischen Porträtierung bedeutender Persön­ nischen Zeiten nach Europa importierten Klei­ lichkeiten aus, das sich nicht mehr nur mit den dungsstil mit Poncho und Sombrero auch äußer­ Taten, dem ‚génie‘ des ‚grand homme‘ zufrieden lich zur Schau stellte: gab. Um den Zeitgeist einer Epoche, ihre Kultur und Sitten zu erfassen, müsse sich die Historio­ Während all dieser Stürme eines abenteu­ graphie, wie von den Goncourts gefordert, in erlichen Lebens hab ich doch immer süße besonderer Weise auch der Intimität des Helden Stunden, glückliche Augenblicke gehabt widmen: [...] Zu Pferde zog ich an der Spitze der we­ Les siècles qui ont précédé notre siècle nigen Leute dahin, die von so vielen ne demandaient à l’historien que le per­ Kämpfern übrig geblieben waren, welche sonnage de l’homme, et le portrait de gerechterweise alle tapfer genannt zu son génie. L’homme d’État, l’homme de werden verdienten, und ich war stolz auf guerre, le poëte [sic!], le peintre […] die Überlebenden wie auf die Toten, ja étaient montrés seulement en leur rôle, beinahe auf mich selbst. [...] Was wollte et comme en leur jour public, dans cette ich mehr? Was kümmerte es mich, dass oeuvre et cet effort dont hérite la postérité. ich wie jener griechische Philosoph nur Le XIXe sièc­le demande l’homme qui était das noch besaß, was ich bei mir trug? cet homme d’État, cet homme de guerre, Dass ich einer armen Republik diente, die ce poëte, ce peintre, ce grand homme de keinen Menschen bezahlte und von der science ou de métier. L’âme qui était en ich, wenn sie reich gewesen wäre, nicht cet acteur, le coeur qui a vécu derrière cet einmal Gold angenommen haben würde? esprit, il les exige et les réclame [...] (Gon­ Hatte ich nicht einen Säbel an meiner Sei­ court ii-iii) te und einen Karabiner, der über dem Sat­ telknopfe lag? Hatte ich nicht Anita neben mir, meinen Schatz, ein Herz, das ebenso Garibaldis Memorie wurden zwar erst 1872 offi­ glühend für die Freiheit der Völker schlug ziell publiziert. Riall zufolge hatte Garibaldi Teile wie das meinige? Betrachtete sie den seiner Autobiographie jedoch schon vor 1850 Kampf nicht wie ein Vergnügen, wie eine verfasst und gezielt Schriftstellern wie Alexandre einfache Zerstreuung in diesem Leben im Dumas zugänglich gemacht, die sie oft mit ei­ Felde? Die Zukunft lachte mir heiter und genen Ergänzungen veröffentlichten (s. Riall b glückverheißend entgegen, und je wilder 154-161).17 Demnach schien er schon früh ein und öder die amerikanischen Gefilde wa­ Interesse an einer Verbreitung seiner Lebens­ ren, die ich vor mir sah, desto köstlicher geschichte gehabt zu haben und knüpfte daran und schöner erschienen sie mir. (Garibaldi nicht zuletzt auch strategisch-politische Ziele. 72-73) Seine Bekanntheit sollte ihm dabei zugute kom­ men, internationale Unterstützung für die italie­ Dem Bild des politisch-engagierten Helden, der an der Spitze einer Massenbewegung steht, wird nische Sache zu erlangen, finanzielle Mittel und ein Moment der selbstgewählten Isolation, einer logistische Hilfe für seine militärischen Kampag­ nen einzuwerben. Es liegt daher durchaus nahe, für seine Zeit keineswegs untypischen Zivilisati­ onsflucht im Stile des Rousseau’schen ‚Prome­ dass die wesentlichen Narrative, die sich durch die biographische Garibaldi-Literatur der 1850er neur solitaire‘ hinzugefügt, das Garibaldi in re­ und 1860er ziehen, von ihm selbst stammen gelmäßigen Abständen fernab der Gesellschaft bzw. auf der Grundlage seiner eigenen literari­ auf der kleinen Insel Caprera vor der Küste Sar­ schen Lebensaufzeichnungen entstanden sind diniens kultivieren sollte, wo er nach dem Vorbild (s. Riall b 154-161). Zumindest findet sich in sei­ des Cincinnatus bodenständigen Aktivitäten wie der Landwirtschaft nachging, zugleich jedoch nen Memoiren von 1872 jenes, in einer Vielzahl 18 von Biographien vorweggenommene erzähle­ neue militärische Abenteuer vorbereitete. rische Muster wieder, das in einer eingängigen emotionalen Sprache das Wirken des Helden auf der Bühne der großen Geschichte mit Schil­ derungen aus seinem Privat- und Gefühlsleben kombinierte. Besonderen Wert legte er darauf, helden. heroes. héros. Robert Lukenda

102 6. Viva Garibaldi! diesen Kontext gehört auch, dass sich Garibal­ di bisweilen im Stile eines Gaucho kleidete. Auf Der ‚Zug der Tausend‘ von 1860, der die politi­ diesem Weg gelang es ihm, eine transkulturel­ sche Einigung Italiens einleitete, bildete zweifel­ le Semantik um seine Person zu erzeugen und los den Höhepunkt der Garibaldi-Begeisterung sich damit auch äußerlich als Weltbürger zu prä­ in und außerhalb Italiens. sentieren. Dieser war Ausdruck der oben skizzierten neuen ‚medialen Kultur‘ in der Darstellung und Inszenierung militärischer Konflikte, die den 7. Heldentum, ‚nation-building‘ und Einsatz moderner Massenmedien und journa­ listischer Berichterstattung gewissermaßen als Erinnerungskultur Mittel der Kriegsführung begriff und in diesem Zusammenhang bewusst auf eine Beeinflus­ In seiner Rolle als radikaler Demokrat wäre Ga­ sung der öffentlichen Meinung zielte. Dass ein ribaldi im Königreich Italien, das chronisch mit solch kühnes, schier aussichtslos anmutendes sozialen Unruhen und politischer Instabilität zu Unterfangen, in dem eine Truppe von ursprüng­ kämpfen hatte, kaum zu einem offiziellen Nati­ lich wenig mehr als tausend Freiwilligen mit Ga­ onalhelden avanciert, wenn es den staatlichen ribaldi an der Spitze die Armee des Königreiches Autoritäten nicht zumindest ansatzweise gelun­ Neapel herausforderte, letztendlich von Erfolg gen wäre, den Revolutionär zu ‚zähmen‘ und in gekrönt war, verdankte sich dabei auch der Tat­ eine monarchistische Geschichtskultur einzu­ sache, dass Journalisten, Schriftsteller und Fo­ gliedern. Eine gewisse Tendenz zur Entpolitisie­ tografen im Gefolge Garibaldis unmittelbar vom rung der Figur Garibaldi hatte schon jene biogra­ Geschehen auf den Schlachtfeldern berichteten phische Literatur erkennen lassen, die seit den und seine militärischen Glanzleistungen in der 1850ern in Europa entstand. Oftmals fokussierte europäischen Öffentlichkeit bekannt machten. Li­ sich die literarische Darstellung auf die ‚pittores­ terarische Berühmtheiten wie Alexandre Dumas ken‘ bzw. ‚romanesken‘ Qualitäten Garibaldis, oder Victor Hugo trugen mit ihren Oden auf den während seine politische Gesinnung und die da­ ‚Befreier der Völker‘ dazu bei, dass der abseits mit verbundene soziale Sprengkraft vielfach in der Schlachtfelder tobende Propagandakrieg in den Hintergrund gerieten (Riall b 201). Die Ge­ den Medien wesentlich zugunsten Garibaldis be­ schichtspolitik des Königreiches verstärkte diese einflusst wurde – ein nicht zu unterschätzender Entwicklung und konnte sich dabei eine gewis­ Aspekt, zumal die dadurch entstandenen Sym­ se Ambivalenz des Mythos Garibaldi zunutze pathien in Frankreich oder England der Unter­ machen. Garibaldi galt seinen Zeitgenossen nehmung Garibaldis lebenswichtige diplomati­ unbestritten als Ikone der demokratischen Nati­ sche und logistische Schützenhilfe sicherten. onalstaatsbewegung, dennoch stellte seine Vita Noch vor ihrem offiziellen Erscheinen in Italien auch genügend Ansatzpunkte bereit, die ihn als wetteiferten Literaten um das Manuskript der Symbol der politischen Verhältnisse nach 1860 Memoiren Garibaldis und sorgten dafür, dass sie erscheinen lassen konnten. Diese Auffassung in viele europäische Sprachen übersetzt wur­ bezog ihre Strahlkraft nicht nur aus der Tatsache, den. Dumas beispielsweise engagierte sich nicht dass er in der Zeit nach 1848/49 bisweilen sein nur diplomatisch und finanziell für den Freiheits­ rotes Hemd gegen die Uniform eines piemonte­ helden; neben einer französischen Übersetzung sischen Generals getauscht hatte, sondern auch seiner Lebensaufzeichnungen verfasste er unter maßgeblich aus einem Ereignis, das als ‚Treffen anderem einen langen Reisebericht, der den von Teano‘ Eingang in das nationale Gedächtnis Eroberungszug durch Süditalien und die Begeg­ fand: Nachdem Garibaldi Sizilien und Südita­ nungen des Schriftstellers mit dem italienischen lien erobert hatte, übergab er im Oktober 1860 Revolutionär schilderte. Der Titel dieses Werkes in der Nähe des Ortes Teano bei Neapel die – Viva Garibaldi! – sagt vieles über jene Faszina­ ‚befreiten‘ Gebiete an Vittorio Emanuele II. und tion aus, die Garibaldi auf die romantischen Au­ sicherte dem zukünftigen König Italiens seine toren Europas ausübte. Er weckte in der liberal Loyalität zu. Auch sein Telegramm, in dem er gesinnten Öffentlichkeit auch deshalb Begeiste­ sich während des Dritten Italienischen Unabhän­ rung, weil er – gewissermaßen im Stile des spä­ gigkeitskrieges gegen Österreich 1866 mit dem teren Ché Guevara – als „Banner einer neuen berühmt gewordenen ‚Obbedisco‘ [„Ich gehor­ Ära“ (Sand 363) und damit als Hoffnungsträger che“] einem Befehl des Königs fügte, erwies sich einer möglichen politisch-gesellschaftlichen Zei­ als geeignet, seine Treue zur Monarchie heraus­ tenwende betrachtet wurde, der neben Ideen zustreichen. Dies sicherte ihm einen Platz in den wie Demokratie und Nation auch Utopien vertrat, Geschichts- und Schulbüchern des Königrei­ die in frühsozialistischen Ideen einer solidarisch- ches und machte ihn zum Symbol eines von der demokratischen Weltgemeinschaft gipfelten. In Obrigkeit geförderten geistigen ‚nation-building‘,

helden. heroes. héros. Viva Garibaldi! das die breiten Massen zu loyalen Staatsbür­ in der die Heldentaten der italienischen Ver­ 103 gern erziehen sollte. Garibaldi selbst hatte mit gangenheit und Gegenwart besungen wurden, dieser ‚gemäßigten‘ Rolle seine Schwierigkei­ einen Niedergang. In den 1880er und 1890er ten und schwankte nach 1860 vielfach zwischen dominierte mit dem Verismus eine literarische den Polen eines kurzzeitigen parlamentarischen Strömung, die einen realistischen, dezidiert Abgeordneten und seiner temperamentvollen antiheroischen Blick auf die italienische Gegen­ Natur als Berufsrevolutionär, die immer wieder wart warf und das politische ‚Œuvre‘ der großen aufflackerte und ihn zum Teil aus Protest gegen Männer vom Schlage Garibaldis oder Cavours die königliche Realpolitik zu neuen militärischen kritisch hinterfragte. Entsprechend notierte der Abenteuern trieb. So provozierte er regelmäßig ‚garibaldino‘ Eugenio Checchi in seinen Me­ Konflikte zwischen seinen Anhängern und den moiren: „Das garibaldinische Epos ist für immer politischen Autoritäten, z. B., als er, mit dem Ziel, vorbei [...] Garibaldi gehört nun der Geschichte.“ die Herrschaft des Papstes in Rom zu beenden, (zit. nach Mutterle 1191, Ü. R. L.) 1862 an der Spitze einer kleinen Freiwilligenar­ mee in Kalabrien landete und im Aspromonte- Gebirge von Truppen der königlichen Armee verwundet wurde – ein Ereignis, das bis heute in 8. Nachleben Form eines bekannten Volksliedes mit dem Titel Garibaldi fu ferito... [„Garibaldi wurde verletzt...“] Auf der Grundlage einer nationalistischen Ideo­ überliefert ist. In seiner doppelten Rolle als logie, die im historischen Kontext des Ersten königs­treuer General und romantischer Outlaw Weltkriegs in vielen Staaten Europas heran­ war Garibaldi daher sowohl ideeller Bestandteil reifte und – basierend auf einem ‚heroischen‘ als auch Gegenentwurf des frisch geschaffenen Gedächtnis, das den vaterländischen Krieger italienischen Staates. in den Mittelpunkt des nationalen Kultes rückte Kontinuität und Ausstrahlung des Mythos (François 25), versuchte nicht zuletzt der italie­ Garibaldi nach 1860 liegen dabei wesentlich in nische Faschismus, das Gedenken um Garibaldi der Tatsache begründet, dass sich dieser ein ei­ für seine politischen Ziele zu vereinnahmen. Als genes mediales Denkmal in Form einer Erinne­ neues massentaugliches Medium der patrioti­ rungsliteratur bzw. -kultur schuf. Es handelte sich schen Vergangenheitsinszenierung erwies sich dabei um eine Fülle von Kriegstagebüchern, Me­ dabei der Film. Von den 20ern bis in die frühen moiren und Dichtungen, die unter der Bezeich­ 40er entstanden so eine Reihe von Filmen wie nung ‚letteratura garibaldina‘ eine eigene literari­ Alessandro Blasettis 1860 [1934], in denen eine sche Gattung im ausgehenden 19. Jahrhundert Heroisierung des Zeitalters der nationalen Ein­ bildeten und die Verherrlichung von Garibaldis heitsfindung betrieben wurde, die jedoch, einer Heldentaten zum Gegenstand hatten. Als media­ frühen neorealistischen Ästhetik und propagan­ les Phänomen eines Heldenkultes zeugte diese distischen Gegenwartsstrategie folgend, weni­ Literatur dabei nicht nur von der Kontinuität des ger dem Personenkult um Garibaldi verpflichtet Mythos Garibaldi über den Tod des italienischen waren, als vielmehr eine Epoche und das ge­ Einheitshelden im Jahre 1882 hinaus. Sie war samte italienische Volk als historischen Akteur in ihrer Qualität als nostalgischer Erinnerungs­ glorifizierten. Im Bestreben, sich auf der einen träger zugleich ein Beleg für den Vitalitätsverlust Seite als Traditionsvollstrecker sowie auf der der mit Garibaldi verknüpften, demokratischen anderen als innovative Kraft zu präsentieren, er­ Version der nationalen Einigungsgeschichte, zu­ fuhr jenes mit Garibaldi verknüpfte symbolische mal sie versuchte, der Umdeutung und Verein­ Spektrum eine Umdeutung: so wurden aus den nahmung des Helden durch die offizielle monar­ Rothemden des späten 19. nun die faschisti­ chistische Geschichtspolitik entgegenzuwirken. schen Schwarzhemden des frühen 20. Jahr­ Wie viele Symbole, die mit der mythisch ver­ hunderts. Im zeitlichen Umfeld des Zweiten klärten, nationalen Einigungsgeschichte ver­ Weltkriegs versuchte auch die kommunistisch knüpft wurden, hatte auch Garibaldi im ausge­ dominierte ‚Resistenza‘, durch den Rückgriff auf henden 19. Jahrhundert jedoch einen schweren das Symbol Garibaldi die Tradition der freiheit­ Stand. In einem gesellschaftlichen Klima, in dem lichen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts die Euphorie der Einigungskämpfe angesichts für sich zu reklamieren und dem Faschismus die politischer Instabilität sowie eines eklatanten Deutungshoheit über die Vergangenheit streitig sozialen und wirtschaftlichen Nord-Süd-Gefälles zu machen. zunehmend einem Gefühl der Ernüchterung und Auch die nach 1946 ausgerufene italienische Desillusion wich, geriet die nationale Heldensa­ Republik unternahm große Anstrengungen, in ei­ ga in eine tiefe Glaubwürdigkeitskrise. Angefan­ ner Art symbolischem Neuanfang auf der Basis gen beim historischen Roman bis zum Melodram des Mythos vom antifaschistischen Widerstand erlebte jene romantisch-patriotische Literatur, an die garibaldinischen Ideale anzuknüpfen.

helden. heroes. héros. Robert Lukenda

104 Der Kult um die ideellen Grundlagen der Nati­ 6 Obgleich natürlich Voltaire und Rousseau im 18. Jahr­ on beschränkte sich jedoch weitgehend auf eine hundert ein gegensätzliches Bild des ‚grand homme‘ pflegen. kleine Elite und wurde in den Jahrzehnten nach 7 Zu den Narrativen und Topoi der patriotischen Literatur 1945 immer mehr zum Symbol einer wachsen­ s. Schwaderer 165-196. Die Konstruktion heroischer Ver­ gangenheitsversionen im Zeitalter der kulturellen National­ den Kluft zwischen politischem Establishment staatsbildung wird Erll zufolge in großem Maße von Texten und dem Rest der Gesellschaft. Dieser Umstand, erbracht, die sich dem Genre der Populärliteratur zuordnen der auch das Gedenken an Garibaldi präg­ lassen: „Historische Romane, wie Walter Scotts The Heart of te, zeugte im Grundsatz von der Sinnkrise des Midlothian [...] spielten und spielen bei der Konstitution kol­ lektiver Gedächtnisse eine wichtige Rolle. Sie vermitteln dem „heroischen“ oder „monumentalen“ Gedächt­ Leser kollektive Identitäten, Geschichtsbilder, Werte und nisses, dessen „zentrale Figur [...] der Held und Normen. Um der Rolle der Literatur im Prozess der Ausfor­ Kämpfer war“ (François 25).19 mung von Erinnerungskulturen Rechnung zu tragen, ist von In der jüngeren Vergangenheit haben die von der nahe liegenden Vorstellung Abstand zu nehmen, nur so genannte ‚hohe Literatur‘ werde mit Bezug auf das kulturelle politischen Kontroversen überschatteten Fei­ Gedächtnis gelesen. Gerade die Trivialliteratur bedient sich erlichkeiten zum zweihundertsten Geburtstag symbolischer Ressourcen, die dem kulturellen Gedächtnis Garibaldis im Jahre 2007 wieder einmal die Fra­ zuzuordnen sind.“ (Erll 158) gilität einer nationalen Erinnerungspraxis offen­ 8 So ist beispielsweise Stendhals Roman Le Rouge et le gelegt und eindrucksvoll gezeigt, dass es in der Noir von der Gegensätzlichkeit zwischen einer als unhero­ isch empfundenen Gegenwart des frühen 19. Jahrhunderts italienischen Öffentlichkeit längst salonfähig ist, und der Sehnsucht nach heldenhafter Lebensgestaltung ge­ „schlecht über Garibaldi zu sprechen“ (Isnenghi prägt (Schulz-Buschhaus 1-15). Die bewusstseinsprägende 3, Ü. R. L.). Für den Mythos Garibaldi bedeutet Wirkung der literarisch-romantischen Geschichtsnarrationen dies eine erstaunliche Rückkehr zu seinen Wur­ im jungen 19. Jahrhundert ist von Seiten jener Forschung, die sich mit den kulturellen und imaginären Facetten von zeln im Zeitalter der italienischen Nationalstaats­ Nationalismen beschäftigt, vielfach betont worden (s. etwa bildung: für die einen Dämon und Freibeuter, für Banti). die anderen Lichtgestalt und Freiheitsheld. In 9 Zur Rolle der Literatur in einem solchen Prozess vgl. jedem Fall aber eine historische Ausnahmefigur, Iser. Ihm zufolge konstituieren literarische Texte „eine uns die ihren kometenhaften Aufstieg wesentlich ei­ scheinbar vertraute Welt in einer von unseren Gewohnheiten ner entstehenden (massen-)medialen Kultur im abweichenden Form“ (Iser 11). Durch ihre Bezugnahme auf die (außerliterarische) Wirklichkeit, in der bereits Vorstellun­ 19. Jahrhundert verdankte. Mit den Mitteln der gen von Identität und Vergangenheit existieren, sind solche Literatur, des Journalismus sowie den neuen Texte in der Lage, glaubhaft die „ontologische Kluft zwischen visuellen Medien wie Fotografie wurde ein hel­ Fiktion und Realität“ (Erll 159) zu überwinden. denhaftes, exemplarisches Leben gestaltet, in 10 Wie Christadler hervorhebt, bedarf der „Nationalismus dem – typisch für das Zeitalter der großen na­ als weltliche Religion [...] der Märtyrer, deren Opfertod seine tionalstaatlichen Erzählungen – die Grenzen quasi-metaphysische Verbindlichkeit sichert. Die Niederlage der Nation wird verklärt durch die Heldentaten ihrer ‚Söhne‘, zwischen romantischer Fiktion und historischer die verlorene Ehre durch den ‚Ruhm der Besiegten‘ wieder­ Wirklichkeit verschwammen. „Mehr als je ist die­ hergestellt.“ (Christadler 201) ses abenteuerliche Leben fabelhaft geworden, 11 Diesbezüglich weiterführend Riall b 128-163. aber diese Fabel ist Geschichte.“ (Sand 363) 12 Riall zufolge ist der Löwe „a medieval symbol of resur­ rection and a modern euphemism for celebrity“. (Riall b 149) 1 Die nachfolgenden Ausführungen konzentrieren sich aus 13 Von der patriotischen Propaganda vielfach als ‚homme Gründen der Übersichtlichkeit weitgehend auf den französi­ providentiel‘ gefeiert, erschien Garibaldi in diesem Punkt als schen und italienischen Kontext des 19. und 20. Jahrhun­ Carlyle’scher Held – „un homme d’action guidé par une ins­ derts. piration divine, une sorte de ‚miracle’ et non le produit fatal 2 Als Standardwerk zum Garibaldi-Kult hat sich v. a. im de son temps“ (Gérard 40). Man beachte in diesem Zusam­ englischsprachigen Raum Riall b etabliert. menhang die zahlreichen Hymnen, die Garibaldi als Heiligen 3 Zur Vorbildfunktion der ‚Gedächtnisnation‘ Frankreich feiern bzw. seine angebliche Unverwundbarkeit besingen. s. Nora 2207-2216. Z.B. Dall’Ongaro 285-287. 4 Die Helden im Zeitalter der politischen Nationalstaatsbil­ 14 Es seien an dieser Stelle an die beiden historischen dung sind demnach weniger ‚hommes de la pensée‘, son­ Heldenfiguren Ferruccio und Fieramosca erinnert, die im dern wie Garibaldi zuallererst ‚hommes d’action et de guerre‘ 19. Jahrhundert Gegenstand zahlreicher patriotisch-hagio­ (vgl. Gérard 31-48). Vielfach hat man darin den Ausdruck graphischer Heldenerzählungen waren. Vgl. diesbezüglich einer an die Macht gekommenen Bürgerlichkeit gesehen, die etwa den historischen Roman Ettore Fieramosca (1833) von ein neues, auf den Gedanken der Meritokratie gegründetes Massimo D’Azeglio. Heldenmodell installierte, zumal alle, die sich dem nationa­ 15 Für Degl’Innocenti 18 ist Garibaldi der Hauptgestalter len Freiheitskampf anschlossen, hier eine Möglichkeit eröff­ seines eigenen Mythos. net bekamen, unabhängig von Herkunft und Bildungsstand 16 Zur Autobiographie als Medium des ‚self-fashioning‘ vgl. selbst zu großen Italienern zu werden (s. Degl’Innocenti 29- die Anmerkungen Schlüters in Alfieri 517-551. 30). 17 Mémoires de Garibaldi. Trad. sur le manuscrit original 5 Was nicht heißt, dass gewisse Aspekte der Heldenkon­ par A. Dumas. Paris: Michel Lévy frères, 1860. zeption Carlyles (On Heroes, Hero-Worship and the Hero- ic in History, London 1841) nicht auch im Kult um Garibaldi 18 Man beachte die Parallele zur Vita Napoleons, der nach wirksam waren, wie weiter unten noch zu sehen sein wird. Phasen des Exils immer wieder auf der politischen Bühne auftauchen konnte.

helden. heroes. héros. Viva Garibaldi!

19 Dieses wurde nach dem Holocaust weitgehend von einer Ihring, Peter. Die beweinte Nation: Melodramatik und Pat- 105 Erinnerungskultur abgelöst, die sich v. a. dem Gedenken an riotismus im ‚romanzo storico risorgimentale‘. Tübingen: die Opfer verschrieb (vgl. Müller 14). Niemeyer, 1999. Iser, Wolfgang. Die Appellstruktur der Texte. Konstanz: Uni­ versitätsverlag, 1970. Isnenghi, Mario. Garibaldi fu ferito. Storia e mito di un rivolu- Literatur zionario disciplinato. Rom: Donzelli, 2007. Müller, Jan-Werner. „Introduction: The Power of Memory, the Abba, Giuseppe Cesare. „Da Quarto al Volturno: Noterelle Memory of Power and the Power over Memory“. Memory di uno dei Mille“. Scrittori garibaldini, Bd. 1. Hg. Gaetano and Power in Post-War Europe: Studies in the Presence Trombatore. Turin: Einaudi, 1979: 41-180. of the Past. Hg. Jan-Werner Müller. Cambridge: University Alfieri, Vittorio. Vita. Mein Leben. Übers., mit Anmerkungen, Press, 2002: 1-35. einem Nachwort u. einer Bibliographie v. Gisela Schlüter. Mutterle, Anco Marzio. „Narrativa e memorialistica nell’età : Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, 2010. romantica”. Storia letteraria d’Italia (10), L’Ottocento, Bd. 2. Balzac, Honoré (de). „Le père Goriot“. Avant-Propos à La Hg. Armando Balduino. Mailand: Vallardi, 1990: 1065-1196. Comédie humaine: le père Goriot; l’ interdiction; scènes de Nora, Pierre. „La nation-mémoire“. Les lieux de mémoire. la vie privèe; [la Comédie humaine]. Monte-Carlo: Pastorel­ Bd. 2: La Nation 3, Les France 1. Hg. Pierre Nora. Paris: ly, 1982: 31-332. Gallimard, 1997: 2207-2216. Banti, Mario Alberto. La nazione del Risorgimento. Parente- Riall, Lucy a. „Garibaldi: The First Celebrity“, History Today la, santità e onore alle origini dell’ Italia unita. Turin: Einaudi, 57. 8, 2007. 17.6.2013 . Barthes, Roland. Mythologies. Paris: Séuil, 1970. Riall, Lucy b. Garibaldi. Invention of a Hero. New Haven Christadler, Marieluise. „Zur nationalpädagogischen Funkti­ u. a.: Yale U. P., 2007. on kollektiver Mythen in Frankreich“. Nationale Mythen und Sand, George. „George Sand über den Krieg in der Lombar­ Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hg. dei“. Garibaldi, Giuseppe. Die Memoiren Giuseppe Garibal- Jürgen Link u. a. Stuttgart: Klett-Cotta, 1991: 199-211. dis, a. a. O., 355-367. Dall’Ongaro, Francesco. „Garibaldi in Sicilia”. Poeti del Ri- Schulz-Buschhaus, Ulrich. „Stendhal, Balzac, Flaubert“. sorgimento. Hg. Valerio Marucci. Rom: Salerno ed., 2001: 3.4.2014 . Dandolo, Emilio. The Italian Volunteers and Lombard Rifle Schwaderer, Richard. „Ritter, Tyrannen, Verräter und die Brigade: Being an Authentic Narrative of the Organization, verfolgte Unschuld. Zur patriotischen Mythenbildung in ita­ Adventures, and Final Disbanding of These Corps, in 1848- lienischen historischen Romanen des frühen 19. Jahrhun­ 49. London: Longman, Brown, Green & Longmans, 1851. derts“. Erzählte Nationalgeschichte. Der historische Roman D’Azeglio, Massimo. Hector Fieramosca oder die Heraus- im italienischen Risorgimento. Hg. Friedrich Wolfzettel u. a. forderung von Barletta: Erzählung. Übers. v. Jacob Ziegler, Tübingen: Narr, 1993: 165-196. Bd. 1. Konstanz: Forster & Comp., 1847. Sorba, Carlotta. „Il 1848 e la melodrammatizzazione della Degl’Innocenti, Maurizio. Garibaldi e l’Ottocento. Nazione, politica“. Il Risorgimento, Storia d’Italia. Annali 22. Hg. Ma­ popolo, volontariato, associazione. Manduria u. a.: Lacaita, rio Alberto Banti u. a. Turin: Einaudi, 2007: 481-508. 2008. Dumas, Alexandre. Viva Garibaldi! Une odyssée en 1860. Paris: Fayard, 2002. Erll, Astrid. Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart u. a.: Metzler, 2005. François, Etienne. „Erinnerungsorte zwischen Geschichts­ schreibung und Gedächtnis. Eine Forschungsinnovation und ihre Folgen“. Geschichtspolitik und kollektives Ge- dächtnis. Hg. Harald Schmid. Göttingen: V&R unipress, 2009: 23-35. Garibaldi, Giuseppe. Die Memoiren Giuseppe Garibaldis. Hg. Alexandre Dumas père. Wiesbaden: Marix, 2007. Geertz, Clifford. „Centers, Kings and Charisma: Reflections on the Symbolics of Power“. Rites of Power: Symbolism, Ritual, and Politics since the Middle Ages. Hg. Sean Wil­ entz. Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 1999: 13-40. Gérard, Alice. „Le grand homme et la conception de l’histoire au XIXe siècle“. Romantisme 100. 1998: 31-48. 17.12.2013 . Goncourt, Edmond e Jules (de). Portraits intimes du dix-hui- tième siècle. Paris: Charpentier u. a., 1892. Hamon, Philippe. Imageries, littérature et image au XIXe siècle. Paris: José Corti, 2001.

helden. heroes. héros. 106

helden. heroes. héros. DOI 10.6094/helden.heroes.heros./2014/02/08

Kristina Offterdinger 107

„Stadt, die den Tod bezwang“ Leningrad als Heldenstadt in der medialen Vermittlung durch Reiseführer

Schwer geprüft war Leningrad im Zweiten vorgenommene Untersuchung Leningrads als Weltkrieg. […] Unter dem feindlichen Be- Heldenstadt in der Darstellung von Reisefüh- schuss hörten die Leningrader aber nicht rern bietet somit einen Diskussionsbeitrag zum auf, für die Front zu arbeiten. Die Männer Heldenbegriff und ermöglicht über das Medium gingen zum Landsturm. Ihre Arbeitsplätze des Reiseführers einen erweiterten Einblick in in den Betrieben, wo man Waffen und Mu- die topographisch manifestierte Erinnerungskul- nition herstellte, wurden von den Frauen besetzt. 900 Tage hielt die Stadt helden- tur einer Heldenstadt. Leningrad als Stadt stiftet haft durch. Der Feind konnte das aus- – ähnlich wie ein ‚traditioneller‘ Individualheld – gehungerte Leningrad nicht erobern. Im Identifikation und kann Teil des Symbolhaushal- Januar 1944 sprengten die sowjetischen tes von Gesellschaften werden, unterliegt gleich- Truppen die Blockade und bereiteten den zeitig aber einem historischen Wandel.5 Soldaten Hitlers eine schwere Niederlage. Für die Tapferkeit seiner Verteidiger wur- de Leningrad zur ‚Heldenstadt‘ erhoben. (Presse-Agentur Novosti 90-91) Die Heldenstadt als Topos

Diese pathetisch gehaltene Äußerung aus ei- Eine Heldenstadt unterscheidet sich von einer nem sowjetischen, ins Deutsche übersetzten gewöhnlichen [sowjetischen] Stadt durch das Reiseführer der 1960er Jahre beschreibt die kol- Attribut ‚Helden‘. Eine Heldenstadt muss also lektiven Taten der Leningrader Bürger, welche etwas ‚Heldenhaftes‘ – etwas über die Normen die fast dreijährige Blockade der Stadt durch die Herausragendes – vollbracht haben. Charakte- Heeresgruppe Nord der Wehrmacht vom 8. Sep- ristisch für eine Heldenstadt ist die Heroisierung tember 1941 bis zum 27. Januar 1944 überstan- eines Kollektivs, meistens der Stadtbevölkerung den und in der sowjetischen Darstellung schier mit ihren sozialen Gruppen. Die Bewohner iden- Übermenschliches vollbrachten. Leningrad wur- tifizieren sich mit ihrer Heldenstadt wie mit einem de damit zur „Stadt, die den Tod bezwang“ (Berg- Individualhelden, die Stadt wird anthropomor- schicker).1 Aufgeben war keine Option, denn die phisiert. Im sowjetischen Verständnis müssen Stadt sollte komplett zerstört, ausgehungert und [Individual- oder Kollektiv-]Helden als säkulare somit Teil des nationalsozialistischen Genozids ‚Beinahe-Heilige‘ im Einklang mit der Partei Wid- werden.2 rigkeiten überwinden und eine Vorbildfunktion Noch während des Zweiten Weltkrieges, am für die Gesellschaft erfüllen. Widerstand und 1. Mai 1945, wurde Leningrad vom Obersten Selbstaufopferung werden zu zentralen Leitmo- Sowjet für den erfolgreichen Widerstand gegen tiven, die auch medial vermittelt werden, denn, die Belagerung der Wehrmacht zur Heldenstadt um mit Maksim Gor’kij zu sprechen, „ein Held ernannt. Zeitgleich erhielten auch Sevastopol’, sein zu wollen, heißt mehr Mensch sein zu wol- Odessa und Stalingrad diesen Titel.3 Helden- len als man ist“ (Günther Held 71). Der sowjeti- städte waren in der Sowjetunion der Nach- sche Held ist ein soziales Phänomen mit einer kriegszeit omnipräsent, sei es in den Medien4 pädagogischen Funktion für die Mitbürger. Ihn oder im Alltag auf Briefmarken, Postkarten und unterscheidet von anderen Heldengestalten, Jubiläumsmünzen. Eine besondere mediale dass er keine vom Schicksal begünstigte Aus- Vermittlung des Heldenstadt-Titels stellen dabei nahmegestalt darstellt, sondern allein durch Wil- Reiseführer dar, denn sie besitzen einen inhä- lensanstrengung Held geworden ist. Er ist also renten Objektivitätsanspruch und sollen ein brei- wandelbar und reproduzierbar. Durch den Zwei- tes Publikum ansprechen. Die in diesem Aufsatz ten Weltkrieg kam der Topos des Kriegs- und

helden. heroes. héros. Kristina Offterdinger

108 Opferhelden auf, der ideologisch auf die Solda- künstliche, auf autokratischen Befehl hin errich- ten wirkte, sie überzeugte und den Massenhe- tete Stadt beschreibt (Kirschenbaum Remem- roismus der Nachkriegszeit vorwegnahm. Die bering 322). Durch die Blockade wurde die Ein- alltägliche Präsenz des Heldenhaften machte zigartigkeit der Stadt verstärkt, und ihre Würde den Heroismus zum Lebensprinzip. Der Helden- strahlte nicht nur auf ihre Besucher aus, sondern mythos – sei es als politischer, Arbeiter-, Opfer- integrierte auch die Neuankömmlinge. Die Blo- oder Kriegsheld – schafft klare Antagonismen ckade wurde zu einem Teil des gesamten sowje- und wirkt auf die Normen der Gesellschaft. Aus tischen Kriegsmythos, der sich auch in offiziellen der großen Anzahl der sowjetischen Kriegshel- Erinnerungspraktiken, Feierlichkeiten und Pub- den wurden beispielhafte Namen und Taten he- likationen manifestierte. Der Titel ‚Heldenstadt‘ rausgegriffen und den Nachkriegsgenerationen kann als eine Art Neukreierung und Ablösung medial vermittelt. Besonders Selbstopfer­ mach- der sozialistischen Stadt verstanden werden, ten die Helden und ihre Taten in der Erinnerung deren Idee in den 1970er Jahren immer utopi- unsterblich. Der Heldenkult der Brežnev-Zeit scher und unerreichbarer wurde.11 Ihr Mythos ist basierte auf einem abstrakten und utopischen ein „Konglomerat aus Antifaschismus, Partisa- Menschenbild.6 Nicht mehr nur Einzelpersonen nenideologie und Pazifismus“ (Bohn Phänomen mit ihren Leistungen in Industrie oder Krieg wur- 151). den zu Helden ernannt, wie das in den 1930er Jahren noch üblich war. In der schier inflationären Vergabe des Hel- Die Reiseführer denstadt-Titels in der Nachkriegs-Sowjetunion der 1960er bis 1980er Jahre spiegelt sich eine historische Entwicklung wider. Die dreizehn Hel- Reiseführer können ‚Quellen‘ für die Wahr- denstädte wurden Teil des integrativen ‚Sym- nehmung und mediale Vermittlung von Erinne- bolhaushaltes‘ der späten Sowjetunion. Der be- rungsprozessen sein. Im Rahmen eines breiten sondere Status der Heldenstädte im Vergleich Medienbegriffs sind Reiseführer als Mittler von zu anderen sowjetischen Städten zeigt sich in Botschaften und Bildern zu sehen. Sie sind Mitt- der Vergabe von Orden und verschiedenen Ti- ler für Reisende und Touristen, die Empfänger teln. Dazu gehören der Leninorden [1946 verlie- von Informationen sind. Sender dieser Informati- hen an Leningrad], die Medaille Goldener Stern onen sind die Autoren, die je nach Auftraggeber, [1965 verliehen an Leningrad], die mit dem Hel- Schwerpunkt des Reiseführers und Zielgrup- denstadt-Titel getragen wird, und eine Urkunde pe ein anderes Wahrnehmungsbild vermitteln. des Obersten Sowjet. Zusätzlich wurde ein Obe- Strukturell verbinden sie in ihrer Darstellung tex- lisk in der Heldenstadt errichtet.7 tuelle, bildliche und kartographische Elemente. Leningrad als Heldenstadt speist ihr singulä- Weil Reiseführer ein breites Publikum anspre- res Image aus ihrer Darstellung als Märtyrerstadt. chen sollen, generieren sie einen inhärenten Die Blockade und das damit einhergehende mo- Objektivitätsanspruch ihrer Aussagen. Sie sol- ralische Opferpathos wurden Leningrads Allein- len eine Auswahl verlässlicher Informationen für stellungsmerkmal im Vergleich zu den übrigen Reisende bereitstellen, welche eine eigene Be- Heldenstädten der Sowjetunion. Im Sinne einer wertung abnehmen kann. Von Interesse ist hier, ‚imagined community‘ (Anderson) teilen sich die wie die Macher der Reiseführer das Heldenbild ‚blokadniki‘8 als Erlebnisgeneration kulturelle My- rezipiert haben, was in Reiseführern überhaupt then der Blockade, die häufig sakralisiert wird. In von der Heldenstadt präsentiert wird, welche ihrem Selbstbild sehen sich die ‚blokadniki‘ häu- Orte als ‚wichtig‘ und sehenswert eingestuft wer- fig als unschuldige Helden und gleichzeitig als den und welche nicht. heroische Verteidiger. Die Bezeichnung ‚Lenin- Bei den deutschsprachigen Reiseführern grader‘ ist dadurch stark politisierend und wird liegen der Schweizer Nagels Reiseführer von mit Stolz getragen.9 Im offiziellen sowjetischen 1966, ein ins Deutsche übersetzter Reiseführer Geschichtsbild tritt die Bevölkerung als helden- der sowjetischen Presse-Agentur Novosti und hafter Verteidiger an der Leningrader Front oder die Reiseführer von Heiss und Bergschicker vor. als Arbeiter in den Leningrader Fabriken auf. Mit Letzterer ist ein Reiseführer aus der DDR, der der kollektiven Heroisierung wurde versucht, auch in der BRD verbreitet wurde. Er vermittelt möglichst viele gesellschaftliche Gruppen zu in- das sowjetische Helden-Narrativ (Ganzenmüller tegrieren. Die Blockade wurde neben der Okto- Nebenkriegsschauplatz 7). Der Grieben-Reise- berrevolution zum zweiten ‚sozialistischen Grün- führer von 1976 ist ein Reiseführer für die ge- dungsmythos‘10 Leningrads. Der so geschaffene samte Sowjetunion, in dem Leningrad nur ein ‚Mythos Leningrad‘ grenzt sich also vom ‚Mythos Teilkapitel gewidmet ist. Für 1974 findet sich Petersburg‘ ab. Dieser ‚Mythos Petersburg‘ ist ein Reiseführer, der sich nur auf die Paläste der ein literarischer Topos, welcher Petersburg als Leningrader Umgebung bezieht und vor allem kunsthistorisch orientiert ist (Kennett u. a.). In

helden. heroes. héros. Leningrad als Heldenstadt den 1980er Jahren sind eine weitere Ausgabe Die topographische Manifestation 109 des Grieben-Reiseführers und einige Exempla- der Erinnerung re, die sich als Stadt- oder Umgebungsreisefüh- rer verstehen, erschienen. Dazu gehören zwei In Leningrad gibt es viele Erinnerungsorte, Reiseführer von Kann, die aus dem Russischen die mit der Geschichte der revolutionären ins Deutsche bzw. Englische übersetzt wurden Bewegung in Russland, mit der Entste- und daher eigentlich auch der sowjetischen Sei- hung des ersten sozialistischen Staates te zuzuordnen sind. Von sowjetischen Reisefüh- auf der Welt und mit dem Heroismus der rern wurde eine Anzahl verwendet, die mit der Leningrader in den Jahren des Großen der deutschen vergleichbar ist. Es gibt zwei Rei- Vaterländischen Krieges verbunden sind. seführer aus den 1950er Jahren. Für die 1970er (Rost 40-41)14 Jahre finden sich zwei sowjetische Reiseführer, welche die gesamte Stadt thematisieren und ein Die memoriale und topographische Manifesta- eigener Reiseführer, der nur der ‚Doroga žizni‘ tion der Heldenstadt spiegelt sich in symboli- [Straße des Lebens] gewidmet ist. Ein Foto-Rei- schen und konkreten ‚Heroisierungsorten‘ und seführer und ein kunstgeschichtlich orientierter Denkmälern wider. Bevor konkrete Erinnerungs- Reiseführer liegen für die 1980er Jahre vor (Lo- orte präsentiert werden, wird auf die Blockade patina, Pavljučenko u. a., Rost, Vernadskij u. a., und den nach ihrer Durchbrechung eingeleiteten Serpokryl, Suknovalov, Alešina). Wiederaufbau Leningrads als symbolische, im- materielle Erinnerungsorte eingegangen. Da- durch hat sich Leningrad den Mythos als Märty- Spatial Turn und Erinnerungs­ rerstadt und das Pathos des Sieges im Zweiten Weltkrieg angeeignet. Geprägt war der Mythos kulturen von den Themen Zerstörung und Wiederaufbau, wobei Letzterer als heroischer und nach vorne, Die Identifikation von Bewohnern mit ihrer in die Zukunft gerichteter Akt der Leningrader Stadt erfolgt unter anderem über Denkmä- Bevölkerung verstanden wurde. Dieses Erlebnis ler. Letztere veranschaulichen historische und diese Erinnerungskonstruktion wirkten sich Ereignisse im Leben einer Gemeinschaft, 15 wodurch sie gleichsam eine Brücke von identitätsstiftend aus. der Vergangenheit zur Gegenwart schla- Als Partisanen oder im Aufbau von Straßen- gen. Die dabei transportierte Symbolik blockaden habe die ganze Bevölkerung Lenin- stellt ein Bild der Geschichte dar, das die grads die Stadt verteidigt, so formuliert das ein aktuellen politischen Machtverhältnisse ins Englische übersetzter sowjetischer Reisefüh- widerspiegelt. Denkmäler sind damit Teil rer der 1980er Jahre: „Not only military troops des kulturellen Zeichensystems einer Ge- defended the city – at the call of the Communist sellschaft […]. (Musekamp 175) Party the entire population rose to the defence of Leningrad.“ (Kann Leningrad 20) Die sowje- Bei der Untersuchung der präsentierten Orte tische Seite und die DDR pointieren stärker als wird die räumliche Dimension der Stadt als ei- die deutschsprachigen Reiseführer aus der BRD gene kulturelle Größe verstanden. Die Verräum- und der Schweiz den sowjetischen Widerstand lichung zeitlicher und sozialer Dimensionen, das und die Leiden der Bevölkerung im Kontext der Verständnis von Raum – und besonders von Stadtkatastrophe (Ganzenmüller Nebenkriegs- Städten – als Narrativ und als soziales Konstrukt schauplatz 17-18): begünstigen die Untersuchung urbaner Kommu- nikationsmechanismen. Denkmäler bilden einen Sechshundertzweiunddreißigtausend Teil dieser Mechanismen (Piltz 75-102; Schlögel Menschen verhungerten in der Stadt Le- Chronotop 32; Döring u. Thielmann 8). In den ningrad […]. Sie waren ihren Martern erle- Reiseführern werden die kulturellen Dimensio- gen, aber sie waren nicht schwach gewor- nen und Narrative medial vermittelt. Besonders den. Den sicheren Untergang vor Augen, Denkmäler sind spezifische Orte, an denen ein waren sie den Verteidigern nicht in den Arm Teil des kollektiven Gedächtnisses materialisiert gefallen, sondern hatten sie im Kampf be- stärkt. Keine Armee der Welt […] hätte die wird, sie sind ‚lieux de mémoire‘.12 Stadt halten können, wenn ihre Bewohner Die besonders unter Brežnev betriebene Ri- der Verzweiflung anheim gefallen wären. tualisierung der Erinnerung und Sakralisierung Die sechshundertzweiunddreißigtausend Leningrads als Heldenstadt zeigt sich in regel- Männer, Frauen und Kinder aber starben rechten ‚Heroisierungs-Itineraren‘. Medien, wie wie Soldaten, mit dem Gesicht zum Feind. hier am Beispiel der Reiseführer gezeigt werden Ohne ihr stummes Opfer wäre Leningrad soll, können dabei als Erinnerungsträger dienen gefallen. (Bergschicker 157) und die kulturelle Bedeutung der Symbole an die Nachwelt tradieren.13 helden. heroes. héros. Kristina Offterdinger

110 Die Ausmaße der Zerstörung finden auch Ein- und mythisch verklärt. Die Reiseführer, auch die gang in deutsche Reiseführer, die pathetisch den deutschsprachigen, stehen hier in einer Linie mit Wiederaufbau der Leningrader hervorheben:16 dem offiziellen sowjetischen Narrativ. Pathetisch materialisiert und topographisch Mit enormer Vitalität bauten die Lenin- festgehalten wird dieses Erlebnis in der Errich- grader nach der Blockade, die 650000 tung von Denkmälern und Denkmalkomplexen. Einwohnern [sic!] das Leben kostete und Der heldenhafte Kampf, die Stadt und der To- 10000 Gebäude zerstörte und beschädig- pos als tragischer, aber ruhmreicher Ort spiegelt te, ihre Stadt wieder auf. Allein im Jahre 1944 wurden rund eine Million Quad- sich in den im Folgenden näher beschriebenen ratmeter Wohnfläche wiederhergestellt. Erinnerungsorten wider: in den ‚Parki Pobedy‘ (Heiss 22)17 [Siegesparks], im ‚Piskarevskoe memorial’noe kladbišče‘ [Piskarevskoe-Friedhof], im ‚Pamjat- Von den Zerstörungen waren besonders Rand- nik Zaščitnikam Leningrada‘ [Denkmal für die gebiete, die am Frontverlauf lagen, betroffen. In Verteidiger Leningrads] und in der ‚Doroga žizni‘ den Reiseführern wird der Wiederaufbau aber [Straße des Lebens], die ein Teil des ‚Zelenyj nicht nur mit der Errichtung von Neubauvierteln Pojas Slavy‘ [Grüner Gürtel des Ruhmes] ist an der Peripherie, sondern primär mit der Res- (Pavljučenko u. a. 5-8). tauration des historischen Zentrums verbunden (Kusber 155, Gorys 234): „Nach Kriegsende musste die grandiose Wiederherstellung der Die ‚Parki Pobedy‘ und der ‚Piska­ zerstörten Architekturschätze in Angriff genom- revskoe memorial’noe kladbišče‘ men werden.“ (Alešina XLV)18 Solche Aussagen finden sich in deutschsprachigen und in sowje- Architektonisch und stadtplanerisch be- tischen Reiseführern. In sowjetischen Reise- deutsam waren […] die größeren Parkan- führern dominiert häufig die Erzählung eines lagen […] und die sozialistische Gedenk­ linearen, fortschrittlichen Wiederaufbaus, wobei architektur, die immer dann eindrucksvoll wurde, wenn sie mit der Erinnerung an die die Leningrader Bevölkerung eine wichtige und Blockade und an den Zweiten Weltkrieg aktive Rolle spielt (Rost 21): „Indem sie sorg- verbunden wurde. (Kusber 156) fältig das Beste aufbewahren, was die voran- gegangenen Generationen geschaffen haben, In der Nachkriegszeit wurde vor allem an den geben sich die Leningrader heute große Mühe, Peripherien der Stadt der Bau von Denkmälern dass die Stadt wächst, schöner und moderner und Erinnerungsorten vorangetrieben (Anan’ich 19 wird.“ (Rost 126-127) Der Wiederaufbau wird u. a. 265). In Leningrad gibt es zwei sogenannte besonders in den sowjetischen Reiseführern als Siegesparks: den ‚Moskovskij Park Pobedy‘ am freiwilliger heroischer Akt der Stadtbevölkerung ‚Moskovskij Prospekt‘ in südlicher Ausfallrich- dargestellt, die aus Liebe zu ihrer Stadt handelt, tung und den ‚Primorskij Park Pobedy‘ in der denn die „sowjetischen Menschen sind stolz auf Nähe des Kirov-Stadions im Norden der Stadt. die ruhmreiche Geschichte Leningrads“ (Ver- Der ‚Moskovskij Park Pobedy‘ wurde „an- 20 nadskij u. a. 5). Leningrad ist laut den sowjeti- gelegt 1945 von der Leningrader Bevölkerung schen Reiseführern der 1950er Jahre „eine der aus Freude über das glückliche Ende des Krie- wundervollsten Städte unserer großen sozialis- ges.“ (Gorys 326) Die Parkanlage scheint einem 21 tischen Heimat“ (Vernadskij u. a. 5). Der Stadt Schweizer Reiseführer zufolge auf eine Initiative wird ferner eine weltgeschichtliche Bedeutung der Leningrader Bevölkerung zurückzugehen zugeschrieben: und thematisiert in ihrer architektonischen Aus- stattung vor allem die Helden der Sowjetunion: [Leningrad] ist eines der größeren und kul- turellen Zentren unseres Landes, eine der Den Eingang schmücken Propyläen mit schönsten Städte der Welt, Wiege dreier Flachreliefs in Bronze, die den Ingenieu- Revolutionen, in der vor 40 Jahren die ren gewidmet sind. In der Hauptallee [Sie- Große Sozialistische Oktoberrevolution gesallee] befindet sich die größte Fontäne begann und siegte, die Stadt russischen Leningrads mit einem Springstrahl von 11 Ruhmes, Heldenstadt, Stadt wundervoller m Höhe. Der Park ist mit Statuen der Hel- Menschen, Stadt Lenins. Das ist Lenin- den der Sowjetunion ausgestattet. (Na- grad, das ist seine historische Vergangen- gels Reiseführer 394) heit. (Vernadskij u. a. 5)22 Dem ‚Moskovskij Park Pobedy‘ kommt dabei Sowohl die deutschsprachigen als auch die sow­ auch eine dezidiert lokale Funktion zu, denn jetischen Reiseführer betonen ähnliche Aspekte: der Park, der unionsweit bekannte und lokale Das in der Blockade erlittene Leid wird über die Helden ‚beherbergt‘, wird damit eindeutig von kollektive Heroisierung der Stadt kompensiert Leningradern für Leningrader kodiert, wie ein

helden. heroes. héros. Leningrad als Heldenstadt sowjetischer Reiseführer deutlich hervorhebt den Namen Park des Sieges; der erste 111 und damit größeres Detailwissen vorlegt als der Teil der Arbeiten war 1950 beendet. Am eben zitierte Schweizer Reiseführer: Ende der langen Allee liegt das Kirow- Stadion, das 1932 begonnen, jedoch Im Herbst 1945 beschlossen die Leningra- erst 1950 – infolge der Kriegsereignisse der, den Sieg im Großen Vaterländischen – fertiggestellt wurde. […] Das weite freie Kriege durch die Anlage eines großartigen Gelände im Westen der Insel wurde zu Parks zu würdigen. Das Thema der archi- Sportanlagen umgewandelt. (Nagels Rei- tektonischen Gestaltung wurden Waffen- seführer 425) und Arbeitssiege sowjetischer Menschen. Man sieht dort Bronzebüsten von Lenin- Dieser Siegespark ist durch seine enge Verbin- gradern, die zweimal den Ehrentitel ‚Held dung mit dem Kirov-Stadion vielseitiger nutzbar. der Sowjetunion‘ erhielten, ebenso eine Er steht in der Tradition der sowjetischen Kultur- Büste des in Leningrad geborenen zwei- und Erholungsparks und ist als Freizeitangebot fachen ‚Helden der sozialistischen Arbeit‘ der sowjetischen Regierung an ihre Bevölkerung Alexej Kossygin. An den vom Springbrun- zu verstehen (Kitaev 299-302, Crowley u. a.). nen ausgehenden Seitenalleen stehen Siegesparks bilden eine Variante der Me- Denkmäler für die ‚Helden der Sowjetuni- on‘ Soja Kosmodemjanskaja und Alexan- morialkomplexe. Die zwischen den 1950er und der Matrossow. (Kann Umgebung 51)23 1970er Jahren entstandenen, monumentalen Memorialkomplexe besaßen oft ein Ewiges Feu- Dieser Park wurde in einem Stadtviertel er- er, Reliefs und einzelne Figurengruppen. In ihrer richtet, das unter großen Kriegszerstörungen Darstellung betonen sie die Heroisierung der Er- zu leiden hatte. Damit wurde also ein von den eignisse und stellen Leiden meist im Bezug auf Kriegsereignissen gezeichneter Ort ausgewählt. den Sieg dar. Innerhalb der Parkanlage wurden alle Spuren Eine der bedeutendsten Gedenkstätten Lenin- des Krieges beseitigt. Eine ehemalige Ziegelfa- grads für die zivilen Opfer ist der ‚Piskarevskoe‘- brik, die während der Blockade als Krematorium Friedhof, eine der Massenbegräbnisstätten wäh- diente, wurde abgerissen und Bombenkrater rend der Blockade. Der Friedhof ist als Motiv und wurden als Teiche aufgefüllt. Durch diese räum- als Ort der zivilen Opfer zu sehen und wurde ab liche Umgestaltung sollten Elend und Leid des 1941 als solcher genutzt. Seit der Einweihung Krieges vergessen gemacht und die Blockade als Memorialkomplex am 9. Mai 1960 brennt dort heroisch kommemoriert werden. Jüngere Gene- eine Ewige Flamme, dominiert wird die Anlage rationen sollten ihre Freizeit im Park verbringen jedoch von dem bronzenen Denkmal der ‚Ro- (Kirschenbaum Remembering 320). Die vorma- dina Mat’‘ [‚Mutter Heimat‘] (Jahn 106, George lige Bedeutung des Ortes und seine Umgestal- 526). tung finden aber keinen Eingang in die westdeut- Auf dem Piskarew-Friedhof wurden die schen Reiseführer, die stattdessen die idyllische Toten beigesetzt, häufig in Massengrä- Ausgestaltung betonen: bern, auf denen nur Daten vermerkt sind: 1941, 1942, 1943, 1944 oder 1945. Hinter Die Metrostation Park Pobedy befindet der Statue ist auf Reliefs der Kampf der sich nahe dem monumentalen Eingang Bevölkerung während der Belagerung zum Moskauer Siegespark [Moskowskij dargestellt, ebenfalls Szenen von der Park Pobedy], dessen breite Hauptallee, heldenhaften Verteidigung. Die Fahnen flankiert von den Bronzebüsten Leningra- neigen sich zum Zeichen der Trauer, und der ‚Helden der Sowjetunion‘, schnurge- die Mauer trägt neben anderen Inschriften rade durch den rund 50 ha großen Park auch die Worte: ‚Niemand und nichts ist zieht. Zahlreiche Nebenwege schlängeln vergessen‘. (Nagels Reiseführer 335) sich malerisch um Teiche und Hügel. (Gorys 324) Der Friedhofs-Memorialkomplex besteht aus zwei Museumspavillons und zeigt Reliefs mit Eine etwas andere Funktion, die sich nicht auf Kampf- und Verteidigungsszenen. Die Darstel- die Darstellung von Helden beschränkt, kommt lungen tradieren die Opferbereitschaft der Lenin- dem zweiten Siegespark in der Nähe des Kirov- grader für die kommenden Generationen. Hier Stadions zu: wird ein Erfolg der sowjetischen Erinnerungspo- Hinter der Brücke führt die Riukhin-Straße litik ersichtlich, die das kommunikative mit dem [uliza Riukhina] geradewegs zum Meer- kulturellen Gedächtnis verflochten hat. Zwar Prospekt [Morskoj-Prospekt]. Hier er- wird in den Massengräbern das Kollektiv wert- streckt sich ein Park, dessen Hauptallee geschätzt, gleichzeitig kann hier der Opfer aber den Meer-Prospekt fortsetzt. Der Park auch auf familiärer und privater Ebene gedacht wurde im Jahr 1945 angelegt; er erhielt werden (Ganzenmüller Identitätsstiftung 277).

helden. heroes. héros. Kristina Offterdinger

112 Der Friedhof ist also ein Identifikationsangebot Der Friedhof ist somit ein städtisches Monu- an die Leningrader Bevölkerung, deren Opfer ment. Auch in den deutschen Reiseführern wird und Leiden nachträglich heroisiert wurden. Er ist der Friedhof zu den Sehenswürdigkeiten ge- eine Art Botschaft für die Nachwelt: „Ihnen, die zählt: „Die eindrucksvollste Gedenkstätte für die den Tod der Kapitulation vorzogen, widmeten die Toten der 900tägigen Belagerung Leningrads im Überlebenden dieses Denkmal. Es wurde am 9. Zweiten Weltkrieg, dem Großen Vaterländischen Mai 1960, dem 15. Jahrestag des Sieges über Krieg, ist der Piskarjowskoe-Friedhof [...] im Hitlerdeutschland, feierlich enthüllt“ (Presse- Nordosten der Stadt.“ (Gorys 325) Der Schwei- Agentur Novosti 107). Hier dominiert eine Dar- zer Reiseführer sieht die ‚Rodina Mat’‘ als „sym- stellung, der zufolge die Bevölkerung sich tapfer bolische Statue der tapferen und siegreichen für den Heldentod entschieden hätte. Stadt Leningrad“ (Nagels Reiseführer 335). Er- Die memorialen Elemente des ‚Piskarevskoe‘- kennbar wird aus diesem letzten Zitat, dass die Friedhofes reihen Leningrad in die sowjetische westdeutschen und der Schweizer Reiseführer Nachkriegs-Gedenkarchitektur ein: nicht immer den Symbolkanon der sowjetischen Erinnerungskultur und deren Figuren kennen. Die Gestaltung dieses Friedhofs, der 1960 Zwar wird in den deutschsprachigen Reisefüh- zum 15. Jahrestag der deutschen Kapitu- rern das Ereignis der Blockade betont und als lation eröffnet wurde, zeigt aber zugleich, singuläres Leningrader Ereignis dargestellt, die dass Leningrad eine sozialistische Stadt Heroisierung der Bevölkerung findet aber – ver- wie andere auch geworden war. Das Schicksal der Blockade war einzigartig für glichen mit den sowjetischen Reiseführern – in die Stadt, das Gedenken mit einer großen einem geringeren Ausmaß statt und es wird kei- Statue ‚Mutter Heimat‘ hatte sie jedoch mit ne ‚Memorialkette‘ zu anderen Erinnerungsorten anderen Orten der Sowjetunion gemein. aufgebaut. In den sowjetischen Reiseführern ist (Kusber 156) der ‚Piskarevskoe‘ neben dem ‚Serafimskoe‘- Friedhof und dem ‚Zelenyj pojas Slavy‘ eine der Der Friedhof kann mit dem ‚Mamaev kurgan‘ in zentralen Sehenswürdigkeiten, die alle der Blo- Stalingrad verglichen werden. Bei diesem steht ckade gewidmet sind. Der Friedhof wird damit in im Gegensatz zum ‚Piskarevskoe‘-Friedhof die ein Narrativ eingebettet (Rusinova 338-342, Ser- Heroisierung der Ereignisse im Vordergrund pokryl 303-328, Alešina XLV). und nicht die Trauer. Stalingrads monumenta- les Denkmal-Ensemble ist geprägt von einer Soldatenheldenfigur und einer ‚Rodina Mat’‘ als sinnstiftendem Hintergrund. Diese hat ein Der ‚Pamjatnik Zaščitnikam Lenin­ Schwert in der Hand und ruft zum Kampf auf. grada‘, der ‚Zelenyj Pojas Slavy‘ und Sie ist also nicht mit der trauernden Mutterfigur die ‚Doroga žizni‘ im ‚Piskarevskoe‘-Friedhof zu vergleichen. Kon- zepte wie diese setzen Leningrad in eine Reihe Der am ‚Moskovskij Prospekt‘25 befindliche ‚Pam- mit anderen sowjetischen Städten, demonstrie- jatnik Zaščitnikam Leningrada‘ [Denkmal für die ren aber gleichzeitig seine Individualität. In der Verteidiger Leningrads] wurde am 9. Mai 1975 Figurensprache findet sich ein Rekurs auf die auf der ‚Ploščad’ Pobedy‘ [Platz des Sieges] Ewigkeit. Die ‚Rodina Mat’‘ auf dem Friedhof ist eingeweiht und repräsentiert den Mythos der ein Sinnbild des Lebens und repräsentiert die Heldenstadt (Rusinova 348, Jahn 108). Dieses Gegenwart. Denkmal ist ein symbolisches Stadttor mit einem Architektonisch bestehen Ähnlichkeiten zum Obelisk in der Mitte des Platzes. Dieser steht in ‚Marsovo Pole‘ [Marsfeld] und man knüpft damit der Tradition antiker Siegessäulen und dient der 24 symbolisch an dessen Opfer-Narrativ an. Herrschaftsrepräsentation. Der kreisförmige Wall symbolisiert die Blockade und unter den Skulp- Hinter wuchtigen Propyläen aus Dolomit- turengruppen befindet sich ein 1979 eröffneter, gestein, deren Seitenpavillons eine Do- unterirdischer Gedenksaal (Rüthers 170-172). kumentation der Blockade zeigen, öffnet sich ein Platz, in dessen Mitte das Ewi- Das Denkmal für die Verteidiger Leningrads ist ge Feuer lodert. Hier beginnt die Haupt- laut einem sowjetischen, ins Deutsche übersetz- allee, die an langen Reihen von Mas- ten Reiseführer von 1981 „eine der schönsten sengräbern mit den Jahreszahlen 1941, Stätten Leningrads“ (Kann Umgebung 52). 1942, 1943 vorbeiführt. Gedämpfte Mu- sik schwebt über den Gräbern. Am Ende Wie gigantische Propyläen erheben der Hauptallee erhebt sich das Ehrenmal: sich an beiden Seiten zwei 22geschos- In der Mitte steht auf hohem Sockel die sige Häuser. Die Platzmitte schmückt riesige Bronzeskulptur der Mutter Heimat. ein erhabenes Denkmal für die Helden (Gorys 326) der Verteidigung Leningrads im Großen

helden. heroes. héros. Leningrad als Heldenstadt

Vaterländischen Kriege [....]. Für dieses Leiden des heldenhaften Standhaltens hervor. In 113 Memorial haben sowjetische Menschen diesem Saal erklingen die Schläge eines Metro- über zwei Millionen Rubel gespendet, und noms. Für die Zeitzeugen der Blockade war das an seiner Schaffung haben Hunderttau- ein akustisches Signal, das ihren Blockadealltag sende Leningrader und Gäste der Stadt strukturierte: Im Leningrader Radio wurden Me- mitgearbeitet. Am 9. Mai 1975, dem drei- tronomschläge verwendet, um den Hörern zu ßigsten Jahrestag des Sieges des Sowjet- volkes über Hitlerdeutschland, wurde das zeigen, dass das Radio noch auf Sendung war. Monument eingeweiht. Oft wurde dieses akustische Signal auch einge- 26 Das Denkmal ist dem Süden, den Stellen setzt, um Bombenangriffe anzukündigen. Die der erbitterten Kämpfe um Leningrad, zu- akustische Präsenz des Metronoms im Memori- gewandt. Auf Granitpostamenten stehen alsaal ist nicht nur als Reminiszenz an die Erleb- die Bronzegestalten von Soldaten, Ma- nisgeneration zu sehen, es schlägt medial auch trosen, Landwehrkämpfern und Frauen Brücken zu den jüngeren Generationen, denen – jenen Menschen, die die Stadt gegen dieses Narrativ bekannt war. Die ‚Ploščad’ Po- die faschistischen Landräuber verteidigt bedy‘ mit dem „überwältigenden ‚Monument für haben. Das Kompositionszentrum bildet die Verteidiger Leningrads‘“ (Gorys 325) wird ein 48 m hoher Granitobelisk mit den gol- nicht nur bei Kann erwähnt, sondern auch in denen Jahreszahlen 1941-1945. Am Fuß des Obelisken wachen zwei sieben Meter dem deutschsprachigen Reiseführer von 1988, hohe Statuen ‚Die Sieger‘: ein Arbeiter der den unterirdischen Memorialsaal näher be- und ein Soldat, Symbol der untrennba- schreibt: ren Verbundenheit der Sowjetarmee mit dem Sowjetvolk. Granitstufen führen in Die Wände des unterirdischen Aus- den Memorialsaal unter dem Denkmal, stellungsraumes schmücken zwei Mo­ wo in Bronze und Mosaik sowie durch Ge- sa ­iken: ‚Blockade Leningrads‘, in düste- denkstücke des Krieges Heldentaten der ren Farben und fast erstarrten Formen, Verteidiger der Stadt vor Augen geführt und ‚Sieg‘, farbenfroh und beschwingt. In werden. Marschrouten des Gedenkens dem Ausstellungsraum brennt das Ewige ziehen sich über den Leningrader Boden, Feuer in 900 Leuchtern, für jeden Tag der durch alle Straßen der Stadt. Und sie alle Belagerung ein Licht. (Gorys 325) treffen sich hier, auf dem Platz am Mos- kowski-Prospekt, wo der Granitobelisk ei- Das Denkmal spielt für die Erinnerung an die nen siegreichen Schlussakkord bildet und Leningrader Blockade eine zentrale Rolle: alle die Schläge eines Metronoms durch die Besuchsrouten treffen sich an der ‚Ploščad’ Po- Stille der Zeit klingen. (Kann Umgebung bedy‘. Hier zeigt sich eine deutliche Kongruenz 52) der Wahrnehmungen und Interpretationen der Reiseführer. In der Schweiz, der BRD und in der Das Denkmal ist in ein urbanes Umfeld einge- DDR scheint seit den 1960er Jahren niemand bettet. Es ist umgeben von Wohnhäusern und von den für die Reiseführer Zuständigen an die- den Helden der Verteidigung Leningrads gewid- ser hier präsentierten Darstellung gezweifelt zu met. Die Realisierung des Denkmals scheint auf haben. Dieses Denkmal ist einer der zentralen finanzielle Initiative der städtischen Bevölkerung Erinnerungsorte des Memorialkomplexes ‚Zele- und „Gäste[n] der Stadt“ zustande gekommen nyj Pojas Slavy‘.27 zu sein. Das Denkmal ist in südliche Ausfall- richtung, in Richtung der Front bei den Pulko- Die 200 Kilometer lange Blockadelinie vo-Höhen in einer Art Verteidigungsposition, markiert heute ein ‚Grüner Gürtel des ausgerichtet (Kann Umgebung 48-53). Konkret Ruhmes‘ mit 60 Denkmälern. Das größte Ehrenmal schmückt den ‚Platz des Sie- benannte Verteidiger sind in dem Reiseführer ges‘. (Gorys 240) vor allem militärische Gruppen, unter dem mitt- lerweile veralteten Begriff ‚Landwehrkämpfer‘ An dem 200 km langen Memorialkomplex des wird eine Art Volkswehr [narodnoe opolčenie] ‚Zelenyj Pojas Slavy‘ finden sich unter anderem verstanden. Frauen bilden dabei eine Ausnahme 42 Denkmäler und 5 Panzer. Der Komplex ist ein und sollen vermutlich die Gesamtheit der in der Zeichen des Patriotismus, des Massenheroismus Stadt Verbliebenen darstellen. Der Obelisk ist und des Siegeswillens, der nicht nur von Vetera- das zentrale architektonische Element des Sie- nen besucht wird. Erste Monumente entstanden ges, zu dessen Füßen sich die ‚Siegergruppen‘ schon 1944, es handelte sich vor allem um Ge- befinden. Die Einheit des Sowjetvolkes – hier denksteine an den Schlachtfeldern. Als Erinne- symbolisiert von Arbeiter und Soldat – war ei- rungsort wurde die Linie seit 1961 geplant, der ner der zentralen Integrationsmechanismen der Baubeginn war 1965. Er beinhaltet verschiede- Brežnev-Ära für die sowjetische Gesellschaft. ne Besichtigungsrouten. Eine erste Route führt Der zugehörige Memorialsaal hebt auch die am Blockadering entlang zum Memorialkomplex helden. heroes. héros. Kristina Offterdinger

114 ‚Kirovskij val‘. Weiterhin finden sich ein Obelisk tragischen, aber ruhmreichen Ort, der den hel- bei ‚Ligovo‘ und 900 Birken zur Erinnerung an denhaften Kampf Leningrads versinnbildlicht. die 900 Tage währende Blockade. Die ‚Doroga Die ‚Doroga žizni‘ stellt die Leningrader partiell Žizni‘ hat eine eigene Route (Suknovalov 333- als Opfer dar und wirkt dadurch bei der Bevöl- 348). Zentrales Element und Endpunkt dieses kerung in besonderer Weise identitätsstiftend, ‚Ruhmesitinerars‘ ist das eben beschriebene zusätzlich zum Helden-Mythos (Rusinova 337; Denkmal für die Verteidiger Leningrads auf dem Pavljučenko u. a. 5-8, Ganzenmüller Identitäts- Platz des Sieges. Diese Gedenkstraße wird in stiftung 282; Ganzenmüller Doroga schisni 181- den deutschsprachigen und sowjetischen Reise- 188). führern der 1970er und 1980er Jahre in einem heroisierend-pathetischen Tonfall beschrieben. Das vorne angeführte Zitat ist exemplarisch für diese Äußerungen. Fazit Ein wichtiger Erinnerungsort an dieser Ge- denkroute ist die ‚Doroga žizni‘, ursprünglich eine Leningrad wurde ähnlich wie Minsk und Stalin- Militärstraße, die zur Versorgungs- und Evakuie- grad vom Zweiten Weltkrieg schwer getroffen rungsstrecke der belagerten Stadt über den La- und zog danach seine Identität aus den Kriegs- dogasee mit verschiedenen Stationen am Ufer ereignissen. Durch die zahlreichen Erinnerungs- wurde (Clapperton 54-60). Scheinbar hat die Er- orte und den Heldenstadt-Titel wurde Leningrad innerungskultur dort schier industrielle Ausmaße einerseits zu einer ‚typisch sowjetischen‘ Stadt erreicht. Gedenksteine und Denkmalensembles (Bohn Musterstadt 251-255; Bohn Minsk 319- finden sich an der Ufertrasse teilweise imAb- 333, Arnold). Die Einzigartigkeit Leningrads stand von einem Kilometer. Der Gedächtnisort gegenüber anderen sowjetischen Städten liegt selbst ist eigentlich eine kaum befahrene Land- andererseits in der erinnerungskulturellen Wahr- straße, die zum Ladogasee führt, und eingebet- nehmung als Ort der Oktoberrevolution und als tet in eine natürliche Umgebung. Die Denkmäler Stadt der Blockade. Der Leningrader Mythos stellen eine Art „Interaktion zwischen Skulptur bricht nicht vollständig mit der Vergangenheit. und Natur“ (Ganzenmüller Doroga schisni 177) Dies spiegelt sich in der Wahrnehmung der sow­ dar, wie zum Beispiel das 1966 erbaute ‚Razor- jetischen und der deutschen Reiseführer: Diese vannoe Kol’co‘ [Aufgerissener Ring], das aus Untersuchung fokussiert die Darstellung der Er- zwei Betonstelen besteht, die einen Halbkreis innerungsorte der Nachkriegszeit. Ein Vergleich mit einer Lücke in der Mitte bilden und den auf- der Kapitel der Reiseführer zu den ‚klassischen‘ gebrochenen Blockadering symbolisieren. Diese und eher kunstgeschichtlich interessanten Se- Gedenktrasse ist sowohl ein realer als auch ein henswürdigkeiten Petersburgs/Leningrads ist symbolischer Erinnerungsort. Hier begann die hier in vollem Umfang nicht möglich. Es lässt Eisroute über den See und sie stellt symbolisch sich aber festhalten, dass in der inhaltlichen den Ort des Aufbruchs der Belagerung durch die Darstellung vor allem für die hier verwendeten Rote Armee dar. An diesem Erinnerungsort wird deutschsprachigen Reiseführer die historischen fast nur aktiver Kriegshelden gedacht (Ganzen- Besichtigungsorte im Zentrum noch immer gro- müller Doroga schisni 176-178; Rusinova 344- ße touristische Bedeutung hatten und meist 345). deutlich ausführlicher beschrieben wurden als Bei den an den Evakuierungen beteiligten die hier untersuchten Orte (Nagels Reiseführer Ortschaften finden sich Tafeln mit Informatio- 342-373 und 416-417; Rost 32-33 und 76-112; nen sowie kleinere Museen. Ein Denkmal, be- Schlögel Terror 644; Kennett u. a. 74; Kann Um- stehend aus mehreren etwa 5 Meter hohen gebung 98; Presse-Agentur Novosti 99; Schilling Eisenträgern, symbolisiert ein sowjetisches 75). Die deutschsprachigen Reiseführer spre- Flugabwehrgeschütz. Es steht als Symbol für chen aber ebenfalls in einem oft heroisierend an- die Gefahren, aber auch für die Wehrhaftigkeit mutenden Tonfall über die Kriegsereignisse der der aktiven Verteidiger. Der Denkmalkomplex Jahre 1941 bis 1944 und heben vor allem das ‚Blume des Lebens‘ erinnert an das Schicksal kollektive Heldentum der Bevölkerung hervor: der Kinder in der belagerten Stadt und komme- „Doch die Bevölkerung hielt der Blockade stand. moriert als eines der wenigen Denkmäler die Ihre heroische Haltung brachte der Stadt den Leningrader als passive, unschuldige Opfer. In Leninorden ein.“ (Nagels Reiseführer 335) Die diesem Denkmalkomplex, im Denkmalensem- Blockade, der Zweite Weltkrieg und die Leiden ble auf dem ‚Piskarevskoe‘-Friedhof sowie im der Bevölkerung sind als Themen also nicht auf ‚Pamjatnik Zaščitnikam Leningrada‘ zeigt sich die sowjetischen Reiseführer beschränkt. deutlich die topographische Manifestation des Trotz des implizierten Objektivitätsan­ kollektiven Gedächtnisses. Der Museumsführer spruches der Reiseführer wird oft in den deutsch- ‚Muzej Doroga žizni‘ betont selbst die Trasse als sprachigen Bänden kritiklos die sowjetische

helden. heroes. héros. Leningrad als Heldenstadt

Wahrnehmung übernommen. Aber es wird 5 Siehe von den Hoff u. a. Helden – Heroisierungen – He- 115 bei den westdeutschen Exemplaren und dem roismen 7-14: https://www.sfb948.uni-freiburg.de/e-journal/ ausgaben/012013/helden.heroes.heros.2013-01 (zuletzt Schweizer Reiseführer im Gegensatz zu den auf­gerufen: 06.10.2014). sowjetischen Beispielen und zum Reiseführer 6 Siehe Günther Übermensch 92 und Arnold 8-10. Frevert aus der DDR keine Memorialkette zwischen den 803-812. Zum sozialistischen Helden siehe Gries, Satjukow. Denkmalkomplexen aufgebaut. Es überwiegt bei Karl D. Qualls zeigt das am Beispiel der Heldenstadt Sevas- den westdeutschen und Schweizer Reiseführern topol’. Qualls 132-136. Arnold 11-22, 44, 163-165, 313. eine darstellende und keine wertende Sichtwei- 7 Dieser befindet sich, wie die Aufschrift Gorod-geroj, auf se. Das Gros dieser Reiseführer wirkt meistens der Ploščad’ Vosstanija vor dem Moskovskij vokzal. Weitere rational und neutral formuliert, es überwiegt da- Orden für Leningrad werden bei Lopatina 119 erwähnt. bei eine beschreibende Sichtweise, die der Infor- 8 Russischer Terminus für die Zeitzeugen und Überleben- den der Leningrader Blockade 1941-1944. Zur Historiografie mationsvermittlung zu den entsprechenden Or- über die Leningrader Blockade siehe Lomagin 23-47. Lo- ten dient. Ausnahmen mit einem pathetischeren magin betont dabei, dass die vor allem lokal in Leningrad Tonfall sind dabei die Reiseführer der Presse- betriebene Historiografie den heroischen Aspekt der Blocka- Agentur Novosti und von Bergschicker, die beide de hervorhob, Hunger und Sterben der Bevölkerung aber außer Acht ließ. Damit sollte das kollektive Gedächtnis der auf Vorlagen aus der DDR und der Sowjetunion Stadt neu geprägt werden. Ab den 1960er Jahren kam es zurückgehen. Das sowjetische Eigenverständnis in der Historiografie zur Blockade zu einer Diskussion um ist geprägt von dem Ereignis der Oktoberrevo- die genauen Opferzahlen. Diese Diskussion ist vergleichbar lution und dem ideologischen Selbstverständnis mit jener zu den sowjetischen Opferzahlen im Zweiten Welt- krieg. Zur Quellenlage über die Leningrader Blockade siehe: als erstem sozialistischen Staat. Die sowjeti- Zemskov-Züge, Leben 75-78. Diese offizielle sowjetische Er- schen Reiseführer verfolgen daher ein linear ge- innerungspolitik wurde auch auf die DDR übertragen, siehe haltenes Narrativ, dessen zentrales Element die Ganzenmüller Nebenkriegsschauplatz 7 und 17. Blockade und der Zweite Weltkrieg bilden. Das 9 Ganzenmüller Identitätsstiftung 279. Das trifft vor allem sowjetische Narrativ für Leningrad ist durch die auf die ältere Bevölkerung Leningrads zu, die den Namen Interpretation und Darstellung der Blockadeop- Leningrad mit dem Blockade-Andenken verbinden. Clapper- ton 50, 59. Kirschenbaum Remembering 323. Lebina 407- fer als heldenhafte Verteidiger geprägt: „Indem 409. die Faschisten die Stadt umringten, verurteil- 10 ‚Mythos‘ wird hier als kurzes, dramatisiertes Narrativ ver- ten sie ihre Bewohner zum Hungertod. Aber die standen, welches für die Vergangenheit sinnstiftend verwen- 900tägige Blockade demonstrierte die Größe det wird; siehe dazu Hynes 207. 28 der Seele der Leningrader.“ (Rost 20) 11 Zur Situation der Rückkehrer und Migranten in das Denkmäler sind sowohl Botschaften an die Nachkriegs-Leningrad siehe White 1145-1161. Die Schaf- Nachwelt als auch Überreste der Vergangenheit. fung eines speziellen Bewusstseins erleichterte auch die Die sowjetische architektonische Erinnerungs- Integration ländlicher Migranten in die Stadt. Ganzenmüller Identitätsstiftung 280. Zemskov-Züge, Narrating 200-202. kultur zeigt sich in Parks, Nekropolen und Statu- Ganzenmüller Identitätsstiftung 279. Siehe dazu auch Kus- en, und wird so sakralisiert. Der Sieg im Großen ber 148 und Jahn 10. Vaterländischen Krieg, die Blockade und die da- 12 Zu den aktuellen Tendenzen in der Erinnerungskultur- mit einhergehende Heroisierung wurde als wich- Forschung siehe Winter 363-397. Green 35-44. Zur Be- tigstes Ereignis der Zeitgeschichte verstanden. deutung des Zweiten Weltkrieges für die sowjetische Er- innerungskultur siehe Brunstedt 149-171. Das kollektive Dies diente als Vehikel für Werte, ermöglichte Gedächtnis als umstrittenes Konzept thematisiert Lisa Kir- über die spätere Kodierung der Erinnerung und schenbaum: Kirschenbaum Introduction 97-103. die damit erfolgende Sinngebung der Ereignis- 13 Zum Übergang vom kommunikativen zum kulturellen se Identifikation und Integration und legitimierte Gedächtnis und zur ‚Floating Gap‘ zwischen den Generati- die sowjetische Herrschaftspraxis (Assmann 12, onen siehe Niethammer 25-50 und Arnold 23. Ferretti 45-49, Gudkov 60-64). 14 „В Ленинграде много памятных мест, связанных с историей революционного движения в России, с 1 Zum (meist weniger heroischen) Alltag während der Blo- возниковением первого в мире социалистического ckade siehe Koval’chuk 7-24 und Piankevich 25-64. государства, с героизмом ленинградцев в годы Велокой Отечественной войны.“ Rost 40-41. 2 Eine detaillierte Beschreibung zum Verlauf der Blockade und der kollektiven Aktionen der Leningrader Bürger findet 15 Ganzenmüller Identitätsstiftung 279. Siehe dazu auch sich bei Clapperton 50-52. Zemskov-Züge, Narrating 201. Kusber 148 und Jahn 10. Auch White kommt zu diesem Ergebnis: White 1145-1161. Die individuellen (tragischen) 3 Zwischen 1965 und 1985 bekamen Kiev, Moskau, Kerč’, Erinnerungen der ‚blokadniki‘ fanden in den offiziellen sow- Novorossijsk, Minsk, Tula, Murmansk und Smolensk eben- jetischen Erzählkanon jedoch keinen Eingang. Siehe dazu falls diesen Titel und Brest bekam den Titel ‚Heldenfestung‘ Sobolev 72-73. verliehen. Insgesamt handelt es sich um dreizehn Orte. 16 Im Vergleich zu Stalingrad fielen die Zerstörungen in Le- 4 Zum Beispiel kommt den Heldenstädten bei der Live- ningrad etwas geringer aus. Siehe Kirschenbaum Remem- Übertragung der Siegesparade vom 9. Mai 1965 auf Radio bering 314-319. Auch bei Stalingrad hatte der Wiederaufbau Majak eine besondere Funktion zu. In jeder Heldenstadt gibt eine heroische Komponente, siehe Arnold 233. es eine eigene Parade, zu der im Radio live zugeschaltet wird. Peredača s Krasnoj Ploščadi, posvjaščennaja 20-j 17 Aktuell wird aber vermutet, dass die Leningrader Blo- godovščine so dnja pobedy nad fašistskoj Germaniej 9 maja ckade zwischen 700.000 und 800.000 Opfer forderte. Siehe 1965 g., 1-123. GARF F. R 6903 op. 11 ed. chr. 947. dazu Sobolev 82.

helden. heroes. héros. Kristina Offterdinger

116 18 „После окончания войны встала грандиозная задача Gorys, Erhard. Moskau und Leningrad. Kunst, Kultur und восстановления разрушенных шедевров зодчества.“ Geschichte der beiden Metropolen, des ‚Goldenen Ringes‘ Alešina XLV. und Nowgorods. Köln: DuMont, 1988. 19 „Бережно сохроняя все лучшее, что было создано Grieben-Reiseführer. UdSSR-Reisen. Moskau, Leningrad, предшествующими поколениями, ленинградцы сегодня Kiew, Krim, Schwarzmeerküste. Unionsrepubliken und прилагают большие усилия для того, чтобы город рос, Landschaften. München: Thiemig, 1976. хорошел, благоустраивался.“ Rost 126-127. Grieben-Reiseführer. UdSSR-Reisen. Moskau – Leningrad – 20 „Советские люди гордятся героической историей Kiew, Baltikum, Schwarzmeerküste/Kaukasus, Sowjetisch Ленинграда“, Vernadskij u. a. 5. Mittelasien, Sibirien. München: Thiemig, 1985. 21 „одного из самых замечательных городов нашей Heiss, Karl William, Hg. Goldstadt-Reiseführer. Bd. 32: Le- великой социалистической Родины“, Vernadskij u. a. 5. ningrad. Pforzheim: Goldstadtverlag, 1963. 22 „Крупнейший и культурный центр страны, один из Kann, Pawel. Die Umgebung Leningrads. Reiseführer. Mos- красивейших городов мира, колыбель трех революций, kau: Progress, 1981. город, в котором 40 лет назад началась и победила ---. Leningrad. A Guide. Moscow: Raduga Publishers, 1984. Великая Октябрьская социалистическая революция, город русской славы, город-герой, город замечательных Kennett, Audrey u. a. Die Paläste von Leningrad. München людей, город Ленина – таков Ленинград, таково его u. a.: Bucher, 1974. историческое прошлое.“ Vernadskij u. a. 5. Lopatina, E. Leningrad. Moskva: Geografizdat, 1959. 23 Ähnliches findet sich auch bei Presse-Agentur Novosti Nagels Reiseführer. UdSSR. Genf u. a.: Nagel, 1966. 91. Pavljučenko, V. F. und P. L. Red’kin. Muzej Doroga žizni. 24 Arnold 279-295. Auf dem Marsfeld, in der Nähe des Win- Putevoditel’. Leningrad: Lenizdat, 1978. terpalais, wurden ab 1920 die Opfer der Februarrevolution bestattet. Es dient also in vieler Hinsicht der sowjetischen Presse-Agentur Novosti. Reiseführer durch die Sowjetunion. Begräbniskultur als Vorbild. Übers. von Karl Ziak. Wien: Europa-Verlag, 1965. 25 Der ‚Moskovskij Prospekt‘ ist, wie der Name schon im- Rost, Ju. Foto-putevoditel’ Leningrad. Moskva: Planeta, pliziert, die Ausfallstraße nach Südosten, Richtung Moskau. 1981. Der Prospekt wurde in den 1930er Jahren als sozialistisches Schilling, Heinz-Dieter, Hg. Sowjetunion. Die zentralen Re- Gegenstück zum ‚Nevskij Prospekt‘ in der Altstadt konzipiert publiken Rußland, Ukraine, Weißrußland, Moldawien. und sollte, wie aus den Stadtbauplänen hervorgeht, zu ei- Hamburg: VSA-Verlag, 1989. nem neuen sozialistischen Stadtzentrum werden. Bereits Ende der 1930er Jahre wurden diese Pläne – hauptsäch- Serpokryl, S. M. Leningrad. Putevoditel’. Leningrad: Leniz- lich aus finanziellen Gründen – fallengelassen. Nur Einzel- dat, 1972. elemente, wie der ‚Dom sovetov‘ (Haus der Sowjets/Räte), Suknovalov, A. E. Leningrad. Putevoditel’. Leningrad: Leniz- erinnern noch an die ursprünglich implizierte Bedeutung des dat, 1977. Prospekts. Vernadskij, V. N. u. a. Istoričeskoe prošloe Leningrada. 26 Oft fiel – im Gegensatz zu der offiziellen sowjetischen Leningrad: Gosudarstvennoe ucebno-pedagogičeskoe Darstellung – das Leningrader Radio aber auch tagelang izdatel’stvo, 1958. aus. Siehe Piankevich 28-30. Zum akustischen Erinnern an die Blockade siehe Voronina u. a. 63-74. 27 Zur Rezeption der Blockade in der deutschen Historio- grafie siehe Hass 139-162. Sekundärliteratur: 28 „Фашисты, окружив город, обрекли его жителей Anan’ich, Boris und Alexander Kobak. „St. Petersburg and на голодную смерть. Но 900 дней блокады green space, 1850-2000: an introduction.“ The European продемонстрировали величие духа ленинградцев“. Rost City and Green Space. London, Stockholm, Helsinki and St. 20. Petersburg 1850-2000. Hg. Peter Clark. Aldershot/Burling- ton: Ashgate, 2006: 247-271. Anderson, Benedict. Imagined Communities: reflections on Literatur the origin and spread of nationalism. London: Verso, 2006. Assmann, Aleida. Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: Beck, Archivmaterial: 2006. Arnold, Sabine Rosemarie. Stalingrad im sowjetischen Ge- Peredača s Krasnoj Ploščadi, posvjaščennaja 20-j dächtnis. Kriegserinnerung und Geschichtsbild im totalitä- godovščine so dnja pobedy nad fašistskoj Germaniej 9 ren Staat. Bochum: Projekt-Verlag, 1998. maja 1965 g., 1-123. GARF F. R 6903 op. 11 ed. chr. 947. Bohn, Thomas M. „Das ‚neue‘ Minsk - Aufbau einer sozialis- tischen Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg.“ Handbuch der Geschichte Weißrußlands. Hg. Dietrich Beyrau und Rainer Lindner. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2001: 319- Reiseführer: 333. Bohn, Thomas M.. „Das ‚Phänomen Minsk‘. Sozialistische Alešina, L. S. Pamjatniki iskusstva Sovetskogo Sojuza. Stadtplanung in Theorie und Praxis.“ Städteplanung - Pla- Leningrad i okrestnosti. Spravočnik-putevoditel’. Moskva: nungsstädte. Hg. Bruno Fritzsche u. a. Zürich: Chronos, Iskusstvo, 1986. 2006: 141-155. Bergschicker, Heinz. Leningrad. Stadt, die den Tod bezwang. ---. Minsk – Musterstadt des Sozialismus. Stadtplanung und Frankfurt am Main: Stimme Verlag, 1966. Urbanisierung in der Sowjetunion nach 1945. Köln u. a.: Böhlau, 2008: 251-255.

helden. heroes. héros. Leningrad als Heldenstadt

Brunstedt, Jonathan. „Building a Pan-Soviet Past: The Soviet Kirschenbaum, Lisa. „Remembering and Rebuilding: Le- 117 War Cult and the Turn Away from Ethnic Particularism.“ The ningrad after the Siege from a Comparative Perspective.“ Soviet and Post-Soviet Review 38. 2 (2011): 149-171. Journal of Modern European History 9 (2011): 314-327. Clapperton, James. „The Siege of Leningrad as Sacred Kitaev, Alexei. „Red parks: green space in Leningrad, 1917- Narrative: Conservations with Survivors.“ Oral History 35 1990.“ The European City and Green Space. London, (2007): 49-60. Stockholm, Helsinki and St. Petersburg 1850-2000. Hg. Peter Clark. Aldershot/Burlington: Ashgate, 2006: 289-305. Crowley, David und Susan E. Reid, Hg. Pleasures in So- cialism. Leisure and Luxury in the Eastern Bloc. Evanston: Koval’chuk, V. M. u. a. „Leningrad During the Great Patriotic North­western University Press, 2010. War. Means of Adaptation.“ Russian Studies in History 52 (2013): 7-24. Döring, Jörg und Tristan Thielmann. „Einleitung: Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das geheime Wissen Kusber, Jan. Kleine Geschichte St. Petersburgs. Regens- der Geographen.“ Spatial Turn. Das Raumparadigma in burg: Pustet, 2009. den Kultur- und Sozialwissenschaften. Hg. Jörg Döring und Lebina, Natalja. „Die Leningrader - Gedanken über die Be- Tristan Thielmann. Bielefeld: transcript-Verlag, 2008: 7-45. wohner einer Stadt.“ Sankt Petersburg. Schauplätze einer Ferretti, Maria. „Unversöhnliche Erinnerung. Krieg, Stalinis- Stadtgeschichte. Hg. Karl Schlögel u. a. Frankfurt am Main: mus und die Schatten des Patriotismus.“ Osteuropa 55. 4-6 Campus-Verlag, 2007: 401-414. (2005): 45-54. Lomagin, Nikita. „Fälschung und Wahrheit. Die Blockade in Frevert, Ute. „Vom heroischen Menschen zum ‚Helden des der russischen Historiographie.“ Osteuropa 61 (2011): 23- Alltags‘.“ Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches 47. Denken 63. 724-725 (2009): 803-812. Musekamp, Jan. „Leere Sockel und neue Helden. Stettin und Ganzenmüller, Jörg. „Doroga schisni: Leningrads Lebens- seine Denkmäler 1945-2005.“ Von der ‚europäischen Stadt‘ ader im Zweiten Weltkrieg.“ Sankt Petersburg. Schauplätze zur ‚sozialistischen Stadt‘ und zurück? Urbane Transfor- einer Stadtgeschichte. Hg. Karl Schlögel u. a. Frankfurt am mationen im östlichen Europa des 20. Jahrhunderts. Hg. Main: Campus-Verlag, 2007: 175-189. Thomas M. Bohn. München: Oldenbourg, 2009: 175–201. ---. „Identitätsstiftung und Trauerarbeit: Sowjetische Konti- Niethammer, Lutz. „Diesseits des ‚Floating Gap‘. Das kol- nuitäten in der russischen Erinnerung an die Belagerung lektive Gedächtnis und die Konstruktion von Identität im Leningrads.“ Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im wissenschaftlichen Diskurs.“ Generation und Gedächtnis. neuen Russland. Hg. Lars Karl und Igor J. Polianski. Göt- Erinnerungen und kollektive Identitäten. Hg. Kristin Platt tingen: V&R unipress, 2009: 271-285. und Mihran Dabag. Opladen: Leske+Budrich, 1995: 25-50. ---. „Nebenkriegsschauplatz der Erinnerung. Die Leningrad- Panagiotidis, Jannis. „Die Spuren der Blockade.“ Sankt Blockade im deutschen Gedächtnis.“ Osteuropa 61 (2011): Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte. Hg. Karl 7-21. Schlögel u. a. Frankfurt am Main: Campus-Verlag, 2007: 243-256. George, Arthur L. St. Petersburg. Russia’s Window to the Fu- ture. The First Three Centuries. London u. a.: Taylor Trade, Piltz, Eric. „‚Trägheit des Raums‘. Fernand Braudel und die 2003. Spatial Stories der Geschichtswissenschaft.“ Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissen- Green, Anna. „Individual Remembering and ‚Collective Mem- schaften. Hg. Jörg Döring und Tristan Thielmann. Bielefeld: ory‘: Theoretical Presuppositions and Contemporary De- transcript-Verlag, 2008: 75-102. bates.“ Oral History 32. 2 (2004): 35-44. Piankevich, V. L. „Rumors in Leningrad During the Blocka- Gries, Rainer und Silke Satjukow. ‚Wir sind Helden‘. Utopie de.“ Russian Studies in History 52 (2013): 25-64. und Alltag im Sozialismus. Erfurt: Landeszentrale für Politi- sche Bildung Thüringen, 2008. Qualls, Karl D. „Who Makes Local Memories? The Case of Sevastopol after World War II.“ The Soviet and Post-Soviet Gudkov, Lev. „Die Fesseln des Sieges. Rußlands Identi- Review 38. 2 (2011): 130-148. tät aus der Erinnerung an den Krieg.“ Osteuropa 55. 4-6 (2005): 56-72. Rusinova, Ol’ga. „Dolgovečnee kamnja i bronzy: obrazy blokady v monumental’nych ansambljach Leningrada.“ Günther, Hans. Der Sozialistische Übermensch. Maksim Pamjat’ o blokade. Svidetel’stva očevidcev i istoričeskoe Gor’kij und der sowjetische Heldenmythos. Stuttgart u. a.: soznanie obščestva. Hg. Evgenij Permjakov. Moskva: No- Metzler, 1993. voe izdatel’stvo, 2006: 335-364. ---. „Der Held in der totalitären Kultur.“ Agitation zum Glück: Rüthers, Monica. „Auf dem Weg nach Leningrad: Der Mos- sowjetische Kunst der Stalinzeit. Hg. Alisa B. Ljubimova kowskij Prospekt.“ Sankt Petersburg. Schauplätze einer und Hubertus Gassner. Bremen: Ed. Temmen, 1994: 70-75. Stadtgeschichte. Hg. Karl Schlögel u. a. Frankfurt am Main: Hass, Gerhard. „Die deutsche Historiografie über die Belage- Campus-Verlag, 2007: 159-172. rung Leningrads (1941 – 1944).“ Zeitschrift für Geschichts- Schlögel, Karl. „Chronotop St. Petersburg: Zur Rekonstruk- wissenschaft 54 (2006): 139-162. tion der Geschichte einer europäischen Metropole.“ Sankt Hynes, Samuel. „Personal Narratives and Commemoration.“ Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte. Hg. Karl War and remembrance in the twentieth century. Hg. Jay Schlögel u. a. Frankfurt am Main: Campus-Verlag, 2007: Winter und Emmanuel Sivan. Cambridge: Cambridge Uni- 23-44. versity Press, 1999: 205-220. ---. Terror und Traum. Moskau 1937. München: Hanser, Jahn, Peter, Hg. Triumph und Trauma. Sowjetische und post- 2008. sowjetische Erinnerung an den Krieg 1941-1945. Berlin: Sobolev, G. L. „Blokada Leningrada: postiženie pravdy.“ Links, 2005. Modern History of Russia (Novejšaja istorija Rossii) 2. 4 Kirschenbaum, Lisa. „Introduction. World War II in Soviet and (2012): 72-88. Post-Soviet Memory.“ The Soviet and Post-Soviet Review 38. 2 (2011): 97-103.

helden. heroes. héros. Kristina Offterdinger

118 von den Hoff u. a. „Helden – Heroisierungen – Heroismen.“ helden. heroes. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroi- schen 1 (2013): 7-14. https://www.sfb948.uni-freiburg.de/e- journal/ausgaben/012013/helden.heroes.heros.2013-01 (zuletzt aufgerufen: 06.10.2014). Voronina, Tat’jana u. a. „Tonspuren der Leningrader Blo- ckade. Erinnerungen und Erinnerungspolitik.“ Akustisches Gedächtnis und Zweiter Weltkrieg. Hg. Robert Maier. Göt- tingen: V&R unipress, 2011: 63-74. Winter, Jay. „The Generation of Memory: Reflections on the ‚Memory Boom‘. Contemporary Historical Studies.“ Archi- ves & Social Studies: A Journal of Interdisciplinary Re- search 1. 0 (2007): 363-397. White, Elisabeth. „After the War was over: The Civilian Re- turn to Leningrad.“ Europe-Asia Studies 59. 7 (2007): 1145- 1161. Zemskov-Züge, Andrea. „Narrating the Siege of Leningrad. Official and unofficial Practices in the Memorialization of the ‚Great Patriotic War‘. Unsettling history. Archiving and nar- rating in historiography. Hg. Sebastian Jobs und Alf Lüdtke. Frankfurt: Campus-Verlag, 2010: 199-217. ---. „Leben und Sterben in Leningrad. Quellen zum Alltag während der Blockade.“ Osteuropa 61 (2011): 75-78.

helden. heroes. héros. DOI 10.6094/helden.heroes.heros./2014/02/09

Ulrike Zimmermann 119

John Harrison (1693-1776) and the Heroics of Longitude

1. A Symposium and a Rediscovery bestseller, and Dava Sobel embarked on a car­ eer as a well-known and respected author of 2 When American journalist Dava Sobel attended popular science books. the Longitude Symposium of Harvard Univer­ Dava Sobel’s first subject already was his­ sity at Cambridge, Massachusetts, in November tory, albeit part of an unaccountably hidden or 1993, she did not expect anything decisive to at least underrated history. John Harrison was a come out of either the conference or her attend­ carpenter and self-taught clockmaker, who was ance. “500 people from seventeen countries” born in Yorkshire and spent his early life in Bar­ came together to hold “a conference about the row-upon-Humber, North Lincolnshire. He would history of finding longitude at sea,” W. H.An­ prob­ably have spent his life in obscur­ity had he drewes, curator of the scientific instruments col­ not solved one of the major techno­logical prob­ lec ­tion at Harvard, notes in his introduction to lems of his time, the problem of how to determine the conference proceedings (Andrewes, Intro­ a ship’s east-west position, its longitude, at sea. duction 1). Despite the sizable number of par­ Harrison has a firm place in the his­tory of navi­ ticipants, the Longitude Symposium was at first gation, and would have been known amongs­t sight a convention of specialists sharing their horologists, clock and watch makers, and nava­l knowledge and discussing finer points of their historians. The general pub­lic, how­ever, be­ academic work, not a convention to arouse grea­t came acquainted with John Harrison and his public interest. This particular symposium, how­ major achievements through the publication of ever, triggered a series of cultural products and Sobel’s Longitude. In its wake came more cul­ events which disseminated specialist knowledge tural products dealing with John Harrison’s life to many people who had not necessarily been and work: Longitude was adapted as a TV mini interested in the history of longitude before. Out series and broadcast in 2000. The National Mari­ of the whole process emerged a new tale of her­ time Mu­seum in London produced a documen­ oism with an unlikely protagonist who is anything tary on Harrison and his timekeepers [which are but conventionally heroic, and who had been housed in the Royal Observatory] in 2001 and is dead for more than 200 years at the time of the commemorating the tercentenary of the estab­ Longitude Symposium: John Harrison [1693- lishment of the Board of Longitude with a series 1776], the inventor of the first reliable marine of exhibitions: Ships, Clocks & Stars: The Ques­t timekeeper. for Longitude [July 2014-January 2015] and Dava Sobel had been asked to write an art­ Longitude Punk’d [April 2014-January 2015]. In icle on the Longitude Symposium for the Harvard 2006, John Harrison received a public memor­ Magazine. Although it became the cover story, it ial in Westminster Abbey, which was unveiled by did not receive much attention from its readers.1 Princ­e Philip. As it turns out, Harrison is enjoy­ But then Sobel was approached by the owner ing a stellar career cen­turies after his death: He of a publishing house, George Gibson of Walker developed from a specialist with an excellent Books, who suggested she should turn her sub­ reputation and a place in the history of science, ject into a full-length book – which she duly did. whose contribution to modern-day navi­gation The rest is, as the saying goes, history: Sobel’s was spectacular, but who was known only to a first book Longitude: The True Story of a Lone scientific community, to a public, even popular th Genius Who Solved the Greatest Scientific Prob­ character in the late 20 century. In the BBC pro­ lem of His Time came out in 1995 to become a gramme 100 Greatest Britons of 2002, Harrison came out 39th (cf. The Top 100 Great Britons).

helden. heroes. héros. Ulrike Zimmermann

120 This case study will attempt to shed light on how solving the longitude problem, he made inven­ an unassuming eighteenth-century craftsman tions which had a lasting impact on clockmaking: has in the recent past become the central fig­ the gridiron pendulum, welded together out of ure of a story of heroism, which unfolded across different metals in order to compensate for tem­ a variety of media. It will be suggested that the perature changes; the bi-metallic strip, used in attribution of heroic characteristics made John clocks to similar effect, and the grasshopper es­ Harrison more easily accessible and also more capement, an escapement with very low friction. attractive to a wider audience. His heroic feat was This list points to the fact that Harrison’s work finding the solution to a highly specific prob­lem has specialist appeal at best, but not necessar­ of technology, which turned out to revolutionise­ ily heroic qualities. Despite his good results and navigation and largely contributed to the creation enormous skills, it took Harrison four decades to of the naval power Britain has been for centuries. convince the scientific community of the quality John Harrison’s life and work are not necessarily and reliability of his clocks.3 the stuff heroes are made of, but on closer scru­ In 1714, the British Parliament had, by pass­ tiny contain elements which have the potential ing the so-called Longitude Act, established for a remarkable narrative. The historical­ facts a Board of Longitude. A prize of £20,000 was known about him speak of an interesting person­ offered to anybody who would invent a practic­ ality. Arguably, giving John Harrison an elevated, able method of establishing longitude aboard potentially heroic status has elements of narra­ ship. The hopeless inaccuracy of current lon­ tive emplotment in the sens­e used by Hayden gitude determination had by this time, with the White. It is suggested that with­out Dava Sobel’s expansion of the British Empire and the naval initial narrative approach, which earlier accounts requirements of war as well as trade, become of Harrison lacked, his life and achievements the bane of the naval community. In fact, the would not have gained such a strong appeal for Longitude Prize was largely the consequence of so many. As Dava Sobel may not have been the the naval disaster off the Isles of Scilly in 1707, first to discover this potential, but was certainly when an estimated 2000 men drowned as Ad­ the first to exploit it [in both the positive and the miral Sir Cloudesley Shovell4 and his fleet were negative sense of the word], her book will be the returning from action in the War of the Spanish focus of this analysis, including a close reading Succes­sion. Four ships from Shovell’s fleet ran of some of Sobel’s textual strat­egies. The John aground on rocks off the Isles of Scilly. Due to Harrison phenomenon crosses a variety of text­ bad weath­er and a miscalculation of the position ual and visual media, moving into film and exhib­ of the fleet, and despite all qualified, state-of-the- itions, which will be taken into account as well. art attempts at reckoning [Shovell had sensed the danger and consulted all of his navigators] the sailors had not realised how close they were to the Isle of Scilly, but thought they were west 2. John Harrison, Clockmaker of the Ile d’Oussant [Brittany], which would have – A Brief Overview meant a safe passage to the harbour of Ports­ mouth. Losing so many men and ships practical­ John Harrison’s invention of the marine chro­ ly at Britain’s doorstep, in one of the worst naval nometer with which it became possible to deter­ disasters in British history, apparently had polit­ mine a ship’s longitude while at sea with a de­ icians finally springing into action. Andrew King gree of certainty, revolutionised navigation. As describes the dimensions of the problem and the the son of a carpenter, Harrison’s initial material solution as follows: of choice was wood, and in fact, his first clocks – hardly conceivable today – were wooden clocks. The immense awards offered under the As there was no community of clockmakers in Act are testimony to the urgency of the Barrow-upon-Humber, it is unknown how Harri­ problem. […] Under the terms of the Act, son came into contact with this particular craft. in order to obtain the full £20,000 it was re­ quired that the method, whatever it might He was certainly a well-trained carpenter, but a be, must determine longitude to within a self-taught clockmaker. Initially, John Harrison distance of 30 miles during a voyage from worked on his own. He must have been an ex­ England to the West Indies. To achieve tremely patient craftsman with touches of the this, a mechanical timekeeper would have DIY tinkerer, who over his lifetime produced, to be accurate to within a total of just two amongst other clocks, different marine chronom­ minutes during the proposed six-week eters [now specified as H1 to H5], each more trial. Every clockmaker knew that this was advanced than its predecessors. On his way to impossible with the technology then avail­ able. (King 168)

helden. heroes. héros. John Harrison and the Heroics of Longitude

It is unknown how and when John Harrison trappings: It announces a true story, which has 121 heard about the Longitude Prize. He had started a special appeal and also attracts readers who out by making sophisticated wooden clocks and want solid facts and steer clear of fiction. Harri­ then turned his creativity and skill towards a reli­ son is described as a loner, a quality which will be able marine timekeeper, an incredibly ambitious debated later in this case study, and as a genius. project for a man of his background (see King)5. The latter is an impressive attribute, raising him After four decades of struggle and the devel­ above the average person and stirring curiosity. opment of various types of timekeepers, which This gives the longitude problem a superlative to were road-tested [or rather sea-tested] by the add to the spectacular promises of the title. Board of Longitude, it was only towards the end Sobel’s first chapter is accordingly designed of his long life that John Harrison finally achieve­d to draw the reader in, as she reminisces about recognition for his work. However, this happened her fascination as a child with a beaded wire only after King George III interceded on Harri­ ball which reminded her of the lines on a globe son’s behalf, having come to the conclusion that (Sobel, Longitude 2). The chapter proceeds to the clockmaker had been treated unfairly by the inform the reader about the problems of deter­ Board of Longitude. Members of the Board, above mining latitude and longitude when at sea, with all the Royal Astronomer Sir Nevil Maskelyne, longitude being the far more complex problem, were highly sceptical towards Harrison’s clocks. as it requires a reliable time-keeping method. One of the main problems seems to have been “Any sailor worth his salt can gauge his latitude the question of reproducibility of the timekeep­ well enough by the length of the day, or by the ers, as the longitude solution was required to be height of the sun or known guide stars above the practical. Behind the hesitation to give Harrison horizon.” (Sobel, Longitude 4) Most of Sobel’s the longitude award one need not necessarily im­ landlubbing readers, including the writer of this agine personal antagonism on Maskelyne’s part. article, had probably never thought about the However, Maskelyne certainly was no support­ var­ious degrees of complexity determining lati­ er of Harrison, as he favoured the competing tude and longitude since their geography les­sons method of lunar distance measuring. It is also at school. The idea of educating the readers as striking that the timekeepers put on trial under his well as entertaining them is palpable throughout aegis never seemed to perform satisfactorily.6 In Sobel’s text. This is her concise description of the end, Harrison did get financial remuneration, the problem, worth being quoted in full: but the prize itself was never officially awarded to anybody. These are, in brief, the skeletal facts of The measurement of longitude meridians, Harrison’s life and achievements. in comparison, is tempered by time. To learn one’s longitude at sea, one needs to know what time it is aboard ship and also the time of the home port or another place 3. Dava Sobel’s Longitude of known longitude - at the very same mo­ ment. The two clock times enable the navi­ Dava Sobel’s book on the longitude problem and gator to convert the hour difference into a on John Harrison’s solution fleshes out thes­e geographical separation. Since the Earth facts. It is a mixture of popular science and biog­ takes twenty-four hours to complete one raphy, proceeding chronologically,7 from earl­y full revolution of three hundred sixty de­ navigation to the mass production of marine grees, one hour marks one twenty-fourth chronometers for the British Navy. The book of a spin, or fifteen degrees. And so each hour’s time difference between the ship is framed by two personal experiences of So­ and the starting point marks a progress bel: opening with a memory of a toy she owned of fifteen degrees of longitude to the east and closing with her in the Royal Observatory, or west. Every day at sea, when the navi­ finally face to face with Harrison’s clocks and gator resets his ship’s clock to local noon “re­duced […] to tears.” (Sobel, Longitude 174) when the sun reaches its highest point in She clever­ly inscribes her own history into the the sky, and then consults the home-port histories of Harrison and the longitude problem, clock, every hour’s discrepancy between adding personal appeal to her book. Sobel offers them translates into another fifteen ­de digestible and well-written explanations for the grees of longitude. (Sobel, Longitude 4-5) technical problems behind the determination of longitude and also includes navigational history. Imagining the conditions aboard ship [the mo­ Interest­ingly, John Harrison does not figure quite tion, the salty humidity, the changes in tem­ as large­ly in the book as the spectacular sub­title perature and pressure], it is easily conceivable may lead readers to expect. The True Story of that clocks – a high-tech luxury good at the time a Lone Genius Who Solved the Greatest Scien­ anyway – did not necessarily come to mind as a tific Problem of His Time has all the popular solution to the determination of longitude. There

helden. heroes. héros. Ulrike Zimmermann

122 were several competing methods, with the lunar academic thought can sometimes impose distance method8 the most promising of them: on novel ideas. (Andrewes, Introduction 5) It was already being [more or less] success­fully employed by navigators and endorsed by Sir What was, according to Sobel, a difficult start Isaac Newton (cf. Andrewes, Even Newton 190- to Harrison’s career, can hence be read as an 191). Newton retained his conviction that astro­ advantage for him. In the last paragraph of his nomical reckoning, if only improved enough and article, Langley suggests that Harrison’s contri­ made less prone to error by better astronomical­ bution to British culture is underrated at the time tables and instruments (cf. Sobel, Longitude 60), of writing, the 1970s. would be the ultimate solution to the longitude problem. That he was proved wrong not by a fel­ To associate John Harrison with the size low scientist but by John Harrison the carpen­ and ubiquity of the British Empire, and therefore of our culture and influence, may ter continues to astonish after centuries. Sobel be an extravagant thought; but it would picks up on this in her book: “Newton died in not be difficult to develop such a case and 1727, and therefore did not live to see the great so raise him from his relative obscurity on longitude prize awarded at last, four decades this, the two hundredth anniversary of his later, to the self-educated maker of an oversized death. (Langley 823) pocket-watch.” (Sobel, Longitude 60)9 She is certainly giving her readers a sense of the pro­ After Langley’s text, it would take almost twenty portions here: John Harrison’s personality is in­ years more until John Harrison finally achieved deed somewhat anti-climactic in relation to his heroic dimensions at Dava Sobel’s hands. Sobel achievements. is a master of superlatives and striking imagery, In the early eighteenth century, an alterna­ with which she manages to convey her enthusi­ tive to the dominant lunar distance method, asm for her subject. Harrison’s difficult path to propound­ed by a self-taught craftsman from the success reads like the following in Longitude: country, would conceivably be difficult to push to the fore­front. This situation is the basis for Harrison, a man of simple birth and high a very unusual story, though not necessarily a intelligence, crossed swords with the lead­ ing lights of his day. He made a special hero ­ic one. John Harrison is an unlikely hero. enemy of the Reverend Nevil Maskelyne, Interestingly, there is one instance before So­ the fifth astronomer royal, who contest­ bel in which Harrison is at least named a hero, ed his claim to the coveted prize money, if not necessarily set up as one: In 1976, on the and whose tactics at certain junctures can occasion of the bicentenary of Harrison’s death, only be described as foul play. (Sobel, Michael Langley calls him “the hero of longitude” ­Longitude 8-9) in History Today. In keeping with the magazine’s general style, stressing information value over This is a sensational, melodramatic narrative entertainment, but still making specialist ­top­ics with semantic choices which would be equally accessible to a general, interested public, Lang­ suitable for a pirate story. It is interesting that So­ ley’s article is unspectacular in its tone, not ne­ bel lays open her methods and disingenuously cessarily honouring the promise of its title. How­ reveals her strategy of heroisation to the reader: ever, Langley does think that John Harrison has “A story that hails a hero must also hiss at a vil­ not been appreciated enough by posterity. He lain – in this case, the Reverend Nevil Maskelyne sees Harrison’s training as a carpenter rather as […]. In all fairness, Maskelyne is more an anti­ an advantage, as he would have been aware of hero than a villain, probably more hardheaded the properties of wood and possibly also metal than hardhearted.” (Sobel, Longitude 111) The under various conditions (Langley 821). On a traditional play of protagonist versus antagonist more general level, Andrewes as well argues is at work here, and Sobel does her best to en­ that Harrison’s position as a self-taught outsider hance it. Despite her disclaimer, she proceeds to of horology might actually have been an advan­ cast Maskelyne in the role of the villain, provid­ tage, as he would have been able to approach ing readers with information bound to establish the longitude problem with a fresh and unbiased emotional barriers between themselves and the mind: character of Maskelyne.

Solutions to problems do not always come Maskelyne was born on October 5, 1732. from expected sources, but from unknown This made him about forty years young­ individuals in remote areas who, being er than John Harrison, although he never imbue­d with a passion and determin­ation seemed to have been young. […] Family letters refer to his older brothers, William to succeed, can approach the problem and Edmund, as ‘Billy’ and ‘Mun,’ and call with­out the restricted vision that traditional his younger sister, Margaret, ‘Peggy,’ but

helden. heroes. héros. John Harrison and the Heroics of Longitude

Nevil was always and only Nevil. Unlike 19 years to build, still has the size and shape of 123 John Harrison, who had no formal educa­ its predecessors – sizable and rather unwieldy tion, Nevil Maskelyne attended Westmin­ sea clocks – H 4 is an entirely different matter: it ster School and Cambridge University. is a watch.12 This is largely due to the influence of (Sobel, Longitude 112-113) a gifted clockmaker, John Jefferys, a member of Is this hinting at an emotionally cold and nar­ the Worshipful Company of Clockmakers. row-minded personality? Dava Sobel’s choice of 10 In 1753, Jefferys made Harrison a pocket words certainly produces the impression. watch for his personal use. He obvious­ Harrison’s skill and patience enabled him to ly followed Harrison’s design specifica­ prevail in the end against all technological and tions, for Jefferys fitted the watch with a human odds. tiny bi-metallic strip to keep it beating true, come heat or cold. […] Some horologists Perfection of the two methods [lunar dis­ consider the Jefferys timepiece the first true tance and timekeeping] blazed parallel precision watch. (Sobel, Longitude 105) trails of development down the decades from the 1730s to the 1760s. Harrison, ever the loner, pursued his own quiet course This is once again an instance in which Harrison, through a maze of clockwork machinery, although depicted as stubborn and single-mind­ while his opponents, the professors of as­ ed, was willing to collaborate if the situation re­ tronomy and mathematics, promised the quired it and was not hesitant to learn, and to moon to merchants, mariners, and Parlia­ expand his skills. With Jefferys and his expert­ ment. (Sobel, Longitude 89) ise, he had struck gold, as Sobel notes. “This watch proved to be remarkably dependable. This is the image of an underdog fighting the Harrison’s descendants recall that it was always academic establishment. In fact, Harrison was in his pocket. It occupied his mind, too, shrink­ not quite as alone as Sobel represents him here. ing his visio­n of the sea clock.” (Sobel, Longi­ He worked initially with his brother, later with tude 105). The results of this thought process is his son, and he gained a formidable mentor in H 4, which looks like a large pocket watch and George Graham [who also gave him a loan to bears no outward resemblance to H 1-3. This is actually build the clock] after he had developed the timekeeper which finally fulfilled the require­ the design for H1 (see King 182-183, Taylor and ments, performing well on a trip to Jamaica and Wolfendale 57). Graham was one of the lead­ back in 1762. The moment of suspense in the ing makers of scientific instruments at the time. charting of John Harrison’s path to heroic fame, Sobel herself notes that “[t]he Royal Society […] how ­ever, is largely due to the hesitant members rallied behind Harrison all through these trying of the Longitude Board, above all Maskelyne, years. His friend George Graham and other ad­ who had become Astronomer Royal in 1765. miring members of the society insisted that Har­ Maskelyne turned out to be, “[…] as Harrison no rison leave his workbench long enough to accept doubt predicted, his nemesis […].” (Sobel, Lon­ the Copley Gold Medal on November 30, 1749.” gitude 129) The Board demanded Harrison give (Sobel, Longitude 101) John Harrison’s skills up H4 for extensive testing and explain its com­ never failed to impress those he met, although plete design, and the manufacture of two copies, it is maybe natural that highly qualified crafts­ and they also requisitioned all the preceding sea men could recognise his achievements more clocks. “Imagine Harrison’s reaction when he easily than scientists.11 The report by Taylor and learned that his treasure, H-4, having lan­guished Wolfendale recounting Harrison’s achievements many months in a lonely tower at the Admiralty, on the occasion of the public memorial in 2006 had been delivered into the hands of his arch­ claims him for the Royal Society, stressing the enemy.” (Sobel, Longitude 135-136) Maskelyne Society’s role in his appreciation even in the title: was now chiefly responsible for all tests, and it is John Harrison: Clockmaker and Copley Medal­ part of the appeal of the story of antagonism that ist. A Public Memorial at Last. It can be read as Harrison’s watches never seemed to perform an attempt to write him back into the Society’s well at his hands. Dava Sobel calls her relevant history – now that Harrison has heroic status, chapter Trial by Fire and Water, echoing medi­ he becomes a contested figure once more, this eval ordeals as well as Mozart’s Magic Flute, thus time in a different way: various communities semantically investing the clocks, their invent­ make their claims upon the hero and his deeds. or, and their detractor with mystical properties. The ‘lone genius’ was part of professional com­ Nonetheless, James Cook, having successfully munities and took inspiration from them dur­ completed his second voyage with sauerkraut ing his lifetime. Apart from his interactions with against scurvy and K-1, a copy of H-4 by Larcum the Roya­l Society, Harrison profited from fellow Kendall, was satisfied with Harrison’s product. At craftsmen in London. While H 3, which took him 79, with the help of his son, Harrison managed

helden. heroes. héros. Ulrike Zimmermann

124 to interest King George III in his matter, and he eminently readable. Although she writes non-fic­ finally received £8,750. This is the conclusion of tion, she leans towards imbuing her topic with Sobel’s brief biography at the beginning of Longi­ mythical elem­ents, making Harrison the protag­ tude: “An aged, exhausted Harrison, taken under onist in epic battles against the elements and his the wing of King George III, ultimately claimed detractors. Longitude has been an overwhelm­ his rightful monetary reward in 1773 – after forty ing success, probably surprising its author most struggling years of political intrigue, international of all. It was translated into more than twenty warfare, academic back­biting, scientific revolu­ languages and frequently reprinted, before a 10th tion, and economic upheav­al.” (Sobel, Longitude anniversary issue with an introduction by Neil 9-10) Armstrong was published. There is also an illus­ The satisfaction at John Harrison’s ground­ trated edition co-authored with W. J. H. Andrew­ breaking invention being recognised at last is es (cf. Sobel, Official Bio). palpable and conveys itself to the reader. In the long process towards a solution to the longitude problem, there was much suffering, which So­ bel’s narrative keeps insisting on. The victims of 4. After Sobel’s Longitude: the Isles of Scilly disaster become “two thousand A Harrison Trend martyrs to the cause,” (Sobel, Longitude 16) and of course John Harrison himself “held martyr From then on, the John Harrison phenomenon status among clockmakers” by the time he died snowballed. As early as 1998, a ‘Nova’ episode (Sobel, Longitude 152). Longitude makes use of with the title Lost at Sea: The Search for Longi­ imagery setting the good against the evil forces,­ tude was aired in the U.S. It is explicitly based and John Harrison’s patient struggles take on on Sobel’s bestseller, mixing modern-day recre­ a quasi-religious quality, although instances in ations of historical navigation, statements from which Sobel employs openly religious diction Sobel and nautical experts, and enacted scenes are rare. It speaks to Sobel’s gift as a writer that from Harrison’s life. The programme’s Harrison she introduces her book with a brief life of Harri­ voices contempt for the academic community he son and still manages to hold readers’ interest in is up against and suggests that the astronomers­ him and the longitude problem. In the final parts on the Longitude Board, accustomed to stel­ of Longitude, she traces the way to mass pro­ lar tables for reckoning, were frightened by his duction of marine timekeepers and their rapid mech­anics. spread within the naval community in the dec­ In a four-part TV mini series, which was ades after Harrison’s death. Almost as an aside, broadcast in the UK and the U.S., Granada Pro­ she finally states that “[i]ndeed, some modern ductions adapted Sobel’s book in 2000, with horologists claim that Harrison’s work facilitated Jeremy Irons and Michael Gambon in starring England’s mastery over the oceans, and there­ roles. Irons plays Rupert T. Gould, a British by led to the creation of the British Empire – for naval officer who in the 1920s restored Harri­ it was by dint of the chronometer that Britannia son’s timekeepers and by virtue of this work be­ ruled the waves.” (Sobel, Longitude 152-153) came one of the most important horologists. He Less nonchalantly, both Langley and Bailey end is briefly mentioned in Sobel’s Longitude, when their essays noting that John Harrison contri­bu­ the reader all of a sudden gets the sense that ted significantly to colonial expansion, and An­ history might be repeating itself. drewes puts the driving forces in a nutshell in his introduction to the Longitude Symposium: “Had Gould, a man of great sensitivity, was power and profit not been found in exploration, so appalled by this pitiful neglect that he colonization, and trade, finding longitude might sought permission to restore all four (the three clocks and the Watch) to working never have been regarded as a serious prob­ order. He offered to do the work, which lem.” (Andrewes, Introduction 2) Here, the topic took him twelve years, without pay, and is no longer mechanical finesse or astronomy, despite the fact that he had no horological but the question of who rules the world: the na­ training. (Sobel, Longitude 170-171) tive turf of heroes.13 Sobel’s narrativisation of John Harrison’s life Once again, an unlikely protagonist appears in connection with the longitude problem is the on the scene of naval timekeeping and fights starting point of his achievement of heroic sta­ against all odds for the mission he has on his tus and popular appeal. Sobel manages to bring mind. While Gould appears to have been a very out the spectacular and unusual about her sub­ different character from Harrison, they share ject, and she seems to find the right language a sense of commitment and a tenacity which to make his specialist project accessible and marks them both as somewhat out of the ordin­ understandable. The language of her book is ary.14 When Sobel remarks that “[t]ragic events

helden. heroes. héros. John Harrison and the Heroics of Longitude in Gould’s own life inured him to the difficulty of memory culture. Dava Sobel recounts how she 125 the job he had volunteered for,” (Sobel, Longi­ was approached by a descendant of Harrison tude 171) the potential for drama once again about supporting a petition to commemorate be­comes apparent. The TV programme partly Harrison in Westminster Abbey after the publi­ capitalises on this, but does not become quite cation of her book in Britain (Sobel, Longitude, as melodramatic as may have been expected. It Appendix 8-9; Sobel, Road to the Abbey). In the narrates two convincingly interwoven tales: John course of her efforts, she awakened the interest Harrison’s life is remembered, in parts even of Sir Arnold Wolfendale, the 14th Astronomer staged as a dream, by Rupert T. Gould when Royal, who gave momentum to the project. In he is in the process of restoring and protecting Taylor and Wolfendale’s report in the Notes and the timekeepers. Gould’s unstable mental con­ Records of the Royal Society, they concede that dition – he suffered from depression and several it was Sobel’s Longitude which had made John nervous breakdowns – is linked with the night­ Harrison famous more than 200 years after his mare of Harrison’s struggle and futile attempts death (53), although they firmly locate his work to convince the Board. While always sympathet­ in the context of the Royal Society.16 ic, Michael Gambon’s Harrison has touches of As mentioned above, the National Maritime the fanatic, which is for instance conveyed when Museum has two special exhibitions to honour his son William, at 40, suggests that Harrison the Longitude Board, John Harrison, and his always was more emotionally bound-up in his achievements. It may be questionable whether clocks than in his children (Longitude, 00:01:11). Harrison would have approved of being cele­ The journey to recognition by the Board of Lon­ brated along with the Board, with whose mem­ gitude becomes, for Harrison, also a journey to­ bers he had so many difficulties. Ships, Clocks wards a better understanding with his grown-up & Stars: The Quest for Longitude relates the lon­ son late in life, thus adding human interest to the gitude problem and celebrates the beauty and story. The film effortlessly intertwines the two time sophistication of the timekeepers.17 The exhib­ periods: a good example is Gould’s desperate ition trailer is dramatic and abounds with super­ race to save the clocks when they are moved out latives, even surpassing Sobel’s style (cf. Ships, of London in preparation for the Second World Clocks & Stars website). The trailer begins with War, and Harrison’s equally desperate, though an enumeration of the ‘greatest minds’, placing more resigned, dismantling of H 4 to prove its Harrison in a line with Galileo Galilei and Isaac quality to the Board (Longitude, 01:17), which Newton. The images are largely dark, first show­ are set in parallel. With all his shortcomings, the ing a starry sky, then an animated sequence of film’s Harrison is the epitome of a scientist, pre­ a ship at night on a stormy ocean, with the inset senting the Board with an even better idea for text “Lost, no way home, risking ships, risking a clock balance after they have just decided to lives.”18 The same image of a threateningly dark postpone the decision yet another time (Longi­ and empty sea, in a sparsely lighted room, on a tude, 00:01:39). Gould is recognised not simply huge screen, is the first to greet visitors of the ex­ as a man of many arcane interests, but also as hibition. To this visitor, this initial stress on effects the first to make John Harrison known once more seemed somewhat too much, particularly be­ to a wider audience. “Harrison was a real life for­ cause the exhibition as a whole is well-made and gotten hero, rediscovered by Rupert Gould and entertaining, but moves away from spectacu­lar made famous by Dava Sobel”, director Charles heroics, emphasising the scientific community Sturridge is quoted on the DVD blurb. and the many serious efforts at determining lon­ In 2001, the National Maritime Museum gitude. brought out a DVD documentary on John Har­ The accompanying catalogue to the exhib­ rison’s timekeepers. The focus of this product is ition provides a wealth of information and is on the technical and scientific side; however, it richly illustrated. The texts seem to indicate a also includes enacted scenes, and it has foot­ conscious effort on the curators’ part to present age of the timekeepers running in close-up. The a complete picture, and to write John Harrison sheer beauty of the clocks ‘in action’ is fascinat­ back into the community. He is given due import­ ing even to a lay audience. ance, but he is not cast in a heroic mould. Dunn Finally, in 2006, a memorial stone for John and Higgitt attempt to convey a balanced view Harrison was revealed in Westminster Abbey. on events and explicitly include the difficulties In a rather whimsical but very suitable design, a the Longitude Board would have faced in its de­ bi-metallic strip runs through his name, and the cisions regarding Harrison, leaving the question longitude of the stone is given.15 His symbolic open. arrival in the Abbey [Harrison is buried in Hamp­ stead] marks the rise of his position within British

helden. heroes. héros. Ulrike Zimmermann

126 The question remains: were the Com­ What strikes me […] is that he possessed missioners acting unfairly, being over- an eighteenth- and nineteenth-century gift conscien­tious or doing their public duty? which I believe in this century we have Was the ‘Harrison method’ that was on lost. A gift that every scientist and novelist trial simply a single timekeeper that and historian and many statesmen of the prove­d capable of doing the job, or was it eighteenth and nineteenth century had: a the means of making a successful mar­ine gift of industry, of industriousness, of re­ timekeeper? If the latter, success could garding 24 hours a day as little enough only be proved by making more of them. time in which to live a life and pursue your (Dunn and Higgitt 122)19 interests. I think of Darwin, going down to the seashore – any seashore at hand Nonetheless, Ships, Clocks & Stars is indebted to – for 41 years, with a broken teacup (he the heroic narrative around John Harrison, which had no grant from a national science foun­ played a decisive role in bringing the science of dation) and scooping up sand and algae longitude to the fore. It is doubtful whether the and brooding over them. And at the end of science of longitude would have awakened quite those 41 years, feeling confident enough to publish the Origin of Species. (Cooke as much interest without Sobel preparing the 18) ground earlier on. The exhibition Longitude Punk’d is located John Harrison not only was a self-made man, but at the Royal Observatory, the usual place of the also has the attraction of the underdog without timekeepers. This exhibition is largely informed politics and infrastructure to support him, who by the aesthetics of longitude and its apparatus­ comes to very late fame indeed. Although he did es, and the steampunk movement. by no means work alone, and although Sobel’s book includes this fact, her emphasis is on Harri­ On display will be opulent and ornate ap­ parel inspired by the night sky including son the lone struggler. That his heroics consisted gowns, headdresses, and a reimagining of technical and mechanical detail could – and of Astronomer Royal Nevil Maskelyne’s originally did – make it difficult to cast him as a noted silk observing suit; outlandish con­ hero. This difficulty is overcome in several ways: traptions purporting to solve the longitude Harrison can be seen as an early ‘nerd hero’ and problem; and fanciful submissions and an obsessive, initially even amateur, tinkerer. whimsical illustrations presented to the Moreover, all current cultural products manage Board of Longitude. (Finch-Boyer) to emphasise the visual beauty of his clocks, and they also seem to bring out the fascination for the While Ships, Clocks & Stars aims to make the connection between micro- and macrocosm, and history of longitude determination accessible for scale in general. What is so enthralling about and understandable to the general public, Lon­ Harrison is, after all, the renewed realisation that gitude Punk’d takes an artistic viewpoint, with little things can rule the world. In Sobel’s words, John Harrison’s history serving as a springboard “[h]e wrested the world’s whereabouts from the for an exploration of the visual language of eight­ stars, and locked the secret in a pocket watch.” eenth-century science and narrates the deter­ (Sobel, Longitude 175) Without tinkering and mination of longitude as alternate history. some people’s eye for detail, major explor­ations like those of James Cook would have been im­ possible. The sense that small-scale technical in­ 5. Conclusions novations often herald paradigm shifts in every­ day life is very much alive in our contemporary At present, John Harrison is certainly a well- world – which may also account for the Harrison known ‘Great Briton’ and no longer consigned boom.20 On a different level, Sobel’s phrasing to a historical niche for specialists. Dava Sobel, also reminds us of Harrison’s potentially arcane, inspired by the Longitude Symposium, picked almost esoteric knowledge: the discoverer of se­ up on Harrison’s qualities in a way that great­ crets becomes the dealer in secrets – although ly appealed to her readership. Her Longitude is in this case the ‘secrets’ are facts of mechanics a judicious mixture of drama and scientific fact, and secrets only to a lay audience. weaving a narrative of excitement and antagon­ A hero needs a community of admirers. In the ism, but also of patience and persistence with specialists’ world of horology and navigational regard to John Harrison. In the contribution by history, Harrison has always had that. In his time, Alistair Cooke to the Longitude Symposium, we can assume that he was highly respected Harrison becomes a role model for scientists in amongst clockmakers, but his group of support­ a nostalgic reminiscence of one of the greatest ers was neither large nor influential enough to British scientists ever: sway the Board for a very long time. In the end, it needed the one most powerful supporter, King

helden. heroes. héros. John Harrison and the Heroics of Longitude

George III. In the 21st century, readers, film audi­ His heroics are understated [and underrated] 127 ences, and museum visitors share a fascination heroics. This, as Alistair Cook jokingly remarked for Harrison. Probably his name and work are in his introductory speech to the Longitude Sym­ now known to more people than they ever were posium, seems to be the bane also of Harrison’s in his lifetime. Straddling the boundaries of elite afterlife: scientific culture, John Harrison is at present moving towards a place in common knowledge, But I find John Harrison to be a close com­ approaching popular culture,21 as shown, for ex­ petitor [to Darwin] for tenacious scholarly ample, by the extensive Harrison merchandise industry. He hears, when he’s 21, that the on sale in the National Maritime Museum. After government is offering a prize (the stupen­ his rediscovery, Harrison was first made access­ dous amount of £20,000) for an accurate marine timekeeper. ‘Promptly,’ it says in ible and then marketable.22 my account, he settled to the problem and The creation of a hero narrative is a contest­ solved it – promptly? – in 45 years. And, ed space, and as he becomes more popular, promptly, the British government paid him the question arises as to which sphere Harrison his prize – fourteen years later, when he actually belongs. Initially, in his time, Harrison was 80! Well done! No wonder you’re was firmly located with scientists: astronomers cele­brating his birth tonight, promptly 300 and horologists. Then, with its reproducibility and years after the event. (Cooke 18) availability for all navigators, and its rapid spread, his technology became in a way a common pos­ This is a humorous account, but it speaks for the session. The Longitude Symposium of 1993, an remarkable staying power of John Harrison, his academic event, retrieved John Harrison’s name discovery, and his story through time. Discours­ for a journalist, who would become a writer of es of the heroic are pertinent and potent in mak­ popular books. It is striking that the authors of all ing technological progress and scientific discov­ the Harrison products in this study concede from eries accessible and popular, and are hence a the start that it was Sobel who brought him back force to be reckoned with in the dissemination of into the limelight. There are, however, academ­ knowledge. ics who are highly critical of Sobel’s and similar projects. An entertaining case in point is Miller’s 1 For an interview with Dava Sobel on the inception of her The ‘Sobel Effect’, subtitled The Amazing Tale of first book, see the 2008 Harper edition’s appendix: There Were Only Small Plans. Travis Ellborough talks to Dava So­ How Multitudes of Popular Writers Pinched All bel 2-7. the Best Stories in the History of Science and 2 Besides Longitude, Dava Sobel is the author of Galileo’s Became Rich and Famous while Historians Lan­ Daughter [2000], The Planets [2005], and A More Perfect guished in Accustomed Poverty and Obscurity, Heaven [2011], and translator of the letters of Suor Maria and How this Transformed the World. A Reflec­ Celeste [Galilei] to her father. tion on a Publishing Phenomenon. Miller’s take 3 See, for instance, the fact sheet by the Royal Naval Mu­ on the phenomenon is detailed and convincing; seum Library, “Biography: John Harrison.” nevertheless, this reader could not shed the im­ 4 The spellings of the Admiral’s name vary. Numbers of pression of simple professional jealousy at work casualties are also uncertain, varying between 800 and 2000 seamen. For accounts of the Scilly disaster, see for instance here, although Miller tries hard to overcome this Lewis 2006, the information sheet of the Royal Naval Muse­ and to cast his essay as an intellectual mind- um Library, and of course Sobel’s Longitude 11-13. Note that game.23 The history of science, after all, does not Sobel’s account is the most melodramatic of the three: She have proprietors, and writers of popular books includes the story of Sir Cloudesley’s murder as a fact. How­ ever, it was never proven that he was still alive when washed tend to be better paid than academics. For pres­ on the shore and murdered by a local woman for a ring that ent purposes, it is interesting that Miller sees a he wore. common denominator in Sobel-style books in 5 King’s article includes biographical information on John their reliance “on the trope of heroic discovery,” Harrison. The biography by Humphrey Quill [John Harrison: and he then proceeds to isolate a number of sci­ The Man Who Found Longitude, 1966] is unfortunately out of entific “hero types.” (Miller 189-190) He seems print. to take this as evidence for the lack of imagin­ 6 For a neutral account of the negotiations between John Harrison and the Board, and for the behaviour of the Royal ation on the part of the respective writers, while Astronomer Nevil Maskelyne, see, for example, Randall 247- it could point to their ingenuity: one of the best 252, Langley 822, and Bailey 412-418. ways to make scientific detail – bi-metallic strips 7 However, Sobel provides a brief overview of Harrison’s and grasshopper escapements – interesting to a life in her first chapter, which makes her book less of a thriller wider audience is to embed them in discourses than it could have been, and gives it a more serious layout. of the heroic. 8 Essentially, the lunar distance method keeps time by Arguably, John Harrison is a very suitable Brit­ measuring the movement of the moon against the sun and ish hero because, despite all the superlatives sur­ the stars; see Howse, and Sobel’s chapter 3. rounding him, he still stands for understatement.

helden. heroes. héros. Ulrike Zimmermann

128 9 As already mentioned above, the Longitude Prize was Works Cited never awarded, as Sobel herself writes in her 13th chapter, cf. Sobel, Longitude 149. Andrewes, William J. H. “Even Newton Could Be Wrong: The 10 One could also speculate about the sounds of the two Story of Harrison’s First Three Sea Clocks.” The Quest for men’s names, with the Latinate Maskelyne in opposition to Longitude. The Proceedings of the Longitude Symposium, the plain English Harrison, and the associations evoked by Harvard University, Cambridge, Massachusetts, November this. See The Internet Surname Database. 4-6, 1993. Ed. William J. H. Andrewes. Cambridge, Mass.: 11 Taylor and Wolfendale also make note of Harrison’s Collection of Historical Scientific Instruments, 1996: 189- appreciation within the lofty circles of the Royal Society: 234. “Insofar as the Astronomers Royal were all Fellows of the ---. “Introduction.” The Quest for Longitude. 1-9. Royal Society and these office-holders were all in favour of the ‘lunar method’, it might have been expected that the So­ Asch, Ronald G. “The Hero in the Early Modern Period and ciety would be anti-Harrison. However, this was not the case. Beyond: An Elusive Cultural Construct and an Indispens­ Even the astronomers soon came to realize that they were able Focus of Social Identity?” helden. heroes. héros. dealing with a brilliant man, albeit one who could be argu­ E-Journal on Cultures of the Heroic. Special Issue: Lan­ mentative and self-opinionated […].” (57) guages and Functions of the Heroic. 1 (2014): 5-12. DOI 10.6094/helden.heroes.heros./2014/QM/02 12 For a concise comparison of H1-H4, see the page by the National Maritime Museum, John Harrison and the Longitude Bailey, John F. “Longitude and the Sea Clock.” History Today Problem. 20. 6 (1970): 410-418. 13 For an account of how advanced scientific knowledge Betts, Jonathan. “John Harrison (1693-1776) and Lt. Cdr made British colonial expansion possible, and of the impor­ Rupert T. Gould R. N. (1890-1948).” 14 July 2014 14 For a concise biography of Gould, see Betts. “Biography: John Harrison. John Harrison and the Finding of Longitude.” Royal Naval Museum Library. 2004. 14 July 15 See “History: John Harrison” on the Westminster Abbey 2014. 16 Harrison had declined to become a Fellow; see Taylor “Biography: Cloudesley Shovell.” Royal Naval Museum Li­ and Wolfendale 59. brary. 2007. 14 July 2014. < http://www.royalnavalmuseum. 17 In late May 2014, the timekeepers had been relocated org/info_sheets_cloudesley_shovell.htm> in preparation for the special exhibition and could be seen in Cooke, Alistair. “La Salle: When Ignorance Was Death.” The an ignominious and rather cramped position in a display right Quest for Longitude. The Proceedings of the Longitude next to the National Maritime Museum’s shop. In the current Symposium, Harvard University, Cambridge, Massachu­ special exhibition, they are not quite as central as one might setts, November 4-6, 1993. Ed. William J. H. Andrewes. have expected but share pride of place with a great number Cambridge, Mass.: Collection of Historical Scientific Instru­ of other artefacts. ments, 1996: 14-18. 18 See http://www.rmg.co.uk/whats-on/events/ships- Drayton, Richard. “Knowledge and Empire.” The Oxford His­ clocks-stars tory of the British Empire. Vol. III. The Eighteenth Century. 19 Dunn and Higgitt include Daval Sobel in their sugges­ Ed. P. J. Marshall. Oxford: OUP, 1998. 231-252. tions for further reading, stating that she narrates “from John Dunn, Richard, and Rebekah Higgitt, eds. Ships, Clocks & Harrison’s perspective.” (Dunn and Higgit 244) Stars. The Quest for Longitude. London: Collins, in associ­ 20 Asch speaks about “cycles of hero worship and of the ation with Royal Museums Greenwich, 2014. rejection of the heroic, a sort of continuous boom and bust of Finch-Boyer, Heloise. “Longitude Punk’d: Steampunk Takes heroic values and patterns of behaviour” (Asch 8), which may Over Royal Observatory Greenwich.” The Guardian. 10 also be a suitable image in Harrison’s case. April 2014. 20 July 2014. 22 The Longitude Problem returns to the scientific commu­ “History: John Harrison.” Westminster Abbey. 20 July 2014. nity once more in 2014. There is a new Longitude Prize of time,“ expressly addressing amateur scientists. Longitude Howse, Derek. “The Lunar-Distance Method of Measuring has now become a synonym for a near-insoluble problem Longitude.” The Quest for Longitude. The Proceedings of of science. See http://www.longitudeprize.org/ Boyd Tonkin the Longitude Symposium, Harvard University, Cambridge, comments critically on the phenomenon in The Independent Massachusetts, November 4-6, 1993. Ed. William J. H. An­ and, while calling Harrison “the perfect hero for our time” drewes. Cambridge, Mass.: Collection of Historical Scientif­ (Tonkin 2014) because he was self-taught, urges a more sol­ ic Instruments, 1996: 150-161. id foundation for the dissemination of scientific knowledge, and a more solid funding for the educational system. Tonkin John Harrison and His Timekeepers. (DVD) Royal Museums rightly emphasises that the Harrisons of this world are the Greenwich. 2001. exception. “John Harrison and the Longitude Problem.” 18 July 2014. 23 In a similar vein, Matthews analyses Sobel’s book and ence education “enjoyed about one-thousandth of the sales King, Andrew L. “‘John Harrison, Clockmaker at Barrow; New of Longitude” (1). Looking at the factors for Sobel’s success, Barton upon Humber; Lincolnshire’: The Wooden Clocks, he also names Harrison an “unlikely hero” (2) and takes 1713-1730.” The Quest for Longitude. The Proceedings of issue with her hyperbolic subtitle. His (somewhat unsurpris­ the Longitude Symposium, Harvard University, Cambridge, ing) conclusion is that academic history and popular history Massachusetts, November 4-6, 1993. Ed. William J. H. An­ are different genres, which, however, might mutually profit drewes. Cambridge, Mass.: Collection of Historical Scientif­ from the other’s strategies in presenting their subjects. ic Instruments, 1996: 167-187.

helden. heroes. héros. John Harrison and the Heroics of Longitude

Langley, Michael. “John Harrison. The Hero of Longitude.” White, Hayden. Metahistory. The Historical Imagination in 129 History Today 26. 12 (1976): 818-823. Nineteenth-Century Europe. Baltimore: Johns Hopkins UP, 1993. “Last Name: Maskelyne.” The Internet Surname Database. 18 July 2014. Lehmann-Haupt, Christopher. “The Biggest Peril to Ships for Most of History.” The New York Times. 2 November 1995. 14 July 2014. Lewis, Caroline. “Archaeologists Investigate 18th Century Scilly Isles Fireship Wreck.“ 27 July 2006. 14 July 2014. http://www.culture24.org.uk/history-and-heritage/archaeol­ ogy/art38881 Longitude. Dir. Charles Sturridge. Granada, 2000. “Longitude Prize 2014”. 14 July 2014. Matthews, Michael A. “Dava Sobel and the Popularisation of the History of Science.” From the itinerant lecturers of the 18th century to popularizing physics in the 21st cen­ tury –exploring the relationship between learning and en­ tertainment. Proceedings of a conference held in Pognana sul Lario / Italy, June 1-6, 2003. Ed. Jürgen Teichmann et al. Munich 2004. 14 July 2014. Miller, David Philip. “The ‘Sobel Effect.’” Metascience 11. 2 (2002): 185-200. National Maritime Museum Press Office. “John Harrrison and his Timekeepers at the Royal Observatory, Greenwich, tells [sic] the story of Longitude and the most important clocks ever made.” 20 July 2014. Nova. Lost at Sea: The Search for Longitude. Season 26, Episode 1. PBS. October 6, 1998. Randall, Anthony G. “The Timekeeper that Won the Longi­ tude Prize.” The Quest for Longitude. The Proceedings of the Longitude Symposium, Harvard University, Cambridge, Massachusetts, November 4-6, 1993. Ed. William J. H. An­ drewes. Cambridge, Mass.: Collection of Historical Scientif­ ic Instruments, 1996: 236-254. Ships, Clocks & Stars: The Quest for Longitude. 14 July 2014. Sobel, Dava. Longitude. The True Story of a Lone Genius Who Solved the Greatest Scientific Problem of His Time. London: Harper Perennial, [1995] 2008. ---. “Longitude Hero’s Slow Road to the Abbey.” The Guard­ ian. 25 March 2006. 14 July 2014. ---. “Official Bio.”Dava Sobel, A Science Writer’s Site. 18 July 2014. Storey, John. Cultural Theory and Popular Culture. Harlow: Pearson-Longman, 2009. Taylor, J. C., and A. W. Wolfendale. “John Harrison: Clock­ maker and Copley Medalist. A Public Memorial at last.” Notes and Records of the Royal Society of London 61.1 (January 2007): 53-62. “The Top 100 Great Britons.” Webarchive.org. 4 De­ cember 2002. 14 July 2014. Tonkin, Boyd. “The Longitude Prize Gives Us a New Hero.” The Independent. 23 May 2014. 14 July 2014. < http://www. independent.co.uk/voices/comment/the-longitude-prize- gives-us-a-new-hero-9428363.html>

helden. heroes. héros. 130

helden. heroes. héros. DOI 10.6094/helden.heroes.heros./2014/02/10

Reinhard Nachtigal 131

Bricht in Russland ein heroisches Zeitalter an? Der russische Feldherr Alexander Suworow als Kristallisationsfigur eines neuen Nationalmythos. Zu den neuen Biographien von Wjatscheslaw Lopatin und Arsenij Samostjanow

Die Biographik zum russischen Feldherrn und russischen Öffentlichkeit.3 Das zweihundertste Generalissimus Alexander Suworow [1730- Jubiläum seines Alpenzugs vom Spätsommer 1800] hat in Russland eine lange Tradition. Sie 1799 brachte dann auch im Westen einige weni- beginnt schon zu seinen Lebzeiten mit Aufzeich- ge Publikationen hervor, als bedeutendste eine nungen seines deutschen Sekretärs Friedrich kommentierte Kartensammlung des Alpenzugs Anthing [erschienen auf Russisch in drei Teile­n, von Bellinzona nach Lindau, eine großzügi- St. Petersburg 1799-1800]1, setzt sich nach ge Schweizer-russische Koproduktion mit dem seine ­m Tod mit der anekdotischen Biographie Russischen Militärhistorischen Staatsarchiv in von Jegor B. Fuchs [russ. Fuks] aus dem Jahr­e Moskau. Diese verfolgt aber weder heroisieren- 1811 fort und findet ihren ersten Höhepunkt mit de Tendenzen noch interessiert sie sich für den einer zweibändigen Geschichte russischer Feld- unmittelbar voraufgegangenen sieg- und ruhm- marschälle und Generalissimi des hochrangi- reichen Italienfeldzug vom Sommer 1799. In gen Staatsbeamten Dmitrij Bantyš-Kamenskij Moskau erschien unter der Herausgeberschaft [1840] sowie der ersten reinen Suworow-Biogra- von Generalleutnant Wladimir Antonowitsch- phie von Nikolaj Polewoj [1796-1846] im Jahre Solotarjow und mit staatlicher Förderung zum 1843.2 Suworows Siegeszug in der russischen 200jährigen Jubiläum ein umfängliches, reich Geschichts­schreibung fand in der ersten Jahr- bebildertes ‚Monographie-Album‘, das schon im hunderthälfte nach seinem Tod statt, trotz Napo- Titel den Begriff ‚Ruhm‘ führt.4 Wie weit es mit leons Russlandfeldzug und den anschließenden einer für russische Verhältnisse eher mittleren Befreiungskriegen, die in Russland bis heute Auflagenzahl von 3.200 in der Russischen Föde­ ‚Vaterländischer Krieg‘ genannt werden. In ihm ration verbreitet ist, lässt sich schwer abschät- erwuchsen neue Helden, die zeitweise Suwo- zen. Verbreiteter scheinen dünnere Publika­ rows Ruhm verdeckten. Das bewirkte qualitative tionen in Form von Broschüren zu sein, die seit und Tendenz-Verschiebungen, denn Suworow den späten 1990er Jahren veröffentlicht werden. war nicht wie Kutusow ein Verteidiger des an- Das unterstreicht die Bedeutung neuerer bio­ gegriffenen Vaterlands, sondern ein Eroberer graphischer Werke zu einem politisch relativ un- und ‚Mehrer des Reiches‘, ein Exponent der verfänglichen Nationalhelden. russischen Expansion. Im Laufe der Jahrzehnte Seit 2000, wohl nicht zufällig mit der Ernen- bis zum Ende des Zarenreichs 1917 wurde er in nung Wladimir Putins zum Nachfolger des rus- diesem Sinne und im Unterschied zu Kutusow sischen Präsidenten Boris Jelzin, erscheinen zunehmend eine nationalpatriotische ‚russische‘ zunehmend Publikationen, die Suworow zum Heldenfigur, während er bis in die Zeit der Be- Gegenstand haben: als historische Figur, als freiungskriege noch eine gesamteuropäische Romanheld, in Verklärung als Dichter, Heiliger, Erscheinung gewesen war, deren Leistung auch Engel, Prophet, Erzengel [russ. archistratig/ das europäische Ausland würdigte. Im turbulen- архистратиг, griech. άρχιστράτηγος als Bei­ ten 20. Jahrhundert erlebte seine Heroisierung name des Erzengels Michael in seiner Funkti- dann die größten Konjunkturausschläge, von on als Anführer der himmlischen Heerscharen], völligem Verschweigen bis etwa 1938, über den schließlich als Genie. Hier zeichnet sich eine Höhepunkt unter Stalin und der Rücknahme in Verwandlung der inzwischen multifunktionalen der späteren Sowjetzeit – aus Rücksicht auf Heldenfigur ab, und zwar nur in Russland, wäh- ‚Bruderstaaten‘ wie Polen. rend ausländische Beiträge entweder rein bio- Ab den 1970er Jahren, zu einer Zeit, als sich graphisch-historisch oder ‚alpinistisch‘ orientiert im Westen kaum noch jemand seiner erinnerte, sind. verschwand Suworow auch weitgehend aus der

helden. heroes. héros. Reinhard Nachtigal

132 Dieser auffallenden Metamorphose nachzu- selten vor. Alle diese Heldenfiguren wurden gehen und ihre Ursachen und Trends vor dem aber übernational, imperial gedeutet und dien- Hintergrund eines in Russland lange etablier- ten vor allem als Anschauungsobjekte und Vor- ten Suworow-Bildes aufzuspüren, versucht der bilder für die ‚reifere Schuljugend‘. Gleichzeitig, vorliegende Literaturbericht, der anhand der so bislang der Eindruck, scheint die Dominanz Suworow-Heroisierung zu weiteren Schlüssen der seit 1940 über Jahrzehnte erfolgenden bel- gelangt, die für einen Bedarf an Nationalmythen letristischen Bearbeitung des Suworow-Themas und -helden im heutigen Russland zu sprechen dafür gesorgt zu haben, dass eine historisch scheinen. [-kritische] Ausein­andersetzung, freilich unter In der Sowjetzeit war Suworow vor allem ideologischen Prämissen, mit der Heldenfigur, durch den historischen Roman von Leontij Ra- ihrer militärischen Leistung, ihrem militärtheo- kowskij [1896-1979, Schriftsteller des sozialisti- retischen Schaffen und Suworows sogenannter schen Realismus] eine populäre Figur.5 Dessen Pädagogik nur im Schatten vegetierte. Werk, das seit 1938 [formelle Erstauflage 1941] Neben wenigen wissenschaftlichen Studien durch mehrere und vor allem hohe Auflagen im zu Suworow, vor allem aus der späteren Sow- ganzen Sowjetstaat verbreitet war, beruht auf jetzeit, haben sich die älteren Suworow-Biogra- zahlreichen Anekdoten und Legenden, die seit phien der Zarenzeit und historische Betrach- den Lebzeiten Suworows gesammelt und ver- tungen bis heute kaum durchsetzen können: In öffentlicht wurden. Allerdings liegt der Akzent in Fortsetzung sowjetischer Tradition wird die Figur diesem Roman nicht auf dem nationalen, russi- im postsowjetischen Russland Putins überhöht schen Heroismus, sondern ist imperial bestimmt, und entrückt. Allerdings mit einigen neuartigen wie es für das seit 1940/45 expandierende Sow- Besonderheiten. Die zeitgenössischen, z. T. jetreich gut passte. jüngeren Biographen lehnen sich nicht an die Ähnliches gilt für den vielschreibenden Au- belletristischen Werke ihrer Vorgänger an, son- tor Sergej T. Grigorjew [1875-1953], dessen dern an historische Autoritäten der Zarenzeit historische Erzählung Suworow 1939 erstmals wie Alex­ander Petruschewskij [1826-1904], al- aufgelegt wurde und bis 2012 noch höhere Auf- lerdings ohne dies immer deutlich zu machen. lagenzahlen als Rakowskij erreichte, allerdings Ihre wissenschaftlich gekleideten Studien die- mit einer deutlichen Abflachung in der späten nen dabei klar der Schaffung eines national-rus- Sowjetzeit und den 1990er Jahren. Für eine sischen Heldenmythos, in dem Suworow in einer kürzere Suworow-Erzählung, Fähnrich zur See Weise an die vorderste Stelle gerückt wird, wie Suworow (russ.: Mičman Suvorov), die sich auf es nicht einmal in der Sowjetzeit üblich war. Im eine Episode in Suworows Dienst als Festungs- Jahre 2012, und auch danach, standen der Va- inspekteur auf der karelischen Landenge im terländische Krieg 1812/13 und Kutusow auf der Jahre 1791 bezieht, ließ sich nur eine Auflage Agenda der russischen Historiker und des nati- aus dem Jahre 1945 feststellen. Aber auch sie onalen Gedenkens, wie man an dem Angebot in hat zum Anekdotenreichtum und zur Legenden- den Buchläden ablesen konnte.7 Schon in den bildung um Suworow beigetragen, was im Laufe 1990er Jahren, als sich der Rezensent mehrfach des 20. Jahrhunderts zur sagenhaften Vielfältig- zu Forschungen in Russland befand, spürte man keit und großer Ausdeutungsmöglichkeit bei der das Bedürfnis nach einer Neu-Vergegenwärti- Figuration dieses Helden führte, an deren Ende gung der älteren russischen Geschichte vom nun der mythische Topos eines unerklärlichen 18. Jahrhundert bis zum Ende des Zarentums. Wunders steht.6 Dies schlug sich nieder in Publikationen zur Za- Beide Schriftsteller veröffentlichten seit den renarmee, Militärgeschichte, zu Katastrophen, frühen 1940er Jahren Erzählungen und Romane Intrigen und Verschwörungen etc., aber auch in auch über andere heroisch-nationale Figuren der der Begeisterung für Uniformen und Orden. Su- russischen Geschichte, etwa den Feldmarschall worow erschien darunter kaum, selten allerdings Kutusow [1745-1813] und Admiral Uschakow auch andere russische Militärhelden, doch fällt [1744-1817]. Bemerkenswert scheint hier, dass die militärische Ausrichtung des Interesses auf. beide Autoren sich fast ausschließlich histori- Im Unterschied zum Vaterländischen Krieg scher Helden der älteren russischen Geschichte von 1812 und Kutusow liegt nun aber im Falle [18. und 19. Jahrhundert] bedienen, ganz selten Suworows kein Jubiläum vor. Das zweihundert- solcher des Zweiten Weltkriegs [in Russland jährige Jubiläum des Italienfeldzugs und der bis heute: ‚Großer Vaterländischer Krieg‘] oder Alpenüberquerung, die Suworows Ruhm we- der Bürgerkriegszeit, die in den 1920er Jahren sentlich ausmach[t]en, war 1999 in Russland und nach 1945 im Bewusstsein der Sowjetbür- verschlafen worden.8 So wurde in Russland be- ger eine Rolle spielten. Auch Persönlichkeiten klagt, dass in jenem Jahr wohl ein neuer russi- der ältesten russischen Geschichte, von Alex­ scher Spielfilm zum Pugatschow-Aufstand ent- ander Newskij bis Peter dem Großen, kommen stand, Suworow aber vergessen worden war.

helden. heroes. héros. Bricht in Russland ein heroisches Zeitalter an?

Allerdings brachte die Bank von Russland zwei seinem Marschall Berthier geäußert, worüber 133 Gedenkmünzen zum 200. Todesjahr Suworows 1992 eine 32seitige, selbständige Publikation heraus. Der jüngste Suworow-Kenner, Arsenij entstand. Samostjanow [geb. 1978], veröffentlichte seine Lopatins lebenslange Forschungen lassen erste Suworow-Publikation im Jahr 2000, seine sich mit zwei Motiven hinlänglich charakterisie- größeren Arbeiten zu diesem Helden erschienen ren. Das eine war schon Gegenstand einer ei- erst danach. genständigen Untersuchung, der vermeintliche Doch wenden wir uns zunächst einem älteren Gegensatz zwischen Suworow und Potemkin, Suworow-Biographen zu, Wjatscheslaw Lopatin eine Behauptung, die Lopatin glaubhaft relati- [geb. ca. 1937], der sein Leben lang zu Suwo- vieren kann und als Entfremdung in Potemkins row und der Zeit Katharinas II. von Russland letzten Lebensjahren darstellt. Das zweite Mo- [1729-1796, regierte 1762-1796] geforscht hat. tiv greift hingegen Heroisierungsprozesse auf. Von ihm liegen als solide Beiträge zum Zeitrah- Es betrifft die häufige Zurücksetzung Suworows men und den historischen Personen vor: ein und die Herabwürdigung seiner militärischen Quellenband von 1986 mit Suworows Briefen, Leistungen, die ein ehrgeiziger Feldherr wie Su- der Schriftverkehr Potemkins mit der ihm 1774 worow nur schwer verwinden konnte. Obwohl heimlich angetrauten Zarin Katharina, erschie- aus angesehener, adeliger Familie stammend, nen 19979, und eine biographische Studie von stieg er nach langjährigem Militärdienst als Un- 1992 zum vermeintlichen Gegensatz zwischen teroffizier verspätet zum Stabsoffizier auf. Auch Potemkin10 und Suworow, bezogen auf die Jahre nach seinen Siegen wurde er bei Beförderungen von 1773 bis 1791. Hier wie in seiner Biographie und Auszeichnungen immer wieder übergangen, von 2012 zeigt Lopatin auf, dass die Rivalität während dem Hofe nahestehende Günstlinge zwischen dem älteren Suworow und dem ihm ohne größere Verdienste rasch in Generalsrän- vorgesetzten, neun Jahre jüngeren Favoriten ge aufrückten, mitunter ohne wirklich Schlachten der Kaiserin nicht sehr tiefgründig und nur punk- gesehen oder geschlagen zu haben. Vergleicht tuell war. Sein durch ausgiebige Archivstudien man das Ordens- und Auszeichnungswesen begründeter Befund lautet, dass es zwei The- der Zarenzeit mit dem der Sowjet- und der post- men gab, die gegen Ende von Potemkins Leben sowjetischen Zeit, so wird diese fortgesetzte eine Trübung des Verhältnisses der beiden sehr ‚Schmähung‘ auch nachvollziehbar. Wurde Po- unterschiedlichen Feldherren bewirkten. Im Üb- temkin, der heute unter den russischen Heroen rigen habe sich Suworow stets loyal und part- kaum in Erscheinung tritt, schon mit 45 Jahren nerschaftlich seinem Oberkommandierenden, Feldmarschall, so erhielt Suworow diesen Rang seit 1784 faktisch auch russischer Kriegsminis- erst mit 64 Jahren und eigentlich vier Jahre zu ter, untergeordnet. Zum einen habe Potemkin, spät, als es seine Siege von 1788/89 und 1790 der bei der Zarin schon zugunsten eines jünge- hätten erwarten lassen. Suworow ‚rächte‘ sich ren Favoriten, dem Grafen Platon Subow, in Un- mit einer zunehmenden ‚Schrulligkeit‘ in einer gnade gefallen war, Suworow die Auszeichnung angenommenen Rolle als Sonderling. mit einer Ehrenmedaille nach der Einnahme der Zurücksetzung, Ehrverletzung, nicht aus- stark befestigten türkischen Festung Ismail 1790 reichende Anerkennung seiner Verdienste und geneidet, auf der der Feldherr mit herakleischen eine Lebensweise, die als besonders asketisch, Attributen wie dem Löwenfell im Profil dargestellt schlicht und soldatisch hervorgehoben wird, ge- ist. Potemkin selbst hatte zuvor drei solcher Me- nügen Lopatin, um die historische Figur zum daillen nach eigenen Siegen erhalten. Das zwei- Heros zu stilisieren. Tragik und Viktimisierung te Thema hängt mit der Familie Subow zusam- eines aufrechten, edlen und soliden Helden men, aus der der Bräutigam der von Suworow ohne Tadel – für Lopatin sind dies ausreichende über alles geliebten Tochter Natalija, von ihm Merkmale, um aus Suworow die herausragende zärtlich ‚Suworotschka‘ genannt, stammte. Hier Gestalt eines nationalrussischen Mythos zu kre- wurde der Feldherr quasi in Sippenhaft genom- ieren. Mehr aber auch nicht. men, denn Potemkin stand den Subows feindlich Viel weiter geht der zweite Autor, Arsenij Sa- gegenüber. mostjanow, der einer Generation angehört, die in Lopatin veröffentlichte 2001 eine auf Archiv- den Jahren von Russlands Niedergang während dokumenten und Anekdoten beruhende Biogra- der 1990er Jahre sozialisiert wurde. Seine Kar- phie Suworows, die hier aber nicht Gegenstand riere als Geisteswissenschaftler begann er um ist, weil in seine Biographie von 2012 alle vorhe- 2000 mit ersten Publikationen, darunter seine rigen Studien eingegangen sind. Gleiches gilt für erste zu Suworow. Ihm näherte er sich als Li- seine Potemkin-Biographie aus dem Jahr 2004, teraturwissenschaftler, wenngleich er vorrangig die in derselben Reihe wie seine Suworow-Bio- mit historischen Werken hervortritt. Mittlerweile graphie von 2012 erschienen ist. Schließlich hat hat er in kürzester Zeit mehr über Suworow pub- er sich auch über das Verhältnis Napoleons zu liziert, als jeder andere russische Autor.11

helden. heroes. héros. Reinhard Nachtigal

134 Eine erste umfassendere Biographie, aber Als weiteres, letztlich nichts Neues bietendes bereits mit klarer Deutung, ist seine 2006 er- Werk ist die 2012 publizierte [und 2013 neu auf- schienene Monographie zum 275. Geburtstag gelegte] kleinere Publikation zur Wunderhaftig- Suworows.12 Zurückschauend von der jüngsten keit Suworows anzusehen.18 Ein Novum ist hier Biographie seines Helden auf die Publikation allenfalls die religiöse Kategorie des Wunders, des Jahres 2006 kann diese als Kurzfassung ge- des Unerklärlichen. Dies war bei der Wiederent- sehen werden. Allerdings steht hier die Rezepti- deckung des Helden Suworow in der Stalinzeit on der Figur im Vordergrund: in der russischen nicht denkbar, die positivistische Ideologie des Literatur und Kultur seit dem 19. Jahrhundert [50 atheistischen Staats kannte keine Wunder, son- Seiten], in den künstlerischen Medien von The- dern nur deterministische Gesetzmäßigkeit. ater und Film [30 Seiten], schließlich mythologi- Es ist nun fraglich, ob man Samostjanows sierende Prozesse [50 Seiten]. Die Zeitgenos- eigenem Hintergrund Beachtung schenken oder senschaft von Suworow und Derschawin [russ. seine auf Suworow bezogenen Werke für sich Deržavin]13 als kongeniale, „große Nachbar- sprechen lassen sollte,19 denn sie zielen in eine schaft in der russischen Kultur“ (Zamost’janov andere Richtung als Lopatins Forschung, wie Suvorov byl neob’’jasnimym čudom 123-159) Samostjanow schon in der Einleitung seines und das Urteil von Freunden und Feinden über Hauptwerks, Genie des Krieges, betont. Sein Suworow machen ebenfalls zentrale Teile des Held ist seinem „glücklichen, starken, gedul- Werks aus. digen, sanften und weisen“ Vaterland treu und Zwei Jahre später erschien eine noch aus- Ausdruck des russischen Nationalcharakters, greifendere Biographie, in der Suworows mili- während Russlands Feinde das Land bevorzugt tärische Leistung behandelt und überhöht wird, schwach, betrügerisch, aggressiv und grausam Alexander Suworow, Gott des Krieges. Auch die sähen. Nach dieser ja nicht unrichtigen Einstim- ‚Erkenntnisse‘ dieser Studie gingen in das nach- mung konstatiert er, dass Suworow eine „wahr- folgend besprochene Hauptwerk Samostjanows haft nationale Heldenlegende“ sei (Zamost’janov ein. Genij vojny 5-8 (Vorwort).). Dazu passt die Auf- Ein wichtiger Meilenstein in Samostjanows fassung von seiner Biographie als einer Erzäh- Annäherung an seine(n) Helden ist die 2010 ver- lung, einem Narrativ, was den Leser zur Frage öffentlichte Studie zur ‚Russischen Heroik‘, also führt: Handelt es sich um eine wissenschaftli- dem heroischen Thema und heroisierenden Werk che [bzw. historische, wenn auch nicht kritische] in der russischen Literatur.14 In einem chronologi- Studie oder um historische Fiktion, um Legen- schen Durchlauf von der alten Rus‘ über das pet- denbildung? Der Leser mag dies am Ende der rinisch-katharinäische Zeitalter und Puschkin bis Lektüre selbst entscheiden, wobei ihm auffallen zur von ihm für unerlässlich gehaltenen Heroik wird, dass eine etwa fünfseitige, alphabetisch in Schulbüchern des heutigen Russlands kommt ungeordnete ‚Kurze Bibliographie‘ im Anhang er zum Schluss, dass die/eine Gesellschaft nicht den ganzen Apparat des Werks darstellt und ohne Helden auskommt.15 Samostjanows Hero- nichtrussische Literatur keine Berücksichtigung ismus leitet sich von einem göttlichen Funken ab fand. Nach weiteren heroisierenden Zuschrei- und ist geistig-beseelt, die Heldentat selbst ist bungen und Überhöhungen [„erster Degen des ganz kriegerisch-militärisch definiert und erfüllt Reiches“, „Vater des Vaterlandes“, „verabscheut eine erzieherisch-aufklärerische Funktion.16 Der Gewalt zur Disziplinierung der Soldaten“, (ebd. russische Heroismus ist ihm zufolge klar national 10-11)] konstruiert der Verfasser einen essenti- und patriotisch (Zamost’janov Russkaja geroika ellen Gegensatz zwischen Russland bzw. allem 16), daneben auch kirchlich-religiös. Damit un- Russischen und dem Deutschen/Preußischen. terscheidet er sich deutlich vom sowjetischen Da hierzu auch Österreicher und Baltendeutsche Heroismus-Verständnis, wenngleich die sowje- gezählt werden, kann man in Samostjanows Sin- tische Gesellschaftsideologie teilweise religiö- ne den für das 18. Jahrhundert unklaren Begriff sen Status erreichte. Samostjanows russischer „Deutschland“ ignorieren. Baltendeutsche Of- Heroismus ist nationalpatriotisch, mythologisch, fiziere, die seit Katharina der Großen ver­stärkt legendär. in russischen Dienst traten, auch weil sie als Seine Ausführungen kreisen hier von der ers- Fachleute gebraucht wurden, sind für ihn gegen- ten bis zur letzten Seite immer wieder um Suwo- über Soldaten tendenziell grausam und als Offi- row, der für ihn einen idealen Helden darstellt: ziere unfähig. Russisches Militär und Taktik sind ganz gleich, ob er über die Helden der altrus- stumpfsinnigem preußischen Drill überlegen, sischen Bylinen17 schreibt [russ. ‚bogatyr‘], über während die preußischen Strategen weder den historische Führer des russischen Mittelalters Bajonettangriff noch rasche Manöver beherr- oder der Sowjetzeit. Somit ist seine Geschichte schen. Der somit konstruierte Gegensatz bleibt der russischen Heroik in weiten Teilen tatsäch- Tenor in Samostjanows Deutung der Geschich- lich eine Heroisierung Suworows. te, nicht nur in seinen auf Suworow bezogenen

helden. heroes. héros. Bricht in Russland ein heroisches Zeitalter an?

Werken. Ein weiteres Stereotyp wird ebenfalls und bis zur Erhebung in den Fürstenstand ‚Graf 135 früh eingeführt: Suworow kämpfte immer gegen zweier Reiche‘ [‚graf dwuch imperij‘]. eine Übermacht, doch hatten seine Truppen in Der Sieg über die türkische Festung Ismail aller Regel bedeutend weniger Verluste als der am Kilia-Arm der Donau-Mündung im Dezember Gegner,20 bei dem es sich allerdings meist um 1790 brachte zwar den Durchbruch seines Ruh- Türken oder Polen handelte, deren Armeen weni- mes und seiner Heroisierung: Die Zarin stiftete ger modern als die russische waren. Schließlich eine Goldmedaille, auf der er mit dem Löwenfell war auch die von Peter dem Großen geschaffe- abgebildet ist; russische Odendichter wie Jer- ne Artillerie eine von allen Gegnern Russlands mil Kostrow [1750-1796], Gabriel Derschawin gefürchtete Waffe. So hatten russische Artilleris- [1743-1816]22 und die jung verstorbene Maria ten in der Zarenzeit einen höheren Rang als ihre Pospelowa [1780-1805] besangen den sieg- Kameraden der Linieninfanterie. reichen Feldherrn. Aber wieder blieb die Beför- Auch ehrverletzende Zurücksetzung wie derung des 1786 zum General en chef aufge- ausbleibende Auszeichnung, Beförderung und rückten Helden aus, vielmehr fühlte er sich auf Geringschätzung bzw. Verringerung der Ver- seinem neuen Posten im Norden Russlands dienste Suworows in den Berichten an die Za- und am Schwarzen Meer abgeschoben. Eine rin sind bei Samostjanow wichtige Motive, die weitere Zurücksetzung bedeutete in dieser Zeit, den Weg zur Heroisierung ebnen. Da Suworow dass die Feierlichkeiten zum Sieg über die Tür- schon nach einem frühen Sieg 1773 in Russland ken im gerade fertig gestellten Taurischen Palais berühmt gewesen sei, habe ihn sein Vorgesetz- zu Petersburg über Wochen pompös begangen ter Rumjanzew 1774 nicht zur Niederschlagung wurden, während der Feldherr des Sieges in der des Pugatschow-Aufstands abkommandiert, um russischen Provinz schmorte. der – auch gegenüber dem Ausland – peinlichen Zwischen 1791 und 1794 war Russland an Angelegenheit keine zu große Aufmerksamkeit keinem Krieg beteiligt, allerdings wurde 1793 zukommen zu lassen, was übrigens auch Lopa- die zweite Teilung Polens zwischen Preußen tin berichtet. So kam Suworow verspätet in das und Russland vollzogen. Dies führte mittelbar Aufstandsgebiet, er konnte den bereits gefan- zu Unruhen in Polen, die im April 1794 in den genen Rebellenführer in Empfang nehmen und Kościuszko-Aufstand mündeten. Polnische Mili- im Käfig weiter nach Moskau schicken, danach zen überfielen die russischen Besatzungen u. a. bekämpfte er die Reste der Aufstandsbewegung in Warschau, und wieder war Suworows Stun- östlich der Wolga. Bei seinen darauf folgenden de gekommen. Im Oktober nahm er mit seinen Kriegszügen verfängt sich der Autor in pazi- Truppen die östlich der Weichsel gelegene War- fistisch-humanitäre Zuschreibungen der russi- schauer Vorstadt Praga ein, wobei es ihm nicht schen Expansion, für deren Exponent er Suwo- gelang, die Disziplin seiner Truppen aufrecht- row richtigerweise hält:21 Nicht nur in Bezug auf zuerhalten, die mordend und Brände legend die Katharinenzeit sieht er aber alle russischen über die Weichsel nach Warschau zu gelangen Gebietserwerbungen als Folge russischer Ver- trachteten. Samostjanow verschweigt das nicht teidigungsakte, nie habe das Land wie die Ko- und nennt die Zahl von 20.000 toten Zivilisten lonialmacht England fremde Völker unterdrückt. mit dem Hinweis, dass in der Sowjetzeit diese Kausal wird daraus geschlossen, dass die klei- Episode übergangen wurde und in Verfilmungen nen Völker im russischen Staatsverband deswe- ein Problem darstellte, das man durch Weglas- gen auch bis heute ihre Eigenart bewahrt hätten. sen löste. Aber Ende 1794 habe die Situation in Immerhin: Suworow ist für ihn klar der Reprä- Polen derjenigen in der Ukraine im Jahre 2013 sentant eines territorialen Imperialismus [„impe- geähnelt: eine lächerliche Maidan-Bewegung rialistischer Suworow“ (z.B. Zamost’janov Genij schürte gleichermaßen religiösen und ethni- vojny 127)]. Schon vor seinem Sieg bei Kinburn schen Hass, Jakobinismus und Revolution hät- 1788 und den Siegen in Rumänien [Focşani, ten gedroht (vgl. Zamost’janov Genij vojny 224). Rymnic] 1789 sei Suworow für Europa ein rus- Mit Bedauern stellt er fest, dass Suworow spä- sischer Held gewesen. Habe er schon nach der testens seitdem in Westeuropa als Schlächter Niederschlagung des Pugatschow-Aufstands und Barbar gesehen werde. Dieses Bild wurde 1775 eine Zurücksetzung durch die Zarin erfah- fast dreißig Jahre nach dem Ereignis in George ren, so erwartete ihn eine solche auch nach den Gordon Lord Byrons satirischem Epos Don Juan neuen Siegen, da die Beförderung zum Feldmar- aufgegriffen. Darin ist Suworow nicht nur ganz schall ausblieb. Auch dass er im Oktober 1789 unheroisch dargestellt, sondern die dort geschil- zum russischen Grafen ‚von Rymnik‘ [russ.: graf derte Eroberung Ismails 1790 wird zum Anlass Rymnikskij] und zum Grafen des Heiligen Römi- einer „ätzenden Demaskierung von Krieg und schen Reiches erhoben wurde, habe den ehrgei- Heroismus“ genommen (Kindlers Literatur Lexi- zigen Feldherrn nicht entschädigen können. Im kon 2815). privaten Schriftverkehr nannte er sich seitdem

helden. heroes. héros. Reinhard Nachtigal

136 Samostjanow bedauert diese „völlig falsche Ein- die im Zweiten Koalitionskrieg verbündeten rus- schätzung“ seines Helden und stellt dem nun sisch-österreichischen Truppen nach Wien ge- entgegen, dass Suworow als besonders mild schickt wird, erwarten ihn neben seinen ruhmbe- gegen die Besiegten geschildert wird und mit gründenden Schlachten in Oberitalien von April seinen Gefangenen „anders als Napoleon und bis August wiederum Behinderung von höherer die Briten in Indien“ verfuhr (Zamost’janov Ge- Stelle, Intrigen und Beschränkungen verschie- nij vojny 116-117). Demnach war Suworow so- denster Art, die vor allem vom österreichischen gar der zitierten Meinung, die Polen liebten ihre Staatskanzler Baron Franz Thugut [1736-1818] russischen ‚Befreier‘, während sie die ebenfalls und dem von ihm beherrschten Wiener Hof- in Warschau einmarschierten Deutschen [recte: kriegsrat ausgingen. Preußen] von ganzem Herzen hassten. Dass Den von Wien ausgehenden Intrigen, von Preußen an der dritten Teilung Polens 1795 denen sich Kaiser Franz II. [1768-1835] verein- Anteil hatte, hielt Suworow schließlich für unge- nahmen ließ, und dem Samostjanow zufolge an rechtfertigt, weil Preußen sich militärisch wenig Feigheit und Verrat grenzenden Verhalten des engagiert hatte, vielleicht aber auch, weil Preu- Befehlshabers der österreichischen Truppen, ßens Ruf wegen der Vorgänge bei Warschau Erzherzog Karl [1771-1847], sei das Misslingen kaum Schaden litt, anders als der Ruf Russ- eines durchschlagenden, endgültigen Erfolgs lands. Hier scheinen sich langfristige russische Suworows gegen die Revolutionstruppen zuzu- Selbstzuschreibungen bis ins 18. Jahrhundert schreiben, da er vom Zaren, der von den öster- zurückverfolgen zu lassen, so seltsam oder ab- reichischen Verbündeten zutiefst enttäuscht war, wegig sie auch scheinen mögen. zurückberufen wurde. Die tieferen historischen Nach dem Tod Katharinas im November 1796 Zusammenhänge werden nicht nur hier vom Au- brach für Suworow eine schwere Zeit an, da er tor kaum richtig erfasst. Unzweifelhaft sind aber im Gegensatz zum Preußenbewunderer Paul I. Suworows Italienfeldzug und die Alpenüberque- [regierte 1796 bis 1801] die Preußen unverhoh- rung während der ersten Schneefälle im Gebir- len hasste. Er fiel in Ungnade, ersuchte und er- ge im September 1799 eine militärische Leistung hielt seine Entlassung, wurde aber im Mai 1797 gewesen. Der Alpenzug, auf dem fast ständig auf eines seiner Güter verbannt, wo er fast zwei gegen französische Truppen gekämpft wurde, Jahre unter Polizeiaufsicht stand. Hier greift wie- die die Ausgänge in die Zentralschweiz [Raum der das Motiv der unverdienten Zurücksetzung: Vierwaldstätter See – Zürich] versperrten, wäh- Nicht nur wird er in der Verbannung von einem rend man Alpenpässe unter widrigsten Umstän- russischen Gericht zur Unterhaltszahlung an sei- den überwand, gehört zu Suworows unbestreit- ne untreue Gattin verurteilt, von der er seit 1779 barem Verdienst, der allerdings ein gutes Drittel getrennt, aber nicht geschieden, lebte. Den im seiner Truppe hinwegraffte. Der Rest langte Mit- Feldzug von 1794 geschädigten polnischen Ad- te Oktober 1799 in heruntergekommenem Zu- ligen wurde Wiedergutmachung von russischer stand in Chur an. Seite zugestanden, für die Suworow post fes- War er nach Abschluss der Kämpfe in Ober- tum persönlich aufkommen sollte. Auch habe italien im August vom Zaren zum italischen Fürs- die Weltöffentlichkeit die Ungnade gegenüber ten erhoben worden, winkte ihm im Oktober Suworow negativ aufgenommen, während er in 1799 der Titel eines Generalissimus, der bisher der Verbannung von Spionen und Zuträgern, da- in Russland nur an drei Feldherren vergeben runter seinem deutschen Sekretär Jegor Fuchs, worden war, einem davon faktisch nur ehren- umgeben gewesen sei. In dieser Zeit öffentlicher halber [Herzog Anton Ulrich von Braunschweig- Demütigung haben offenbar Suworows Schrul- Wolfenbüttel, 1714-1774].23 len und Eigenheiten zugenommen, aber ebenso Suworows Genialität unterstreicht der Autor die Anekdoten und Legenden über ihn. An ande- mit dessen Absicht, die Kampfhandlungen von rer Stelle führt der Autor den Begriff von „staat- Oberitalien nach Frankreich hinein und bis nach licher Undankbarkeit“ gegen den Feldherrn ein, Paris zu tragen, ein Plan, den auch die öster- die dieser mit Schrulligkeit beantwortet habe reichische Generalität – möglicherweise unab- (Zamost’janov Genij vojny 440-441: bei dem rus- hängig von Suworow – entwickelte. Nach dem sischen Wort ‚čudakovatost’‘ handelt es sich um folgenden Zerwürfnis mit Wien tragen nach Sa- einen exklusiv literatursprachlichen Begriff im mostjanow nicht nur die österreichische Armee, Sinne von ‚Merkwürdigkeit‘, ‚Eigenart‘; das Wort sondern vor allem deren Befehlshaber, Michael für ‚Absonderlichkeit‘ ist ‚čudačestvo‘). Baron Melas [1729-1806] und Erzherzog Karl Doch noch 1798 entwirft er einen Kriegsplan die Verantwortung dafür, dass der Nachschub gegen das revolutionäre Frankreich und sagt vo- ausblieb, beim Rückzug falsch aufgeklärt und raus, dass sich Preußen Frankreich unterwerfen schließlich ein russisches Korps im Raum Aar- wird. Als er im März 1799 vom Zaren aus seiner gau/Zürich im Stich gelassen wurde. Österreichi- Verbannung geholt und mit dem Oberbefehl über sche Wortbrüchigkeit, Verrat, ja auch Falschheit

helden. heroes. héros. Bricht in Russland ein heroisches Zeitalter an? und Unzuverlässigkeit der ‚Geschichte der Kam- die Staatlichkeit bezieht, und dem russischen 137 pagne von 1799‘ des Erzherzogs Karl bestim- ‚narod, narodnyj‘ [‚Volk‘ und als Adjektiv für men die russische Sicht des Autors, der damit ‚Volks-…‘, etwa Volkslied], das aber auch nicht seinen Helden wiederum als Opfer äußerer Wid- ethnisch bezogen ist, sondern auf die ‚Volks- rigkeiten zeigt und so erhöht. masse‘ im Sinne von ‚einfachem Volk‘, wird Su- Die negative Darstellung des Erzherzogs, die worow zum allgemeinen Volkshelden und ‚geni- dieser nicht verdient, weil auch er nur Spielball alen Sonderling‘ erhoben (Zamost’janov Genij des Wiener Hofes war und selbst von seinem äl- vojny 416). Das war er zuvor nie gewesen. Dazu teren Bruder, Kaiser Franz II. [I.] nicht unterstützt gehört auch die eher dilettantische Beziehung wurde, ist in militärgeschichtlicher Hinsicht unbe- Suworows zur Kunst und Dichtung [Suworow rechtigt. Dass ein anderer österreichischer Feld- verfasste auch selbst Gedichte], zu mytholo­ herr besser davonkommt, lässt sich wiederum gischen Heldenliedern und antiken Helden. An- mit Suworows ‚heroischer Genialität‘ begründen. ders als mit der komplexen Geschichte Europas Friedrich Josua Prinz von Sachsen-Coburg- im späten 18. Jahrhundert betritt Samostjanow Saalfeld [1737-1815] wurde als Befehlshaber insbesondere mit der russischen Heldenmytho- der verbündeten österreichischen Truppen im logie wieder vertrautes Gebiet, doch dürfte er mit Koalitionskrieg gegen die Türken 1789 [Schlacht der Ansicht falsch liegen, Suworows Name sei in bei Rymnic] zum kaiserlichen Feldmarschall be- Russlands ‚Vaterländischen Kriegen‘ von ‚1806, fördert – auch das eine verletzende Zurückset- 1812 und 1941‘25 ein heroischer Topos gewesen. zung Suworows, der erst fünf Jahre später, im Das lässt sich für die Zeit der Befreiungskriege November 1794, diesen Rang erhielt. Suworows nicht so deutlich behaupten, und wieweit die Su- Verhältnis zum Prinzen war nach Samostjanow worow-Tradition 1941-1945 in der Roten Armee stets ein gutes, weil dieser, ohne militärische verwurzelt war bzw. wurde, wäre ebenfalls noch Originalität, aber mit der Bereitschaft, sich dem zu untersuchen: Die Soldatenlieder jener Zeit genialeren Suworow unterzuordnen, immer ein geben darauf jedenfalls keine Hinweise. williger Partner gewesen sei. In seinem nationalpatriotischen Schwang Die letzten Lebensmonate Suworows, der findet der Autor zu bemerkenswerten apologe- über Augsburg, Prag und Krakau nach Russland tischen Verdikten, die nicht ohne Selbstmitleid zurückkehrte, schildert Samostjanow als einen sind. So lesen wir nach der Feststellung, dass triumphalen Siegeszug. In Prag jubelten ihm die Generäle der heutigen russischen Armee im die tschechischen [sic: nicht die ‚böhmischen‘, vergangenen Jahrzehnt die russische Militärge- (Zamost’janov Genij vojny 399 u. 401.)] Eliten schichte zu einer ‚tragischen‘ gemacht hätten, zu, und der Autor, der nun patriotische Verglei- den Satz: Der feindselige und kritische Blick auf che mit seiner eigenen Gegenwart anstellt, in der Suworow erkläre viel zum Verhältnis der Suwo- Russland vom Ausland nicht verstanden, son- row-Legende und der ‚russisch-sowjetischen dern kritisiert und verleumdet würde [gemeint ist Kultur‘ (ebd. 461). z. B. die westliche Kritik an der pompösen Feier Die Besprechung von Dichtungen auf Suwo- zum 60. Jahrestags des Sieges über Deutsch- row seit dem Ersten Weltkrieg, nach 1918 vor land im Mai 2005], lobt Suworows philosophi- allem von antibolschewistischen Exil-Russen im sche Urteilskraft: „Die Legende [R. N.: Suworow] Ausland, ‚Weißen‘, betrieben, dient Samostja- bedarf keines dokumentarischen Beleges“ (ebd. now eigentlich nur zur Konstruktion einer synkre- 407). tistisch-integrativen postsowjetischen Reichs­ Im gleichen Atemzug werden verschiedene identität, die über gegensätzlichen politischen Widrigkeiten aufgezählt, die zumindest geeignet Anschauungen einem neuen Patriotismus, im waren, den Helden zu hindern oder zu verleum- Idealfall sogar einem Nationalmythos, dienen den: der deutsche Spion Fuchs in Suworows soll (Zamost’janov Genij vojny 470-486). Und Umgebung, der Neid des Zaren auf seine Sie- hier berührt er sich wiederum mit den zeitgenös- ge, dessen Weigerung, den Helden am Hofe zu sischen russischen, historisierenden und heroi- empfangen, schließlich Suworows ‚würdelose‘ sierenden Schöpfern einer solchen integrativen Bestattung im Mai 1800 unter den ehrabschnei- nationalen Identität, an der seit einigen Jahren denden Auspizien eines Feldmarschalls anstelle gearbeitet wird: Die Familie des von den Bol- denen eines Generalissimus.24 schewiki ermordeten Zaren sei ebenso heilig wie Der gut einhundertseitige Abspann des Bu- der in den stalinistischen Säuberungen hinge- ches zu Suworows Nachleben beschwört noch richtete Parteikader oder die NKWD-Schergen einmal das Heroische im Allgemeinen mit Be- [Tenor: „Auch Lenin gehört zur russischen Ge- zug auf den speziellen Fall Suworow. In einer schichte“ (ebd. 486-496)].26 Postmodernismus spitzfindigen Unterscheidung zwischen dem und jegliche Deheroisierung lehnt der zweifel- englisch-französischen ‚national‘, das keine eth- hafte Suworow-Forscher ab. nische Zuschreibung enthält, sondern sich auf

helden. heroes. héros. Reinhard Nachtigal

138 Fast versöhnlich endet Samostjanows eindimen- Expansion, deren Exponent Suworow mit seinen sionale Betrachtung mit der richtigen Feststel- siegreichen Feldzügen war. Die dazugehörende lung, dass Suworows heroischer Ruhm im lan- Epoche – von Peter dem Großen bis Katharina gen 19. Jahrhundert und noch bis zur Revolution der Großen, mit Blick auf die russische Expansi- 1917 nachlebte. Dies hat allerdings auch damit on im 19. Jahrhundert auch dieses – wird als eine zu tun, dass – nicht nur russische – Maler des ruhmreiche, heroische begriffen. Dass in dieser Realismus historische Motive und Schlachten Epoche Russland wohl tatsächlich eine zivilisa- der Zarenarmee bevorzugt auswählten, aller- torische Mission, wenn auch vornehmlich in den dings gelegentlich auch mit kritischem Unterton, vom osmanischen Reich eroberten asiatischen was der weiteren Interpretation bedarf.27 Dabei Gebieten erfüllte, interessiert Samostjanow nicht ist Suworow sogar ein Objekt internationalen weiter: Die ‚pazifistisch-humanitären‘ Folgen der Interesses geblieben, denn die Maler kamen russischen Eroberungen bleiben nebulös, wohin- aus Frankreich, Deutschland, England und Ita- gegen Suworows Milde gegenüber dem besieg- lien (Zamost’janov Genij vojny 491-496). In der ten Feind zuweilen zynisch, dessen angebliche russischen bildenden Kunst ist er sogar seit den Liebe zu und Achtung vor dem Sieger Suworow 1980er Jahren wieder ein Thema: als Bronze- [oder auch vor Russland] unglaubwürdig schei- denkmal oder in der Malerei. nen. Im Zusammenhang mit den territorialen Er- Samostjanows Suworow-Deutungen sind vor oberungen wäre darauf hinzuweisen, dass Ge- dem Hintergrund eines von der Regierung Putins bietsgewinn im russischen historischen Denken verordneten Patriotismus zu sehen. Seit 2001 eine zuhöchst heroisch-ruhmreiche Note hat und wurden Gesetze und Anweisungen zur ‚patrioti- möglicherweise bis heute eine ‚conditio sine qua schen Erziehung‘ erlassen, die in der freien Welt non‘ für russische Staatlichkeit darstellt. Honi unbegreiflich sind und wundersames Erstaunen soit qui pense du conflit en Ukraine. hervorrufen. Am 16. Februar 2001 wurde die Weiterhin betont Samostjanow mehr als sei- Konzeption zur patriotischen Erziehung erlas- ne Vorgänger die Opferrolle Suworows, auch sie sen, am 5. Oktober 2010 ein Staatsprogramm unbedingt ein heroisierendes Element der Figur. der ‚Patriotischen Erziehung der Bürger der Rus- Viktimisierung durch ungerechte Behandlung sischen Föderation für 2011 bis 2015‘.28 Dazwi- trotz offensichtlich großer Verdienste – im Falle schen wurde 2009 sogar eine Zensurbehörde Suworows wohl weniger Märtyrertum – ist eine gegründet, die Verfälschungen der russischen heroisierende Kategorie, die vor dem Hinter- Geschichte verhindern sollte.29 Russischer Pat- grund der russischen Geistesgeschichte weiter riotismus, so lernt man aus staatsnahen Publi- ausgeleuchtet werden müsste.31 Die für russi- kationen, beruht auf dem vorzugsweise ‚militä- sche Patrioten schmerzhafte Vorstellung, dass rischen Heldentum‘ vergangener Generationen, auch das heutige Russland von seinen Nach- das im Wesentlichen um den Zweiten Weltkrieg barn un- oder missverstanden ist und nur geliebt kreist. Suworow wird inzwischen sogar von der und geachtet wird, wenn es schwach und zer- russisch-orthodoxen Kirche sakralisiert.30 stritten ist, verleiht der Sache einen patriotischen Wie sich dies zu den Bemühungen der letz- Schub: Das Land, seine Gesellschaft, ‚narod‘ ten Jahre verhält, einen Sowjet-Mythos mit bedarf historischer Vorbilder, gerade wenn sie russischem Patriotismus zu verbinden, bleibt ebenfalls unverstanden und missachtet waren, zumindest außerhalb Russlands fraglich. Von aber trotzdem dem Vaterland treu dienten und staatlich-halbstaatlicher Seite gibt es seit gut seinen Bestand mehrten. So erweist sich Suwo- einem Jahrzehnt ein synkretistisches Ange- row in einer eher traurig anmutenden Tradition bot an die russländische Gesellschaft. Seriöse heute noch als zentrale, hoch heroisch konno- russische Geschichtsforschung wird sich aller- tierte Integrationsfigur für alles Russische, ganz dings einer heroisierenden Geschichtsklitterung gleich unter welchen Umständen und in welchen schwerlich dienstbar machen. Bereichen es sich artikuliert. Dass der Person dabei kaum historische Gerechtigkeit widerfährt, Im Abgleich mit älteren Darstellungen scheint die steht für die Macher eines neuen Nationalmythos Suworow-Verehrung mit der jüngsten Suworow- auf einem anderen Blatt. Es bleibt abzuwarten, Literatur einen neuen Höhepunkt zu erreichen. ob das aus vergangenen, friedlosen Jahrhun- Ein Boom der russischen Suworow-Publikatio- derten stammende Denken von den russischen nen lenkt seit einigen Jahren die Aufmerksam- Adressaten aufgenommen wird, die nun über ein keit auf den russischen Generalissimus. Neben Jahrzehnt dem neurussischen, heroisierenden der eher herkömmlichen, klassischen Biographie Patriotismus ausgesetzt sind. von Lopatin weisen die Bücher des jüngeren Sa- mostjanow in eine andere, neue Richtung. Diese wird bestimmt von einem regelrechten Bekennt- 1 Englische, deutsche und französische Übersetzungen nis zur russischen imperial-imperialistischen folgten zum Teil unter anderem Titel umgehend 1799 bis 1802.

helden. heroes. héros. Bricht in Russland ein heroisches Zeitalter an?

2 Ein Jahr vor Polewojs Tod 1845 erschien von ihm eine 11 Eine neue Publikation Olympisches Hindernis: eine Ge- 139 Geschichte russischer Feldherren von Peter dem Großen bis neration von Siegern, Moskau 2014 [254 S.] ist eben erschie- Zar Nikolaus I., die aber bis auf den heutigen Tag keine gro- nen und behandelt die Olympischen Spiele als friedlichen ße Verbreitung gefunden hat, möglicherweise weil sie von ‚Kampfplatz‘ im Kalten Krieg. Die kämpferische Auseinander- der Geschichte Bantyš-Kamenskijs verdrängt wurde. Erst setzung mit ‚Russlands Feinden‘ ist also auch hier Thema. 1997 und 2006 erschienen Neuauflagen. Polewojs Suwo- Ganz in diesen Kanon passt auch seine jüngste Publikation, row-Biographie wurde bis 1890 sporadisch neu herausge- die dem Rezensenten bei der Niederschrift noch nicht vorlag: bracht, dann, zur Hundertjahrfeier von Suworows Alpenzug Zamost’janov, Arsenij. My russkie – vrag pered nami drožit! und Sterbejahr wieder häufiger, zuletzt 1914. In der gesam- [Wir sind Russen – der Feind zittert vor uns!]. Moskau: Eks- ten Sowjetzeit findet sich keine Neuauflage. Die Lücke wurde mo-Jauza 2014. [445 S.] Der Buchtitel zitiert einen Suworow- von anderen ausgefüllt. Vgl. nachfolgend zu Rakowskij und Ausspruch, dürfte aber auf die Gegenwart bezogen sein. Grigorjew. 12 Zamost’janov, Arsenij. Suvorov byl neob’’jasnimym 3 Allerdings mit Ausnahme von Standbildern, die seit jener čudom. K 275-letiju so dnja roždenija A. V. Suvorova [Suwo- Zeit vermehrt für Suworow aufgestellt wurden und werden, row war ein unerklärliches Wunder … Zum 275. Jahrestag nicht zuletzt in der Schweiz. der Geburt Suworows]. Moskau: Lepta Kniga, 2006. 4 Antonovič-Zolotarev, Vladimir: Generalissimus A. V. 13 Zu diesem vgl. nachfolgend und Anm. 22. Suvorov: Veršiny Slavy. K 200-letiju švejcarskogo pochoda 14 Als ‚Heroik‘ bezeichnet Samostjanov jede literarische A. V. Suvorova [A.W. Suworow: Die Gipfel des Ruhmes. Gattung, die das Heroische behandelt. Der im Russischen Zur 200jährigen Wiederkehr des Schweizer Feldzugs rein literatursprachliche Begriff ‚geroika‘ ist eine Analogiebil- A.V. Suvorovs]. Moskau: Pravitel’stvo Moskvy – Komitet dung zu russ. ‚poetika‘, dt. ‚Poetik‘. Zamost’janov Russkaja obščestvennych i mežregional’nych svjazej [Regierung von geroika 3 ff. Moskau, Komitee für gesellschaftliche und interregionale Kontakte ], 1999. [471 S., Illustrationen] 15 Ebd. 24. Im Russischen gibt es keine Artikel, so dass für die deutsche Übersetzung drei Lesarten möglich sind: ‚Ge- 5 Die Seite schreibt dazu: „[…] Roman Generalissimus Suworow, und ‚eine Gesellschaft…‘. der im Wesentlichen sein Hauptwerk darstellt. 1941 er- scheint er als selbständige Ausgabe. Das Bild des Feldherrn 16 Helden sind für ihn im 18. Jahrhundert in Russland wurde durch die Zeit[umstände] notwendig. Dieser Figur [R. außerdem durch Stoizismus, Aufopferung und Märtyrertum N.: russ. ‚Bild‘] wandten sich S. T. Grigorjew […, 1940], I. W. konnotiert. In jenem Jahrhundert wird mit Peter dem Großen Bachterew und A. W. Rasumowskij […, 1939] , K. M. Simo- und Suworow ein klassischer russischer Heroismus begrün- now (Gedicht Suvorov, 1940], K. I. Fel’dman […, 1939] und det, der neben dem der griechischen Antike angesiedelt ist. andere zu. Rakowskij gelang es, seine Nische in einer Reihe 17 Bylinen (russ. bylina – ‚Begebenheit‘): epische Helden- zahlreicher Versuche belletristischer Lebensbeschreibungen lieder der russischen Volksdichtung nach legendären oder des russischen Heerführers zu finden.“ historischen Stoffen der russischen Geschichte. 6 So der Titel von Samostjanows zweiter Suworow-Publi- 18 Zamost’janov, Arsenij. Aleksandr Suvorov. I žizn‘ ego kation von 2006. polna čudes. [Alexander Suworow. Auch sein Leben ist voller 7 Unter anderem einer dreibändigen Enzyklopädie, Wunder…] (Biblioteka semeijnogo čtenija). Moskau: Dimitrij i die auch deshalb nützlich ist, weil in ihr russische Militär- Evdokija, 2012. Der Titel ist in der Bibliothek für Familienlek- helden wie andere historische Figuren aus der Zeit vor türe erschienen, richtet sich also in aufklärerischer Absicht und nach dem Vaterländischen Krieg angeführt werden: an ein breites Publikum. Otečestvennaja vojna 1812 goda i osvoboditelʹnyj pochod 19 Samostjanow ist durch seine Ausbildung Literatur- russkoj armii 1813-1814 godov: enciklopedija v trech tomach wissenschaftler und nicht Historiker. Vgl. etwa seine patri- [Der Vaterländische Krieg des Jahres 1812 und der Befrei- otischen Gedichte in Junost‘ [Jugend] Nr. 8 (August 2008), ungszug der russischen Armee 1813-1814: Enzyklopädie in 3-9 oder sein Graždanska molitva strany [Bürgergebet des drei Bänden] Hg. V. M. Bezotosnyj u. a. (Gosudarstvennyj Landes] in ders. Zeitschrift Nr. 10 (Oktober 2008), 8-13, in Istoričeskij Muzej [Staatliches Historisches Museum]). Mos- dem es u. a. um patriotische Erziehung in der Schule und um kau: Verlag Rosspen, 2012. nationale Helden geht. 8 Das ist auch ablesbar an den Neuauflagen älterer Su- 20 Bei diesem auch noch in späteren Kriegen auf ver- worow-Biographien und -Erzählungen. Wie Polewoj wurde schiedenen Seiten von Kriegsgegnern anzutreffenden Topos die zuletzt maßgebliche Biographie von Petruschewskij in enthalte ich mich einer Überprüfung. Die westliche Literatur der Sowjetepoche nicht neu herausgegeben, erst 2005 und vermittelt allerdings ein anderes Bild von der russischen Ar- 2006 erschienen zwei Neuauflagen. Ähnlich verhält es sich mee: Sie war seit Peter dem Großen die größte stehende mit Petruschewskijs anderen Werken zur russischen Ge- Landarmee, die sich stets aus einem unerschöpflichen Men- schichte, von denen nur die Erzählungen der alten Zeit zur schenreservoir, bis 1861 leibeigene Bauern, bedienen konn- Rus’, vom Beginn des Russischen Landes bis Peter dem te und auf Verluste weit weniger Rücksicht nehmen musste Großen [Rasskazy pro staroe vremja na Rusi, ot načala als westeuropäische Armeen. Schließlich steht Samostja- Russkoj zemli do Petra Velikogo] seit 1993 wieder mehrfach nows Behauptung in einem inneren Widerspruch zu der als aufgelegt wurden. Nach dem Ende der Sowjetunion entstand überlegen dargestellten Taktik Suworows. ein großer Bedarf an Literatur zur Zarenzeit, die in der So- wjetepoche marginalisiert bzw. den Fachhistorikern überlas- 21 Zamost’janov Genij vojny Suvorov 412: Hier lautet die sen worden war. Der Bedarf wurde bedient mit einer Masse Formel „Held der russischen Expansion“. von Neuauflagen, Reprint-Ausgaben sowie plagiierten und 22 Das sehr komplexe Verhältnis Suworows zu Russlands zusammengefügten Mischformen. bedeutendstem (höfischen) Odendichter, das wegen der 9 Vgl. dazu die Rezension von Roderick E. McGrew in ‚Heroik‘ wichtiges Thema für Samostjanow ist, muss noch Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 53 (2005), 594-595. ausgeleuchtet werden. Zu Lebzeiten zog Suworow die Dich- tung seines Verehrers Kostrow nicht zuletzt deshalb vor, weil 10 Im Deutschen hat sich diese Schreibweise und Ausspra- Derschawin in seiner länglichen Ode Auf die Erstürmung che etabliert, weshalb sie auch hier verwendet wird. Die kor- Ismails zwar Katharina die Große besingt, aber Suworow rekte russische Aussprache wäre in deutscher Transkription nicht einmal erwähnt. Womöglich spielt auch die Semantik ‚Patjómkin‘.

helden. heroes. héros. Reinhard Nachtigal

140 des Dichternamens für Samostjanow eine unausgesproche- Zamost’janov, Arsenij. Velikij Suvorov i suvorovskij obraz v ne Rolle, denn russ. ‚deržava‘, Adjektiv ‚deržavnyj‘, bedeutet otečestvennoj kul’ture [Der große Suworow und das suwo- ‚Macht, Staat‘. rowsche Muster in der vaterländischen [inländischen] Kul- tur]. Moskau: Era, 2000. 23 Auch Erzherzog Karl erhielt 1806 den Titel eines Gene- ralissimus, was wenig bekannt ist. In Russland hat sich nur ---. Suvorov byl neob’’jasnimym čudom … K 275-letiju so noch Stalin 1945 diesen Titel verliehen. dnja roždenija A. V. Suvorova [Suworow war ein unerklär- liches Wunder … Zum 275. Jahrestag der Geburt Suwo- 24 Ebd. 415. Einem Generalissimus hätten demnach Ehr- rows]. Moskau: Lepta Kniga, 2006. erbietungen wie einem verstorbenen Zaren zugestanden. Suworow hatte 1799 auch den Ehrentitel ‚Cousin des Königs ---. Aleksandr Suvorov Bog vojny [Alexander Suworow, Gott von Sardinien und Thronfolger‘ erhalten. des Krieges]. Moskau: Eksmo Jauza, 2008. 25 Den Ersten Weltkrieg, den man im Zarenrussland ---. Russkaja geroika. Očerki iz istorii literatury. Učebno- 1914/15 ebenfalls als ‚Vaterländischen Krieg‘ zu etikettieren metodičeskie materialy dlja urokov i istorii [Russische He- versuchte, lässt der Autor bezeichnenderweise aus, obwohl roik. Anmerkungen zur Literaturgeschichte. Lehr-metho- bis 1917 an einer heroisierenden Suworow-Tradition ge- dische Materialien für Unterricht und Geschichte] (Serija strickt wurde, die Gegenstand einer eigenen Untersuchung ‚Duchovno-svetskij put’‘). Moskau: ANO ‚Pereprava‘, 2010. des Rezensenten ist. ---. Aleksander Suvorov. I žizn’ ego polna čudes…[Alexander 26 Hier entwickelt Samostjanow krude geopolitische Vor- Suworow. Auch sein Leben ist voller Wunder…] (Biblioteka stellungen von einem multiethnischen russischen Großreich, semeijnogo čtenija). Moskau: Dimitrij i Evdokija, 2012. die offenbar im Jahr 2014 zumindest teilweise verwirklicht [Neuaufl. im gleichen Verlag 2013] werden sollen. ---. Genij Vojny Suvorov. ‚Nauka pobeždat’‘ [Das Genie des 27 Dies ist eigentlich ein neues Kapitel, das der Deheroisie- Krieges Suworow. ‚Die Wissenschaft zu siegen‘] (Genii rung gewidmet sein müsste. Mit dem russischen Schlachten- vojny). Moskau: Jauza ‚Ėksmo‘ Moskau, 2013. maler Wassilij Wereschtschagin (1842-1904) böte sich eine ---. Olimpijskoe protivostojanie: pokolenie pobeditelej [Olym- solche Studie an. pisches Hindernis: eine Generation von Siegern]. Moskau: 28 Zitiert nach Gusenkova, Tamara S. „Patriotizm, glo- Algoritm, 2014. balizacija i nacional’noe gosudarstvo: vzaimodejstvie i protivorečija“ [„Patriotismus, Globalisierung und Natio- nalstaat: Wechselbeziehungen und Widersprüche“]. Pat- riotizm kak ideologija vozroždenija Rossii. Sbornik statej i dokladov [Patriotismus als Ideologie der Wiedergeburt Russlands. Sammelband]. Moskau: Verlag Rossijskij insti- tut strategičeskich issledovanij [Russländisches Institut für strategische Forschungen], 2014: 15-28. Auf S. 27 liest man: „Bleibt festzustellen, dass gegenwärtig als Grundlage für den Stolz und als Quelle patriotischer Haltung die historische Vergangenheit bleibt.“ Die Beiträge des Sammelbands sind zu einer kohärenten, überzeugenden Definition von Patriotis- mus nicht in der Lage, vielmehr betonen sie dessen Wichtig- keit. 29 Die ‚Kommission für Gegenmaßnahmen zu Versuchen der Falsifizierung der Geschichte zum Schaden der Interes- sen Russlands‘ wurde im Mai 2009 durch Erlass des Präsi- denten Medvedev gegründet und nach heftigen Diskussio- nen im Februar 2012 durch Präsidentenerlass außer Kraft gesetzt, vgl. 30 Seit 2005 wird an der Svjato-Tichonovskij gumani- tarnyj universitet [Humanistische St. Tichon-Universität, Moskau] Material gesammelt und erforscht, das Suworows Kanonisierung ermöglichen soll, vgl. 31 Dazu als erste Anregung die psychoanalytische Studie von Rancour-Laferriere, Daniel. The Slave Soul of Russia. Moral Masochism and the Cult of Suffering. New York/Lon- don: 1995.

Literatur

Kindlers Literatur Lexikon, Bd. 2. Hg. Wolfgang von Einsie- del. Weinheim: Zweiburgen Verlag, 1986. Lopatin, Vjačeslav. Suvorov [Suworow] (Žizn’ zamečatel’nych ljudej, 1608. Serija biografij [Das Leben bemerkenswerter Menschen. Biographische Serie]). Moskau: Molodaja Gvar- dija, 2012.

helden. heroes. héros. DOI 10.6094/helden.heroes.heros./2014/02/11

Carolin Bahr 141

Heldenlose Oper? Giacomo Meyerbeers Die Hugenotten, wiederbelebt und neu interpretiert am Staatstheater Nürnberg

Opéra in fünf Akten, Libretto: Eugène Scribe genschaften sowie erschütternde politische und und Émile Deschamps, musikalische Leitung: religiöse Konflikte der realen Historie mit indivi- Guido Johannes Rumstadt, Inszenierung: To- duellen, tragischen Geschicken verknüpft, ein bias Kratzer, Dramaturgie: Kai Weßler, Staats- Schattendasein. Der Komponist, dessen Werk in philharmonie Nürnberg, Chor und Statisterie den 1920er Jahren an Popularität einbüßte und des Staatstheaters Nürnberg und Chorgäste, in der von den Natio­nalsozialisten aufgrund seiner französischer Sprache mit deutschen Übertiteln, jüdischen Abstammung auf den Index gesetzt Premiere: 15. Juni 2014, besuchte Aufführung: wurde, scheint bis heute im Gedächtnis des brei- 20. Juli 2014. Webseite. teren Opernpublikums kaum präsent. Als Gründe dafür führen Meyerbeer-Skepti- Geburts- und Sterbejubiläen von Komponisten ker hartnäckig Argumente an, denen zufolge es werden häufig zum Anlass genommen, um ih- sich bei seiner Musik um eine heute nicht mehr rem Leben und Werk durch Aufführungen, Aus- wirksame und thematisch nicht zündende, von stellungen, Publikationen und wissenschaftliche Effekten überladene Kunst handele, wobei sie Veranstaltungen besondere Aufmerksamkeit zu kritiklos Werturteile übernehmen, die bereits seit verleihen. Diese Praxis scheint, wie das Doppel- Richard Wagners von antisemitischer Abneigung jubiläum Verdi-Wagner 2013 zeigte, umso brei- gegen Meyerbeer getränktem Diktum der „Wir- tenwirksamer, je stärker die jeweiligen Jubilare kung ohne Ursache“ virulent sind. Gegenteiliges die Konzert- und Opernbühnen der Welt sowie beweist allerdings die Nürnberger Inszenierung den wissenschaftlichen Diskurs ohnehin bereits von Les Huguenots (Die Hugenotten), die am dominieren. Ein anderes und umso lobenswerte- 15. Juni 2014 Premiere feierte und auch in der res Interesse verfolgen hingegen jene, die sich aktuellen Saison 2014/15 wiederaufgenommen in diesem Zusammenhang für eine Rückführung wurde. Denn der 2006 mit dem renommierten in Vergessenheit geratener Komponisten in das „ring.award“ ausgezeichnete Schauspiel- und öffentliche Bewusstsein starkmachen. In dieser Opernregisseur Tobias Kratzer inszeniert die Hinsicht gebührt dem Staatstheater Nürnberg Oper, die die gewaltsame Auseinandersetzung besondere Anerkennung, gehört es doch neben der Katholiken und Hugenotten im Umfeld der der Deutschen Oper Berlin und dem Staatsthe- so genannten Bartholomäusnacht im Jahre 1572 ater Braunschweig zu den einzigen deutschen thematisiert, als ein Panoptikum von religiösem Bühnen, die 2014 einen heute vergessenen, Fanatismus, Gewalteskalation und Zerstörung aber im mittleren 19. Jahrhundert an Bedeu- individueller Schicksale und führt so die Brisanz tung und Popularität nahezu unübertroffenen des Stoffes für die Gegenwart unmissverständ- Opernkomponisten und Jubilar auf ihren Spiel- lich und publikumswirksam vor Augen. Dabei plan setzten: Giacomo Meyerbeer. Der Kompo- geht es ihm keineswegs darum, das in der Oper nist, dessen 1836 in Paris uraufgeführte Oper dargestellte Scheitern der Friedensbestrebun- Les Hugue ­nots das Publikum bald in Massen gen der französischen Königin Marguerite de in die europäischen Theaterhäuser zog und zu Valois, die den hugenottischen Ritter Raoul mit den meistaufgeführten Werken des 19. Jahrhun- der katholischen Kardinalstochter Valentine zu derts zählte, ist zwar Gegenstand grundlegender verkuppeln sucht, bevor Missverständnisse und opernhistorischer Studien. Auf den Opern- Intrigen zu einer Eskalation des Religionskon- bühnen hingegen führt sein von der Gattung fliktes führen, als Täter-Opfer-Geschichte darzu- der französischen Grand Opéra dominiertes stellen. Vielmehr kleidet Kratzer die Geschichte ­Oeuvre, das theatrale Opulenz mit neuartigen in eine Rahmenhandlung, in der das Bühnenge- musikalischen und gesangsästhetischen Errun- schehen als schöpferischer Akt einer zum Maler helden. heroes. héros. Carolin Bahr

142 umgedeuteten Nebenfigur der Oper, des Grafen Seine partielle Inaktivität leistet jedoch einem von Nevers, fungiert und in der die handelnden Regiekonzept wie demjenigen Kratzers Vor- Figuren nicht als aggressive Urheber des Ge- schub, in dem die Konflikte nicht auf der schwa- schehens, sondern als passive Leidtragende des chen Agency des Helden beruhen, sondern die schicksalhaften Laufs der Geschichte dargestellt verschiedenen Handlungsebenen als gleichwer- werden. Die Intention des Malers, eine Allego- tige, voneinander unabhängige Tableaus, eben rie des Friedens und Bilder der Versöhnung zu als Motive für die Zeichnungen des Malers dar- entwerfen, entgleitet ihm im Prozess des Malens gestellt werden. So wird die Heldenrolle Raouls, zunehmend, indem die fortschreitende Hand- kostümiert mit Harnisch, Holzfällerhemd und lung und Gewaltzunahme sein Werk und seine Nerdbrille, in Kratzers Inszenierung bereits op- Person zerstören. Er erkennt, dass die Kunst der tisch konterkariert, während Raoul in der drama- historisch realen Welt kein Idealbild entgegenzu- turgisch entscheidenden Verschwörungsszene stellen, sondern lediglich deren Scheitern ästhe- der Katholiken im vierten Akt entgegen der Re- tisch glaubwürdig nachzuzeichnen vermag. gieanweisung szenisch nicht präsent ist, seine Auch wenn diese Verdoppelung der Hand- große Kampfarie im fünften Akt ausfällt und seine lungsebenen als coup de théâtre Kratzers bei Heldentat am Ende dadurch zur Bedeutungslo- einem selten inszenierten Werk wie diesem sigkeit verkommt, dass er erschossen wird, noch nicht gerade nötig, um nicht zu sagen musikdra- bevor er sich den Feinden als Hugenotte preis- maturgisch nicht nachvollziehbar scheint (und gibt. Dass der Held Raoul dergestalt im Neben- in einem Publikumsgespräch im Anschluss an einander der Handlungen untergeht, begründet die Aufführung vom 20. Juli 2014 auch auf we- der Dramaturg der Nürnberger Produktion, Kai nig Verständnis im Auditorium stieß), bringt es Weßler, mit der durchaus nicht abwegigen An- doch eine moderne Lesart zum Ausdruck, die im nahme, dass das Personal von Les Huguenots Werk durchaus angelegt ist: Die durch die Rah- vielmehr aus passiven „Unhelden“ bestehe denn menhandlung erzeugte Distanz zum Gesche- aus Helden, weil die Dramaturgie der Oper nicht hen führt dem aufmerksamen Zuschauer umso auf die Herausstellung von Heldenfiguren und deutlicher vor Augen, wie stark Meyerbeer in -taten abziele. Dem könnte man allerdings dann Les Huguenots auf die Moderne vorausweist, in- widersprechen, wenn man die Ohren spitzt für dem er das Verhältnis zwischen Individuum und die gesanglichen Höchstleistungen, die die Rolle Gemeinschaft sowie die Bedrohung der in Form des Raoul dem Interpreten abverlangt und die in von Chören omnipräsenten Masse für die Frei- Nürnberg von dem mit Starpotenzial ausgestat- heit des Einzelnen durchdekliniert. Denn im Ge- teten Tenor Uwe Stickert meisterhaft bewerkstel- gensatz zu den historiographischen Strömungen ligt werden. Indem der Gesangspart des Raoul des mittleren 19. Jahrhunderts ist Meyerbeers in seinen zahlreichen Arien und Ensemblestü- Geschichtsbild nicht von der Idee großer Männer cken höchste Virtuosität mit tiefster Ausdrucks- und Taten geprägt, sondern von der Übermacht fähigkeit, größte Flexibilität in hohen Tonlagen des Schicksals für das einzelne Subjekt. So ist mit stimmlicher Durchschlagskraft, Lyrisches mit der Held der Oper, der Hugenotte Raoul, eine Dramatischem vereint, artikuliert sich das Hero- für die Interessen verschiedener Parteien einge- ische bei Raoul vielmehr in seiner vokalen Prä- nommene Person mit eingeschränktem Hand- sentation als in seinem dramaturgischen Han- lungsspielraum, der für die Friedensangebote deln – und dies auf eine vor Meyerbeer nie zuvor opportuner Katholiken ebenso instrumentalisiert gehörte Art und Weise. Die Nürnberger Insze­ wird wie für die Kupplungsversuche der Königin. nierung von Les Huguenots lässt dergestalt nur Nur an wenigen, dafür aber dramaturgisch ent- eines zu wünschen übrig: Der Entfaltung des scheidenden Stellen der Handlung wird er aktiv, gesanglichen Potenzials der Meyerbeer’schen etwa wenn er das Heiratsangebot Valentines auf- Heldenfiguren muss genügend Raum geschaf- grund eines Missverständnisses zurückweist und fen und die Bedeutung des Gesangs auf eine mit so die Zuspitzung des Konflikts auslöst, wenn er der Dramaturgie der Handlung ebenbürtige Ebe- sich gegen die Liebe zu Valentine und für den ne gestellt werden, wenn die Musik Meyerbeers Kampf an der Seite der Hugenotten entscheidet die ihr gebührende Renaissance erfahren soll. und wenn er sich im tragischen Finaltableau den Katholiken als Hugenotte stellt und hingerichtet wird. Seine prominente Stellung an den Schlüs- selmomenten der Handlung kennzeichnet Raoul dramaturgisch als den romantischen Helden par excellence, der zwischen Aktivität und Passivi- tät, zwischen Liebe und patriotischem Pflichtge- fühl schwankt und schließlich scheitert.

helden. heroes. héros. 143

Impressum helden. heroes. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen, Sonderforschungsbereich 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ Ulrich Bröckling, Barbara Korte, Birgit Studt Band 2.2 (2014)

Herausgeber: Technische Beratung: Katharina Helm Thomas Argast Jakob Willis Michael Krauße Annette Scheiner Redaktion: Carla Gebauer Grafische Gestaltung: Christiane Hadamitzky Tobias Binnig Christiane Hansen Gero Schreier Kontakt: Jakob Willis SFB 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ Lektorat: Hebelstraße 25 Carmen Flum D - 79104 Freiburg i. Br. Tel.: 0761/203-67600 Redaktionelle Mitarbeit: Fax: 0761/203-67606 Magdalena Gybas www.helden-heroes-heros.de ejournal[at]sfb948.uni-freiburg.de

Das veröffentlichte Material unterliegt dem Urheberrecht. Für die Weiterverwendung gelten die Bedingungen des Creative-commons- Lizenzmodells „Namensnennung – Nicht-kom- merziell – Keine Bearbeitung“ CC BY-NC-ND (siehe http://creativecommons.org).

Für die Inhalte von Webseiten, die verlinkt oder auf andere Weise erwähnt werden, wird keine Verantwortung übernommen.

Der Sonderforschungsbereich 948 „Helden - Heroisierungen - Heroismen“ wird gefördert durch die DFG

helden. heroes. héros. 144

SFB 948 Helden – Heroisierungen – Heroismen

Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Hebelstraße 25 79104 Freiburg

Telefon: 0761 201-67600 Internet: www.sfb948.uni-freiburg.de

helden. heroes. héros.