Neue Bücher – Zur Rezension Terrichtspraxis
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ist: Wie kann sie weiterrechnen, ohne das Sinnhunger »Warum« zu verstehen? Erst als Jahre später Algebra an die Reihe kam, konnte Hena der Peter Buck (Hrsg.): Mathematik endlich wieder Sinn geben, ihr wie gelangt ein Engagement (und ihre Leistungen) wurden mensch zu sinn? schlagartig besser. 212 S. mit zahlr. Aus allen Altersstufen ließen sich Beispiele Abb., kart. EUR dafür anführen, dass jedes Verstehen nicht nur 22,–. Verlag Freies ein Verstehen von Konventionen oder (hier: Geistesleben, Stutt- mathematischen) Zusammenhängen, sondern gart 2006 immer auch ein Verstehen von Menschen ist: »Erklär’s mir, was hast Du dabei im Sinn?« Wie viel didaktisches Bemühen scheitert in unseren Schulen tagtäglich allein deswegen, Bücher Neue Ein sinnerfülltes Leben zu führen gehört zu weil der Sinn für den Sinn aus dem Blick ge- den Grundbedürfnissen des Menschen, das rät? aber immer mehr Zeitgenossen unerreich- »Wie gelangt ein Mensch zu Sinn?«, fragen bar scheint, wie der Wiener Neurologe und daher die 14 vielfältigen Beiträge in der von Psychiater Viktor Frankl (1905-1997) bereits Peter Buck herausgegebenen und geradezu vor einem halben Jahrhundert bemerkte: »Wir künstlerisch gestalteten Buch-»Installation«, leben in einem Zeitalter eines um sich greifen- die den Leser lebendig teilhaben lässt an den den Sinnlosigkeitsgefühls.« Frankl, der Au- regelmäßigen Diskussionsrunden des Erzie- schwitz überlebte, bezeichnete dieses Gefühl hungswissenschaftlichen Kolloquiums beim als »existenzielle Frustration« und entwickel- Bund der Freien Waldorfschulen über »Sinn te eine sinnzentrierte Psychotherapie: die Lo- als Frage an die Pädagogik«. Die Beiträge gotherapie, in der versucht wird, das Leben sind in drei zusammenhängenden Kapiteln wieder nach sinnvollen Werten auszurichten. und zwei Postskripten untergebracht. In der Schule begegnet uns in zunehmendem In einer ersten Annäherung klärt Ernst- Maße, und nicht nur biografisch bedingt bei Michael Kranich die Bedeutung des Sinn- pubertierenden Jugendlichen, die Frage nach begriffs und weist auf die Wirkungen eines dem Sinn. Der Sinnfindungsprozess ist hoch- Wesens oder eines Geschehens hin, denn gradig individuell und kann nicht »gelehrt«, »nur in den Wirkungen liegt das Sinnvolle, wohl aber im (jungen) Menschen angeregt das Bedeutungsvolle oder Sinnwidrige.« Im werden. Ein phänomenologisch ausgerichte- Hauptteil des Buches spürt er dem Sinn des ter Unterricht, Kernbestandteil der Waldorf- chemischen Elements Calcium im Gewebe pädagogik, führt bestenfalls »durch die Sinne der Natur nach, dessen nachweisliche Abson- zum Sinn« der Sache, indem er die Bedeutung derungstendenzen auf der stofflichen Ebene der Unterrichtsinhalte im behandelten Zusam- so etwas wie Selbstständigkeit überhaupt menhang aufleben lässt. Aber Sinn hat viele erst ermöglichen. In dieselbe Richtung zielt Facetten. Martin Rozumeks »Sinnsuche in der Stoff- Hena lernt Rechnen: Dass 4 und 4 zusammen- chemie«, auf der er am Beispiel des Stick- gezählt 8 ergibt, ist für sie kein Problem. War- stoffs als typisch vermittelndes Element einen um aber sollte das dieselbe Zahl sein, die aus prozessualen Stoffbegriff entwickelt: »Stoffe 5 und 3 hervorgeht? Das ist doch überhaupt sind nicht Ursachen von Prozessen, sondern nicht einzusehen! Was für einen Sinn macht Momente zwischen Gewordensein und Ver- das? Und wenn die Sinnfrage nicht geklärt wirklichung neuer Möglichkeiten.« Erziehungskunst 11/2006 1205 Lesenswert ist auch der Beitrag von Chris- Peter Bucks Nachwort macht die Komposi- tian Rittelmeyer über »Aha-Erlebnisse« als tion des Buchs transparent, die den – wie ich Momente der Sinn-Entdeckung, die einen finde – gelungenen Versuch unternimmt, auf engagierten, keinesfalls gleichgültigen Blick Beziehungen und Kontraste zwischen den auf die Phänomene voraussetzen. Erst diese einzelnen Texten hinzuweisen und den Leser, »Leibresonanz«, das Zusammenklingen von auch durch verschiedene Einschübe – Illustra- Sinn und Sinnen, kultiviert den »inneren tionen, Zitate, Gedankensplitter – einzubin- Sinn« (Novalis), der weit mehr ist als »der den, ihn zur Sinnsuche aufzufordern: Seinen Unsinn, den man lässt«. eigenen Sinnbegriff muss er freilich selber Ausgehend von der Shellstudie 2002 stellt finden. Fritz Bohnsack im zweiten Kapitel (»Erfah- Einig sind sich alle Autoren darin, dass die rungsfelder«) den Zusammenhang her zwi- Sinnfrage im Zentrum der Pädagogik steht und schen Sinnbegriff und Seinsvertrauen, beides mehr Aufmerksamkeit verdient. »Sinn sicht- Erziehungsaufgaben. »Ist die Schule als Sinn- bar, verstehbar zu machen ist die Aufgabe ei- vermittlungsinstitut überfordert?« fragt Horst ner modernen, zukunftstüchtigen, sinnvollen Rumpf, der gleich mit vier Beiträgen im Buch Pädagogik« (Harm Paschen). Wenn Schule vertreten ist. Im Hauptteil führt er aus: »Kein nämlich keine primär sinnstiftende Veranstal- Sinn ist je aufgetaucht ohne wartende Auf- tung ist, bleibt dem jungen Menschen letztlich merksamkeit, Leere und Schweigen.« Die nur »existenzielle Frustration«. Möge dieses manchmal leider etwas zu trockene Lesart Buch viele Leser finden und die darin ent- wird durch sein Postskript über »Leichtsinn, haltenen Anregungen auch in den Kollegien Unsinn und kleine Sinnfluchten im Alltag« sinnstiftend wirken! Jürgen Brau beträchtlich aufgeheitert. Hartwig Schiller (»Sinn, Entäußerung, Schmerz«) schildert die Erfahrungen Frankls, der zu sagen pflegte, »… dass es eigentlich Faszination nie und nimmer darauf ankommt, was wir vom Leben noch zu erwarten haben, vielmehr Brücken lediglich darauf: was das Leben von uns er- wartet«, und betont die Bedeutung der We- Joachim von Königs- sensbegegnung für die Sinnerfassung, die der löw: Brücken. Myste- Frankl-Schüler Alfried Längle in der »4W- rien des Übergangs, Methode« zusammenfasst: Wahrnehmen, 264 S., 126 farb. Werten, Wählen, Wirken. Abb., geb. EUR 48,–. Besonders erwähnenswert ist noch der her- Johannes M. Mayer ausragende Beitrag von Wenzel Götte über Verlag, Stuttgart »Sinnerfahrungen an der Geschichte«. In 2005 einem Streifzug durch die Entwicklung des Menschen und der Menschheit umreißt er exemplarisch drei nacheinander sichtbar wer- Wer sie nicht kennt, die Lust auf Brücken, dende, Sinn konstituierende Dimensionen, zu der wird sie mit dem neuen Buch von Joa- denen im 20. Jahrhundert als viertes Motiv chim von Königslöw für sich entdecken. die moralische Selbstbestimmung hinzuge- Nach seinem wegweisenden Buch über »Die kommen ist: Die Beziehung von Mensch zu Flüsse Mitteleuropas« (Stuttgart 1995) hat Mensch und sein Verhältnis zur Natur treten der Autor jetzt einen Band über Brücken in in den Vordergrund. Mitteleuropa vorgelegt. Wieder geht es ihm 1206 Erziehungskunst 11/2006 um das Zusammenspiel von Natur und Kul- des Baumaterials; die Brücke wäre dann noch tur an bestimmten Landschaftspunkten, hier stärker aus ihrer Landschaft heraus verständ- an Flussübergängen. Der vom Verlag opu- lich. lent ausgestattete großformatige Band bietet Historisch erfahren wir aber viel über die über 50 Miniaturen kleiner und großer, alter Bedeutung, die manche Brücken einmal ge- und moderner Brücken mit atmosphärischen habt haben. Das ist besonders der Fall bei der Abbildungen dazu. Der Leser freut sich, Be- herrlichen Werra-Brücke von Creutzburg, der kanntes wiederzufinden und vertieft zu ver- Krämerbrücke in Erfurt, den Brücken von stehen, aber auch auf Neues zu stoßen, das die Heidelberg, Bamberg und Regensburg und Reiselust weckt. vor allem bei der Karlsbrücke in Prag. Auch Zugleich lädt das Buch zum Verweilen und auf die jeweilige geographische Lage der Brü- Nachdenken ein. Dazu wird man vor allem cke wird der Blick gerichtet: meist ersetzte sie durch das Eingangskapitel »Vom Ursprung eine Furt, und der Fluss wurde durch ein Wehr und Sinn des Brücken-Bauens« vorbereitet. aufgestaut, um Mühlen zu betreiben. Das in- Wir werden daran erinnert, dass der Mensch in tensivierte Verkehr und Handel im Mittelalter. Urzeiten den Brückenschlag zwischen Dies- Es ist wohltuend, sich von der behutsamen seits und Jenseits suchte, wovon Märchen und Betrachtungsweise des Autors leiten zu las- Mythen erzählen, was aber auch von Goethe sen und in vergangene Kulturwelten einzu- in seinem »Märchen« von der grünen Schlan- tauchen. ge gestaltet wurde. Doch auch sonst zieht der Einen neuen Impuls erhielt der Brückenbau Autor literarische Darstellungen heran und durch das Aufkommen der Eisenbahn und die macht historische Brückenschläge. Industrialisierung überhaupt. Die ersten Eisen- In drei Schritten führt uns von Königslöw in bahnbrücken waren Ziegelbauten: der Ruhr- Wesen und Entwicklung des Brückenbaus tal-Viadukt bei Herdecke und der Göltzsch- ein: Elementare Formen und Typen des Brü- tal-Viadukt im Vogtland, dieser dem rö- ckenbaus, mittelalterliche Brücken, moderne mischen Pont du Gard nachempfunden. Mit Brücken. der Erfindung des Stahls waren neuartige Brü- Im ersten Abschnitt treffen wir auch auf »pri- ckenkonstruktionen möglich: die 100 Meter mitive« Übergänge, die wir kaum als Brücken über der Wupper schwebende Müngstener bezeichnen würden: Hölzerne Stege, die wie Brücke im Bergischen Land, die zum Kölner ein Stück Natur anmuten, und aus Bruchstei- Hauptbahnhof führende Hohenzollern-Brü- nen errichtete Bogenbrücken, die noch ganz cke oder das »Blaue Wunder« in Dresden, das aus der Natur herauswachsen – harmonische seinen Namen durch die unerwartete Verfär- Überhöhung durch den Menschen. Sie alle bung des Farbanstrichs erhielt. liegen abseits der heutigen Straßen, und es Die Neubauten nach dem Zweiten Weltkrieg bedarf eines