das archiv der arbeiterjugendbewegung Thema Luise und • sammelt und bewahrt Quellen zur Geschichte Personen ·neue bücher der Arbeiterjugendbewegung aus mehr als 100 Jahren Veranstaltungen • es stellt sie der Öffentlichkeit zu Forschungszwecken zur Verfügung • und beteiligt sich selbst an der Aufarbeitung der Geschichte. 2011/II Der Förderkreis ›D okumentation der Arbeiterjugendbewegung ‹ …

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2011/II Archiv der Arbeiterjugendbewegung · Oer-Erkenschwick

Die »Mitteilungen des Archivs der Arbeiterjugendbewegung« werden Archiv der Arbeiterjugendbewegung vom Förderkreis »Dokumentation der Arbeiter­jugend­bewegung« und Haardgrenzweg 77 | D-45739 Oer-Erkenschwick dem Archiv der Arbeiterjugendbewegung herausgegeben. Fon: 02368–55993 | Fax: 02368– 59220 [email protected] | www.arbeiterjugend.de Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Bankverbindung Zeltlagerplatz e.V./Förderkreis Konto-Nr. 701 284 | BLZ 426 501 50 Sparkasse Vest Recklinghausen Redaktion Bodo Brücher, Alexander J. Schwitanski, IBAN DE96 4265 0150 0000 701284 SWIFT/BIC WELA DED1 REK Wolfgang Ullenberg-van Dawen ISSN 1866-3818

Gestaltung Gerd Beck In einigen Fällen konnten die Inhaber von Rechten an Fotografien nicht ermittelt werden. Abbildung Umschlag Bild-Montage Gerd Beck Etwaige Inhaber von Rechten an in diesem Heft abgebildeten Fotos werden gebeten, Kontakt mit dem Archiv der Arbeiterjugendbewegung aufzunehmen. Autorinnen und Autoren anna der Ausgabe ANNA Siemsen 2011/II Symposion Anke Bodo Michael Uwe Susanne SIEMSEN Asfur Brücher Dehmlow Fuhrmann Hertrampf 28. April 2012 Kritische Beiträge der aktuellen Forschung Archiv der Arbeiter- zum Leben und Werk jugendbewegung Oer-Erkenschwick der sozialistischen Pädagogin

Günter Sonja Kay Alexander J. Wolfgang In den letzten Jahren wurden fünf Disser­ ­Dabei ist die Zuweisung von Bildung ­bzw. Debatte über Siemsen eingeordnet werden. Regneri Schlegel Schweigmann- Schwitanski Uellenberg-van tationen zur sozialistischen Pädagogin Erziehung als entscheidendes gesellschaft- Der starke biografisch-his­torische Zugang Greve Dawen ­Anna Siemsen vorgelegt. Damit fand liches Transformationsmoment von zen­ der Forschungsbeiträge verlangt nach einem die lange Zeit vergessene Pädagogin ein traler Bedeutung. weiteren Rahmen­referat, das die methodischen ­neues wissenschaftliches Interesse. Die Ansätze ­resümiert und die Perspektiven einer Pädagogin und Politikerin Anna Siemsen, In einem Symposion wollen wir die neuen ­historischen Pädago­gik aufzeigt. Damit sollen die sich in reformpädagogischen Kon­ Forschungen zu dieser wichtigen Inspi­ erziehungs- und geschichtswissenschaftliche texten sozialdemokratischer, pazifistischer, ratorin auch der Arbeiterjugendbewegung Ansätze interdisziplinär verknüpft werden. europäischer, feministischer und demo­ zusammenfassen und einer breiteren kratischer Provenienz bewegte, wichtige ­Öffentlichkeit vorstellen. Neben den ein- Das Interesse von Angehörigen der SJD – Beiträge für die sozialistische Erziehungs- zelnen Forschungsbeiträgen stehen zwei Die Falken, das eigene pädago­gi­sche Handeln wissenschaft erarbeitet und sich insbe­ Rahmenreferate, die die Forschungsleis- theoretisch zu fundieren, findet Raum in sondere in der Arbeiterjugendbewegung tungen aus unterschiedlichen Perspektiven einem eigenen Workshop, wo Gelegenheit engagiert hat, bietet ein wichtiges und bewerten und verorten. Aus erziehungs- besteht, das Gehörte im Gespräch mit ausge- Anke Asfur, M.A., Studium der Geschichte, Germanistik, Theater-, Film- und Günter Regneri, geb. 1963, ist gelernter Elektroniker. Studium der Geschichte, gleichzeitig zukunftsweisendes Potential wissenschaftlicher Perspektive soll die wählten Refe­renten und Referentinnen zu ­ Fernsehwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum, Geschäftsführerin des Gemanistik und Soziologie mit dem Abschluß Magister Artium. Er ist als Büros Zeitkontext – Dienstleistungen für Wissenschaft, Kultur und Medien Gewerkschaftssekretär in der Gewerkschaft NGG tätig. an konzeptionellen Fragestellungen und ­Aktualität Anna Siemsens für die derzei­ti­ reflektieren und zu vertiefen. in Aachen; inhaltliche Schwerpunkte: regionale Industriegeschichte, Arbeits­ Ideen, um institutionalisierte Formen von gen Diskussionen über Pädagogik aus­ge­ Sonja Schlegel, geb. 1955, Dipl. Sozialarbeiterin, Marte Meo Therapeutin, migration, Geschichte der Frauenerwerbstätigkeit. 20 Jahre Beratung von NS-Verfolgten u. a. im Bundesverband Informa- Bildung solidarischer, menschengerechter lotet und die einzelnen Beiträge in die Weitere Informationen zum Symposion und Workshop sind beim Archiv zu erfragen: Bodo Brücher, geb. 1926, Akademischer Direktor i.R., arbeitet an der tion und Beratung für NS-Verfolgte e.V. Köln, seit 2010 selbstständig und demokratischer werden zu lassen. bisherige erziehungswissenschaftliche [email protected]. Wir bitten um Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld, Arbeitsgruppe (www.auseigenerkraft.com),u. a. Gastdozentin der Universität Köln zum eine formlose Anmeldung an diese Adresse. Jugend/Medien/Forschungsmethoden. Lehramt an Volksschulen (1949), Thema kultursensible Altenhilfe, Referentin (Thema »Marte Meo als Lehrer u. später Schulleiter 1949 bis 1973. Studium der Fächer Deutsch Unter­stützung für traumatisierte alte Menschen«), Forschungsarbeiten und Geschichte (Lehramt für Realschulen,1956), Promotionsstudium der zu Lebenslagen der NS-Verfolgten im vereinten Deutschland und NS-Ver- PROGRAMM Erziehungswissenschaft und Geschichtswissenschaft. Lehramt der Sekundar- folgte in der Altenhilfe, Koordinatorin der Angebote für Menschen über stufe II in Sozialpädagogik, berufliche Fachrichtung u. Geschichte (1980). 60 bei der Ev. Gemeinde Köln. Samstag, 28.04.2012 14.45 Uhr Workshop für Teilnehmende

Promotion zum Doktor der Philosophie im Fach Erziehungswissenschaft. 45 Anna Siemsens Europa-Konzepte der SJD – Die Falken Kay Schweigmann-Greve, geb. 1962, zunächst Wandervogel, seit 1979 aktiv 10. Uhr Schwerpunkt Geschichte der Erziehung (1976). Nebenamtliche Lehrtätigkeit in der Weimarer Republik, bei den Falken, 1990 – 1993 Bezirksvorsitzender in Hannover. Mitbegründer Anna Siemsen – Eine demokratisch-­ 30 00 am Pädagogischen Institut Düsseldorf sowie an den Volkshochschulen. Marleen von Bargen (Hamburg) 19. Uhr – 21. Uhr des dortigen Israel-Arbeitskreises der Falken, seit 2003 Vorsitzender der sozialistische Reformpädagogin Reflexion des Symposions: 15.30 Uhr Kaffeepause Michael Dehmlow, geb. 1976 in Hannover, Dipl.-Sozialpädagoge und ­ Deutsch-Israelischen Gesellschaft in Hannover, seit 2009 des Trägervereins Manuela Jungbluth (Paderborn) Anknüpfungspunkte zur eigenen Arbeit gepr. Finanzbuchhalter Sozialwirtschaft. Mitglied der SJD – Die Falken der Jüdischen Bibliothek Hannover. Arbeitet als Justiziar bei der Landeshaupt- 11.30 Uhr 16.00 Uhr seit 1990, von 1998 bis 2005 Mitglied des Vorstands im Bezirksverband stadt Hannover, promoviert über Chaim Zhitlowsky, einen russisch-jüdischen Die Bedeutung Anna Siemsens Gescheiterte Remigration? Sonntag, 29.04.2012 ­Hannover mit den Schwerpunkten SJ-Ring und Internationales, von 2000 Neukantianer, Sozialrevolutionär und Theoretiker eines säkularen jüdischen Eine sozia­listische Pädagogin in der Erziehungswissenschaft 30 00 bis 2003 Bezirksvorsitzender. Seit 2009 Bundessekretär für Beratung und Diasporanationalismus. in der Hansestadt ­Hamburg Wolfgang Keim (Paderborn) 9. Uhr – 11. Uhr Vernetzung. Vertiefung: Bildung als gesellschaftsver­ Alexander J. Schwitanski, geb. 1971, Studium der Geschichte und Philoso- Alexandra Bauer (Hamburg) 16.45 Uhr ändernde Kraft im Werk Anna Siemsens Uwe Fuhrmann, geb. 1979, hat Geschichte, Soziologie und Erziehungs­ phie. Promotion im Fach Neuere Geschichte, Leiter des Archivs der Arbeiter- 12.15 Uhr Ziele und Perspektiven einer historischen wissenschaften (M.A.) studiert. Er lebt in Berlin und promoviert zurzeit an jugendbewegung. Anna Siemsen – Bildung und Literatur Beschäftigung mit Pädagogen 11.00 Uhr – 11.20 Uhr Pause der FU über den Einfluss von Protesten im Jahr 1948 auf die Entstehung Christoph Sänger (Wuppertal) Till Kössler (Bochum) 20 00 Wolfgang Uellenberg-van Dawen, geb.1950, Promotion im Fach Geschichte, 11 Uhr – 12. Uhr der Sozialen Marktwirtschaft (gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung). 30 Leiter des Ressorts Politik und Planung in der Ver.di Bundesverwaltung, Vor- 13.00 Uhr Mittagspause 17. Uhr Abschlussdiskussion Sicherung der Ergebnisse 00 Susanne Hertrampf, geb. 1962, Studium der Geschichte, Ethnologie und sitzender des Förderkreises »Dokumentation der Arbeiterjugendbewegung«. 14.00 Uhr 18.00 Uhr Ende der Veranstaltung 12 Uhr Gemeinsames Mittagessen Philosophie. Promotion im Fach Neuere und Neueste Geschichte. For- Ende der Veranstaltung Anna Siemsen and the European 18.30 Uhr Abendessen schungsschwerpunkte: Politische Biografie, nationale und internationale Federalism of her Time Frauen­bewegungen. Archivarin der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn. Francesca Lacaitia (St. Andrews, UK)

2011/II 2011/II Archiv der Arbeiterjugendbewegung · Oer-Erkenschwick Archiv der Arbeiterjugendbewegung · Oer-Erkenschwick Editorial •Luise+Kar l Kautsky •Archivtagung 20. – 21. Jan. 2012

Liebe Genossinnen und Genossen,

Zur nächsten Archivtagung laden wir sehr herzlich ein: Diesmal Die Bedeutung Karl Kautskys für die deutsche und internationale ­wieder im nächsten Jahr ab Freitag den 20. Januar 2012 ab 18 Uhr. Arbeiterbewegung zur Zeit der II. Internationale ist unbestritten. Das Thema: Was macht die Gruppe aus und was macht die Gruppe Schon zu Luise Kautsky liegt aber nur wenig biografisches Schrift- mit den Menschen, die sie bilden? Aus der historischen, pädagogi- tum vor und die Würdigungen ihres Lebens beziehen sich zumeist schen und verbandspolitischen Sicht haben dazu schon Autorinnen auf ihre Eigenschaft als Gattin Kautskys, als Freundin Rosa Luxem- und Autoren in den letzten Mitteilungen Stellung bezogen. Den burgs und als Übersetzerin einiger fremdsprachiger sozialistischer Blick auf die Wirklichkeit, soweit dies im Nachhinein möglich ist, Werke. Diesem Mangel werden die beiden Beiträge von Susanne will die nächste Tagung werfen: ganz konkret auf die Arbeit der Hertrampf und Günter Regneri ein wenig abhelfen. Wenn wir uns Gruppen, deren Weg und Wirken sich uns durch ihre Selbstzeug­ in dem vorliegenden Heft aber Luise und Karl Kautsky etwas näher nisse und ihr Selbstverständnis erschließen. Wir sind gespannt, ob widmen, so tun wir dies mit dem Zweck, auch ihre Beziehungen zur wir es schaffen, auf diese Weise nicht nur über die Gruppenarbeit Arbeiterjugendbewegung zu bestimmen. Dazu dienen Artikel wie zu diskutieren, sondern sie auch zuerst einmal nachvollziehen zu die von Kay Schweigmann-Greve und Michael Dehmlow. Sie zei- können. Schön wäre es, wenn möglichst viele von euch an der gen, daß es vor allem die theoretischen Ansätze Karl Kautskys wa- ­Tagung teilnehmen, um dann auch das Spektrum der Erfahrung ren, die bis heute sozialistische Orientierung bei der Bildung einer der Gruppenarbeit und des Gruppenlebens erfahrbar zu machen. selbstständigen politischen Ansicht bieten können. Eben diesen Zweck verfolgt auch die Ausstellung im Luise & Karl Kautsky-Haus, Die euch vorliegenden Mitteilungen widmen sich dem Leben und von der Anke Asfur berichtet. Die genannten Beiträge in diesem Werk von Karl und Luise Kautsky und ihrer Bedeutung für die sozia- Heft vertiefen und ergänzen die Themen der Ausstellung. listische Jugend. Beide gehören nicht zu denen, deren Bezug zur so- zialistischen Jugend so unmittelbar deutlich ist wie etwa der von Zur Besichtigung des Luise & Karl Kautsky-Hauses lädt der Vorstand Karl Liebknecht oder Eduard Bernstein. Dies gilt übrigens auch für des Förderkreises seine Mitglieder aus Berlin und Umgebung herz- . Wenn, dann leistete Kautsky einen wichtigen Bei- lich für Samstag den 26. November 2011 um 17 Uhr ein. Damit trag zur Orientierung und Theoriebildung in der Arbeiterjugendbe- wollen wir vor allem denen, die den Weg in das Archiv nicht oder wegung. Heute hat im Hause, in dem Karl und Luise lebten, der noch nicht geschafft haben, die Möglichkeit geben, sich über unse- Bundesvorstand der SJD – Die Falken seinen Sitz und das gibt Anlass re Tätigkeit zu informieren und mit einem Vortrag über die Berliner genug, sich ihrer zu erinnern. Arbeiterjugend im Widerstand gegen das Nazi Regime auch auf die eigene Geschichte zu schauen. Nach dem Umzug des Bundesvorstands der SJD – Die Falken von Bonn nach Berlin war lange Zeit die Frage offen, wo in Berlin der Zum Schluss: Für den Süden der Republik arbeitet jetzt Hartmut Bundesvorstand eine dauerhafte Heimat finden würde. Mit dem Veitengruber im Vorstand des Förderkreises mit. Hartmut war in Kauf des Hauses in der Saarstraße 14 fand nicht nur die Bundes­ den achtziger Jahren Bundessekretär der SJD – Die Falken und ist geschäftsstelle ein Dach, sondern es eröffnete sich auch die Ge­ Gewerkschaftssekretär bei ver.di in Passau. legenheit, ein Bildungs- und Begegnungszentrum an einem ganz besonderen Ort einzurichten, da das Haus in der Berliner Denkmal- liste als Wohnhaus von Luise und Karl Kautsky geführt wird. Somit konnten die Falken ein Haus erwerben, das als Denkmal für die Bil- Freundschaft! Wolfgang Uellenberg-van Dawen dungsarbeit einen direkten Zugang zur Geschichte der Arbeiterbe- wegung eröffnet. Um Luise und Karl Kautsky als bedeutende Perso- nen der Geschichte der Arbeiterbewegung zu ehren, beschloß der Bundesvorstand der SJD – Die Falken, dem Haus den Namen Luise & Karl Kautsky-Haus zu geben.

1 inhalt Mitteilungen 2011/ZWEI Luise und Karl Thema K a u t s k y

4 Alexander J. Schwitanski Die Kautskys und die Arbeiterjugendbewegung

10 Anke Asfur Leben und Wirken von Luise und Karl Kautsky. Eine Ausstellung im Luise & Karl Kautsky-Haus in Berlin

22 Susanne Hertrampf Luise Kautsky (1864 – 1944). Eine stille Wegbereiterin der Sozialdemokratie

31 Günter Regneri »... kein Mond, der sein Licht von einer fremden Sonne borgen musste« – Die letzten Lebensstationen Luise Kautskys

34 Kay Schweigmann-Greve Karl Kautsky, nationale Identität und Globalisierung

42 Michael Dehmlow Kein Sozialismus ohne Demokratie. Karl Kautsky und die Entstehung eines Begriffs

48 Alexander J. Schwitanski Eine Ohrfeige für Karl Kautsky. Moritat über Ehre und Parlamentarismus in der Arbeiterbewegung

51 Bodo Brücher 90. Geburtstag von Lorenz Knorr

52 Günter Regneri Jugendbrigaden im Spannungsfeld von FDJ und FDGB Tom Strohschneider, Erziehung in der Produktion. Jugendbrigaden in der DDR und der Konflikt um die betriebliche Jugendarbeit 54 Sonja Schlegel Die Spuren der Geschichte Insa Fooken, Jürgen Zinnecker (Hg.), Trauma und Resilienz. Chancen und Risiken lebensgeschichtlicher Bewältigung von belasteten Kindheiten 57 Uwe Fuhrmann Die Schönbrunner Kinderfreunde-Schule Heinz Weiss, Das Rote Schönbrunn. Der Schönbrunner Kreis und die Reformpädagogik der Schönbrunner Schule 60 Alexander J. Schwitanski Engagierte Geschichte Peter Birke, Bernd Hüttner, Gottfried Oy (Hg.), Alte Linke – Neue Linke? Die sozialen Kämpfe der 1968er Jahre in der Diskussion

64 Archivtagung 20. – 21. Januar 2012 Die Gruppe in der Geschichte der Arbeiterjugendbewegung

65 ANNA SIEMSEN SYMPOSIon 28. April 2012 Kritische Beiträge der aktuellen Forschung zum Leben und Werk der sozialistischen Pädagogin

2 t h e m a Luise und Karl Kautsky

Glückwunschtelegramm der Sozialistischen Jugendinternationale an Karl Kautsky zum 75. Geburtstag 1929 Internationales Institut für Sozialgeschichte (IISG), Amsterdam, Nachlaß Kautsky K DXVIII/290.

Glückwunschtelegramm der SAJ Berlin, Gruppe Karl Kautsky, zum Geburtstag 1928 IISG, Nachlaß Kautsky K D II/42

3 Alexander J. thema Schwitanski Luise und Karl D ie Kautsky Kautskys und die Arbeiter- j u g e n d - bewegung

chon Aristoteles warnte den, der seinen Zwänge oder objektiven Gründe für die Eh- Lebenszweck darin sah, nach Ehre zu rung bestimmter Personen, sondern lediglich suchen, vor der Zweischneidigkeit des Argumente für Positionierungen. Unternehmens: Lag nicht mehr Ehre bei dem, der sie vergab, als dem, der Ehre empfing?1 Ehre Wie aber könnten solche Argumente beschaf- ist offenbar ein relationaler Begriff; er be- fen sein, woher rühren sie? Ein Argument für schreibt eine Beziehung zwischen zwei oder die Ehrung einer Person könnte sein, dass diese mehreren Personen und der eine wird nicht ge- durch ihr Wirken die Geschichte der Arbeiter- ehrt ohne jemanden, der ihn ehrt. Man könnte jugendbewegung in einer positiven Weise ver- auch sagen: Die Ehrung einer Person sagt nicht ändert oder gefördert hat. Zu diesen Personen nur etwas über den Geehrten aus, sondern auch gehören viele, die oft nur in einem lokalen über den Ehrenden. Die Ehrung liegt nicht allein Rahmen bekannt sind, wie Hubert Vootz2 oder im Verdienst des Geehrten, sondern der Ehren- Alfred Zingler.3 Es gibt aber auch Personen, de muss diese Verdienste auch als solche wahr- die für die Geschichte der Arbeiterjugendbe- nehmen und anerkennen. Und was ein Ver- wegung von weiterreichender Bedeutung sind, dienst ist, ist je nach historischem Zeitpunkt der deren Relevanz aber durch ein verändertes Ehrung sehr unterschiedlich bewertet worden. ­Geschichtsbild innerhalb des Verbandes ver- schwunden ist. Zu diesen gehört zum Beispiel Wenn wir nach Gründen für eine Ehrung der Eduard Bernstein. In dem historisch angeleg- Kautskys durch die SJD – Die Falken suchen, so ten Spiel »Who is who der Linken« im vom geht es nicht darum, den Diskussionsprozess Bundesvorstand der SJD – Die Falken heraus- zur Namensgebung im Bundesvorstand nach- gegebenen Mitmach-Buch taucht Bernstein im zuzeichnen oder über die Gründe des Bundes- Kartensatz »Revolution 1918« auf,4 nicht je- vorstands zu spekulieren oder dessen Ansich- doch in seiner Rolle als Geburtshelfer der ten über die Mitteilungen zu verbreiten. Viel- norddeutschen Richtung der Arbeiterjugend- mehr soll versucht werden, in einem histori- bewegung, für die er zu früheren Zeitpunkten schen Zugriff die Bedeutung der Kautskys für geehrt wurde.5 In besagtem Buch ist er nur die Arbeiterjugendbewegung zu ermitteln. Die noch Gegenspieler Rosa Luxemburgs, die die obigen einführenden Zeilen sollten jedoch eines zentrale Person des Kartensatzes darstellt. verdeutlichen: Die Geschichte liefert keine

4 Luise und Karl Kautsky, o. J., Fotograf A. Binder IISG, BGC 2/644

Andere Personen prägten die Arbeiterjugend- den wurden und deshalb den Jugendlichen der bewegung durch ihre Ideen, ihre Schriften und ­Arbeiterjugendbewegung zur Orientierung des theoretischen Entwürfe. Der heute bedeutendste eigenen Lebens anempfohlen worden sind.6 unter ihnen ist sicher Kurt Löwenstein, der Diese Kategorie dürfte heute fast bedeutungs- durch seine konstruktive Leistung beim Auf- los sein, denn die Lebensstile und Lebensum- bau der Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinder- stände von Jugendlichen, auch den Mitgliedern freunde und seine theoretische Grundlegung der SJD – Die Falken, dürften so heterogen sein, der Zeltlagerpädagogik weiterhin bedeutsam dass die Vorstellung eines paradigmatischen ist. Andere, die mehr in der Jugendbewegung Le­bensweges kaum auf Akzeptanz stoßen dürf­ wirkten und Arbeiten hinterließen, die auch te. Es sagt entsprechend einiges über den Cha- heute noch lesenswert sind, sind dagegen im rakter der Arbeiterjugendbewegung zu Wei­ma­ historischen Bewusstsein kaum mehr präsent, rer Zeit aus, dass es möglich war, Personen wie z. B. Anna Siemsen. Und die ­Bedeutung diesen Vorbildcharakter zuzuweisen. ­eines Hendrik de Man und dessen Psy­cho­logie des Sozialismus oder eines Gustav Radbruch Ebenfalls heute kaum vorstellbar ist wohl, dass und seiner Kulturlehre des Sozialismus wird für die SAJ in Weimarer Zeit Friedrich Ebert wohl nur noch von wenigen erkannt und dann jene Leitfigur darstellte. Seine Arbeit als Vorsit- innerhalb eines spezifischen Spektrums Weima­ zender der Zentralstelle für die Arbeitende rer Kultur verortet, die ein rein historisches ­Jugend, die er von 1909 bis gegen Ende des Phänomen geworden ist. Ers­ten Weltkrieges ausübte, wurde in der ­Arbeiter-Jugend als die eigentliche Aufbau­ Ein drittes Argument für die Ehrung einer Per- arbeit der organisierten Arbeiterjugendbewe- son ist deren Charakter als Leitbild für Jugend- gung gewürdigt, und zwar unter den Bedin- liche, die Anerkennung ihres Lebens als para- gungen des als »kleinem Sozialistengesetz« be­ digmatisch. Solche »Leitfiguren« wären ­Per zeichneten Reichsvereinsgesetzes. Seine Politik sonen, deren Leben als vorbildhaft empfun- ­ in der Revolutionsphase galt als Eintreten für

5 den »demokratischen Volksstaat«, dessen poli­ti­ der Arbeiter-Jugend, der von Karl Kautsky t h e m a ­sche Form nun der Arbeiterbewegung die Mög­ schon vor dem Ersten Weltkrieg zum Schreiben Luise lichkeit bieten sollte, diese mit sozialistischem auch für angehalten wurde und und Karl Inhalt zu füllen. Das Leben Eberts, sein Auf- sich mit Luise Kautsky über das literarische Kautsk stieg aus ärmlichen Verhältnissen hin zum Schaffen von Berta Selinger austauschte, deren höch­s­ten Staatsamt war gleichsam Garant und Geschichten dann später auch in der Arbeiter- Die Kautskys Beispiel dafür, dass der Aufstieg der Arbeiter- Jugend veröffentlicht wurden.12 Korn vertei- und die klasse in der Republik möglich geworden war. digte Kautsky auch gegen Angriffe aus Groß- Arbeiter­ In Würdigung seiner Verdienste benannten britannien wegen Kautskys Marxauslegung, jugend­ sich viele Gruppen der SAJ nach Ebert und indem er ihn als »Lehrer und Meister« von bewegung auch das Reichsferienheim der SAJ, Schloß »Millionen deutscher Arbeiter« bezeichnete.13 Tännich in Thüringen, wurde Friedrich-Ebert- Heim getauft.7 Die wichtigste Rolle Karl Kautskys war jedoch auch in der Arbeiterjugendbewegung dieselbe, Die genannten Beispiele zeigen, dass Personen die er auch in der weiteren Arbeiterbewegung in der Geschichte der Arbeiterjugendbewegung spielte. Er brachte den jungen Sozialistinnen eine Bedeutung hatten und auch aufgrund die- und Sozialisten den Marxismus nahe. Dies be- ser gewürdigt wurden, die heute kaum mehr gann schon vor 1908, zum Beispiel mit einem im historischen Bewusstsein des Verbandes Artikel zu Karl Marx in der Zeitschrift Die vorhanden sind, einige davon zumindest nicht Junge Garde.14 Hier wird auch offensichtlich, in einer positiven Hinsicht. Wenn nun Luise dass Kautsky um solche Artikel gebeten wur- und Karl Kautsky zu Namensgebern des neuen de, ebenso wie zum Beispiel um ein Grußwort zentralen Hauses der Falken in Berlin wurden, zum Arbeiterjugendtag in Dortmund 1928.15 ist auch dies ein Anknüpfen an eine vergessene Die Wertschätzung für Karl Kautsky vor 1933 Tradition. drückt sich in den Würdigungen aus, die ihm aus der Arbeiterjugendbewegung zuteil wurden. » Sowohl Luise als auch Karl Kautsky waren in Die Apostrophierung Kautskys als Vordenker Wenn nun ­Luise und gewisser Weise für die Arbeiterjugendbewe- des Sozialismus oder Lehrmeister – auch »Leh- Karl Kautsky gung ein lebendiges Gedächtnis zur Geschichte rer der Jugend der Arbeiterklasse«16 – war da- zu ­Namens- der Arbeiterbewegung. Luise sprach bei Ge- bei nicht nur Teil der Glückwunschrhetorik gebern des denkveranstaltungen für Rosa Luxemburg und an­lässlich seines Geburtstages 1924, sondern neuen zen- veröffentlichte in Zeitschriften der Arbeiter­ beschrieb durchaus ernstgemeint die Funktion, tralen ­Hauses jugendbewegung sehr persönlich gefärbte Ge- die Kautsky durch seine Schriften auch für die der ­Falken denkartikel über ihre Freundin Luxemburg.8 Arbeiterjugendbewegung ausübte. Zitate aus in Berlin Auch Kautskys Erinnerungen über Personen seinen Werken schmückten schon einmal die ­wurden, ist der Arbeiterbewegung wurden in Zeitschriften Seiten von Zeitschriften der Arbeiterjugendbe- auch dies ein der Arbeiterjugendbewegung nachgedruckt.9 wegung und seine Bücher wurden besprochen. Anknüpfen Im besonderen Zuschnitt der Arbeiterjugend- Besonders diejenigen seiner Werke, die natur- an eine bewegung war dies eine Funktion, die sowohl und gesellschaftshistorische Themen aufgrif- ver­gessene Luise als auch Karl Kautsky auch in der größe- fen, wurden immer wieder für die Gruppen­ ­Tradition. ren Arbeiterbewegung wahrnahmen.10 arbeit empfohlen und aufgrund ihrer Allge- meinverständlichkeit gelobt.17 Seine älteren Dies galt auch für die Funktion, Knotenpunkt Werke galten auch hier als klassisch. Jedoch im Netzwerk persönlicher Kommunikation hatte Kautsky, aufgrund seiner intensiven theo­ ­innerhalb der deutschen und europäischen retischen Auseinandersetzung zum Beispiel mit ­Arbeiterbewegung zu sein. Davon legen die den Fragen der Friedenssicherung durch inter- zahlreichen Briefe Zeugnis ab, die sich im nationale Organisationen, auch für die politi- Nachlass der Kautskys befinden und einer sys- sche Orientierung in der Weimarer Republik tematischen inhaltlichen Auswertung noch etwas zu sagen.18 Die Auseinandersetzung mit har­ren.11 Darunter sind auch solche von Karl Kautsky half den Jugendlichen, die eigenen po- Korn, von 1909 bis 1927 leitender Redakteur litischen Kämpfe in ihrer Zeit besser zu verste-

6 Luise und Karl Kautsky, 1889, Fotograf: Angerer (Wien), IISG, BG A7/228

7 Luise und Karl Kautsky, 1937, Archiv der sozialen Demokratie (AdsD), Bonn, FA063978

Luise und Karl Kautsky mit ihren Söhnen AdsD, Bonn, FA007117

8 hen. Dabei war die Rezeption Kautskys nicht Der Bundesvorstand der SJD – Die Falken hat unkritisch. Die Lektüre seiner Schriften und ihre es nicht dabei belassen, sein Berliner Haus t h e m a Diskussion in den Zeitschriften der Arbeiter­ nach Luise und Karl Kautsky zu benennen. Luise jugendbewegung setzte einen Bildungsprozess Das Haus, dass auch als Bildungs- und Begeg- und Karl in Gang, in dem sich junge Mitglieder der nungsstätte fungiert, bietet über eine Ausstel- Kautsky ­Arbeiterjugendbewegung in literarischer Aus- lung zu den Namensgebern und eine Biblio- einandersetzung Elemente sozialistischer Theo­ thek mit ihren Werken auch die Chance, sich Die Kautskys rie aneigneten und auf ihre Gegenwart anzu- über das Leben der beiden zu informieren. Die und die wenden lernten. Ehrung wird so zu einem Bildungsangebot, das Arbeiter­ direkt in die Geschichte der Arbeiterjugend­ jugend­ Kautsky lieferte somit das Material, anhand bewegung und der Arbeiterbewegung allge- bewegung dessen junge Menschen sich selbst als Sozialis- mein einmündet. Über die Personen erschließt ten schulten und im sozialistischen Milieu ge- sich diese Geschichte in weiteren Facetten, als danklich verwurzelten. Dieser Funktion war die sie manch populäres Geschichtsbild sonst bie- Tatsache, dass Kautsky innerhalb der Partei tet. Diese Geschichte lebendig halten zu wol- den Zenit seines Einflusses seit dem Ausbruch len, sagt auch etwas über die SJD – Die Falken des Ersten Weltkrieges längst überschritten hat- aus. te, offenbar nicht abträglich. Die Berliner SAJ würdigte Kautsky besonders, als die einhun- dertste Berliner Gruppe Kautsky um Erlaubnis bat, sich nach ihm benennen zu dürfen.19

Die Kautskys und die 1 Aristoteles, Nikomachische Neben den Veröffentli- Arbeiter- 6 Ähnlich argumentiert die 10 16 Otto Jenssen, Karl jugend- Ethik, 1095b – 1096a9 Einleitung in: Edmund Jacoby chungen gibt es im Interna­ ­Kautskys Lebenswerk und bewegung (Immanuel-Bekker-Zählung). (Hg.), Lexikon Linker Leit­ tionalen Institut für Sozial­ die proletarische Jugend, figuren, Frankfurt a.M. , geschichte (IISG), Amster- in: Sozialistische Jugend- 2 Hubert Vootz, 1886–1956, ­Olten, Wien 1988, S. 7f. dam, zahlreiche Briefe im Internationale 2 (1924) sozialdemokratischer Politi- Nachlass der Kautskys mit H. 11, S. 81. ker und Gewerkschafter in 7 Z.B. Buchbesprechung zu entsprechenden Anfragen Viersen; nach ihm wurde das Paul Kampffmeyer, Fritz 17 Etwa Otto Jenssen, Karl um Informationen zur Vor- Hubert-Vootz-Haus der Vier- Ebert, in: Arbeiter-Jugend 16 Kautskys materialistische bereitung von Veröffentli- sener Falken benannt; zu (1924), H. 2, S. 47f.; Emil Rein- ­Geschichtsauffassung, in: chungen über Personen ­seinem Leben siehe Lother hard Müller, Der Weg zur Jungsozialistische Blätter 7 der Arbeiterbewegung. Klouten, Hubert Vootz – Ein Höhe, in: Arbeiter-Jugend 17 (1928), H. 6, S. 184ff.; oder Leben für die Freiheit. Vom (1925), H. 4, S. 98 –100; Karl 11 Nur Teile sind veröffent- die Besprechung von Ver- deutschen Kaiserreich bis zur Korn, Friedrich Ebert und licht, die die Korrespondenz mehrung und Entwicklung Bundesrepublik Deutschland, die Arbeiterjugend, in: mit wichtigen Personen der in Natur und Gesellschaft, Viersen 2008. Arbeiter-Jugend 17 (1925), H. 4 Arbeiterbewegung betreffen in: Arbeiter-Jugend 2 (1910), S. 100 – 103; Erich Ollen­ (Engels, Bernstein, Bebel). H. 14, S. 219. 3 Alfred Zingler, Journalist hauer, Friedrich-Ebert-Heim, und Politiker der Gelsenkir- 12 Die Briefe sind im IISG, 18 Z.B. die Besprechung in: Arbeiter-­Jugend 17 chener SPD, Namensgeber Nachlass Karl Kautsky, KD XIV. zu Der Bolschewismus in (1925), H.6, S.181–183. für das Alfred-Zingler-Haus der Sackgasse, in: Arbeiter-­ 13 Brief von Karl Korn an die in Gelsenkirchen; zu seinem 8 Lusie Kautsky, Karl Lieb- Jugend 23 (1931), H. 2, S. Redaktion des New Leader Leben siehe http://www.ins- knecht, Rosa Luxemburg, 40; oder die Besprechung v. 23. 02.1927, in: IISG, NL titut-fuer-stadtgeschichte.de/ 15. Januar 1919 – 15. Januar zu Wie der Weltkrieg ent- Kautsky, KD XIV/270. Erinnerungsorte/Alfred_ 1929, in: Jungsozialistische stand, in: Der Jungsozialist 1 und_Margarete_Zingler.asp, Blätter 8 (1929), H. 2, S. 53; 14 Karl Kautsky, Was uns (1921), H. 4/5, S. 7. zuletzt am 21.09. 2011. dies., Rosa Luxemburg zum Marx ist. Karl Kautsky an 19 Schreiben der Sozialisti- Gedächtnis, in: Proletarier die Arbeiterjugend, in: Junge 4 Die Falken entdecken. schen Arbeiterjugend Jugend 1 (1920), H. 2, S. 8. Garde 3 (1908), H. 3, S. 1. Das Falken-Mitmachbuch ­Groß-Berlin, Gruppe zum Bauen, Basteln, Bilden, 9 Karl Kautsky, Karl Lieb- 15 Vgl. das Dankesschreiben Moabit 3, an Karl Kautsky Berlin 2007, S. 64 – 67. knecht, in: Junge Kämpfer 3 von Ollenhauer an Kautsky v. 31.10.1929, in: IISGB, (1922), H. 1, S. 88. v. 18.07.1928, in: IISG, NL NL Kautsky, KD II/142a. 5 Siehe dazu den Nachruf Kautsky, KD XVIII/289. auf Eduard Bernstein in: ­Arbeiter-Jugend 25 (1933), Heft 1, S. 29f.

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thema Anke Asfur Luise und Karl Leben und Kautsky Wirken von Luise und Karl Kautsky Eine A u s s t e ll u ng im Luise & Karl Kautsky-Haus in Berlin

Am 12. März 2011 ist das Luise & Karl Kautsky- Die Schriften von Karl Marx und Friedrich Haus in Berlin feierlich eröffnet worden. Im ­Engels zeigten ihm eine Verbindung von Souterrain – dem Seminarbereich – findet sich ­materialistischer Philosophie und sozialisti- eine Ausstellung zu Leben und Wirken von schen Ideen auf. Damit wurde Kautsky zum Luise und Karl Kautsky und zu Aspekten der »Marxisten«. Geschichte der Arbeiterjugendbewegung. 1881 reiste er nach London und traf dort Karl Der folgende Beitrag erläutert das Aus­stel­ Marx und . Der Kontakt zu lungs­­konzept und gibt dabei zunächst einen Engels intensivierte sich, als Kautsky 1885 kurzen Überblick über die Biografie von mit der Redaktion der Zeitschrift Die Neue Luise und Karl Kautsky und über ihre Be­ Zeit nach London ging und dort bis 1890 deutung als ­Publizisten. ­arbeitete.

Am 23. April 1890 heirateten Karl Kautsky und Leben für die Arbeiterbewegung Luise Ronsperger. Luise Ronsperger wuchs in einer gut situierten jüdischen Familie in Wien Luise (1864– 1944) und Karl (1854 – 1938) auf. Sie war Übersetzerin und Publizistin. Nach Kautsky prägten die sozialistische Arbeiter­ ihrer Heirat mit Karl Kautsky wurde sie dessen bewegung in Deutschland und Europa durch engste Mitarbeiterin: Sie redigierte und dis­ ihre Tätigkeit als Publizisten und Theoretiker. kutierte seine Artikel, ordnete und archivierte die Korrespondenz. Selber korrespondierte sie Karl Kautsky wuchs in Prag und Wien in einer mit etlichen Persönlichkeiten der europäischen künstlerisch geprägten Familie unter bürgerli- ­Arbeiterbewegung. Ihre Korrespondenz und chen Verhältnissen auf. Bereits als Schüler be- ihre Publikationen zeigen ihre Verwurzelung in gann er sich mit den Schriften materialistischer den Ideen der sozialistischen Arbeiterbewe- Denker auseinanderzusetzen. Die Ereignisse um gung. Politisch engagierte sie sich als Abgeord- die Pariser Kommune 1871 weckten sein Inte­ nete der USPD in der Berliner Stadtverordne- resse an sozialistischen Ideen. 1875 trat er in tenversammlung. Luise Kautsky verband eine die Österreichische Sozialistische Partei ein. enge Freundschaft mit Rosa Luxemburg.

10 Nach Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 zogen Luise und Karl Kautsky von London nach Stuttgart. Hier war der Sitz des Verlages J. H.W. Dietz, der die Zeitschrift Die Neue Zeit herausgab. 1897 ließ sich die Familie Kautsky mit den drei Söhnen Felix (1891–1953), Karl (1892 – 1978) und Benedikt (1894 – 1960) in Berlin – und damit in unmittelbarer Nähe zum Parteivorstand – nieder.

Bis 1917 arbeitete Karl Kautsky als Redakteur der Neuen Zeit. In der Debatte um die Haltung der SPD zum Ersten Weltkrieg überwarf er sich mit dem Parteivorstand und trat der USPD bei. Die Redaktion der Neuen Zeit wurde ihm entzogen. Danach war er als freier politischer Publizist tätig. 1918/19 war er in der Regierung Großfoto des Rats der Volksbeauftragten beigeordneter mit integrierten Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Displays

1924 zogen Luise und Karl Kautsky nach Wien, wo auch bereits die Söhne lebten. Nach dem Anschluss Österreichs an NS-Deutschland flo- hen Luise und Karl Kautsky 1938 über Prag Logo des nach Amsterdam. Karl Kautsky verstarb dort Luise und Karl am 17. Oktober 1938. Kautsky-Hauses

Luise Kautsky sorgte dafür, dass das private Archiv des Paares – Dokumente, Manuskripte, Die »Kaffeetafel« (Details) Korrespondenz, Fotos – an das Internationale Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam überging, wo sich der Nachlass noch heute be- findet. Sie erlebte den Einmarsch der Deut- schen in die Niederlande. Im September 1944, wenige Wochen nach ihrem 80. Geburtstag, wurde sie nach Auschwitz deportiert, wo sie am 1. November 1944 in der Krankenstation verstarb.

Die Macht des geschriebenen Wortes – Luise und Karl Kautsky als Publizisten

Karl Kautsky war kein Politiker und bekleidete nie ein Amt in der sozialdemokratischen Par- tei. Er beeinflusste die Ausrichtung der Partei allein durch seine schriftlichen Werke. Luise Kautsky wurde vor allem durch die Überset- zung sozialistischer Schriften bekannt.

11 Am 1. Januar 1883 erschien die erste Ausgabe Seine Schriften zum Marxismus, zur materialis­ LKKH der Zeitschrift Die Neue Zeit, gegründet von tischen Geschichtsauffassung, zum Internatio- Luise und Karl Kautsky, August Bebel, Wilhelm Lieb- nalismus und zur Kolonialpolitik, seine histori­ Karl Kautsky- knecht, dem Verleger J. H. W. Dietz und ande- schen Analysen und Kommentare wurden auch Haus ren. Diese Zeitschrift war während der Dauer innerhalb der Arbeiterjugendbewegung gelesen. des sogenannten Sozialistengesetzes (»Gesetz ge­­ Als Theoretiker sah Kautsky es als seine Auf- gen die gemeingefährlichen Bestrebungen der gabe, Arbeiterinnen und Arbeiter aufzuklären Sozialdemokratie«, 1878 –1890) die einzige le- und auszubilden. gale Zeitschrift innerhalb Deutschlands, die von der Sozialdemokratie als eigenes Organ Luise Kautsky übersetzte Werke von Karl anerkannt wurde. Marx, Gilbert Murray, Louis B. Boudin und Paul Lafargue aus dem Englischen ins Deut- Erster verantwortlicher Redakteur war Wil- sche. Durch ihre Arbeit wurden diese Schriften helm Liebknecht, Kautsky übernahm ab 1885 auch deutschen Leserinnen und Lesern zu- die Position des Chefredakteurs. Die weltan- gänglich. Damit leistete sie einen wichtigen schauliche Basis der Zeitschrift war der Mar­- Beitrag zur internationalen Verständigung der x­ismus. Unter Kautskys Leitung bot sie ein Fo- europäischen Arbeiterbewegung. Vor allem die rum für die wissenschaftliche Auseinanderset- in den 1920er Jahren von Luise Kautsky vor- zung mit den Theorien von Marx und Engels gelegte Übersetzung von Karl Marx’ Inaugural­ und die Diskussion ihrer praktischen Umset- adresse der Ersten Internationale 1864 wurde zung in Politik und Programmatik der Partei. innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung ge- würdigt. Die Neue Zeit wurde zum wichtigsten wissen- schaftlichen und theoretischen Organ der Mit Rosa Luxemburg verband Luise Kautsky deutschen Sozialdemokratie und der Zweiten eine enge und herzliche Freundschaft. Diese Internationale. Hier publizierten alle führen- hatte auch Bestand, nachdem sich Rosa Luxem­ den sozialistischen Intellektuellen der europä­ burg mit Karl Kautsky in der Massenstreikde­ ischen Arbeiterbewegung. bat­te 1910 politisch und auch persönlich über­ worfen hatte. Nach dem Tod von Rosa Luxem- In der Auseinandersetzung um die Haltung der burg erschienen in mehreren Zeitungen der SPD im Ersten Weltkrieg kündigte die Partei- Arbeiterbewegung und der Arbeiterjugendbe- führung Kautsky im Oktober 1917 fristlos. wegung Nachrufe von Luise Kautsky. 1929 ver- 34 Jahre lang hatte er als Redakteur der Neuen öffentlichte sie Rosa Luxemburg. Ein Gedenk- Zeit die Arbeit der Sozialdemokratischen Par- buch. Diese Biografie ist geprägt von der tei geprägt und selber über 400 Artikel ­per­sönlichen Beziehung der beiden Frauen. ­geschrieben. Mit dem Verlust der Redaktion verlor Kautsky rapide an Einfluss in der Partei.

1892 erschien Das Erfurter Programm, in sei- nem grundsätzlichen Teil erläutert von Karl Kautsky. Dieses Buch fand als grundlegende, anschauliche und verständliche Einführung in die marxistische Theorie eine breite Leser- schaft in der Arbeiterbewegung. Allein bis 1933 sind die Erläuterungen in 14 teilweise überarbeiteten Auflagen erschienen und in 23 Sprachen übersetzt worden. Der Kommen- tar zum Erfurter Programm begründete in den 1890er Jahren Kautskys Autorität als Theo­ retiker der deutschen und der internationalen Arbeiterbewegung.

12 Die Ausstellung

Räumliche Rahmen- bedingungen im Luise & Karl Kautsky-Haus

Die Ausstellung befindet sich im Untergeschoss des Luise & Karl Kautsky-Hauses (LKKH) – im Wesentlichen im kleineren der beiden Semi­ nar­räume. Weitere Ausstellungsteile sind an den Wänden im Empfangsbereich sowie im hinte- ren Bereich (Zugang für Rollstuhlfahrer im Untergeschoß) installiert.

Es gibt somit keinen eigenen Ausstellungsraum im LKKH, sondern die Ausstellung musste sich in die vorgegebene Raumnutzung einfügen. Sie sollte nicht zu dominant wirken, damit auch andere Veranstaltungen in den Räumlichkeiten Modul-Wand (Details) stattfinden können. Aufgrund der Raumsitua- Thema Internationalismus tion war auch schnell klar, dass es eine Bild- Text-Ausstellung werden wird, mit kleinen Möglichkeiten einer multimedialen Nutzung. Raum für Vitrinen und damit für dreidimensi- onale Exponate gibt es im LKKH nicht.

Inhaltliche Rahmenbedingungen

Das LKKH ist die Bundesgeschäftsstelle der Sozia­listischen Jugend Deutschlands – Die Falken und weitere Bildungsstätte des Verbandes – neben u. a. dem Kurt-Löwenstein-Haus und dem Sal- vador-Allende-Haus. Zudem beherbergt es – in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-­ Stiftung – die Karl-Kautsky-Bibliothek. Als Bil­ dungsstätte wird das Haus nicht nur von Falken- gruppen genutzt, sondern auch von anderen Jugendverbänden.

Wie eine Gedenktafel am Haus angibt, lebten Luise und Karl Kautsky von 1900 bis 1902 in diesem Haus. Auch die folgenden Jahre wohnten sie in Friedenau (Saarstraße 19, Niedstraße 14) und in unmittelbarer Nachbarschaft zu August Bebel und Rosa Luxemburg. Bei Familie Kauts­ ky trafen sich die führenden Köpfe der deut- schen und der europäischen Arbeiterbewegung.

13 Für diese Geschichte ist das LKKH ein Zeug- Die beiden Themenkomplexe »Kautsky« und LKKH nis. Gleichzeitig erhält das LKKH mit dem Ein­ »Arbeiterjugendbewegung« werden dabei nicht Luise und zug der Sozialistischen Jugend Deutschlands – getrennt dargestellt, sondern direkt thematisch Karl Kautsky- Die Falken eine neue Bestimmung, die aller- miteinander verknüpft. Zwei Leitmotive bilden Haus dings an alte Traditionen anknüpft. den inhaltlichen Rahmen der Ausstellung:

Vor diesem Hintergrund galt es, mit der Dauer­ Die »Kaffeetafel« ist das Einleitungsbild der Aus­ ausstellung im LKKH zwei inhaltliche Schwer- ­stellung und dient der Vermittlung des roten punkte miteinander zu verbinden: Leben und Fadens »Offenes Haus der lebendigen Diskus- Wirken von Luise und Karl Kautsky innerhalb sion und der Bildung«. Die Idee dahinter: Das der deutschen und europäischen Arbeiterbe- Haus der Kautskys war ein Haus, in dem nach- wegung sowie die Geschichte und Entwicklung weislich viele führende Vertreter der deutschen der deutschen und internationalen Arbeiter­ und der europäischen Arbeiterbewegung ver- jugendbewegung. kehrten. Mit August Bebel und Rosa Luxem- burg verband die Kautskys sogar eine sehr ­enge, freundschaftliche Beziehung, die auch Die Ausstellung verfolgt im Wesentlichen von der unmittelbaren Nachbarschaft lebte. ­folgende Ziele: Diese faktische Überlieferung eines gastlichen Hauses, in dem über die Ziele der Arbeiterbe- • Sie soll den Besucherinnen und Besuchern wegung diskutiert wurde, wird erweitert in den Bezug des Hauses verdeutlichen, d. h. ­einem Bild, in dem mehrere maßgeblich an den Leben und Wirken des Ehepaars Kautsky er­ Debatten der Zeit beteiligten Personen an einer läutern. • Sie stellt die Tradition des Hauses Tafel versammelt sind, rund um das Ehepaar als Ort der lebendigen Diskussion, als Ort der Kautsky als Gastgeber. Damit ist die Kaffee­ wissenschaftlichen und theoretischen Aus­ tafel nicht mehr faktisch, sondern fiktiv. Ver- einandersetzung mit gesellschaftlichen und mittelt werden soll ein Bild lebendiger und ­politischen Fragen der Zeit, als Ort zur Ent- durchaus kontroverser Diskussion. Um eine wicklung praktischer Lösungsansätze heraus. Brücke zur heutigen Nutzung zu schlagen, fin- • Als Bundesgeschäftsstelle und Bildungsstätte den sich im Bild der Kaffeetafel auch Personen der SJD – Die Falken soll das Haus ein Ort der des 21. Jahrhunderts wieder – so, wie sie sich Identitätsbildung des Jugendverbandes sein in den Gruppen der SJD – Die Falken finden (Selbstvergewisserung durch den Blick auf die könnten. eigene Verbandsgeschichte) und diese Identität auch nach außen vermitteln. Das andere Leitmotiv der Ausstellung ist die Einteilung in Themenkomplexe, die diachron, im zeitlichen Längsschnitt, behandelt werden. Inhaltliches Konzept Eine Verbindung von Luise und Karl Kautsky mit der Geschichte und Gegenwart der Arbei- Die Ausstellung vermittelt einerseits Leben terjugendbewegung lag vordergründig so erst und Wirken der Namensgeber des Hauses und einmal nicht auf der Hand – außer natürlich liefert andererseits vor dieser (historischen) die Tatsache, dass beide auch in den Organen ­Folie Impulse für eine aktive Auseinanderset- der Arbeiterjugendbewegung publizierten und zung innerhalb der politischen und gesellschaft­ dass die Schriften von Karl Kautsky (bspw. lichen Jugendarbeit. Das heißt, es wird ein Bo- zum Thema Marxismus) durchaus gründlich gen gespannt vom historischen Kontext der von den Jugendlichen rezipiert wurden. Auf Kautskys zur aktuellen politischen Bildungs­ der anderen Seite sind die Themen, mit denen arbeit. Den (jugendlichen) Betrachtern soll er- sich die Kautskys auseinandergesetzt haben, sichtlich werden, dass die damals in diesem immer auch Themen der Arbeiterjugend gewe- Haus durch die »Großen« der Sozialdemokratie sen und sind es bis heute. So kann an jedem diskutierten Fragen noch immer aktuell sind Themenkomplex dargestellt werden, welche und weiterer Lösungsansätze bedürfen. Sichtweise Luise und/oder Karl Kautsky ver-

14 traten, wie – teilweise kontrovers – das Thema auf die historische Perspektive, den Rückblick innerhalb der Arbeiterbewegung diskutiert auf die Zeit von Karl und Luise Kautsky. Hier wurde, und wie sich die Arbeiterjugendbewe- wird die Sicht Kautskys im Zusammenhang gung seit über 100 Jahren mit den Themen aus- mit den kontroversen Debatten innerhalb der einandersetzt. Arbeiterbewegung erläutert. Wo es möglich war, dokumentieren zeitgenössische Quellen Jedes dieser Themen lässt sich mit mindestens und Bil­der das Thema. Die historische Person, einer Person an der »Kaffeetafel« verbinden, die die maß­geblich neben Kautskys mit dem maßgeblichen Einfluss auf die zeitgenössi- ­ ­Thema verbunden ist, wird mit einer kurzen sche Debatte hatte. Häufig nahmen diese Biografie und ihren Statements vorgestellt. ­Personen dabei konträre Standpunkte zu den ­Besondere Begriffe werden zum besseren Kautskys ein. ­Verständnis in zusätzlichen Lexikontexten ­näher erläutert.

Struktur Siehe Seite 17 Einen wesentlichen weiteren Teil des Themen- komplexes nimmt die Darstellung der Sicht- Sechs zeitübergreifende Themen werden weise der Arbeiterjugendbewegung ein: Wie in der Ausstellung ausführlich behandelt: wurde und wird das Thema innerhalb der ­Arbeiterjugendbewegung behandelt? Histori- Marxismus sches und aktuelles Quellen- und Bildmaterial Mit dem Thema verbundene historische Person: Eduard Bernstein dokumentiert die Arbeit des Verbandes.

Demokratie Das reichhaltige Quellen- und Bildmaterial der Mit dem Thema verbundene historische Person: einzelnen Themenkomplexe insgesamt stammt Rosa Luxemburg aus dem Archiv der Arbeiterjugendbewegung Internationalismus und dem Archiv der sozialen Demokratie der Mit dem Thema verbundene historische Person: Friedrich-Ebert-Stiftung, ergänzt durch Foto- Kurt Löwenstein grafien aus dem Bestand des Internationalen Antimilitarismus Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam. Mit dem Thema verbundene historische Person: Karl Liebknecht Jedes Thema enthält Hinweise auf Schriften der Kautskys. Mit diesen Hinweisen wird ein Geschlechtergerechtigkeit Bezug hergestellt zur Kautsky-Bibliothek im Mit dem Thema verbundene historische Person: August Bebel LKKH. Diese kann genutzt werden, um sich intensiver mit Luise und Karl Kautsky und Antifaschismus ­ihren Publikationen auseinanderzusetzen. Mit dem Thema verbundene historische Person: Clara Zetkin Natürlich kann eine Ausstellung im LKKH nicht auskommen ohne den Bezug zu Luise Jedes Thema besteht aus folgenden Elementen: und Karl Kautsky selber. Neben den sechs an- Einleitungstext, historische Debatte, Biografie, gesprochenen Themenbereichen finden sich in Lexikontexte, Sicht der Arbeiterjugendbewe- der Ausstellung darum an zentraler Stelle die gung, Materialien. Der Einleitungstext bietet den Biografien von Luise und Karl Kautsky sowie Ausstellungsbesucherinnen und -besuchern einen ein Überblick über ihr Wirken als Publizisten. Einstieg über aktuelle Bezüge zum Thema: Zur Verortung des LKKH im Stadtteil gibt es Welche Fragen beschäftigen uns heute? Warum zudem einen Bereich über Friedenau und die ist das Thema heute relevant? Es geht darum, Wohnorte der Kautskys, Rosa Luxemburgs die Besucherinnen und Besucher in ihrer Ge- und August Bebels. Alle drei Themen werden genwart zu erreichen, sie bei eigenen Fragen, durch kurze Texte erläutert und mit reichlich bei ihrer eigenen politischen Arbeit abzuholen. Bild- und Textmaterial in je einem digitalen Der Text dient auch als Einleitung für den Blick Bilderrahmen ergänzt.

15 Umsetzung und Gestaltung tionen ausgewählt werden. Jede Einheit hat LKKH eine eigene Farbscala (z. B. Orangetöne im Be- Luise und Die einzelnen Themenfelder der Ausstellung – reich Marxismus), so dass alle zu einer Aus- Karl Kautsky- einschließlich der Biografien, der Tätigkeit als stellungseinheit gehörenden Tafeln auf einen Haus Publizisten und der Geschichte von Friedenau – Blick farblich erkennbar sind. Diese Farbge- sind inhaltlich sehr komplex. Die Zielgruppe bung findet sich wiederum bei den hervorgeho- der Ausstellung sind Besucherinnen und Besu- benen historischen Persönlichkeiten auf dem cher des LKKH, Mitglieder des Jugendver­ Bild der Kaffeetafel im Empfangsbereich wie- bandes, vor allem aber Teilnehmerinnen und der (bspw. orange Rand bei Eduard Bernstein Teilnehmer an Seminaren. Insgesamt ist von gleich Zuordnung zum Bereich Marxismus). einer kurzen Verweildauer der Ausstellungsbe- Damit wird auch optisch eine Verbindung zwi- sucher auszugehen, z. B. während der Kaffee- schen der Kaffeetafel und den Ausstellungsein- pause eines Seminars. Darum war es für die heiten hergestellt. Umsetzung der Ausstellung wichtig, die ein­ zelnen Themenkomplexe in ihrem Kern zu er- Der Ausstellung im LKKH wünsche ich viele fassen und möglichst kurz und prägnant dar- interessierte, kritisch diskutierende Besuche- zustellen. rinnen und Besucher.

Ein Mittel sind die kurzen Texte. Die einzelnen Texte innerhalb eines Themas sollten nicht mehr als 2.000 Zeichen haben, die Lexikon- Impressum der Ausstellung texte zwischen 500 und maximal 750 Zeichen. Eine einfache und klare Sprache hilft zudem, Konzeption die komplexen Inhalte anschaulich zu vermit- Sven Frye, Rinske Reiding, teln. Wer sich weitergehend mit einem Thema Nico Runge beschäftigen möchte, findet z. B. in der Kauts­ky- SJD – Die Falken, Bundesvorstand Bibliothek Material. Dr. Alexander J. Schwitanski Die Themenkomplexe Marxismus, Demokra- Archiv der Arbeiterjugendbewegung tie, Geschlechtergerechtigkeit, Internationalis- Mario Bungert mus, Antimilitarismus und Antifaschismus ver­ Archiv der sozialen Demokratie – teilen sich auf zwei gegenüberliegende Wände Friedrich-Ebert-Stiftung im kleinen Seminarraum. Die Informationen (Bilder, Quellen, Ausstellungstexte) sind auf Anke Asfur Tafeln (30 x 30 cm) aufgebracht, die sich ver- Zeitkontext – Dienstleistungen schieben lassen. Jede Ausstellungseinheit ver- für Wissenschaft, Kultur und Medien fügt über drei Ebenen hintereinander. Das heißt, die Besucherinnen und Besucher können Gestaltung durch das Verschieben einzelner Tafeln dahin- Markus Zink, Agnes Gensichen, ter liegende weitere Informationen, Bilder, Quel­ Dirk Lüde len finden und sich so langsam durch eine the- Ausstellungs-Design matische Einheit hindurch lesen und gucken. Gerd Beck, Christina Hausiel, Alle Einheiten sind grafisch nach demselben Jan Tautenhahn Muster gestaltet, so dass es nach einer ersten Grafik-Design Orientierung schnell möglich ist, Texte zur Kautsky-Zeit, Lexikontexte oder Darstellungen Stefan Kübler zur Arbeiterjugendbewegung voneinander zu Künstlerische Gestaltung unterscheiden und in den anderen Ausstel- lungseinheiten jeweils wiederzufinden. Es bleibt den Besucherinnen und Besuchern überlassen zu entscheiden, wie viele und welche Informa-

16 Thementafel Mit dem Thema verbundene Person Thementafel Mit dem Thema verbundene Person ANTIFASCHISMUS Clara Zetkin GESCHLECHTER- AUGUST BEBEL GERECHTIGKEIT

Thementafel Mit dem Thema verbundene Person Thementafel Mit dem Thema verbundene Person ANTIMILITARISMUS KARL LIEBKNECHT MARXISMUS EDUARD BERNSTEIN

Thementafel Mit dem Thema verbundene Person Thementafel Mit dem Thema verbundene Person INTERNATIONALISMUS KURT LÖWENSTEIN DEMOKRATIE ROSA LUXEMBURG

17 A B C

1

2

3

4

Thementafeln ANTIFASCHISMUS (Auswahl) Thementafeln A1 Thema mit Bibliotheksverweis ANTIFASCHISMUS A2 Sicht der Arbeiterjugendbewegung zum Thema (S. 18 Tafel links unten) (Auswahl) A3 Historische Debatte (S. 18 Tafel Mitte) B2 Enough is Enough! Einleitungstext B4 Antifaschismus Lexikontext C1 Clara Zetkin Biografie der zum Thema bezugnehmenden Person A4 · B1 · B3 · C2 · C3 · C4 Bildquellen, Grafische Materialien

18 Thementafeln ANTIFASCHISMUS Ausschnitt Ausstellungswand (Ausschnitt) Verortung des LKKH im Stadtteil Friedenau mit den Wohnorten der Kautskys, Eduard Bernsteins August Bebels und Rosa Luxemburgs

20 Ausstellungswand (Ausschnitt) Die Macht des geschriebenen Wortes Luise und Karl Kautsky und ihr publizistisches Werk

21 thema Luise und Karl L uise Kautsky K a u t s k y Eine stille W e g b e r e i t e r i n der Sozial- demokratie Susanne hertrampf

m Februar 1912 schrieb Luise Kauts­ky zwei Bände Deines Marx, die vor mir liegen, an den russischen Sozialisten Rjazanov, zeigen mir erst, was für eine Riesenarbeit Du Herausgeber der ersten Marx/Engels- geleistet hast; das stellt man sich gar nicht so Gesamtausgabe: »Nun zu den ital(ienischen) Ar­ vor, bis man es leibhaftig sieht. […] nur hier tikeln von Marx und Engels. Ich bezweifle, und da habe ich gekostet, aber was ich las, dass ich genügend gut Italienisch kann, um sie macht als Lektüre (ich meine die Übersetzung) zu übersetzen. Da kommt es doch auf Fein­ einen äußerst gediegenen Eindruck: man spürt heiten im Ausdruck an«.1 Hier spricht eine nämlich die Übersetzung gar nicht, und das ist Person, die bereits Erfahrung mit Überset- das höchste Lob.«5 zungsarbeiten hat und ihre Kompetenzen ein- zuschätzen vermag. Als Luise Kautsky 1907 Als Übersetzerin musste Luise Kautsky mit viel begann, Louis B. Boudins2 Analyse des marxis- Gespür sowohl für die fremde als auch für die tischen Systems aus dem Englischen zu über- eigene Sprache agieren. Nach dem Urteil von setzen, bereiteten ihr vor allem die technischen Rosa Luxemburg schien sie die Ideen von Marx Ausdrücke »ziemliche Mühe«.3 Aber sie gab und Engels möglichst authentisch wiedergeben nicht auf und legte so den Grundstein für wei- zu können. Dadurch gelang es ihr, sozialisti- tere Übersetzungen nicht nur aus dem Engli- sches Gedankengut, verfasst in fremder Spra- schen, sondern auch aus dem Französischen.4 che, dem deutschen Publikum nicht nur zu übermitteln, sondern auch verständlich zu ma- Auch wenn Luise Kautsky Rjazanov bezüglich chen. Die beiden Bände der Schriften von Marx der italienischen Artikel von Marx und Engels und Engels wurden bereits 1920 zum zweiten eine Absage erteilte, so übersetzte sie doch de- Mal aufgelegt. Heute sind sie über die Web­ ren Schriften aus dem Englischen. Diese große seite der Open Library weltweit einsehbar.6 Übersetzung erschien 1917 in zwei Bänden beim Dietz-Verlag unter dem Titel Gesammelte Mit ihren Übersetzungen hat Luise Kautsky Schrif­­ten von Karl Marx und Friedrich Engels, daran mitgewirkt, politische Ideen über natio- 1852 bis 1862, insgesamt umfasst sie mehr als nale Grenzen hinweg zu transferieren. Darüber 1.000 Seiten. Für diese Arbeit, die während des hinaus stand sie in Kontakt mit einer Vielzahl Ersten Weltkriegs entstanden war, erhielt sie an­ führender Sozialisten und Sozialistinnen, nicht erkennende Worte von Rosa Luxemburg: »Die nur aus der deutschsprachigen, sondern auch

22 aus der internationalen Arbeiterbewegung. Auf­ grund dieser engen Tuchfühlung zur Sozial­ demokratie entwickelte sie sich zu einer Luise Kautsky, o. J. IISG, BG B2/506 ­be­deutenden Kennerin sozialdemokratischer ­Ideen und Geschichte. Den entscheidenden ­Impuls für diese Entwicklung gab sie wohl selbst, als sie sich schon in jungen Jahren so­ zialistischen Ideen zuwandte.7

Von Wien über Stuttgart nach Berlin

Luise Kautsky, geborene Ronsperger, wurde am 11. August 1864 in Wien geboren. Die Familie Ronsperger gehörte zum assimilierten jüdischen Bürgertum. Ihre Eltern besaßen eine Kondito- rei, was der Familie ein gutbürgerliches Leben ermöglichte. Wann und durch wen bzw. auf- grund welcher Ereignisse sie mit sozialistischen Strömungen in Berührung kam, geht aus den vorliegenden Quellen nicht hervor.8 Tatsache ist, dass die Verelendung der Arbeiterklasse viele Menschen in Österreich bewegte und sozia­ listische Ideen aus dem politischen Diskurs nicht mehr wegzudenken waren. Vor diesem Hinter- grund lernte Luise Ronsperger – wohl im Geschäft ihrer Eltern – die engagierte Sozial­demokratin Minna Kautsky (1837 –1912) kennen. Die hatte sich vor allem mit sozialistischen Romanen einen Namen gemacht. Über diese Bekanntschaft kam Luise Kautsky in Kontakt mit dem ältesten Sohn der Schriftstellerin, den sozialdemokrati- schen Parteiintellektuellen Karl Kautsky.

Noch war Karl Kautsky mit Louise Kautsky Freude an der geistigen Auseinandersetzung (geborene Strasser) verheiratet. Unterschiedli- war es wohl auch gewesen, die beide im inners- che Temperamente und wohl auch Interessen ten zusammengeschweißt hatte, so dass Luise führten letztlich dazu, dass sich die Ehepartner ihre kurzzeitige Trennung im Jahre 1908 über- auseinanderlebten. Die Ehe wurde Ende 1889 dachte und zu ihrem Ehemann zurückkehrte. geschieden.9 Wenige Monate danach, am 23. Ähnlich schien es Julie Bebel gesehen zu haben: April 1890, heirateten Luise Ronsperger und »Ihr werdet an der gemeinsamen geistigen Ar- Karl Kautsky. Rückblickend über das Glück, beit Euch wieder emporrichten und vergessen, einen wirklichen Gefährten gefunden zu haben, was Euer eheliches Glück zu vernichten droh- schrieb sie 1904: »Ich frag mich ja so oft, wieso te. Daß die geistige Arbeit überhaupt Dich am es gerade mir beschieden war, in dieser Welt Zugrundegehen hindert, ist ein Beweis, wie sehr voll Nieten einen solchen Haupttreffer zu ma- Du an ihr hängst und Dich mit ihr immer in­ chen«.10 Karl Kautsky unterstrich gegenüber niger befreundest, um mit der Zeit etwas tüch- Eduard Bernstein die geistige Verbundenheit, tiges zu leisten; das muß Dir aber auch zu den- die er mit Luise empfand: »Wie ich sehe, hat ken geben, daß Du in einer anderen Sphäre Luise ganz dasselbe geschrieben wie ich – zwei nicht mehr Befriedigung finden wirst«.12 Seelen und ein Gedanke!«11 Die gemeinsame

23 Das junge Paar zog im August 1890 nach Stutt­ »Liebste Lulu!«17 – Freundschaft t h e m a gart. Noch im gleichen Jahr trat Luise Kauts­- mit Rosa Luxemburg Luise ky der deutschen Sozialdemokratie bei. Anfangs und Karl schien die Welt der Kautskys noch vom Familien­ Luise Kautsky wurde nicht nur als Gesprächs- Kautsky glück geprägt zu sein. Luise Kautsky gebar kurz partnerin geschätzt, sondern auch als eine nacheinander drei Söhne: Felix (1891), Karl jun. ­Person, die helfend zur Seite stand. Allerdings Luise Kautsky (1892) und Benedikt (1894). In Übereinstimmung bremste ihre bereitwillig gewährte Hilfe die Eine stille mit dem damaligen Frauenbild bestand ihre Übersetzerin und Autorin Luise Kautsky im- Wegbereiterin Haupt­aufgabe darin, die Kinder zu erziehen mer wieder aus. Anfänglich hatte vor allem ihr der Sozial­ und – unter Mithilfe einer Bediensteten­ – den Ehemann von ihren vielfältigen Fähigkeiten pro­ demokratie Haushalt zu organisieren. Ihr Mann redigierte fitiert. Nur zu gerne übernahm sie Teile seiner die Neue Zeit, die seit 1890 wöchentlich er- Korrespondenz, wie sie 1899 an Eugen Dietzgen schien. Wirkliche Ruhe kehrte allerdings nicht schrieb: »Karl hat jetzt, kaum, dass er seine Agrar­ ein. Karl Kautsky fand sich von den redaktio- frage beendigt, schon wieder so viele schwierige nellen Aufgaben zu stark vereinnahmt und theoretische Fragen im Kopf, dass ihn schon ­Luise hatte Pläne, ihr konventionelles Frauen- die redaktionelle Tätigkeit und die damit ver- leben aufzubrechen. 1896 fassten sie die Mög- bundene umfangreiche Korrespondenz äußerste lichkeit ins Auge, nach London um­zuziehen, wo Anstrengungen verursacht, so dass ich froh bin, sich Karl Kautsky seinen Marxstudien widmen wenn ich mit meinem geringen Können ihm wollte. Dazu kam es nicht, was Luise Kautsky ­etwas abnehmen kann«.18 Auch andere Genossen noch ein Jahr später be­dauerte: »Und doch, und Genossinnen richteten sich gerne bittend und doch spricht eine ­leise Stimme in meinem an sie, wie zum Beispiel August Bebel19 und Inneren immer noch sehnsuchtsvoll von Lon- Rosa Luxemburg. don«.13 Die Unruhe blieb, weshalb Karl Kauts­ ky seinem Freund Eduard Bernstein Anfang Luise Kautsky und Rosa Luxemburg lernten Januar mitteilte: »Von der Redaktion wird mir sich am Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin ken­ immer mießer. […] (Ich) erwäge ernstlich den nen. Ihre Freundschaft begann zu wachsen, als Plan, nach Wien zu gehen und einmal zu versu- Luise Kautsky gerade den engen Kontakt mit chen, vom Bücher­schreiben zu leben, vor Allem Eduard und Regina Bernstein verloren hatte. mit dem Marxschen Nachlaß fertig zu werden. Grund dafür war die Revisionismusdebatte, […] Luise will auch verdienen, was sie hier die die Freunde Karl Kautsky und Eduard Bern­ nicht kann«.14 stein entzweit hatte. Noch wenige Monate vor dem SPD-Parteitag in Hannover im Oktober Letztlich siedelte die fünfköpfige Familie im 1899, auf dem die Genossen mehrheitlich gegen Som­mer 1897 nicht in die alte Heimatstadt um, die Forderung Eduard Bernsteins, lieber auf Re­ sondern in die Reichshauptstadt Berlin. In die- formen als auf einen automatischen Zusammen­ ser pulsierenden Stadt, die schon damals Men- bruch des Systems zu setzen, stimmen sollten, schen aus unterschiedlichen Regionen und Län­ hatte Luise Kautsky hoffnungsvoll an die alten dern anzog, reifte Luise Kautsky zur Überset- Freunde geschrieben: »Kinderchens, Gott sei » zerin, Autorin und »internationalen Seele des Dank, dass die elektrische Spannung etwas nach­ Ihre Freund- schaft begann Marxismus«.15 Berlin wurde die Stadt ihres Her­ zulassen anfängt. Diese letzten Monate waren zu wachsen, zens, der sie noch lange, nachdem das Ehepaar nimmer schön. […] Seid mir herzlich gegrüßt als Luise Kautsky 1924 endgültig nach Wien umgezogen u(nd) in alter, hoffentlich bald wieder un­ ­Kautsky war, nachtrauerte.16 getrübter Freundschaft umarmt von Eurer gerade den ­Luise«.20 Tatsächlich sollte es über ein Jahr- engen Kon- zehnt dauern, bis die alte Freundschaft eine takt mit »Auferstehung«21 erfuhr. Als es 1910 zwischen Eduard und Rosa Luxemburg und Karl Kautsky – ebenfalls Regina Bern- aufgrund von tiefgehenden Meinungsverschie- stein ver- denheiten – zum Bruch kam, blieb die Freund- loren hatte. schaft der Frauen davon unberührt.

24 Luise Kautsky, o. J. Fotograf Winter IISG, BG A7/333

25 Luise Kautsky, o. J., Fotograf A. Fränkl IISG, BG A7/390

Luise Kautsky (rechts) und Rosa Luxemburg am Vierwaldstätter See, Schweiz 1909 IISG, BG A7/387

26 Mit Luise Kautsky musste Rosa Luxemburg Artikelserie über Schulspeisung. Sie war sogar ihre politischen Ansichten nicht kämpferisch bereit gewesen, nach Stuttgart zurückzukeh- t h e m a austragen, überhaupt schien sie aus dieser ren, um dort als Redakteurin der sozialdemo- Luise Freundschaft eher Kraft zu schöpfen. Was Luise kratischen Frauenzeitung – unter Führung von und Karl Kautsky für sie bedeutete, geht aus einem Brief Clara Zetkin – tätig zu werden. Diesen Plan Kautsky hervor, den sie während des Ersten Weltkrieges gab sie allerdings relativ schnell wieder auf.25 aus dem Gefängnis in Wronke schrieb: »Wenn Luise Kautsky ich aber wieder bei Euch bin, dann nimmst Du Luise Kautskys Wunsch, etwas Neues zu Eine stille (Luise Kautsky) mich, wie üblich, in Deinem ­wagen, hatte sich ja schon in dem Briefwechsel Wegbereiterin großen tiefen Sessel auf den Schoß, ich vergrabe mit Eduard und Regina Bernstein angedeutet. der Sozial­ meinen Kopf an Deiner Schulter […] Dann wird Möglicherweise war die Tatsache, dass ihr demokratie alles wieder gut. Hab tausend Dank für jüngster Sohn Benedikt mit seinen vierzehn das, was Du für meinen Korolenko (russischer Jahren kaum der Mutter mehr bedurfte, mit Schrift­steller) tust. Aber was sage ich! Ist es ausschlaggebend dafür, dass sie 1908 über nicht seit jeher selbstverständlich, dass Du mir ­einen neuen Lebensentwurf nachdachte. Inso- alles Gute antust?«22 In ihrer direkten Art und fern schien Rosa Luxemburg sie in diesen Weise versuchte sie zudem, auf das politische Emanzipationsbestrebungen zwar bestärkt zu Engagement von Luise Kautsky Einfluss zu haben, aber der Impuls zum Handeln ging von nehmen: »Ich möchte, daß Du Deine Zeit und ihr selbst aus. Warum Luise Kautsky sich letzt- Kraft von Anfang an systematisch auf zwei lich für eine Fortsetzung ihrer Ehe entschieden Dinge konzentrierst: Schriftstellerei und Agita- hat, geht aus den hier vorliegenden Quellen tion in Frauenzirkeln, was eine gute Vorberei- nicht hervor. Möglicherweise erschien ihr ein tung für weiteres ist«.23 Dabei dachte sie in Leben an der Seite des charmanten Hans erster Linie an Artikel für die Gleichheit und Kauts­ky oder als Redakteurin bei der Gleich- die Neue Zeit; unverblümt ließ sie Luise heit nicht wirklich besser zu sein als das bishe- ­Kautsky wissen, was sie von deren derzeitigen rige, in dem sie doch Raum hatte, sich den Übersetzungsarbeiten hielt: »Mich ärgert über- Menschen und Themen zu widmen, die ihr haupt, daß Du dir eine öde Übersetzung nach wichtig waren. Gleichfalls sah sie sich nicht als der anderen aufladen läßt. Was hast du davon? Agitatorin – so wie es sich Rosa Luxemburg Was lernst Du bei dieser mechanischen Viechs- gewünscht hatte. Sie wollte sozialdemokrati- arbeit? Wirklich Schade um Deine Zeit und sche Ideen übermitteln, nicht aggressiv für sie Insofern « Kräfte. Wir sprechen oder schreiben über mei- werben und keine Appelle an irgendwelche schien Rosa nen Vorschlag, sobald du mit jenem Mist fertig Massen richten. Schon Vorträge hielt sie nur, Luxemburg und wieder zur Arbeit disponiert bist«.24 Direkt wenn es unbedingt sein musste, wie zum Bei- sie in ­diesen im Anschluss daran bat sie Luise, ihr Bücher zu spiel zum 10. Todestag von Rosa Luxemburg: Eman­zipa­- schicken, in einem Handbuch einen Passus »Und dann hat man mir, horribile dictu, ein tionsbestre­ über die Volkswirtschaftslehre zu suchen und paar Vorträge aufgepölgt auch über dieses bungen zwar abzuschreiben sowie eine Tabelle mit Einzel- Thema, und das ist das ärgste, was mir passie- bestärkt zu posten über Importe und Exporte Deutsch- ren kann, denn so gut mein Zünglein für den ­haben, aber lands zu finden und ebenfalls abzuschreiben. Tagesgebrauch eingehängt ist, so sehr wider- der Impuls Offensichtlich kam es Rosa Luxemburg nicht strebt es ihm, sich öffentlich zu produzieren«.26 zum Handeln in den Sinn, dass Luise Kautsky für diese Ge- ging von ihr fälligkeiten ebenfalls Zeit und Kraft investie- Auch wenn Luise Kautsky den Erwartungen selbst aus. ren musste. von Rosa Luxemburg nicht entsprach, blieb die Beziehung der beiden Frauen eng. Über die Als Luise Kautsky 1908 ernsthaft erwog, sich Kriegsjahre hinweg versuchten sie die Nähe von ihrem Ehemann zu trennen und sich statt- vor allem mit Briefen aufrechtzuerhalten. Pro- dessen mit seinem Bruder Hans Kautsky, den blematisch war, dass Rosa Luxemburg zwar sie schon vor Karl kennen und schätzen gelernt als eine in »Schutzhaft« genommene Person hatte, eine gemeinsame Zukunft aufzubauen, vom Krieg persönlich betroffen war, aber eine schrieb sie für die Gleichheit tatsächlich eine unmittelbare Berührung mit dem Kriegsge-

27 schehen durch die Gefängnismauern verhin- gerten Deutschland. Er hatte vor allem die t h e m a dert wurde. Ihr war bewusst, dass sie von dem Zahl seiner Anhänger überschätzt«.29 Eine Ant­ Luise »wirklichen Leben« abgeschnitten war.27 Die wort auf die Frage, warum Luise Kautsky ihre und Karl unterschiedlichen Orte, von denen aus die bei- Freundin in den Wochen ihrer verhängnis­ Kautsky den Frauen auf den Krieg blickten, trugen mit vollen Odyssee allein gelassen hatte, könnte in großer Wahrscheinlichkeit dazu bei, dass beide ihrer Beschreibung von Rosa Luxemburg zu Luise Kautsky die Ereignisse sehr unterschiedlich beurteilten. finden sein: Einerseits sah sie Rosa Luxemburg Eine stille Wie weit sie voneinander entfernt waren, geht als »eine Zauberin in der Kunst, Menschen zu Wegbereiterin aus folgendem Briefausschnitt von Rosa Luxem­ gewinnen«, andererseits ging sie davon aus, der Sozial­ burg hervor: »Dein Kopf ist voller Sorgen um dass es bei ihrer Freundin einen Bereich gab, demokratie die schiefgehende Weltgeschichte und Dein »wo alle Menschenliebe, Nächstenliebe und Herz voller Seufzer um die Erbärmlichkeit Freundschaft versagte, wenn sie sich unver- der – Scheidemänner und Genossen. Und jeder, standen oder gar enttäuscht sah – das war die der mir schreibt, stöhnt und seufzt gleichfalls. Politik. […] Nichts hat vielleicht unsere Freund­ Ich finde nichts lächerlicher als das. Begreifst schaft so fest gekittet, als der Umstand, daß ich Du denn nicht, daß der allgemeine Dalles viel niemals Fragen an sie stellte, sondern sie zu groß ist, um über ihn zu stöhnen? Ich kann ­gewähren ließ, ohne je ihrem Kommen und mich grämen, wenn mir die Mimi (die Katze Gehen oder ihren Gefühlen nachzuspüren«.30 von Rosa Luxemburg) krank wird, oder wenn Vielleicht wäre Letzteres bei einem Zusam- Dir etwas fehlt. Aber wenn die gesamte Welt mentreffen im November 1918 nicht mehr aus den Fugen geht, da suche ich nur zu begrei- möglich gewesen. fen, was und weshalb es passiert ist und hab ich meine Pflicht getan, dann bin ich wieder ruhig und guter Dinge«.28 Als direkt auf den » Ersten Weltkrieg 1918 die Novemberrevolu­ Eine Antwort Die »Seele des internationale auf die Frage, tion folgte und Rosa Luxemburg endlich aus Marxismus«: Am Rande der Partei warum Luise der Festung entlassen wurde, hatte sich eine Kautsky ihre politische Kluft aufgetan. In den wenigen Im Zuge der Novemberrevolution übernah- Freundin in ­Monaten bis zu Rosa Luxemburgs Ermordung men sowohl Luise als auch Karl Kautsky für den Wochen am 15. Januar 1919 gab es keinen Kontakt kurze Zeit politische Ämter. Sie beaufsichtigte ­ihrer ver­ mehr zwischen beiden Frauen. die Überwachung des Haupttelegrafenamtes, hängnisvollen während er beigeordneter Staatssekretär im Odyssee Luise und Karl Kautsky hatten sich der Unab- Auswärtigen Amt und Vorsitzender der Sozia- allein gelassen hängigen Sozialdemokratischen Partei ange- lisierungskommission wurde. Zudem fungierte hatte, könnte schlossen, nachdem diese 1917 von Kriegs­ Luise Kautsky 1920 als Stadtverordnete in in ihrer Be- gegnern der SPD gegründet worden war. Rosa Berlin, was allerdings auch nicht lange währ- schreibung Luxemburg führte gemeinsam mit Karl Lieb- te.31 Letztlich konnten sich beide in keiner Wei- von Rosa knecht den bereits 1916 gegründeten Spartakus­ se mehr so in der Partei verankern wie in den ­Luxemburg zu bund, den äußersten linken Flügel der Sozial­ Jahren vor dem Krieg, zu sehr hatte sich diese finden sein. demokratie, der sich in den Novembertagen in ihren Augen verändert. Gravierend für den weiter radikalisierte. Beide glaubten an den Verlust an politischem Einfluss war auch, dass Sieg der Arbeitermassen, herbeigeführt durch Karl Kautsky von der Mehrheitssozialdemo- eine Revolution des Proletariats. Eine Fehlein- kratischen Partei Deutschlands (MSPD) 1917 schätzung, wie Luise Kautsky rückblickend als Redakteur der Neuen Zeit abberufen und zum 10. Jahrestag der Ermordung beider wissen nicht mit anderen redaktionellen Aufgaben be- ließ, obwohl sie dies vor allem Karl Liebknecht traut worden war.32 anhaftete: »Er hatte die Geistesverfassung der Massen, die nach dem viereinhalbjährigen Mor­ Zurück in Wien 1924 suchte Luise Kautsky ei- den nichts wollten als Frieden und Brot, falsch nen Ausgleich für ihr reges Leben in Berlin. Be- eingeschätzt und war blind für die Möglich­ sonders fehlten ihr die Freunde und der inter- keiten der Situation in dem völlig ausgehun- nationale Besuch, den sie in ihrer Berliner

28 Wohnung willkommen geheißen hatte: »Ihr (Luise Kautskys) Haus war der Mittelpunkt des internationalen Marxismus und mehr noch Luise Kautsky, o. J. als ihr Mann war Luise die Seele dieses Kreises. IISG, BG A15/904 Ihr lebhaftes Temperament, ihr Geist, ihre Fröhlichkeit und Herzlichkeit, ihr warmes In- teresse für alle, mit denen sie in Berührung kam, bewirkten, dass sich jeder bei den Kaut- skys sofort zuhause fühlte«.33 Als geübte Netz- werkerin schaffte sie es, mit Briefen und gele- gentlichen Reisen Kontakte zu Freunden und Gleichgesinnten aufrecht zu erhalten.34 Zudem nahm sie in Vertretung ihres Mannes an Tref- fen der Sozialistischen Arbeiterinternationale (SAI) 1925 in Marseille und 1928 in Brüssel teil. Ihre englischen und französischen Sprach- kenntnisse ermöglichten es ihr, mit Menschen verschiedener Nationalitäten direkte Gesprä- che zu führen. Eine Beschreibung des französi- schen Schriftstellers und Pazifisten Romain Rolland liest sich wie eine Hommage an die »Seele des internationalen Marxismus«: »Frau Briefen an Freunde sollte folgen. Das fertige Kautsky ist etwa sechzig Jahre alt (vielleicht Manuskript, das in den Wirren des Kriegs ver- sogar jünger), klein, ganz anspruchslos, sehr loren ging, aber auf wundersame Weise auf intelligent. […] Sie spricht viel und fließend Lastkähnen bei Hannover wiedergefunden französisch. Alles was sie sagt, ist interessant, wurde, brachte schließlich ihr Sohn Benedikt lebendig, schlicht, reich an Erinnerungen«.35 Kautsky 1950 heraus.40 Mit den Brief-Editio- Eben diesen Reichtum an Erinnerungen hatte nen hat Luise Kautsky das zeitgenössische Bild die österreichische Sozialdemokratin Käthe von Rosa Luxemburg als »blutige Rosa« kor- Leichter im Sinn, als sie Luise Kautsky 1929 rigiert. Gleich einem Kaleidoskop zeigt sich die bat, einen Beitrag für das Handbuch der Frau- frühere Weggefährtin in ihren Briefen von vie- enarbeit in Österreich zu schreiben.36 In dieses len verschiedenen Seiten. »spezifisch österreichische Werk« brachte Lui- se Kautsky bewusst eine »internationale No- In Wien setzte Luise Kautsky auch die Arbeits- te«37 ein, indem sie an Sozialistinnen erinnerte, gemeinschaft mit ihrem Mann fort. Mit ihr die transnational agierten und die sie persön- ­besprach Karl Kautsky jede seiner Arbeiten; sie lich gekannt hatte: Die Dänin Nina Bang, die las zudem Korrektur und prüfte die Texte mit Deutsche Luise Zietz und die Russin Vera Sas- ihrem Sachverstand und Sprachgefühl auf sulitsch. In diesen Porträts gelingt es ihr, Frau- ­Verständlichkeit.41 Dass einer das politische en als Gestalterinnen von Geschichte kenntlich Denken des anderen lenkte, dafür gibt es zu machen. ­keinerlei Hinweise in den hier vorliegenden Quellen. Beide waren selbstständige Denker, Eines ihrer größten Projekte war die Edition eben zwei Seelen, aber mit einem Gedanken, von Rosa Luxemburgs Briefen an sie und Karl wie Karl Kautsky es schon 1896 betont hatte Kautsky, die 1923 in Berlin erschienen.38 Die- und 1927 in einer Widmung nochmals unter- sem Gedenkbuch ging ein Artikel über ihre strich, indem er Luise als »begeisterte, tapfere Freundin voraus, mit dem sie »bei der Prole­ Verfechterin unserer gemeinsamen Ideale«42 tarierjugend Verständnis und Liebe für Rosa beschrieb: Er dachte politisch ähnlich wie sie, Luxemburg und Begeisterung für das hohe sie dachte politisch ähnlich wie er. Den Weg Ziel, (für das) sie lebte und starb, zu wecken«39 zur Sozialdemokratie hatten sie unabhängig suchte. Eine weitere Edition von Luxemburg- voneinander gefunden.

29 1 Brief vom 9.2.1912, Rus­ 9 Siehe dazu Harald Koth: 16 Luise Kautsky an Eduard Luise Kautsky 34 Siehe dazu den bereits sisches Zentrum für die Auf- »Meine Zeit wird wieder Bernstein, Brief vom 30.11. Eine stille ­erwähnten Briefwechsel mit bewahrung und Erforschung ­kommen ...«. Das Leben des 1925 aus Wien, in: Eduard Wegbereiterin Eduard Bernstein (1912 – von Dokumenten der Neues- Karl Kautsky, Berlin 1993, Bernsteins Briefwechsel mit der Sozial- 1932), hg. v. Eva Bettina demokratie ten Geschichte (RZ), Bestand S. 56ff.; über die Trennung Karl Kautsky (1912–1932), Görtz, Frankfurt a.M., New Karl und Luise Kautsky, MF/ von seiner ersten Frau siehe hg. v. Eva Bettina Görtz, York 2011, sowie den Brief- Fonds 213, Archiv der sozialen Karl Kautsky an Victor Adler, Frankfurt/New York 2011, 25 Siehe Rosa Luxemburg wechsel mit der Tschechos­ Demokratie (AdsD),Bonn. Brief vom 5. August 1891 aus S. 213; Luise Kautsky bekräf- an Clara Zetkin, Brief, Anfang lowakei, 1879 –1939, hg. St. Gilgen, in: Briefwechsel tigte ihre Liebe zu Berlin Oktober 1908, aus ­Friedenau v. Zdenek Solle, Frankfurt 2 Louis B. Boudin (1874 – mit August Bebel und Karl auch noch 1930 (siehe Luise sowie Brief vom 27.10.1908 a. M., New York 1993. 1952), Rechtsanwalt und Kautsky, hg. v. Victor Adler, Kautsky an Eduard Bernstein, [aus Friedenau], in: Rosa ­Theoretiker des Marxismus, 35 Romain Rolland, Wien 1954, S. 75; über das Brief vom 13.10.1930 aus ­Luxemburg, Gesammelte wurde in Russland geboren Zwischen den Völkern. Temperament von Louise Wien, in: ebd., S. 432). ­Briefe, Bd. 2, Berlin 1982, und emigrierte 1891 in die ­Auf­zeichnungen und ­siehe August Bebel an Victor 1999, 3. korrigierte und USA.1907 erschien sein Buch 17 Häufig verwendete An­ ­Do­kumente aus den Jahren Adler, Brief vom 5. Juni 1892 ­ergänzte Auflage, S. 384 »The Theoretical Sysem rede von Rosa Luxemburg 1914 –1919, Bd. 1, Stutt-­ aus Berlin, in: ebd., S. 90. und 392. of Karl Marx in the Light in ihren Briefen an Luise gart 1954, S. 869, zitiert in: of ­Recent Criticism« beim 10 Luise Kautsky an Victor Kauts­ky, siehe Rosa Luxem- 26 Luise Kautsky an Eduard Eduard Bernsteins Brief­ Charles H. Kerr & Co Verlag Adler (österreichischer Sozial­ burg. Briefe an Karl und Bernstein, Postkarte vom wechsel (1912 –1932), in Chicago. demokrat), angehängt an Luise Kauts­ky (1896 –1918), 7.1.1929, in: Eduard Bernsteins S. XXIV, Anm. 66. den Brief von Karl Kautsky­ hg v. Luise Kautsky, Briefwechsel (1912 – 1932), 3 Luise Kautsky an Eugen 36 Siehe Käthe Leichter an ­Adler vom 18. Okt. 1904 Berlin 1923. S. 379. Dietzgen, Brief vom an Luise Kautsky, Brief aus Berlin-Friedenau, in: 14.12.1907, AdsD, 18 Luise Kautsky an Eugen 27 Siehe Rosa Luxemburg vom 6.12.1929 aus Wien, ebd., S. 435. Bestand Eugen Dietzgen. Dietzgen, Brief vom 4. 3. an Luise Kautsky, Brief, Ende ­abgedruckt in: Herbert ­ 11 Karl Kautsky an Eduard 1899 aus Berlin-Friedenau, Dezember 1916, aus dem Steiner (Hg.), Käthe 4 Wie z. B. aus dem Fran­ Bernstein, Brief vom 17.12. AdsD, Bestand Eugen ­Gefängnis in Wronke, in: Leichter. Leben, Werk zösischen: »Ursprung und 1896 aus Stuttgart, in: Eduard ­Dietzgen. Die Zurückhaltung ­Rosa Luxemburg, Briefe an und Sterben ­einer öster­ ­Entwicklung des Begriffs der Bernsteins Briefwechsel mit bezüglich ihrer Fähigkeiten Karl und Luise Kautsky, S. 170. reichischen ­Sozialdemo­- Seele« von Paul Lafargue, Karl Kautsky (1895 –1905), schien Luise Kautsky aber kratin, Wien 1997, S. 92f. in: Ergänzungshefte zur 28 Rosa Luxemburg an hg. v. Till Schelz-Branden-­ nicht daran zu hindern, Neuen Zeit (1908/1909), Luise Kautsky, Brief vom 37 Luise Kautsky, burg, Frankfurt a.M., neue Herausforderungen Nr. 6, 52 Seiten; und aus dem 26.1.1917 aus Wronke, »Erin­nerungen und Ge-­ New York 2003, S. 336. ­anzunehmen. ­Englischen: »Das Problem in: ebd., S. 175. stalten aus der Internatio­ der auswärtigen Politik« 12 Julie Bebel an Luise Kauts­ 19 Siehe dazu August Bebels nale«, in: Hand­buch der 29 Luise Kautsky, »Karl von Gilbert Murry, Stuttgart, ky, angehängt an den Brief Briefwechsel mit Karl Kautsky, Frauen­arbeit in Österreich, ­Liebknecht, Rosa Luxemburg, Berlin 1922,110 Seiten, und von August Bebel an Luise hg. v. K. Kautsky Jr., Assen1971. Wien 1930, S. 618 – 642, 15. Januar 1919 – 15. Januar die »Inauguraladresse der Kautsky vom 19. Februar 1908 hier S. 618. 20 Luise Kautsky an Regina 1929«, in: Jungsozialistische ­internationalen Arbeiter-­ aus Schöneberg, in: August und Eduard Bernstein, an­ Blätter 8 (1929), 38 Mit diesem Buch ­ Association« von Karl Marx, Bebels Briefwechsel mit Karl gehängt an den Brief von H. 2, S. 53 – 59, hier S. 57. verband Luise Kautsky Stuttgart,Berlin 1922, 48 S. Kautsky, hg. v. Karl Kautsky Jr., Karl Kautsky an Eduard Bern- »die Erfüllung eines Ver­ Assen 1971, S. 193f. 30 Luise Kautsky, »Vorwort 5 Rosa Luxemburg an Luise stein vom 20.6.1899 aus mächt­nisses und die Ab­ der Herausgeberin«, in: Rosa Kautsky, Brief vom Dezem-­ 13 Luise Kautsky an Eduard ­Berlin-Friedenau, in: Eduard tragung ­einer Dankes-­ Luxemburg, Briefe an Luise ber 1916, in: Rosa Luxem- und Regine Bernstein, an­­-­ ­Bernsteins Briefwechsel schuld« (Rosa Luxem- und Karl Kautsky, S. 9ff, 18. burg, Briefe an Karl und ­ gehängt­ an den Brief von (1895 – 1905), S. 912. burg, Briefe an Luise Luise ­Kautsky, 1896–1918, Karl Kautsky an Eduard Bern- 31 Siehe dazu Susanne ­Miller, und Karl ­Kautsky) S. 6. 21 Eduard Bernstein an Karl hg. v. ­Luise Kautsky, Berlin stein vom 18. 7.1897 aus »Nicht zu vergessen: Luise Kautsky, Bief vom 26.7.1924 39 Luise Kautsky, »Rosa 1923, S. 171. Offensichtlich Lorch bei Stuttgart, in: Kautsky«, in: Jürgen Rojahn aus Berlin Schöneberg, in: ­Luxemburg zum Gedächt- hatte Rosa Luxemburg Eduard ­Bernsteins Briefwech- u. a. (Hg.), Marxismus und Eduard Bernsteins Brief­ nis«, in: Proletarische Ju­-­ noch vor dem Erscheinen sel (1895 – 1905), S. 428. Demokratie. Karl Kautskys wechsel (1912 – 1932), S. 137. gend. Sozialistische der ­Bände 1917 ein Manus­ ­Bedeutung in der sozialdemo- 14 Karl Kautsky an Jugendzeitschrift 1 (1920), kript von ­Luise Kautsky 22 Rosa Luxemburg an ­Luise kratischen Arbeiterbewegung. Eduard Bernstein, Brief H. 2, S. 8 – 10, hier 10. erhalten. Kautsky, Brief (1917) aus dem Frankfurt a. M., New York vom 16.1.1897 aus Stutt- ­ Gefängnis in Wronke, in: Rosa 1992, S. 391– 399, hier 395; 40 Rosa Luxemburg. 6 Siehe unter http:// gart, in: ebd., S. 341. Luxemburg, Briefe an Karl und Susanne Miller, »Jüdische Briefe an Freunde, hg. v. open­library.org/books 15 Siehe Henriette Roland und Luise Kautsky, S. 182. Frauen in der Arbeiterbe­we­ ­Benedikt Kautsky nach OL14009553M/. Die Open Holst, »Herinneringen aan ­Rosa Luxemburg hatte­ die gung. Rosa Luxemburg und ­einem Manus­kript von Library ist ein Projekt des ­Luise Kautsky 1864 –1944, Biografie von ­Wladimir Luise Kautsky«, in: Ludger­ Luise Kautsky, Hamburg ­gemeinnützigen Internet Uit vroeger tijeden in: ­Korolenko (1853 – 1921) Heid, Arnold Paucker (Hg.), 1950. Bezüglich der ­Archive, welches 1996 ge­ De Vlam, Weekblad voor aus dem Russischen über-­ Juden und deutsche Arbeiter- ­Wiederentdeckung des gründet wurde. ­Vrijheid en Cultuur, 1 (1945), setzt, die 1919 in Berlin unter bewegung bis 1933. Soziale ­Manuskripts siehe das 7 Siehe dazu »Worte des Nr. 13, Extranur. 8.8., S. 14, dem Titel »Die Geschichte Utopie und reli­giös-kulturelle ­Vorwort von Benedikt ­Gedenkens an der Gedächt- übersetzt und zitiert in Ursula meines ›Zeit­genossen‹« Traditionen, Tübingen 1992, ­Kautsky, S. 7f. nisfeier in New York am Langkau-Alex, »Freundschaft ­erschien. S.147–153, hier 152. 41 Siehe Karl Kautskys 6. Juli 1945, gesprochen über Grenzen hinweg. Luise 23 Rosa Luxemburg an Luise 32 Siehe Koth, »Meine Zeit Vorwort zu seinem Werk von Friedrich Adler«, in: Kautsky und Henriette Roland Kautsky, Brief, Ostern 1907, wird kommen ...«, S. 177, 210. »Die materialistische Luise Kautsky zum Geden-­ Holst«, in: Walter Mühl­ aus der Schweiz, in: Rosa Geschichtswissenschaft«, ken, New York 1945, S. 5. hausen (Hg.), Grenzgänger: 33 Henriette Roland Holst, ­Luxemburg, Briefe an Karl Bd. 1, Berlin 1927, S. XII. Persönlichkeiten des deutsch- »Herinneringen aan Luise 8 Das Kautsky-Familienarchiv und Luise Kautsky, S. 121. niederländischen Verhält-­ Kautsky«, S.14, übersetzt 42 Karl Kautsky, ebd. des Internationaal Instituut nisses, Münster 1998, 24 Rosa Luxemburg an ­ und zitiert in: Langkau- voor Sociale Geschiedenis in S. 49 – 68, hier S. 67. Luise Kautsky, Brief vom Alex, »Freundschaft über Amsterdam, in dem viele 14. 5.1909 aus Genua, Grenzen hinweg«, S. 67. ­Briefe und auch Manuskripte in: ebd., S. 130. von Luise Kautsky aufbe-­ wahrt werden, konnte nicht für ­diesen Artikel herange­ zogen werden.

30 thema „... kein Mond, der sein Licht von Luise einer fremdenSonne und Karl borgen musste“ Kautsky

Günter regneri Die letzten Lebensstationen Luise Kautskys

urz nach dem Einmarsch der deut- ung genießt, hätte sie ein Visum der britischen Re­ schen Truppen, am 15. März 1938, gierung erhalten können.Wenige Wochen später verlassen Luise und Karl Kautsky treten deutsche Soldaten nicht nur – wie bereits Ös­terreich Richtung Tschechoslowakei, um im Ersten Weltkrieg – die Neutralität Belgiens von dort aus in die Niederlande zu fliegen. mit Füßen, sondern auch die der Niederlande. Karl ist bereits vor der Flucht gesundheitlich stark angeschlagen; er leidet an Bauchspeichel- Die deutsche Besetzung raubt der Sozialistin krebs. Im Herbst 1938 erleidet Karl Kautsky und Jüdin Luise Kautsky ihre bisherige persön- einen Schlaganfall, an dessen Folgen er am liche Sicherheit. Kleinste Fehler können fatale 17. Oktober 1938 stirbt. Folgen zeitigen. Im Juni 1944 zieht sie in die Amsterdamer Pension Rijkers, Apolloplan 28, Luise und Karl Kautsky hatten von der nie­ in der sie bereits 1938 mit Karl gewohnt hatte. derländischen Regierung Einreisevisa erhalten; Auf ihrer Kennkarte ist jedoch eine andere ­ihren Söhnen werden diese jedoch verweigert. ­Adresse eingetragen. In jedem zivilisierten Land Nur Felix gelingt es, einer Verhaftung zu ent- gilt dies höchstens als Ordnungswidrigkeit, Fa- gehen. Im August 1938 kann er nach England schisten ist es Grund genug, Menschen jüdi- emigrieren. Die beiden anderen Söhne fallen scher Herkunft in den Tod zu schicken. Wenige den Nationalsozialisten in die Hände. Karl jr. Tage nach ihrem 80. Geburtstag fällt Luise reist nach einer kurzzeitigen Verhaftung Kautsky in ihrer Pension einer Routine-Poli­ ­Anfang 1939 nach Schweden aus. Benedikt zeikontrolle in die Hände. Sie wird ins KZ-­ Kauts­ky jedoch wird von Mai 1938 bis April Sammellager Westerbork verbracht. 1945 fast sieben Jahre in verschiedenen Kon- zentrationslagern verbringen. Vor dem Zweiten Weltkrieg als Flüchtlings­ Die deutsche« lager von der niederländischen Regierung ein- Besetzung Aufgrund der Neutralität der Niederlande gerichtet, übernehmen die Nationalsozialisten raubt der kann Luise Kautsky »ihrem Bendel« Briefe ins Westerbork unmittelbar nach ihrer Besetzung ­Sozialistin KZ Buchenwald schicken und ihn so moralisch der Niederlande als Internierungslager. Mit Be- und Jüdin unterstützen. Darum lehnt sie es im Frühjahr ginn der »Endlösung«, der systematischen Ver- Luise Kautsky 1940 auch ab, nach England zu gehen. Durch nichtung der europäischen Juden, änderte sich ihre bisherige Vermittlung der Labour Party, bei deren Füh- die Funktion des Lagers. Ab Juli 1942 heißt persönliche rung Luise großen Respekt und hohe Anerkenn­ es offiziell »Polizeiliches Judendurchgangslager Sicherheit.

31 Kamp Wes­ter­bork«. Es ist Ausgangsort für die Schwieriger war die Essensfrage. Sie bekam t h e m a von der Deutschen Reichsbahn organisierten selbst­verständlich Diät, d. h. einen halben Liter Luise Deportationszüge, mit denen bis zum 3. Sep- Griess- oder Haferflockensuppe und ein Drittel und Karl tember 1944 mehr als 100.000 Juden aus den Weissbrot mit dreimal wöchentlich 20 gr. Mar- Kautsky Niederlanden in die Vernichtungslager ver- garine. Aber auch die Diät war genau wie die frachtet werden. Nur etwa 5.000 der Depor- Lagerkost viel zu kalorienarm und unterwertig Die letzten tierten überleben das Kriegsende. Beinahe zeit- und wenn möglich noch fader in der Zuberei- Lebens­ gleich mit Luise Kautsky wird Anne Frank aus tung. Man muss sich vergegenwärtigen, was es stationen Westerbork in den Tod deportiert.1 für einen kranken und alten Menschen bedeu- Luise tet, jeden Tag dieselbe geschmacklose Suppe Kautskys Deportationszüge sind Regelzüge mit exakten und ein paar Scheiben Brot zu essen: kein Ge- Fahrplänen. Meist bestehen sie aus gedeckten würz, kein Gemüse, kein Obst, kein Gedanke Güterwagen; nur die Wachmannschaften dür- an Fleich [sic!] und kein Hauch von Süssigkeit, fen in Personenwagen fahren. Für die mehr als nichts, was den Gaumen reizte. 1.000 Kilometer lange Strecke von Westerbork nach Auschwitz benötigt der Zug drei Tage. Luise Kautsky, die, wie sie erzählte, nie eine Das ist an sich schon eine Tortur. Doch um wie grosse Esserin war und leckere, kleine Happen vieles schlimmer muss eine achtzigjährige Frau bevorzugt hatte, konnte trotz ihrer Energie nicht diese Strapazen erleben? einmal die winzigen Lagerportionen meistern. Das einzige, was ich ihr zugeben konnte und Bei ihrer Ankunft in Auschwitz wird Luise was ihr immer trefflich mundete, war Milch, Kautsky erkannt. Genossinnen bewahren die die mir der Lagerarzt für einige Patienten ge­neh­ geschwächte Frau vor der Selektion. Wenige migt hatte. Dr.Lingens, die Pakete bekam, brach- ­Tage später sorgen sie für ihre Verlegung ins te ihr jeden Tag ein selbstbereitetes Gericht. Was Krankenrevier. Lucie Adelsberger 2 berichtet: an Medikamenten und Injektionen nötig war, konnte ich für sie beschaffen. Tatsächlich er­ holte sie sich so weit, dass sie Anfangs Oktober » »Luise Kautsky war im September 1944 ins Re­­ an warmen, sonnigen Tagen auf ihrem Stuhl Beinahe ­zeitgleich vier aufgenommen worden. Sie war in sehr ram­ auf dem Rasenplatz in der Sonne sitzen konnte. mit Luise ponierten Zustand. Aufregung, Transport und Kautsky der wenige Tage währende Aufenthalt im Lager, Bei aller körperlichen Gebrechlichkeit und wird Anne in einem überbelegten Block mit viel zu vielen Hinfälligkeit war Luise Kautsky geistig von Frank aus Menschen, die ohne eigent­liche Lagerstätte in ­einer Elastizität, die uns jüngere fast beschämte. ­Wester- überfüllten Kojen hausten, mit keiner andern An ihrem Willen durchzuhalten konnten sich bork in als der Lagerkost, waren für die 80jährige eine die andern ein Beispiel nehmen. […] den Tod zu starke Belastung. Auf Wunsch von Dr. Mos- ­deportiert. berg3 aus Amsterdam und von Dr. Lingens4 aus Am 28. November 1944 wurde der Krankenbau Wien wurde sie auf meine Station verlegt. Diese vom Frauenkonzentrationslager nach dem frühe­ beiden Kolleginnen haben mir auch geholfen, ren Zigeunerlager, kaum 2 km. weit entfernt, alles so gut zu arrangieren, wie es unter Lager- verlegt. Der Rummel und die damit verbundene verhältnissen möglich war. Das ›Bett‹ wurde Unruhe haben ihr, trotzdem sie vorsichtig im einigermassen installiert. Wir konnten zwar den Krankenwagen transportiert wurde, den letzten Strohsack durch nichts Besseres ersetzen, aber Schock gebracht. Anfangs Dezember wurde es wurden reichlich Decken organisiert, dazu Dr.Lin­gens nach Dachau versetzt.­Wenige Tage ein kleines Kopfkissen, warme Unterwäsche später schlief Luise Kautsky ein, gegen Mittag, und eine wollene Strickjacke. Denn auch ihr so friedlich, dass ich kaum die genaue Zeit auf hatte man in der Sauna, dem Badehaus, alles dem Totenschein vermerken konnte. Sie lag noch bis aufs letzte abgenommen und sie in ein paar einen Tag aufgebahrt auf ihrem Lager. Am elende Lumpen gehüllt. Dr. Lingens brachte so- nächsten Morgen haben wir, die Blockälteste gar einen bunten Morgenrock aus Trikotseide und deren Vertreterin, die ­Pflegerin und ich, sie zum Anziehen. persönlich zur Leichenkammer getragen.«5

32 Luise Kautsky an ihrem 80. Geburtstag, 11. August 1944, in Amsterdam. Wenige Wochen später wurde sie verhaftet und nach Auschwitz-Birkenau deportiert. AdsD, FA 003699

In den letzten Wochen ihres Lebens weiß Luise 1 Anne Frank wurde am 3 Vermutlich Gertrud Mos- 12. Juni 1929 in Frankfurt am berg (1903 – 1945), stammte Kautsky ihren Sohn Benedikt nur fünf Kilometer Main geboren. Ihre jüdische ursprünglich aus Bielefeld. entfernt.Von Oktober 1942 bis Januar 1945 ist Familie wanderte 1934 in Wegen ihrer jüdischen Her- er als Zwangsarbeiter im KZ Auschwitz-Mono­ die Niederlande aus. Um kunft Flucht in die Nieder­ witz, dem Lager des Chemiekonzerns IG Farben. ­einer Deportation zu ent­ lande. Von dort deportiert gehen, lebte die Familie seit nach Auschwitz. Im März Ein persönliches Treffen zwischen Mutter und Juli 1942 zwei Jahre lang in 1945 im KZ Ravensbrück Sohn kommt nicht mehr zustande, doch es ge- einem Versteck in Amster- ermordet. dam. Sie wurden verraten, lingt Helfern, je zwei selbst geschriebene Zettel­ 4 Ella Lingens-Reiner (1908 – verhaftet und am 7. August 2002) war eine Wiener Ärztin chen hin und her zu schmuggeln, bevor Luise 1944 nach Westerbork ge- und Juristin. Als aktive Nazi- Kautsky Anfang Dezember 1944 verstirbt. bracht. Anne Frank wurde Gegnerin wurde sie 1943 im März 1945 im KZ Bergen- nach Auschwitz deportiert. Belsen ermordet. Luise Kautsky war eine außergewöhnliche Frau, Dort, und später im KZ jedoch werfen ihr Mann und ihre Freundin Die Zeit in ihrem Versteck ­Dachau, war sie als Häftlings- dokumentierte sie in einem ärztin tätig. Im Jahr 1980 Rosa Luxemburg große Schatten auf ihre Tagebuch, dass nach dem wurde sie als Gerechte ­öffentliche Rezeption. Wer »Luise Kautsky« goo- Krieg publiziert wurde. Das unter den Völkern geehrt. Tagebuch der Anne Frank gelt erhält etwa 10.600 Treffer, »Karl Kauts­ 5 Adelsberger, Lucie: Die wurde bisher in 55 Sprachen ky« bringt es dagegen auf 441.000 und »Rosa letzten Wochen Luise Kauts­ übersetzt und 2009 in das kys, in: Luise Kautsky zum Luxemburg« auf mehr als 7,3 Millionen. UNESCO Weltdokumenten- Gedenken. Nachrufe von erbe aufgenommen. Friedrich Adler und Oda Benedikt Kautsky war dies klar, als er seinem 2 Lucie Adelsberger (1895 – ­Lerda-Olberg. Berichte aus Bruder Felix am 24. Juli 1945 schrieb: »Sie war 1971) war eine Fachärztin Amsterdam, Annie van ein Mensch von eigenem Recht und eigenen Gna­ für Kinderheilkunde und Scheltema, aus Birkenau, ­Innere Medizin. Seit 1927 Dr. med. Lucie Adelsberger. den; sie war kein Mond, der sein Licht von arbeitete sie am Robert- Briefe aus und über Buchen- ­einer fremden Sonne borgen musste.«6 Koch-Institut in Berlin. 1933 wald von Benedikt Kautsky, wurde sie aufgrund ihrer jü­ New York 1945, S. 20–23. dischen Herkunft entlas-­ Eine fundierte Biografie über Luise Kautsky ist 6 Benedikt Kautsky an sen. 1943 wurde sie nach Felix Kautsky in Los Angeles, längst überfällig. Auschwitz-Birkenau depor- in: Luise Kautsky zum tiert und dort als Häftlings- ­Gedenken, 1945, S. 40. ärztin eingesetzt. Nach ihrer Befreiung emigrierte sie über die Niederlande in die USA.

33 thema Luise und Karl Kautsky K a r l Kautsky Nationale Identität und Globalisierung

Kay Schweigmann-Greve

as, was heute unter dem Terminus marxisten, wollten die alten Imperien so umge- der Globalisierung diskutiert wird, stalten, dass die nationale Selbstbestimmung die zunehmende wirtschaftliche Ver- der kleineren Nationen innerhalb der großen flechtung zwischen den Nationalökonomien, Staatsverbände vonstatten gehen könnte. Karl die weltweite wirtschaftliche Arbeitsteilung Renner und Otto Bauer entwickelten ein Mo- und die hiermit verbundenen Folgen für die dell für Österreich-Ungarn, das den staatlichen ­gelebte Kultur und Identität der Menschen, Fortbestand dadurch sichern wollte, dass zu- wurde vor dem Ersten Weltkrieg ebenfalls en- mindest den größeren Nationen (Deutschen, gagiert diskutiert. Der zentrale Terminus war Ungarn, Tschechen, Slowaken, Ukrainern, damals die »Nationalitätenfrage«. Es ging im ­Polen und Italienern) kulturelle Selbstbestim- Wesentlichen um die Frage der Legitimität des mung ermöglicht werden sollte. Der Gesamt- Anspruches kleinerer europäischer Nationen, staat sollte sich dabei in eine Nationalitäten­ die in den alten großen Imperien, Russland­ föderation umwandeln. (z. B. Polen, die baltischen Staaten und Finn- land), Österreich-Ungarn (z.B. Tschechen, Slo­ Karl Kautsky, der in den Jahren bis 1914 den waken, Polen, Kroaten, Rumänen) und dem Höhepunkt seines Einflusses nicht nur auf die Osmanischen Reich (z.B. Albaner, Bulgaren) deutsche Sozialdemokratie, sondern auf die so- um staatliche Unabhängigkeit kämpften, auf zialistische Bewegung insgesamt erlebte, for- Eigenständigkeit und Fortexistenz. Die führen- mulierte seine Positionen zur »Nationalitäten- den europäischen Marxisten nahmen in dieser frage« seit den 1890er Jahren, meist im Zusam- Frage oft Partei für die großen Staaten – so menhang mit Österreich, eher beiläufig in Bei- hielt Rosa Luxemburg die Trennung Polens trägen für die Neue Zeit.1 Eine grund­sätzlichere von Russland für unmöglich und nicht für Stellungnahme erfolgte erst Anfang 1908 in der wünschenswert. Besonders russische Marxisten Broschüre Nationalität und Internationalität. wie Plechanov und Trotzki zeigten wenig Sym- Dort wird in Abgrenzung zu Otto Bauer ein pathie für nationale Bestrebungen jüdischer, eigenständiges Konzept der Entstehung von polnischer oder anderer Sozialisten, wenn die- Nationen, ihrer Entwicklung und der Koope- se z.B. eigene Arbeiterparteien für ihre Natio- ration mehrerer Nationen im Rahmen welt- nen gründeten. Andere, besonders die Austro- weiter wirtschaftlicher Zusammenarbeit skiz-

34 Karl Kautsky, 1880 AdsD, FA 007109

35 Karl Kautsky, 1867 AdsD, FA 007104

Karl Kautsky, 1926 AdsD, FA 007108

36 ziert, dass vom mittel- und langfristigen Ver- Faktoren gesellschaftlicher Weiterentwicklung, schwinden zunächst der kleineren Nationen zu das doch niemals durch Satzungen oder Regeln Gunsten einer immer einheitlicheren Mensch- irgend einer Art in einen bestimmt abgegrenz- Kautsky « liefert heitskultur ausgeht. Kautsky liefert eine kom- ten gesellschaftlichen Organismus verwandelt eine komplette plette Kulturtheorie der Menschheit, welche wurde. Die Nationalität ist ein gesellschaft­liches Kulturtheorie die Entwicklung von den ersten Menschen bis Verhältnis, das sich beständig wandelt, unter der Mensch- zur klassenlosen Gesellschaft als dem Endziel verschiedenen Verhältnissen etwas sehr verschie­ heit, welche aller historischen Entwicklung erklären will. denes bedeutet, ein Proteus, der uns unter den die Entwicklung Dieses Modell zeigt deutlich, in wie starkem Händen entschlüpft, wenn wir ihn fassen wol- von den ersten Maße Kautsky in seinem Denken neben Marx len, und der doch stets da ist und gewaltig auf Menschen bis auch von Darwin beeinflusst ist. uns einwirkt.«2 zur klassen­ losen Gesell- Bereits der Artikel Der Kampf der Nationali­ Kautsky sieht den ursprünglichen Einfluss der schaft als dem täten und das Staatsrecht in Österreich in der geografischen Gegebenheiten auf die Wirt- Endziel aller Neuen Zeit von 1898 zeigt jedoch, dass Kauts­ schaftsweise und Mentalität eines Volkes, be- historischen kys alltagspolitische Position gegenüber den tont jedoch, dass die modernen Nationen auf- Entwicklung kleinen Nationalitäten durchaus nicht so nega- grund ihrer Ausdehnung höchst unterschied­li­ ­erklären will. tiv war wie die der internationalistisch gesinn- che Lebensräume besiedeln und darüber hinaus ten russischen Marxisten. Gleich zu Beginn die »Klassenlage« zu kulturellen Differenzen dieses Artikels stellt Kautsky hinsichtlich der unter den Individuen führe, die gravierender »nationalen Idee« fest, sie sei »nicht ein bloßer seien als die nationalen Gemeinsamkeiten. Betrug oder eine Halluzi­ ­nation, wie ein Kriti- ker des ›zu einseitig ­materialistischen‹ Marxis- »Wie soll man einen Nationalcharakter fest­ mus behauptet, son­dern ist tief in den Bedürf- stellen bei einer modernen Nation wie der nissen der ­Völker begründet.« Grundlage der deutschen, deren Gebiet so mannigfache Land­ Nationsbildung ist für Kautsky die Sprache, striche umfasst – die Küsten der Nordsee und hinzu tritt im Laufe der weiteren historischen Ostsee, die norddeutsche Tiefebene ebensogut Entwicklung mit der Sesshaftwerdung und wie die Hochalpen, und dazwischen wieder die dem Übergang zum Ackerbau das Territorium verschiedenen Gegenden, vom lachenden, war- und in weiteren Schritten die Schrift und die men Rheintal mit bald zweitausendjähriger kulturelle Identität vermittelnde Nationallitera­ Kultur bis zum rückständigen, verkümmerten tur. Die Entwicklung geht jedoch über die Ein- Odergebiet! Und innerhalb dieser Nation die zelnation hinaus, seine Theorie umfasst die in- gewaltigsten gesellschaftlichen Scheidungen. ternationale Kooperation und reflektiert auch Hier den halben Feudalismus in Mecklenburg deren Rückwirkung auf die einzelnen Nationen. und Posen, dort den Kapitalismus in seiner höch­ s­ten Vollendung in Sachsen und im Ruhrrevier. Hierbei weist Kautsky gemeinsam mit den Hier Millionenstädte, wie Wien und Ber­lin, und Austromarxisten die seinerzeit weit verbreite- daneben weltverlassene Nester. Und dann noch ten primordialen Theorien über Nationalität, die Scheidungen nach Klassen und Berufen. die den Ursprung der bestehenden Nationen in die graue Vorzeit verlegen und so eine biologi- Wo könnte da ein bestimmter Nationalcharak- sche und historische Identität etwa der Gallier ter bestehen, der die deutsche Nation von an- mit den Franzosen oder der Germanen mit den deren unterscheide? Ist der Rheinländer sein Deutschen behaupten, zurück. Nationen sind Vertreter oder der Oberbayer? Der Holsteiner vielmehr wandelbare historische Gebilde, die oder der Wiener? Bildet sein Typus Faust oder im Prozess historischer Entwicklung entstehen Karl Moor, Bismarck oder Onkel Bräsig?«3 und auch wieder verschwinden können. Man habe es bei der Nation, so schreibt Kautsky, Der historische Ursprung nationaler Identität »mit einem nur schwer zu fassenden gesellschaft­ liegt jedoch auch für Kautsky bei den kleinen lichen Gebilde zu tun, einem Produkt gesell­ einzelnen Völkern. Erstes Unterscheidungsmerk­ schaft­licher Entwicklung, einem der mächtigsten mal der Menschen ist für ihn die Sprache:

37 Titelblätter aus dem publizistischen Schaffen Karl Kautskys

»Die Sprache ist das unentbehrliche Werkzeug für löst sich das Wort von der gesprochenen des gesellschaftlichen Verkehrs. Mit ihm und Sprache und kann transportiert werden. Dies aus ihm entspringt sie. Damit ist aber auch stellt eine erhebliche Erleichterung im Verkehr schon gesagt, dass ursprünglich das [sic!] Gel- dar und ermöglicht dessen Ausdehnung und tungsbereich einer Sprache bedingt wird durch Intensivierung: »[…] das neue nationale Band die gesellschaftlichen Verhältnisse. Leute, die wird umso fester und inniger, je mehr sich aus miteinander in regelmäßigem Verkehr zu stehen der gemeinsamen Schriftsprache eine gemein- haben, müssen die gleiche Sprache sprechen. same Nationalliteratur erhebt.«5 Der Kreis eines solchen Verkehrs, also auch das Geltungsbereich der besonderen Sprache, Da jedoch die ökonomische Kooperation über die dort gesprochen wird, kann unter verschie- die Sprachgemeinschaften hinausgeht, bedarf denen Umständen sehr verschieden sein; seine es besonderer Mittler, die aufgrund ihrer Mehr­ Ausdehnung hängt ab von der Produktions- sprachigkeit den Austausch zwischen den Natio­ weise, der Bodengestaltung, den Verkehrsver- nen organisieren können. Diese Gruppe sind hältnissen. […] Solange aber die Bevölkerung die Kaufleute, deren Aufkommen Kautsky in eines Sprachkreises nicht sesshaft ist, bleibt unmittelbarem sachlichen und zeitlichen Zu- dessen Ausdehnung eine höchst schwankende. sammenhang mit der Sesshaftwerdung sieht. Nomaden trennen sich ebenso leicht, wie sie Dieselbe Entwicklung, die die polyglotten Kauf­ sich zusammenfinden. […].«4 leute hervorbringt, führt auch zu einer Pro­ vinzialisierung der übrigen Bevölkerung: »Die Dies ändert sich mit dem Übergang zur Land- ­Sess­haftigkeit verengert aber gleichzeitig den wirtschaft, Nationen werden nun immobile, ­Gesichtskreis der Volksmasse, indes sie ihre deutlich voneinander geschiedene Formationen. Arbeitslast vermehret. Sie fördert dadurch die Abschließung von fremden Völkern, vermin- Ein weiterer wichtiger Schritt der Festigung dert die Notwendigkeit, die Lust und die Mög- der Nationen tritt durch die Einführung der lichkeit, fremde Sprachen zu erlernen. Dieselbe Schrift ein. Die Sprache verliert ihre leichte Wan­ ökonomische Entwicklung, die mit dem Kauf- delbarkeit in der Begegnung mit anderen, da- mann die Möglichkeit steter Erweiterung des

38 Verkehrs schafft und durch die Ausdehnung Aufgabe der Sozialdemokratie sei es, die Mas- der Warenproduktion den Kreis der wirtschaft- sen des Volkes zu bilden und den Mitgliedern t h e m a lichen Kulturgemeinschaft immer mehr erwei- kleinerer Nationen den Zugang zu einer oder Luise tert, konsolidiert so die Nation und schließt sie mehreren »Weltsprachen« (Englisch, Deutsch und Karl schärfer von den anderen Völkern ab.«6 und Französisch) zu ermöglichen, die noch auf Kautsky längere Zeit existieren würden. Am Ende dieser Gleichzeitig stärke die Nationalliteratur die Entwicklung steht jedoch für ihn die »schließ- Nationale kulturelle Identität der Schriftnationen, diese liche Zusammenfassung der gesammten Kultur­ Identität assimilierten mit der sich durchsetzenden Ver- menschheit in einer Sprache und einer Natio- und Globali- kehrssprache kleinere Nationen, so dass immer nalität«.9 sierung größere Wirtschaftsräume entstehen. Die wirt- schaftliche Verflechtung wachse jedoch erheb- In direkter Wendung gegen die Vertreter der lich schneller als die sprachliche Vereinheitli- kleinen Nationen schreibt er: »Heute schon chung. Kautsky sieht hierin das Entstehen von aber müssen wir uns dessen bewusst sein, dass großen Kulturkreisen begründet (er spricht vom unsere Internationalität nicht eine besondere »christlichen«, »islamitischen« und dem »bud­ Form des Nationalismus darstellt, der von der dhis­­tisch/ brahmanitischen« Kulturkreis7). »Aber ­bürgerlichen blos dadurch unterschieden ist, dass jeder dieser Kulturkreise umfasst gar mannig- er nicht aggressiv wirkt, wie dieser, ­sondern jeder fache Sprachen und Nationen. Innerhalb jedes Nation das gleiche Recht läßt, welches er für derselben ist der überwiegende Teil der Kultur die eigene Nation in Anspruch nimmt und nicht national, sondern international.«8 Die in- ­dabei jeder die volle Souveränität zuerkennt. zwischen entstandene kapitalistische Weltwirt- Diese Auffassung, die den Standpunkt des An- schaft setze jedoch auch diese Kulturkreise archismus von den Individuen auf die Natio- in Beziehung und wirtschaftlichen Austausch. nen überträgt, entspricht nicht der engen Kul- Während sich hieraus eigentlich das Bedürfnis turgemeinschaft, die zwischen den Nationen nach einer einheitlichen Weltsprache und Welt- der modernen Kultur besteht. Diese bilden tat- … das « Ziel kultur ergeben müsse, könne man jedoch tat- sächlich wirtschaftlich und kulturell einen ein- der historischen sächlich ein Anwachsen des Nationalismus und zigen Gesellschaftskörper, dessen Gedeihen auf Entwicklung das Erwachen nationalen Bewusstseins bei Völ­ einem harmonischen Zusammenwirken seiner besteht für kern erleben, für die dies bisher keine Bedeu- Teile beruht, das nur zu erreichen ist, wenn je- ihn in der Ent- tung hatte. Die Erklärung dieses gegenläufigen der sich dem Ganzen unterordnet. Die sozialis- stehung einer Phänomens, gesteigerte internationale Verflech­ tische Interna­tio­­nale bildet nicht ein Konglo- einheitlichen tung und Anwachsen der unterschiedlichen Na­ merat von souveränen Nationen, von denen Weltkultur tio­nalismen, hatte er bereits durch das Entste- jede tun kann, was ihr beliebt, vorausgesetzt, mit nur noch hen der Klasse der Kaufleute und die Provinziali­ daß sie die Gleichberechtigung der anderen einer Sprache. sierung der überwiegend bäuerlich gedachten nicht verletzt, sondern einen Organismus, der übrigen Bevölkerung geliefert. Für Kautsky um so vollkommener funktioniert, je leichter handelt es sich hierbei jedoch nur um einen seine Teile sich verständigen und je einmütiger historischen Schlenker, das Ziel der histori- sie nach gemeinsamem Plane handeln.«10 schen Entwicklung besteht für ihn in der Ent- stehung einer einheitlichen Weltkultur mit nur Da seine Vorstellungen nicht auf ungeteilte Zu- noch einer Sprache. Hierbei wirken das öko- stimmung stießen, enthält seine Broschüre Die nomische Interesse an sprachlich homogenen Befreiung der Nationen von 1917 einen Ab- Wirtschaftsräumen und das Interesse der in den schnitt Die Eintönigkeit der Weltkultur, der zu Städten entstehenden Klasse der Gebildeten an den Einwänden Stellung nimmt. Er beginnt: möglichst weitreichendem kulturellen Austausch »Es gibt merkwürdigerweise Sozialisten, die das in dieselbe Richtung. Ziel der Assimilierung der Nationalitäten und ihrer Kultur leidenschaftlich bekämpfen. Höre die Mannigfaltigkeit der Nationalitäten, also der Sprachen auf, so würde das zu allgemeiner Monotonie und geistiger Verarmung führen.«11

39 Ausführlicher als in Nationalität und Interna- »Dadurch werden die notwendigen Bedürfnisse t h e m a tionalität stellt er hier seinen Standpunkt vor: (der Massen) immer einförmiger gestaltet, sie Luise Es gehe hier nicht um die persönliche Zustim- können immer mehr von den wenigen industri- und Karl mung, da es sich um eine »notwendige« Ent- ellen Zentren aus befriedigt werden, denen die Kautsky wicklungstendenz der Weltwirtschaft handele. ganze Welt Rohmaterialien liefert. Größte In- Es gebe jedoch auch keinen Grund sie zu ver- tensität des internationalen Verkehrs wird eine Nationale urteilen oder aufhalten zu wollen, allenfalls ein Lebensbedingung der sozialistischen Gesell- Identität Gebot zur Neutralität und zur Anerkennung schaft sein. Die notwendige Folge ist die fort- und Globali- zunächst bestehender demokratisch legitimier- schreitende Beseitigung der Verkehrshindernisse, sierung ter Forderungen der kleinen Völker. Der stei- darunter des wichtigsten unter ihnen, der Sprach­ gende Reichtum an Produkten, die der Kapita- verschiedenheiten. Die sozialistische Gesellschaft lismus hervorbringe, sei nur aufgrund der In- wird sicher der wachsenden Monotonie entge- dustrieproduktion möglich und diese führe genzuwirken haben, die die kapitalistische Öko­ eben zu einer Nivellierung der einzelnen Pro- nomie mit sich bringt. Sie kann ihr aber nicht dukte. Diese Verarmung natürlicher Vielfältig- entgegenwirken auf dem Gebiet der Ökonomie keit sei von Anbeginn ein Symptom mensch­ selbst. Das wird die Massenproduktion mit licher Entwicklung: von der botanischen und ­ihren Wirkungen, darunter die wachsende Assi­ biologischen Mannigfaltigkeit der Wildnis zu milierung der Nationen, fortzusetzen haben, dem Anbau nur einzelner Pflanzen in der Land- wenn sie nicht den Ast absägen will, auf dem wirtschaft und der Zucht einiger weniger Haus­ sie sitzt, die hochgesteigerte Produktivität der tiere. Der Kapitalismus habe diese Tendenz nur Arbeit. Nur durch Ausdehnung des Luxus, da- erheblich beschleunigt. Dies drohe auch den runter vor allem des Luxus der unberührten Menschen, auf den seine Umwelt zurückwirke, Natur, des Urquells aller Schönheit, alles Reich­ zu beeinträchtigen. tums, aller Genüsse, kann sie der Monotonie der Ökonomie entgegenwirken, nicht durch die Doch gibt es Faktoren, die dem entgegenwir- Erhaltung der Mannigfaltigkeit der Sprachen.«14 ken. Dieselbe Technik, die Formen der Natur vernichtet, führt zur Kenntnis von Formen, die Kautsky verfügt im Unterschied zu den meis- den Sinnen der Naturmenschen unzugänglich ten Marxisten über eine über die Entstehung sind. Sie wühlt die Erde um und zeigt ihm die der einzelnen Nation hinausgehende Theorie, reichen Formen der Vorwelt; das Teleskop er- die – jenseits des schönen Wortes der bakunin- schließt ungeheure Fernen, das Mikroskop un- schen »Völkerverbrüderung« – die über eine geheuer kleine Welten.12 Nation hinausgehende Vergesellschaftung von Das Wichtigste sei jedoch, dass die Technik Völkern und Nationen zu erfassen versucht. » durch die Produktion von Reichtum den Men- Die heutige Dominanz des Englischen und die Es gehe hier nicht um die schen immer mehr vom ursprünglichen Überle- historische Entwicklung, die zu dieser Situati- persönliche benskampf freistellte, sie ermögliche den Luxus. on geführt hat, sind mit dem Ansatz Kautskys ­Zustimmung, Auch der Sozialismus werde eine Gesellschaft besser zu fassen als etwa aus der Sicht der Aus- da es sich sein, die auf der Massenproduktion beruhe. tromarxisten, die in ihrem Enthusiasmus für um eine die Belange der kleinen Nationen die verein- »Der Sozialismus wird die Gegenwirkung gegen ›not­wen­dige‹ heitlichende Wirkung einer Weltökonomie die Verarmung des Lebens, wird Wissenschaft, Entwick- (und aus heutiger Sicht internationaler Medien) Kunst, Naturgenuss zum Allgemeingut der­ lungstendenz übersehen. Volks­­massen machen. Das ist der Weg, der aus der Welt- der Ökonomie hervorgehenden Monotonie des wirtschaft Auch diese gingen sicherlich von der Multilin- ­Le­bens entgegenzuwirken.«13 handele. gualität künftiger gebildeter Arbeiter aus, die Um die Bedürfnisse der großen Masse der für Bauer als »nationale Hintersassen« über- Menschen zu befriedigen, müsse im Sozialis- haupt erst durch die sozialistische Bildungspo- mus für den internationalen Massenkonsum litik vollwertiger aktiver Teil ihrer jeweiligen produziert werden. Nationen werden.

40 Aus Sicht der »kleinen Nationen« oder, wie tität so hoch schätzt wie Kautsky, sollte eigent- 1 Z. B. Karl Kautsky, Der Marx formulierte, der »geschichtslosen Völ- lich kein Problem darin sehen, kleinere Völker Kampf der Nationalitäten und das Staatsrecht in ker«, ist Kautsky entgegenzuhalten, dass wer in ihrer Forderung nach kultureller Diversität ­Österreich. in: Die Neue »unberührte Natur« dem Luxus erhalten will zu unterstützen. Kultur ist, wie der Theoretiker Zeit, 1898, S. 516 – 524 und der Bildung der Massen große Fortschritte der russischen Sozialrevolutionäre, Chaim Zhit­ u. S. 557 –564. voraussagt, einen unnötig hohen Preis für den lowsky, formulierte, zwar der Form nach na­ 2 Karl Kautsky: Nationali- ökonomischen Fortschritt zahlt, wenn er den tio­nal, ihr humaner Gehalt, philosophische oder tät und Internationalität, Stuttgart 1908, S. 2. kulturellen Reichtum der Nationen preisgibt. naturwissenschaftliche Erkenntnis jedoch ­ihrem Die kulturelle Verarmung, die in der von ihm Wesen nach international. 3 Ebd., Seite 5. Onkel ­Bräsig ist eine Figur des für unvermeidlich gehaltenen Einsprachigkeit gleichna­migen Romans der zukünftigen Weltkultur liegt, ist selbst bei Wer davon ausgeht, dass sich die historische des demo­kratischen Meck- starker Dominanz einer »Weltverkehrssprache« Entwicklung »notwendig« auf eine einsprachige lenburger ­Autors Fritz gar nicht erforderlich. Der Reichtum menschli- Welt zubewegt, verkennt im Übrigen eine wich­ ­Reuter (1810 – 1874) aus dem Jahr 1861, die er in cher Kultur besteht zu einem ganz erheblichen tige Eigenschaft gerade Europas: Nur an weni- mehreren Werken auf­ Teil gerade in dem Reichtum unterschiedlicher gen Orten auf der Welt existieren so viele unter­ treten lässt; am bekan­n­ Sprachen und regionaler und nationaler Tradi- schiedliche Sprachen und Kulturen auf so engem testen ist der Roman »Ut mine Stromtid« tionen. Sprachen sind mehr als Verkehrs- und Raum nebeneinander. Dies ist ein wesentlicher (3 Bände, 1863 –1864). Kommunikationsmittel. Wenn seine These des Teil des Reichtums und Grundlage der Kreati- 4 Ebd., S. 8f. durch den ökonomischen Fortschritt ständig vität unseres Kontinents. Diese Stärke sollte Ebd., S. 11. wachsenden materiellen Reichtums zutrifft, so ein zusammenwachsendes Europa nicht aufge- 5 ist nicht ersichtlich, weshalb um dieses kultu- ben, sondern betonen. Grade europäische Sozia­ 6 Ebd., S. 14. rellen Reichtums willen »im Sozialismus« nicht listen sollten heute ein multikulturelles Europa 7 Ebd., S. 12. die – dann vorhandenen – Mittel in multilin­ zu schätzen wissen und z. B. die Multilingua­ ­ 8 Ebd., S. 13. guale Bildung der »Massen« investiert werden lität von Migranten fördern, statt sich zu Vor- 9 Ebd., S. 17. sollten. Wer die Bedeutung von Nationallitera- kämpfern einer mehrheitsbestimmten »Leitkul­ 10 Karl Kautsky: turen bei der Entstehung von kultureller Iden- tur« zu machen. Die Be­freiung der Nationen, ­ Stuttgart 1917, S. 47.

11 Ebd., S. 48.

12 Ebd., S. 49.

13 Ebd., S. 50f.

Die Neue Zeit erschien von 1883 bis 1923. Sie war das theoretische Organ und Diskussionsforum der deutschen und internationalen Sozialdemokratie. Karl Kautsky war bis 1917 der Chefredakteur. Eine Online-Ausgabe findet sich unter http://library.fes.de/nz/index.html

41 thema Luise Kein und Karl Sozialismus Kautsky ohne Demokratie Karl K a u t s k y und die Entstehung eines Begriffs Michael Demlow

urch die Einrichtung der Kautsky- gann, mich in den letzten Monaten intensiver Bibliothek im neuen Luise & Karl mit den Schriften Kautskys zu beschäftigen, Kautsky-Haus in der Saarstraße 14 wurde mir klar, dass es bis heute einen gemein- in Berlin stehen den Falken nun die umfangrei- samen Nenner zwischen Karl Kautsky und der chen Schriften Karl Kautskys zur Verfügung, Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken um sie für die politischen Debatten innerhalb gibt, der von großer Bedeutung für unser Selbst­ des Verbandes zu erschließen, und es ist an der verständnis als Sozialistinnen und Sozialisten ist. Zeit, die Bedeutung verschiedener Theorien und Auf diesen Begriff möchte ich mit diesem Arti- Positionen dieses Genossen für unseren Ver- kel eingehen und deutlich machen, warum dieser band zu diskutieren. Dabei sollten für die Sozia­ theoretische und praktische Ansatz auch heute listische Jugend mehrere Fragen im Mittelpunkt noch für eine konstruktive Umgestaltung der des Interesses stehen: Welchen inhaltlichen Be- herrschenden kapitalistischen Verhältnisse hin zug hat unsere Organisation heute noch zu den zu einem »Sozialismus mit menschlichem Ant- Positionen Kautskys und welchen Einfluss hatte litz« unverzichtbar ist. Gegenstand dieser Ab- dieser wichtige Theoretiker der sozialistischen handlung ist der demokratische Sozialismus. Bewegung auf die Positionen und die Entwick- lung des Verbandes? Was verbindet uns eigent- Auch wenn die heute noch relativ große Partei lich bis heute mit den Positionen Karl Kauts­kys der Sozialdemokratie mit diesem Leitsatz in und welche Aussagen sind für uns heute noch diesen Zeiten vielleicht nicht mehr viel zu tun aktuell? hat, so ist sie doch vor mehr als 140 Jahren mit der Losung angetreten, die Ausbeutung des Men­ Direkte persönliche Bezüge der Kautskys zu schen durch den Menschen zu beenden. Unser unseren Vorläuferorganisationen, den Kinder- Verband hat diesen Grundsatz gerade erst auf freunden und der Sozialistischen Arbeiterjugend der letzten Bundeskonferenz im Juni 2011 in (SAJ) sind nur punktuell belegt. Die beiden wa- Hamburg in seinem neuen Selbstverständnis- ren z.B. nie in der Sozialistischen Arbeiterjugend papier bestätigt.1 Viele, auch für uns bedeutende aktiv, gleichwohl bestanden sicherlich Kontak- Theoretikerinnen und Theoretiker der Arbeiter­ te zu verschiedenen Theoretikerinnen und Theo­ bewegung haben sich seit ihrem Bestehen mit retikern der Arbeiterjugendbewegung. Als ich be­ der Frage beschäftigt, wie die, für ein Ende der

42 Ausbeutung notwendige Überwindung der herr­ gungen für die Rechte der Arbeiterinnen und schenden kapitalistischen Verhältnisse hin zu Arbeiter auch immer um die Demokratisierung einer befreiten, sozialistischen Gesellschaft er- des Staates und seiner Institutionen. Wilhelm reicht werden könne und welche Vorausset- Liebknecht sagte dazu: »Die Frage, welche Stel­ zungen für revolutionäre Umwälzungen gege- lung hat die Sozialdemokratie im politischen ben sein müssten. Die sozialistische Bewegung Kampfe einzunehmen? beantwortet sich leicht hat in ihrer Geschichte, speziell vor dem Hin- und sicher, wenn wir uns über die Untrennbar- tergrund der internen Klärung dieser Heraus- keit von Sozialismus und Demokratie klar forderung, immer wieder schwere Brüche und ­geworden sind. Sozialismus und Demokratie Spaltungen durchlebt. Vor dem Hintergrund re­ sind nicht dasselbe, aber sie sind nur ein ver- volutionärer Entwicklungen nach dem Ersten schiedener Ausdruck desselben Grundgedan- Weltkrieg in Deutschland und Russland ist auch kens; sie gehören zueinander, ergänzen einan- die Entstehung der Begrifflichkeit des demokra­ der, können nie miteinander in Widerspruch tischen Sozialismus zu verstehen. stehen. Der Sozialismus ohne Demokratie ist Aftersozialismus, wie die Demokratie ohne So- Karl Kautsky hat als einer der ersten die Be- zialismus Afterdemokratie. Der demokratische deutung demokratischer Strukturen in Staat Staat ist die einzig mögliche Form der sozialis- und Gesellschaft als Voraussetzung für die tisch organisierten Gesellschaft.«2 Michael Demlow Durchsetzung sozialistischer Verhältnisse be- schrieben und auch aus marxistischer Sicht Zu Beginn der revolutionären Veränderungen theoretisch abgeleitet. Ausschlaggebend für seine in Russland war die gesamte westeuropäische Definition des Verhältnisses zwischen Demokra­ ArbeiterInnenbewegung von einer ungeheuren tie und Sozialismus waren die Beobachtungen Euphorie erfasst und es gab eine große Be­ des revolutionären Russlands. Der Ansatz eines geisterung für die Bolschewiki.3 Das historische Karl Kautsky« demokratischen Sozialismus richtete sich klar Ver­dienst, die politische Macht im Sinne der hat als einer gegen die Aufwertung des von Lenin geprägten Arbeiterklasse übernommen zu haben wurde der ersten Kampfbegriffs der Diktatur des Proletariats. ihnen ohne Zweifel zu Beginn der Revolution die Bedeutung zugesprochen. »Die Bolschewiki waren die erste demokratischer Für die westeuropäische Sozialdemokratie stell­ sozialistische Partei in der Weltgeschichte, der Strukturen in ten die gewalttätigen Auseinandersetzungen im es gelang, ein großes Reich zu beherrschen und Staat und Ge- Zarenreich eine neue Situation dar, die Macht die es unternahm, den Sozialismus zu verwirk- sellschaft als wurde den Großgrundbesitzern, dem Adel und lichen.«4 Viele Arbeiterinnen und Arbeiter in Voraussetzung den Fabrikanten aus den Händen gerissen. Westeuropa verknüpften mit den Entwicklun- für die Durch- Doch wie sollte aus proletarischer Sicht die gen im Zarenreich auch die Hoffnung auf ein setzung so­ neue Gesellschaft in Russland beschaffen sein? besseres Leben in ihrem Land, die russische zialistischer Bis zu diesem Zeitpunkt waren Forderungen Revolution wurde von vielen quasi als histo- ­Verhältnisse nach mehr Demokratie selbstverständlicher Be­ risch notwendiger Beginn des Übergangs zum beschrieben standteil des Kampfes der organisierten Arbeiter­ Sozialismus gesehen. Besonders in der deutsch- und auch aus bewegung gewesen. Bis dato war aber eine sprachigen Sozialdemokratie bestand aber be- marxistischer praxisorientierte Theoriebildung über die Auf- reits seit einiger Zeit Uneinigkeit darüber, wel- Sicht theo­ fassungen von Demokratie in einer sozialis­ ches denn der richtige Weg zum Sozialismus retisch abge­ tischen Gesellschaft auch nicht notwendig ge- sei. So hatte es schon seit Ende des 19. Jahrhun- leitet. wesen, sondern es ging in der klassenkämpferi- derts Auseinandersetzungen darüber gegeben, schen Praxis bis zur russischen Revolution, ob der Kapitalismus nur durch einen revolu­ zumindest in Deutschland und Russland, um tionären Bruch oder auch durch allmähliche den Kampf gegen die autoritären Strukturen Transformation beseitigt werden könne. Die des jeweiligen Obrigkeitsstaats, wobei die Aus­ deutsche Sozialdemokratie ließ bis zu dieser prägungen eines bürgerlichen Rechtsstaates im Zeit beide Argumentationslinien zu, dadurch Deutschen Reich wesentlich weiter voran ge- dass einerseits der »große Kladderadatsch«5 schritten waren als im Zarenreich. Aus sozia- propagiert wurde, auf der anderen Seite aber, listischer Perspektive ging es bei den Anstren- spätestens durch Eduard Bernstein in seinem

43 Buch Die Aufgaben der Sozialdemokratie auch Systemwandel bot: »Wenn etwas feststeht, so t h e m a reformistische Wege zur Erreichung des Sozia- ist es dies, daß unsre Partei und die Arbeiter- Luise lismus gebilligt wurden. Mit dem Voranschrei- klasse nur zur Herrschaft kommen kann unter und Karl ten der russischen Revolution wurde nun ein der Form der demokratischen Republik. Diese Kautsky weiterer Begriff immer wichtiger und auch er ist sogar die spezifische Form für die Diktatur begleitet die linken Bewegungen weltweit bis des Proletariats, wie schon die große französi- Kein heute: Die Diktatur des Proletariats. Dieser von sche Revolution (Anm. die Pariser Kommune) Sozialismus Marx und Engels geprägte Begriff wurde, im gezeigt hat.«8 Die Diktatur des Proletariats ohne leninistischen Sinne umgedeutet, in der politi- war somit nach Marx und Engels nicht zwangs- Demokratie schen Auseinandersetzung zum Gegensatz des läufig mit den mörderischen Auswirkungen ver­ demokratischen Sozialismus. Die leninistische bunden, wie im revolutionären Russland und Umdeutung bestand darin, dass im Gegensatz danach in der Sowjetunion geschehen. Vielmehr zu Marx und Engels, bei denen im Zusammen- ging es um die Beschreibung eines möglichen hang mit der Nutzung dieser Begrifflichkeit nie­ Übergangszustandes vom Kapitalismus zum So­ mals die Rede von der Abschaffung allgemei- zia­­lismus, in dem Formen direkter Demokratie ner und individueller Freiheitsrechte (Presse, und Bürgerbeteiligung an allen gesellschaftlich und Versammlungsfreiheit oder Wahlrecht) für relevanten Entscheidungen eingeführt und am alle Menschen gewesen war,6 im Russland der Ende die Abschaffung der Klassenunterschiede Bolschewiki durch die verzerrte Nutzung dieses erreicht werden sollten. Diese Demokratie sollte Kampfbegriffs eine Diktatur der Partei Lenins jedoch ausdrücklich nicht für die Bourgeoisie über die gesamte Bevölkerung, theoretisch gelten. Das Besitzbürgertum sollte entmachtet ­untermauert, abgesichert werden sollte. und »niedergehalten« werden, darin allein be- stand das diktatorische Moment der Diktatur Ursprünglich nutzten Marx und Engels den des Proletariats. Wie aber genau dieses Über- Begriff der Diktatur des Proletariats mehr im gangsstadium aussehen könnte, in einer revo- metaphorischen Sinn, nämlich als Gegensatz lutionären Situation, z. B. in Russland oder zur Diktatur der Bourgeoisie. Diese ist nach Deutschland zu jener Zeit, darüber schieden Marx und Engels in der bürgerlichen Gesell- sich die Geister und über diese Frage spaltete schaft traurige Realität, da durch den Klassen- sich am Ende auch die Arbeiterbewegung. gegensatz auch per Gesetz gewährte bürgerli- che Rechte den Besitzlosen nicht zugute kom- Karl Kautsky beobachtete und analysierte sehr men, denn diejenigen, die über die Verfügungs- genau die Entwicklungen in Russland, er zeigte gewalt über die Produktionsmittel verfügen, die großen Widersprüche im Handeln der Bol- setzen auch die rechtlichen Standards in der schewiki auf und leitete daraus seine Schlüsse von ihnen dominierten Gesellschaft. Nach ihrer für die Durchsetzung revolutionärer Ziele in Überzeugung handelte es sich bei der bürger­ Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg ab. Er » lichen Demokratie um eine Scheindemokratie, begriff, dass der direkte Übergang von der Feu- Der proletari- und das konnte nur durch die Übernahme der dalherrschaft der Zaren zu einem sozialisti- sche Klassen- Macht durch die organisierte ArbeiterInnenbe- schen System in Russland aus verschiedenen kampf, als wegung geändert werden. Marx erhob die For- Gründen nicht funktionierte. Er verwies auf Kampf von derung: »Statt einmal in drei oder sechs Jahren die unbedingte Notwendigkeit demokratischer Massen, setzt zu entscheiden, welches Mitglied der herrschen­ Strukturen und einen bestimmten »Reifegrad« aber die den Klasse das Volk im Parlament ver- und zer- des Proletariats zur Erreichung des Sozialismus. ­Demokratie treten soll, sollte das allgemeine Stimmrecht »Der proletarische Klassenkampf, als Kampf ­voraus. dem […] Volk dienen, wie das individuelle von Massen, setzt aber die Demokratie voraus. Stimmrecht jedem andern Arbeitgeber dazu Wenn auch nicht gerade die ›unbedingte‹ und dient, Arbeiter, Aufseher und Buchhalter in ›reine Demokratie‹, so doch so viel von Demo- ­seinem Geschäft auszusuchen.«7 Um aber zum kratie, als notwendig ist, Massen zu organi­ Sozialismus zu gelangen, war zumindest ­Engels sieren und regelmäßig aufzuklären. Das kann auch der Überzeugung, dass die bürgerliche niemals ausreichend auf geheimem Wege ge- Demo­kratie die besten Voraussetzungen für den schehen. Einzelne Flugblätter können eine aus-

44 gedehnte Tagespresse nicht ersetzen. Geheim lassen sich Massen nicht organisieren, und vor allem kann eine geheime Organisation nicht eine demokratische sein.«9 Diese Kritik richtete Kautsky « setzte sich gegen Lenin, der mit seinem Verständnis sich nach der von einer elitären Truppe von Berufsrevolutio- Revolution 1918 närinnen und -revolutionären die erste demo- in Deutschland kratisch legitimierte Regierung in Russland ab­ aus diesem Grund schaffen wollte. Am Ende gelang ihm das auch für eine verfas­- mit Hilfe der Arbeitermassen, die jedoch nicht sung­gebende den Sozialismus bekamen, den sie sich erhofft Versam­mlung, hatten. Lenin war davon überzeugt, dass die die Nationalver- proletarische Revolution nicht möglich sei, ohne sammlung, ein. eine gewaltsame Zerstörung der bürgerlichen Staatsmaschinerie und die Errichtung einer »re­ volutionären Diktatur«, die an keine Gesetze gebunden ist.10

Genau um die Gefahren dieser entstehenden Willkürherrschaft ging es Kautsky in seinen Schriften Demokratie und Diktatur und Dik- tatur des Proletariats, die er 1918 verfasste. Für ihn ist die Demokratie wesentliche Grundlage um den Sozialismus zu ermöglichen. Somit kam der russische Weg seiner Ansicht nach für Deutschland nicht in Frage. Viele Marxisten jener Zeit, auch Kautsky, hatten berechtigte Zweifel daran, dass der Übergang von einer feudalen, agrarisch geprägten Gesellschaft zum Sozialismus überhaupt möglich sei. Ge- mäß der Vorstellung des historischen Materia- lismus ist die Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft Voraussetzung für die Entwick- lung des Proletariats als revolutionärer Klasse.

Geprägt durch die Eindrücke der Ereignisse in Russland begann er die politische und soziale Revolution immer mehr als einen evolutio­ nären Prozess zu begreifen, der geprägt sein muss von der fortschreitenden Demokratisierung ­aller gesellschaftlichen Bereiche, der zielstrebi- gen Organisierung des Proletariats und der um­ fassenden Bildung der Arbeitermassen, zur Er- langung der notwendigen Reife, um die politi- sche Macht auch erobern zu können. Kautsky Karl Kautsky, 1904 AdsD, FA 007106 setzte sich nach der Revolution 1918 in Deutsch­ land aus diesem Grund für eine verfassungge- bende Versammlung, die Nationalversammlung, ein. An diesem Punkt stand er, trotz langjähriger Freundschaft, im Konflikt mit einer Ikone der Linken, die auch in unserem Verband eine be-

45 sondere Rolle einnimmt, mit Rosa Luxemburg. haben wir einiges von den Ideen Kautskys ganz t h e m a Sie versuchte einen Mittelweg zwischen den praktisch mitgenommen, z. B. in unsere Zelt­ Luise Po­si­tionen Lenins und Kautskys einzunehmen. lager, in denen wir Methoden der direkten und Karl Theoretisch war sie Kautsky näher, indem sie ­Demokratie, der Rätedemokratie und der re- Kautsky schrieb »Volksherrschaft (im Sinne echter De- präsentativen Demokratie anwenden. mokratie) beginnt erst dann, wenn das arbei- Kein tende Volk die politische Macht ergreift.«11 Kautskys Positionen in der Kontroverse mit Sozialismus Auch versuchte sie noch mehr basisdemokra­ Lenin stellen die Geburtsstunde für die Kreation ohne tische Ansätze in das Modell der kommenden des Begriffes »Demokratischer Sozialismus« dar. Demokratie Herrschaft des Proletariats zu integrieren. Doch Seitdem wird der Begriff einerseits als klare ihre Begeisterung für die russische Revolution Abgrenzung gegen autoritäre kommunistische war so groß, dass sie ihre liberalen demokrati- Strömungen verwendet, andererseits macht er schen Prinzipien zugunsten der kompromiss­ deutlich, wie wichtig ein fortschrittlicher und losen Ergreifung der Macht durch das Proleta- positiver Ansatz für eine sozialistische Gesell- riat in Deutschland über Bord warf. Kautsky schaft ist. Eine Gesellschaft, die frei von Aus- war ein entschiedener Gegner dieser Politik, beutung und Unterdrückung sein will, muss auch er sprach sich für die Beschneidung der immer geneigt sein, über das Bestehende hin- Macht der Arbeiter-und Soldatenräte 1918 aus aus zu gehen. Das bedeutet mehr Freiheit, und für die Wahl einer verfassunggebenden Ver­ mehr Wohlstand und Gerechtigkeit für alle in sammlung. Diese Nationalversammlung, welche ihr lebenden Menschen. Gesellschaftliche Ent- 1919 durch die ersten allgemeinen und freien wicklungen hin zum Sozialismus sind untrenn- Wahlen in Deutschland gewählt wurde, be- bar mit individueller Freiheit verbunden. Eine stärkte ihn in der Annahme: »Nicht mehr ge- Gesellschaft ohne Meinungs- oder Versamm- waltsamer Umsturz der Verfassung, sondern lungsfreiheit kann keine freie Gesellschaft sein. ausgiebige Nutzung der demokratischen Rechte, Angelehnt an ein bekanntes Zitat von Marx die sie bringt, ist jetzt unsere Aufgabe.«12 bedeutet das für uns: Wir streiten für eine Ge- sellschaft, in der die freie Entwicklung und Durch die Beschäftigung mit den Schriften und Entfaltung des Individuums Voraussetzung für Thesen Kautskys wurden mir erstaunliche die freie Entwicklung und Entfaltung aller ­Pa­rallelen zum Selbstverständnis und zu den Menschen ist. In diesem Sinne kann sich unser ­Zielen der SJD – Die Falken aufgezeigt. Auch Verband glücklich schätzen, über die reichhal- in unserem Verband überwiegt die Überzeugung, tigen Werke Karl Kautskys zu verfügen, denn dass eine Gesellschaft frei von Ausbeutung und mit ihnen und durch sie können wir viel lernen Unterdrückung nur durch eine umfassende Be- über die mögliche Verfasstheit einer demokra- wusstseinsbildung erreicht werden kann. Als tischen und sozialistischen Zukunft. Voraussetzung dafür sehen auch wir die um­ fassende Demokratisierung aller Lebensberei- che. Man könnte diesen Ansatz nach Kautsky auch die »Voraussetzung für die Erlangung der Reife des Proletariats«13 nennen. Dies alles ge- schieht vor dem Hintergrund der Frage, die wir uns heute stellen und die Kautsky sich schon vor über einhundert Jahren stellte: Wie kann eine sozialistische Gesellschaft erreicht werden, in der die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Solidarität wirklich umgesetzt sind? Bezeich- nenderweise ist es weder Kautsky noch uns ge- lungen, diese Frage endgültig zu beantworten. Doch wir haben zumindest ähnliche Prinzipien formuliert, die als Voraussetzung einer sozialis­ tischen Gesellschaft unabdingbar sind. Auch

46 Karl Kautsky, 1928 AdsD, FA 007119

1 Selbstverständnis der 3 Wörtlich übersetzt be­ 5 Hauptsächlich von August 7 Karl Marx, Der Bürgerkrieg 11 Rosa Luxemburg, ­So­zialistischen Jugend deutet Bolschewiki »Mehr­ Bebel genutztes Schlagwort in Frankreich, 1871, in: ­Nationalversammlung oder Deutschlands – Die Falken, heitler«. Radikale Fraktion für den historisch notwen­ Karl Marx, Friedrich Engels, Räteregierung?, aus: Die beschlossen auf der 34. innerhalb der Sozialdemo­ digerweise eintretenden Werke, Bd. 17, 5. Aufl., ­Rote Fahne (Berlin), Nr.32, ­ordentlichen Bundeskon­ kratischen Arbeiterpartei ­Zusammenbruch des Kapita- Berlin 1973, S. 341. 17.12.1918, in: Gesammelte ferenz vom 02.– 05.06.2011 Russlands (SDAPR) unter lismus und der bürgerlichen Werke, Bd. 4, Berlin 2000, 8 Friedrich Engels, Zur Kritik in Hamburg (http://www. Führung Lenins, aus der die Gesellschaft. S. 463. des sozialdemokratischen wir-falken.de/positionen/ Kommunistische Partei der 6 Vorbild für die Diktatur Programmentwurfs 1891, 12 Karl Kautsky, Die pro­ 4913724.html). Sowjetunion hervorging. des Proletariats war die in: Karl Marx, Friedrich letarische Revolution und 2 Über die politische Stel- 4 Karl Kautsky, Demokratie ­Pariser Kommune 1871. ­Engels Werke, Bd. 22, ihr Programm, Berlin, lung der Sozialdemokratie, oder Diktatur, Berlin 1918, Marx und Engels betonten 3. Aufl., Berlin 1972, S. 235. ­Stuttgart 1922, S. 85. insbesondere mit Bezug auf zitiert nach http://www. ausdrücklich die politische 9 Karl Kautsky, Die Aus­ 13 Karl Kautsky, Demo­- den Reichstag. Vortrag von marxists.org/deutsch/ Beteiligung des Volkes; vgl sichten der russischen Revo- kratie oder Diktatur, Berlin Wilhelm Liebknecht in einer archiv/kautsky/1918/demo/ Karl Marx, Randglossen lution, in: Die Neue Zeit 35 1918, zitiert nach http:// öffentlichen Versammlung demo1.htm#hb zum Programm der deut- (1917), Bd. 2, S. 9 –20. www.marxists.org/deutsch/ des demokratischen Arbeiter­ (letzter Zugriff: 20.09. 2011). schen ­Arbeiterpartei in archiv/kautsky/1918/demo/ vereins Berlin am 31. Mai der Kritik des Gothaer Pro- 10 Lenin, Die proletarische demo1.htm#hb 1869, Berlin 1893, S.1. gramms 1875, erstmals Revolution und der Renegat (letzter Zugriff: 20.09.2011). publiziert 1891. Kautsky, in: ders., Gesam- melte Werke, Bd. 28, Petrograd 1918, S. 231.

47 thema Alexander J. Schwitanski Luise eine und Karl Kautsky O hrfeige für Karl Kautsky M o r i t a t über Ehre und Parlamentarismus in der Arbeiterbewegung

ine kleine Begebenheit aus dem Le- In der nachfolgenden Diskussion ergriff der ben Karl Kautskys bietet ein interes- Student Hans Müller – ein Deutscher – das santes Lehrstück über die Bedeutung Wort und erklärte, dass die deutsche Sozial­ von Ehre und Parlamentarismus innerhalb der demokratie den »Wunderglauben an den Staat« Arbeiterbewegung am Ende des 19. Jahrhun- keineswegs überwunden habe, möge das Partei­ derts und veranschaulicht, wie sehr die Arbeiter­ programm auch anderes behaupten. Er warf bewegung auch in Deutschland auf den Parla­ der Sozialdemokratie vor, parlamentarisch zu menta­rismus als Organisationsform der Demo­ ver­sumpfen. Damit trug er eine Diskussion in kratie setzte. die Schweiz, die bereits in Deutschland geführt worden war. Müllers Vorwürfe entsprachen Die Geschichte ist rasch erzählt. Am 21. Juli der Kritik, die auf dem Erfurter Parteitag sei- 1892 sprach Karl Kautsky im Hause Eintracht tens der Gruppierung der sogenannten »Jungen« des Arbeitervereins in Zürich zu deutschen an der Partei geübt und mit dem Ausschluss ­Sozialisten. Es war eine öffentliche Versamm- dieser Oppositionsgruppe aus der Partei beant- lung und die Quellen bedeuten, dass der Kreis wortet worden war.1 Zum Beweis des refor- der Zuhörer – und erweislich auch der Zuhö- mistischen Kurses der Partei zitierte Müller rerinnen – sich einerseits aus deutschen Reichs- ­eine Rede Wilhelm Liebknechts, aus der er ein bürgern zusammensetzte, die wahrscheinlich Kooperationsangebot an Bismarck herauslas. noch während des Sozialistengesetzes Zuflucht Nachfolgend bestritt Kautsky das Zitat bezie- in der Schweiz gefunden hatten, andererseits hungsweise den Sinn, den Müller ihm verliehen aus deutschsprachigen Schweizern. Kautsky er­ hatte, und nannte Müller einen Verleumder. läuterte das neue Programm der deutschen So- Dieser trat daraufhin an den Tisch Kautskys zialdemokratie, das 1891 in Erfurt beschlossen und bedeutete diesem, ihm in nächster Zeit worden war. Insbesondere betonte er dessen schreiben zu wollen. Er verlangte von Kautsky, revolutionären Charakter und erklärte, dass zur Wiederherstellung seiner durch das Wort die Sozialdemokratie nicht länger auf den Staat »Verleumder« gekränkten Ehre, das Schreiben setze, um die Emanzipation der Arbeiterklasse in der nächsten Ausgabe der Neuen Zeit zu voranzutreiben. veröffentlichen, da darin die Richtigkeit des

48 Lieb­knecht-Zitats bewiesen werden sollte. Nach­ ­dem Kautsky ihm geantwortet hatte, er werde Z ü r i c h 21. Juli 1892 tun, wie es ihm beliebe, ohrfeigte Müller Kauts­ ky, da er keine andere Chance auf Genugtuung sah. eine Müller: Wilhelm Liebknecht hat Direkt am folgenden Tag veröffentlichte Mül- sich doch ler ein Flugblatt mit dem Titel »Weshalb ich Bismark O hrfeige Kautsky ohrfeigen mußte«, in dem er seine schon angeboten! Tat, die nun einen mehrtägigen Nachhall in Schweizer Arbeiterzeitungen fand, rechtfertigte. Kautsky: Das ist doch Quatsch! für Ein Kreis von fünfzig Unterstützern Kautskys antwortete mit der Veröffentlichung eines Ge- Müller, Sie Lügner!!! Karl Kautsky genflugblatts mit dem Titel »Warum Studiosus Hans Müller Ohrfeigen verdiente und Ohrfeigen Müller: Nehmen Sie das sofort zurück! M o r i t a t über Ehre bekam«.2 Kautsky: Ich mach, und Parlamentarismus Dieser Episode lassen sich Hinweise auf einen tiefer verwurzelten Komplex von Vorstellun- was mir passt! in der Arbeiterbewegung gen und Haltungen entnehmen, die das Han- deln von Sozialdemokraten prägten, jenseits der theoretischen Reflexionen, und die auf die Bedeutung des Parlamentarismus als eines ver- Patsch !!! haltensleitenden Prinzips verweisen.

Zunächst ist es die Vorstellung von Ehre. Mül- ler wollte für die erlittene Beleidigung Genug- ressenwahrung in verbale zu transformieren. tuung. Die nachfolgende Diskussion in den Nicht selten distanzierten sich sozialdemokrati- Partei­blättern zeigte, dass dieses Ansinnen als sche Zeitschriften beispiels­weise von Arbeitern, durchaus gerechtfertigt empfunden wurde. die bei Auseinander­setzungen mit der Polizei Diskutiert wurde nicht, ob Genugtuung eine zum Beispiel im ­Rahmen von Arbeitskämpfen sinnvolle Kategorie sei, sondern zum Beispiel, auch zu Gewalt griffen. Diese galten dann als ob Müllers Auslegung des Liebknechtschen Rüpel oder ­Pöbel, die der Sozialdemokratie ­Zitats stichhaltig sei.3 Zwar fanden diese und den dort geübten Formen der gewalt­ ­Diskussionen in Schweizer Zeitschriften statt, freien, parlamentarischen Auseinandersetzung doch hatten die dahinter stehenden Werthal- durch Rede und Gegen­rede mit abschließender tungen auch im Reich Bedeutung – schließlich Abstimmung fern stan­den – was wohl nicht im- war dies eine aus dem Reich exportierte De- mer zutraf.5 Trotzdem lebten hinter der ge- batte. Mit seinem körperlichen Angriff auf waltfreien Form der Auseinandersetzung­ alte Kautsky hatte Müller allerdings ­eine Grenze Ehrbegriffe weiter,6 Konflikte wurden nur an- überschritten, nämlich die der parlamentari- ders ausgetragen, nämlich schriftlich. Die Reden schen Form der Konfliktaustragung. Dem Flug­ sozialdemokratischer Ab­geordneter im Parla- blatt der Unterstützer Kautskys fiel es daher ment wurden von sozial­demokratischen Zei- leicht, Müllers Verhalten als unter dem »Banne tungen oft als ein quasiphysisches Ringen mit korpsstudentischer Raufboldenmoral« stehend dem Gegner beschrieben und erhielten den zu verurteilen.4 Dieses Verdikt betraf weniger Charakter eines Duells.7 Dies galt noch in den das Ansinnen nach Genugtuung selbst, als viel- 1920er Jahren, als zum Beispiel die Leipziger mehr die Form ihrer Ausübung. Die sozialde- Volkszeitung eine Rede Scheidemanns im Reichs­ mokratische Verbandskultur war sehr bestrebt, tag mit einem Boxkampf vom Vortag verglich direkte, körperliche, auch gewaltsame Formen und die Antwort Scheidemanns auf seinen von Dominanz, Auseinandersetzung und Inte­ kommunistischen Herausforderer als »Hieb«

49 beschrieb, der den Gegner auf die Bretter ge- 1 Vgl. Dirk H. Müller, Idealis- t h e m a schickt habe.8 Auch Kautsky und Müller duel- mus und Revolution. Zur ­Opposition der Jungen ­gegen Luise lierten sich – mittels des geschriebenen Wortes den Sozialdemo­kra­tischen und Karl in eigens gedruckten Flugblättern, wenngleich Parteivorstand 1890 bis 1894, Kautsky Kautsky nur mittelbar über seine Unterstützer. Berlin 1975, S. 76 – 82 u. 108f. Dabei spielten auch tradierte Männlichkeits- 2 Die vorstehende Schilderung Eine bilder eine Rolle: Die Unterstützer Kautskys des Sachverhalts wurde aus Ohrfeige den Angaben beider Flugblätter unterließen es nicht, darauf hinzuweisen, dass rekonstruiert. Die Schilderun- für Karl Müller für die Attacke auf Kautsky seinerseits gen der Flugblätter unterschei- Kautsky eine Ohrfeige erhalten hatte, und zwar von einer den sich sachlich nur in dem Punkt, als dass Müller angibt, neben Kautsky sitzenden Frau. Zwar wird da- er habe Kauts­ky vom Inhalt des durch in der Rückschau der ganze Komplex in Aussicht gestellten Schrei- von – männlich besetzter – Ehre durch die He- bens unterrichtet, während das Flugblatt der Kautsky-Unter­ rausgeber des Flugblatts dekonstruiert, doch stützer angibt, Müller habe ist im Rahmen der polemischen Absicht des vom Inhalt des Schreibens Flugblatts die Deutung wahrscheinlich, dass nichts verlauten lassen. Beide die Unterstützer Kautskys­ den Zusammenhang Flugblätter befinden sich im ­Internationalen Institut für von Ehre und Männlichkeit durchaus ernst ­Sozialgeschichte (IISG), nahmen und Mül­ler über die Mitteilung, er sei ­Amsterdam, Nachlaß Karl von einer Frau geschlagen worden, besonders ­Kautsky, KG 2/7 und KG 2/8. 9 treffen wollten. 3 Die Artikel finden sich in IISG, NL Kautsky, KG 2/9-13.

Kam der Parlamentarismus auf Seiten der Un- 4 IISG, NL Kautsky, KG 2/8. terstützer Kautskys als akzeptierter Komplex 5 Vgl. Thomas Lindenberger, von Werthaltungen und Verhaltensweisen in Straßenpolitik. Zur Sozialge- der Ablehnung körperlicher Gewalt in dieser schichte der öffentlichen Ord- Affäre ins Spiel, so beriefen sich auch diejeni- nung in Berlin 1900 bis 1914, Bonn 1995, S. 333f. gen, die Müllers Handlung zwar nicht billig- ten, aber auch nicht verdammen konnten, auf 6 Tendenziell anderer Ansicht die Regeln des Parlamentarismus. Der Kritiker sind Gerhard A. Ritter, Klaus Tenfelde, Arbeiter im Deut- der parlamentarischen Versumpfung Müller schen Kaiserreich 1871 bis 1914, habe zwar scharfe Kritik an der Parteileitung Bonn 1992, S. 803ff.

geübt, dabei aber keine »unparlamentarischen 7 Vgl. Elfi Pracht, Parla­ Ausdrücke« gebraucht – anders als Kautsky, mentarismus und deutsche als er Müller einen Verleumder nannte. Es sei So­zialdemokratie 1867–1914, Pfaffenweiler 1990, 182f. das »Recht eines jeden Parteigenossen, Kritik 8 Leipziger Volkszeitung, zu üben und auch […] die parteileitenden Per- 32. Jhg., Nr. 280 sonen in sachlicher Weise und parlamentari- v. 03.12.1925, S. 2.

10 scher Form offen anzugreifen.« 9 Siehe zu dem Komplex von verbaler Auseinander­setzung, Wenn die in Parlamenten geübten Formen der- Ehre und Männlichkeit in der Arbeiterbewegung auch Tho- art zum Leitbild des eigenen Verhaltens in der mas Welskopp, Das Banner der demokratischen, politischen Auseinanderset- Brüderlichkeit. Die deutsche zung geworden waren, wundert es nicht, wenn Sozialdemokratie vom Vormärz die Sozialdemokratie auch später auf die parla- bis zum ­Sozialistengesetz, Bonn 2000, S. 408–418 u. 596–608. mentarische Demokratie als politischer Orga- 10 Der Schweizer Sozial­ nisationsform setzte. demokrat, 5. Jhg., Nr. 32 v. 05.08.1892, S. 2f.

50 personen

Bodo Brücher 90. Geburtstag von Lorenz Knorr

Lorenz Knorr wurde am 18. Juli neunzig Jahre alt. Zu seinen Ehren fand am 3. September im Club Voltaire in Frankfurt eine Matinee statt. Sie stand unter dem Motto »Aus der Geschichte lernen«. Zu der Veranstaltung, die von Thomas-Ewald Wehner (Dr. Heinz Jung Stiftung) und Monika Krotter Hartmann (Deutscher Freidenker Verband Hessen) organisiert wurde, waren Weggefährten und Freunde von Lorenz Knorr eingeladen worden. Unter dem Thema »Was wir von Lorenz Knorr lernen können«, zeichnete Ihm folgten die persönlichen Glückwünsche Prof. Dr. Georg Grasnick, Berlin, an Beispielen und Statements der Gäste, die für sich per­ eindrucksvoll das Wirken des Jubilars nach. sönlich oder für die Organisationen sprachen, die sie vertraten. Für den Förderkreis »Doku- mentation der Arbeiterjugendbewegung« und für das Archiv erinnerte Bodo Brücher als Weggefährte der 1950er Jahre an die ­Tätigkeit von Lorenz Knorr bei den »Falken« in den Jahren von 1946 bis 1960. Vertreter der ­hessischen »Falken« überbrachten die Grüße und Glückwünsche des Bundesvor­ sitzenden Sven Frye. Die kleine Feier wurde durch ­musikalische Beiträge umrahmt.

51 Neue Tom Strohschneider Bücher Erziehung in der Pro­duk­tion Rezensionen I nsa Fooken • Jürgen Zinnecker ( H g . ) T rauma und R esilienz Heinz Weiss Das Rote Schönbrunn

Peter Birke • Bernd Hüttner • Gottfried Oy (Hg.) A lte Linke – Neue Linke?

Jugendbrigaden im Dennoch sind die Jugendbrigaden ein wenig be- ­Spannungsfeld forschtes Feld der DDR-Geschichte. Eine der we- von FDJ und FDGB nigen Ausnahmen ist eine 115-seitige Untersu­ ­ chung, die Tom Strohschneider im Jahr 2007 Günter Regneri, Berlin ­publiziert hat. Für seine Arbeit sieht er drei Schwer­punkte: » […] das Ziel, Jugendbrigaden zu Tom Strohschneider, Erziehung in der Pro­- Agenturen ideologischer Erziehung zu machen; duk­tion. Jugendbrigaden in der DDR und auf die Rolle der Jugendbrigaden bei der wirt- der ­Konflikt um die betriebliche Jugendarbeit, schaftlichen Mobilisierung und schließlich auf das ­Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller, 2007, Verhältnis zwischen SED und Massenorganisatio- 120 Seiten, ISBN: 978-3-8364-0443-3, nen, in dem Jugendbrigaden zum Spielball unter- Preis: 49,00 Euro schiedlicher Interessen wurden.« (S. 4) Besonders der letzte Punkt eröffnet spannende Sichten auf die politischen Machtkonstellationen in der DDR. Die SED wies »der Jugend« doch stets eine her- vorragende Rolle im Aufbau des Sozialismus zu. Bereits vor Gründung der DDR bildete die Freie »Die junge Generation war die potentielle Voll- Deutsche Jugend (FDJ) sogenannte »Jugendaktivs«, streckerin der Geschichte.«(S.15) Zur Erfüllung die- die sich in den zahlreichen Produktionskampagnen ser historischen Aufgabe waren jedoch »sozialisti­ ­ und -wettbewerben engagieren sollten. Dies führ­ sche Persönlichkeiten« notwendig, die es zu erzie­ te unmittelbar zu Kompetenzkonflikten in der be- hen galt. Im ideologischen Weltbild der Partei trieblichen Jugendarbeit. Der traditionelle Akteur boten sich die Jugendbrigaden dafür geradezu in den Betrieben, der Freie Deutsche Gewerkschafts­ an, weil hier die Bewusstseinsbildung über den bund (FDGB), erwog zu dieser Zeit die Gründung Prozess sozialistischer Gemeinschaftsarbeit statt- eines eigenen Gewerkschaftsjugendverbandes. finden konnte. Früher als beim FDGB hatte bei der FDJ die ideo- Nicht minder bedeutungsvoll für die SED und die logischen Anpassung und Unterwerfung unter Regierung der DDR war eine möglichst ökonomi- die Politikvorgaben der SED eingesetzt. So hatten sche Verwertung des jugendlichen Arbeitskräfte- die beiden Massenorganisationen zu diesem Zeit- potentials, litt die DDR doch unter chronischem punkt sowohl unterschiedliche politische wie or- Arbeitskräftemangel. ganisatorische Zielsetzungen.

52 Als vornehmliches Ziel der Jugendbrigaden sah Im letzten Jahrzehnt der DDR bestanden mehr die FDJ die Steigerung der Produktivität. Gleich- Jugendbrigaden als je zuvor. Im Jahr 1986 orga­ Neue zeitig sollten die Brigaden erzieherische Wirkung nisierten sie 574.000 Mitglieder. Doch der über Bücher entfalten und bei der Jugend ein neues Verhältnis Jahr­zehnte erhoffte und propagierte erziehe­ zur gesellschaftlichen Arbeit entwickeln. Gemeint rische Effekt der Jugendbrigaden war anschei- war damit aber keinesfalls eine sozialistische Er- nend ausgeblieben, wie eine Untersuchung des ziehung im Sinne Kurt Löwensteins. Tatsächlich Zentralinstituts für Jugendforschung aus dem Jugend- zeigte sich, »dass die Betriebsarbeit der FDJ auch Jahr 1982 feststellte: brigaden im Spannungs- gegen die innerbetriebliche Solidarität der In­ feld von FDJ dustriearbeiterschaft gerichtet war […]. Die Akti­ »Ein positiver, wissenschaftlicher Beweis beson- und FDGB vistenbewegung wurde zudem vorübergehend derer ökonomischer wie auch erzieherisch-per- zum Instrument einer indirekten Lohnsenkungs- sönlichkeitsfördernder Wirksamkeit bzw. Leistungs­ politik«. (S. 25) fähigkeit der Jugendbrigaden generell kann […] nicht erbracht werden!« (S. 87; es handelt sich um Diese Entwicklungen stießen im FDGB auf Ab­ den unveröffentlichten Bericht zur zentralen In- lehnung, da dieser sich noch als traditionell tervallstudie junger Arbeiter, Thema: Zum Ent- ­gewerkschaftlich geprägte Interessenvertretung wicklungsprofil von Jugendbrigaden). verstand. Die SED entschied die Konkurrenz um die be- Als vornehm­« triebliche Jugendarbeit zu Ungunsten des FDGB. liches Ziel Das erste Jugendgesetz der DDR schrieb 1950 den der Jugend­ Alleinvertretungsanspruch der FDJ für die Jugend brigaden sah fest. Das bezog sich auf die Jugendbrigaden, wie die FDJ die auf die Jugendarbeit in den Betrieben insgesamt, ­Steigerung auch wenn dort die Zahl der FDJler eher gering der Produk­ war. Hingegen organisierte der FDGB erheblich tivität. mehr arbeitende Jugendliche, als die FDJ insge- samt Mitglieder hatte.

Dies mag auch ein Grund dafür gewesen sein, dass der FDGB immer wieder den Alleinvertre- tungsanspruch des Jugendverbandes innerhalb der Arbeitswelt in Frage stellte. Ende der 1950er Jahre sah es so aus, als könnte der FDGB, längst »Transmissionsriemen der Partei«, die Führungs- rolle über die betriebliche Jugendarbeit zurück- gewinnen.

Das Jugendgesetz von 1964, offiziell »Gesetz über die Teilnahme der Jugend der DDR an dem umfassenden Aufbau des Sozialismus«, reduzierte zwar den Einfluss der FDJ in den Betrieben, doch geschah dies nicht zu Gunsten des FDGB. Es ­waren nun die staatlichen Leitungen, die Verant- wortung für die Jugendbrigaden erhielten. In den folgenden Jahren gelang es der FDJ jedoch wie- der, stärkeren Einfluss auf die Jugendbrigaden zu gewinnen.

53 Die Spuren der Geschichte Resilienz hängt von vielen verschiedenen Fakto- Sonja Schlegel, Köln ren und deren Kontext ab: sie ist geschlechtsspe- zifisch; die biologischen Grundbedingungen wie Intelligenz und Temperament müssen beachtet Insa Fooken, Jürgen Zinnecker (Hg.), werden. Als Hochrisikokonstellationen für Kinder Trauma und Resilienz. Chancen und Risiken werden in diesem ersten Aufsatz von Cornelia lebens­geschichtlicher Bewältigung von Hagen und Gisela Röper Armut, niedrige von belasteten Kindheiten, mütterliche Bildung, psychische Erkrankung eines Weinheim: Juventa Verlag, 2007, Elternteils und der Minoritätenstatus genannt. 250 Seiten, ISBN 978-3-7799-1732-8, Die Autorinnen beschreiben, dass in den USA Preis 21,00 Euro nach den Terroranschlägen von 9/11 und der da- durch entstandenen Traumatisierung der Bevöl- » Zuerst be­ Die Geschichte hinterlässt ihre Spuren auch im kerung durch Kurse und Broschüren versucht schäftigt sich Leben der Menschen, besonders wenn es sich um wurde, die Resilienz der Menschen bei chroni- der Band mit eine so gewaltsame und krisenhafte Geschichte schem Stress zu erhöhen. ­einer Einfüh­ handelt wie diejenige des 20. Jahrhunderts. Noch rung und der heute dauert die psychologische Aufarbeitung Im zweiten Artikel wird erläutert, dass die wirk­ Definition von dieser Geschichte an. Ob die Ergebnisse der sich samen Resilienzfaktoren noch nicht wirklich ver- Resilienz, aus der Behandlung der erlittenen Traumata er- standen wurden (Ann Masten, 2003). Deutlich die – grob gebenden psychologischen Forschungen für die wurde jedoch, immer wieder und in nahezu allen ­gesprochen – Geschichtswissenschaft nutzbar gemacht werden Beiträgen, dass eine gute Bindungsperson als die Fähigkeit können, muss von dieser Disziplin diskutiert werden. ­Basis der Sicherheit vieles ausgleicht, auch vorge- bedeutet, trotz Zum Verständnis von Biografien des 20. Jahrhun- burtliche und geburtliche Schwierigkeiten. schmerzhafter, derts sollten jedoch die laufenden psychologi- traumatischer schen Studien zumindest beachtet werden, die Der dritte Artikel befasst sich mit Resilienz bei Erlebnisse zu auch Hinweise auf die Bedeutung von Sozialisa­ Kriegsverwundeten des Zweiten Weltkriegs und ­einer positiven tionsumfeldern geben, wie sie in der historischen wurde von einem selbst Betroffenen des Jahr- Lebensge­ Kindheits- und Jugendforschung auch von Bedeu­ gangs 1928 verfasst. Er warnt vor der unkritischen staltung zu tung sind. Bewertung von naiven Erinnerungen und stellt ­gelangen. fest, dass die Berichte von Kriegserinnerungen in Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um den letzten Jahren zunehmen. Den Resilienzbe- einen sehr interessanten, informativen Band zum griff sieht er als Gegenbegriff zum Traumatisie- Thema »Trauma und Resilienz« mit Artikeln von rungsbegriff. Er beruft sich auf Emmy Werner, sehr unterschiedlichem Niveau, wie das in Sam- USA, die den Begriff »Resilienz« mit Elastizität melbänden häufig vorkommt. oder Unverwüstlichkeit übersetzt.

Zuerst beschäftigt sich der Band mit einer Einfüh- In den letzten 12 Kriegsmonaten seien die Verluste rung und der Definition von Resilienz, die – grob unter den deutschen Soldaten so hoch gewesen gesprochen – die Fähigkeit bedeutet, trotz schmerz­ wie während des gesamten Krieges. Es gab riesige hafter, traumatischer Erlebnisse zu einer positiven Feldlazarette. Der Autor, Rolf Schörken, verlor mit Lebensgestaltung zu gelangen. Man kann sie im 16 Jahren ein Bein im Krieg. Er erlebte das Laza- Lauf des Lebens erwerben, sie nimmt jedoch im rett als Ort von vergleichbar großer Ruhe gemes- Alter eher wieder ab. Es gibt verschiedene Kriterien sen am Kriegsgeschehen. Diese Ruhe sei ein wich­ für eine erfolgreiche Resilienz. Betrachtet man für tiger Resilienzfaktor gewesen, der wichtigste war die Bewertung eher die erfolgreiche gesellschaft- jedoch der Wille zum Überleben. Auch dass so liche Anpassung oder das subjektive Empfinden? viele Männer in ähnlicher Lebenslage eine Ge- Die Befindlichkeit kann trotz guter Anpassungs- meinschaft bildeten und sich kein Selbstmitleid leistung durchaus schlecht sein. erlaubten, betrachtet er als unterstützenden Fak- tor. Auch habe es zu diesem Zeitpunkt noch kein Schuldbewusstsein oder Reflexion des Krieges ge­ geben, und eine gute Versorgung durch die ame-

54 rikanische Besatzungsarmee. Nach der Entlassung Die Untersuchung über Anna Freuds Kinderüber- aus der Kriegsgefangenschaft änderte sich die lebende zeigt ebenfalls interessante Ergebnisse. Neue ­Situation der Kriegsverwundeten dramatisch. Sie Nach 35 Jahren sind keine signifikanten Auffällig- Bücher waren vereinzelt unter vielen mit anderen Leidens­ keiten zu verzeichnen. Die ehemaligen Kinder­ geschichten. Nach dem verlorenen Krieg empfan- überlebenden, die Konzentrationslagerhaft erlitten den sie sich (oder wurden auch so betrachtet) als hatten, zeigten eher einzigartige Stärken: eine Last für die Gesellschaft, nicht als »verwundete große Bejahung des Lebens und ein hohes ethi- Die Spuren der Geschichte Helden«. Die kollektive Abwehr schrumpfte, die sches und spirituelles Engagement. Die Resilienz- Schwerstbehinderten mussten sich mit ihrem Anteil faktoren in dem Heim von Anna Freud in England an der aufgeladenen Schuld auseinandersetzen. setzten sich zusammen aus fürsorglichen Lehre-­ Sie spürten Abwehr und Mitleid in der Bevölkerung. r­innen, Hilfsbereitschaft und der religiösen Ge­ mein­schaft. Im zivilen Leben gab es dann zwei Typen: Die ­einen lebten einfach stur weiter (in der Trauma- Persönliche Anmerkung: Diese Ergebnisse finde behandlung bekannt als »da war nichts«) im Sinne ich sehr erstaunlich, da ich in weit über 200 Ent- der Bedeutung des Wortes Resilienz – von sich ab­ schädigungsakten von Kinderüberlebenden durch­ prallen lassen. Die anderen wählten das Gegenteil gängig gänzlich andere Bilder von psychischem von Typ 1, sie stellten die Beschäftigung mit dem und physischem Elend gesehen habe. Zweiten Weltkrieg in den Mittelpunkt ihres geis- tigen Lebens. Diese gründliche Auseinanderset- Deutlich wird die Bedeutung von zuverlässigen zung führte nach Ansicht des Autors fort von der und fürsorglichen Menschen bei der Bewältigung Nach« dem ver­ Gefahr der Traumatisierung. von »man made desaster« auch noch mal bei den lorenen Krieg Ergebnissen einer Untersuchung der Kinder von empfanden sie Der vierte Artikel stammt von der Begründerin inhaftierten griechischen Partisaninnen. sich […] als des Resilienzbegriffes, von Emmy Werner. Er be- Last für die schreibt einige Beispiele aus der Resilienzforschung, Allerdings warnt uns die Forscherin am Ende des ­Gesellschaft, wie die langfristigen Folgen der Bombardierung Artikels, wie es auch einige Autorinnen und Auto- nicht als Dresdens (Maerckert/Herrle 2003). 52 Jahre nach ren der folgenden Artikel tun: Vielleicht seien die ­›verwundete den Ereignissen sind die psychopathologischen Ergebnisse der Längsschnittstudien auf die Aus- Helden‹. Spätfolgen relativ gering, die Rate der Posttrau- wahl der Teilnehmenden zurückzuführen. Unter matischen Belastungsstörung (PTSD – aus dem eng­ Umständen seien schon viele der stärker beein- lischen Post-Traumatic Stress Disorder) ist niedrig. trächtigten Betroffenen verstorben oder aus psy- Eine Untersuchung an amerikanischen Soldaten chischen oder physischen Gründen nicht in der zeigt jedoch, dass 40 Jahre nach Kriegsende die- Lage gewesen, an dieser Studie teilzunehmen. jenigen Soldaten, die in Kampfhandlungen invol- viert waren, noch Symptome von PTSD aufwie- Mathias Franz beschäftigt sich mit den Folgen sen. Diese erzeugten aber nicht unbedingt Invali- kriegsbedingter Abwesenheit des Vaters auf die dität; reife Abwehrmechanismen wie z. B. Altruis- psychische und physische Verfassung der erwach­ mus und Humor halfen, diese zu vermeiden. senen Kinder. Er erläutert die Bedeutung des ­Vaters für die kindliche Entwicklung und weist Bei Untersuchungen von elternlos evakuierten auf die Risiken der fehlenden Väter bei heute Kindern wiederum konnte man feststellen, dass 25 Prozent alleinerziehenden Müttern hin. die Kinder aus Problemfamilien deutlich größere Schwierigkeiten in den Pflegefamilien hatten als Befragt wurden 600 Personen der Jahrgänge die anderen. Begleitende Lehrerinnen und Lehrer 1935, 45 und 55. Ein Viertel litt unter psychoge- oder Erzieherinnen konnten große Stützfaktoren nen Erkrankungen, der Anteil lag bei den sozial für die Kinder darstellen. Evakuierte Kinder wiesen Unterprivilegierten deutlich höher. Ledige, Ver- in der Lebensmitte weniger chronische somati- witwete und Geschiedene hatten ebenfalls ein sche Krankheiten auf als diejenigen, die unmittel- deutlich höheres Risiko. Neben einer gestörten bar den Schrecken des Krieges mit Bombardie- Mutterbeziehung zeigten sich signifikant höhere rungen etc. ausgesetzt waren. Beeinträchtigungen durch das Fehlen des Vaters

55 in den ersten sechs Lebensjahren. Interessanter- Depressionen und Beziehungs- und Bindungs­ Neue weise berichtet der Autor, dass es der Forscher- störungen. Den Söhnen mangelte es am Modell Bücher gruppe schwer fiel, diese Ergebnisse zu würdigen. »Mann« bei gleichzeitiger Abgrenzung. Sie waren Erst nach langwierigen Klärungsprozessen gelang überfordert durch die Parentifizierung und die es ihnen, diese Ergebnisse zu sehen und zu gefährliche symbiotische Nähe zur Mutter. Deut- ­würdigen. lich zu beobachten ist zudem ein abgewehrter Die Spuren der Geschichte Umgang mit Gefühlen, fehlende eigene Väter- Interessant ist auch die Verbindung zur 68er-­ lichkeit und eine schwierige bis unmögliche Los- Generation mit ihrer Suche nach idealisierten lösung von der Mutter. Diese Folgen zeigen sich ­Ersatzvätern. Auch an gelungenen Fallgeschich- häufig (erneut) in mittlerem bis höheren Alter so- ten zeigt sich die Anwesenheit des Vaters als wie anlässlich Trennungen und Verlusten. wichtiger Resilienzfaktor. Der Band erhält des Weiteren drei sehr auf- Marina Schmitt weist in ihrem Artikel darauf hin, schlussreiche Beschreibungen zu Flüchtlings­ dass bis 2003 Untersuchungen unter Einbeziehung kindern und den Erfordernissen und Notwendig- älterer Kriegskinder zu den gesamten Kriegsfolgen keiten, die zu ihrer Heilung beitragen. Hierbei fehlten. Es seien immer nur Teilaspekte unter- spielt »Versöhnung mit sich selbst« eine große sucht worden. Daher hat die interdisziplinäre Rolle, aber auch familiäre Versöhnung und inter- Längsschnittstudie (ILSE, vgl. Schmitt/Martin 2003) personelle: Entschädigung und vielleicht Reinte­ auch solch eine Bedeutung. Die Untersuchung der gration in das Heimatland, aus dem man flüchten Jahrgänge 30 bis 32 zeigt beeindruckend auf, wie musste. Verzeihen und Versöhnen werden be- vielfältig kriegsbedingte Belastungen waren, vom schrieben als zwei entscheidende Bewältigungs- Tod eines Elternteils über Bombardierungen (je- mechanismen der Schrecken einer Flucht und des der Zehnte), Flucht, Vertreibung, Übersiedlung Lebens als Flüchtlingskind. Dazu verhilft eine (Ein Drittel), eigene Gefangennahme, Haft (jeder Vielzahl von Trainingsmethoden, die an prakti- Zehnte) usw. Trotzdem fand man kein signifikant schen Beispielen veranschaulicht werden. erhöhtes Risiko für die Entwicklung von psycho- genen Störungen. Auffällig war jedoch das er- Ich habe mich hier auf die Artikel beschränkt, die höhte Risiko für die körperliche Gesundheit. In sich mit den Folgen des Zweiten Weltkrieges und diesem Artikel wird das gemeinschaftliche Er­ mit der Erläuterung des Resilienzbegriffs befassen. leben einer Generation als Schutzfaktor gewertet. Der Band enthält durchaus noch andere spannen- de Artikel und Vorträge rund um das Thema. » Interessant Hartmut Radebold beschreibt in seinem Artikel ist auch die über die Folgen der väterlichen Abwesenheit sehr Verbindung aufschlussreich, wie weitreichend dieses Phäno- zur 68er- men ist und wie viele davon betroffen waren. Je- Generation der Achte männliche Deutsche kam ums Leben, mit ihrer 1947 befanden sich noch drei Millionen Men- Suche nach schen in Kriegsgefangenschaft. Dann weist er idealisierten noch auf die hohe Zahl der ständigen und zeit- Ersatz- weisen Vaterlosen bei 2,1 Millionen Kriegsbe- vätern. schädigten aus dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg hin. Sein Artikel enthält umfangreiches und beeindruckendes statistisches Material.

Anschließend folgen Berichte aus seiner psycho- analytischen Praxis der behandelten Patienten der Jahrgänge 1932 bis 1947. Fast alle wiesen langfristige Beschädigungen durch die kriegsbe- dingte Abwesenheit des Vaters auf, wie psycho- somatische Störungen, chronische mittelschwere

56 Die Schönbrunner Die maßgeblichen Kräfte, das Projekt Schönbrun- ­Kinderfreunde-Schule ner Schule voranzutreiben, waren Max Winter, 5 Uwe Fuhrmann, Berlin Hermine Weinreb und Otto Felix Kanitz, der den Vorstand der Erzieherschule übernahm; 1920 stieß Heinz Weiss, Das Rote Schönbrunn. Anton Tesarek hinzu, der fortan das ebenfalls im Der ­Schönbrunner Kreis und die Reform­ Schloss befindliche Kinderheim führte.6 In der pädagogik der Schönbrunner Schule, Schule unterrichteten, obwohl deren Abschluss Wien: Echomedia Verlag, 2008, 223 Seiten, nicht staatlich anerkannt war, äußerst namhafte ISBN 978-3902672032, Preis: 16,50 Euro Lehrerinnen und Lehrer, z. B. Alfred Adler und Wil­helm Jerusalem.7 Der schön aufgemachte Band erschien bereits im Jahr 2008 im Wiener echomedia Verlag und Ab 1923 wurde auch die Schönbrunner Schule in nimmt sich eines bislang unterrepräsentierten eine Abendschule umgewandelt,8 einerseits um Themas an. Berufstätigen ebenfalls die Möglichkeit des Schul- besuchs einzuräumen,9 vor allem aber aus öko­ Für die sieben Kapitel auf insgesamt 223 Seiten nomischer Notwendigkeit.10 Im Jahre 1924 oder verspricht der Titel Das Rote Schönbrunn – Der 1925 schloss die Sozialistische Erzieherschule Schön­ Schönbrunner Kreis und die Reformpädagogik brunn komplett.11 Die Absolventen der Schön- der Schönbrunner Schule eine Analyse des pä­ brunner Schule brachten landesweit (und darüber dagogischen Labors, welches 1919 im Schloss hinaus) ihr Erlerntes in die sozialistische Erzie- Schönbrunn bei Wien durch die Kinderfreunde hungsbewegung ein. Manch ein Hortkind er­in­ Manch« ein eingerichtet worden war und bis 1924 gehalten nert sich noch lebhaft daran, wie die »Schön- Hortkind werden konnte. Für Otto Felix Kanitz, den maß- brunner« frischen Wind in die Horte der Kinder- ­erinnert sich geblichen Ideengeber der österreichischen Kinder­ freunde brachten und von den Kindern geliebt noch lebhaft freunde war die Schule im Schloss Schönbrunn wurden.12 ­daran, wie eine »völlig neue, noch nie dagewesene«.1 Die die ›Schön­ Schule hatte einen großen Einfluss auf die Ent- Der Kreis um die »Schönbrunner« und der mit brunner‹ wicklung der Pädagogik der Kinderfreunde und ­ihnen verbundenen Arbeitsgemeinschaft sozialis- ­frischen Wind die internationale sozialistische Erziehungsdis­ tischer Erzieher (AGsE) war in etwa um die 200 in die Horte kussion (wie z. B. auf der Klessheimer Konferenz Personen stark (davon etwa 70 Schülerinnen und der Kinder­ 19222) – unter anderem aufgrund ihrer hervorra- Schüler der Erzieherschule), und spielte bei in­ freunde genden wissenschaftlichen Vernetzung (vgl. S. 57). ternen Richtungsdiskussionen eine wichtige Rolle. brachten und Hel­mut Uitz beschreibt die Rolle der AG etwas von den Die Eröffnung der ErzieherInnen-Schule3 im Schloss genauer; danach ist sie eine Art verbandsinterne Kindern ge- Schönbrunn fand am 12. November 1919 statt. Opposition gewesen, die auch und gerade gegen liebt wurden. Jede der Wiener Ortsgruppen entsandte eine(n) Kanitz rebellierte, wenn auch konstruktiv-solida- geeignet erscheinende(n) Schüler oder Schülerin, risch.13 vornehmlich 14-jährige Mädchen. Das niedrige Alter der Schüler und Schülerinnen war in der Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Her- wirtschaftlichen Situation ihrer Familien begründet: mine Weinreb zugeschriebene Ziel, »eine völlig Der Abschluss ( »Sozialistischer Erzieher«) qualifi- neue Generation von Erzieherinnen und Erziehern zierte zu nichts anderem, als in den sozialistischen heranzubilden«14 zumindest in Teilen verwirklicht Organisationen in Österreich, die selbst finanziell wurde, auch wenn das nicht immer nur einfache schwer angeschlagen waren, Erziehungsarbeit zu Konsequenzen für die praktische Arbeit im Ver- leisten. Dieser Abschluss erforderte aber zwei, band hatte, da es Konflikte zwischen den neuen später drei Jahre Ausbildung (was auch drei Jahre und den alten Ansätzen der Kinderfreunde-Päda- Verdienstausfall mit einschloss) und war somit ein gogik gab.15 ökonomisches Hindernis. Die nicht mehr schul- pflichtigen 14-jährigen Mädchen (und wenigen Entsprechend konnte es kaum ausbleiben, wie Jungen) waren das geringste existenzielle Wagnis Weiss betont, dass den »Schönbrunnern« von für die Familien.4 Seiten der Verbandsleitung mit Misstrauen be-

57 gegnet wurde (S. 71f). Leider – und damit kehren Die kritisierte Arbeitsweise scheint es jedoch zu Neue wir zum besprochenen Band zurück – unternimmt vereinfachen, unterhaltsame Episoden aus ver- Bücher Weiss aber keine Abgrenzung zwischen der »Ar- schiedenen Phasen der österreichischen Kinder- beitsgemeinschaft sozialistischer Erzieher« (AGsE), freunde zu publizieren, die mit Gewinn gelesen dem »Schönbrunner Kreis« und dem allgemeinen werden können. Es wird ein lebendiger Eindruck Personenkreis, der in der ein oder anderen Weise davon vermittelt, wie die Kinder- und Jugendzeit Die Schön- mit der Schule zu tun hatte. Dies ist einerseits als bei den Kinderfreunden von den ZeitzeugInnen brunner verpasste Möglichkeit zu werten, da der Autor erinnert wird. Meist waren die Aktivitäten mit Kinderfreunde- selbst an anderer Stelle schon weiterführende den Kinderfreunden, wo eine gewisse Unbe- Schule Überlegungen angestellt hat,16 andererseits sagt schwertheit Platz haben konnte, Highlights des es auch etwas über den Charakter des vorliegen- proletarischen Kinderalltags. Eine solche Leichtig- den Buches. keit lag sonst für diese Kinder in weiter Ferne. Dies wurde durch Otto Felix Kanitz soziologisch Die Geschichte der Schönbrunner Schule und ihre untermauert und prononciert beschrieben20 und Bedeutung sind bis heute nicht angemessen auf- von Adelheid Popp eindrücklich autobiografisch gearbeitet worden.17 Auf eine wissenschaftliche verarbeitet.21 Unverständlicherweise finden diese Darstellung wird man auch nach Erscheinen des Werke keine Beachtung. vorliegenden Buches weiterhin warten müssen. Der vorliegende Band von Heinz Weiss, der lange Zentrales Manko des Werks von Weiss aber ist Jahre als Hauptamtlicher bei den Wiener Kinder- die unreflektierte und nicht diskutierte Einord- freunden arbeitete, einige Jahre für die SPÖ Mit- nung der Schönbrunner Schule in das weite Feld glied des österreichischen Bundesrates war und in der Reformpädagogik. Während heute verschie- den letzten Jahren viele Vorträge über die Ge- dene, zum Teil schwammige Vorstellungen von schichte der Kinderfreunde Österreichs hielt, hält Reformpädagogik eine (wenig aussagende) Zu- sich eher im Rahmen eines Lesebuches: Zahlrei- ordnung der Schönbrunner zur Reformpädagogik che Abbildungen, Fotos und Dokumente sowie ex post ermöglichen, erlaubt die Selbstverortung viele Erzählungen von Zeitzeuginnen und Zeit- der historischen Akteure, insbesondere die von zeugen lockern das Buch auf. Die Erzählstruktur Otto Felix Kanitz, eine solch simple Etikettierung hingegen ist wenig stringent und der wissen- nicht. schaftliche Apparat überschaubar, weder Literatur­ liste noch Bildnachweise sind zu finden.18 Auch Kanitz, immerhin der Leiter der Schönbrunner sonst genügt der Band nicht den Anforderungen Schule, vertrat in seinen Schriften den Stand- an eine wissenschaftliche Studie. punkt, dass es nur sozialistische oder bürgerliche Erziehung gibt, aber keine neutrale. Neutrale Er- » Die Geschichte Oft fehlen Belege, selbst wörtliche Zitate sind ziehung sei nämlich immer bürgerlich.22 Aus den der Schön­ nicht immer ausgewiesen und wenn, dann oft Begriffen, die Kanitz als Charakterisierung neu­ brunner Schule ohne Seitenzahlen.19 Eine eigenwillige Fußnoten- traler Erziehung nutzt, z. B. die Idee des »wachsen und ihre handhabung (S.44f., S.95f.) erschwert den Zu- lassen«, wird deutlich, dass er sich auch von eini- ­Bedeutung gang zusätzlich. Obwohl Kurzbiografien, Interviews gen zentralen reformpädagogischen Grundsätzen sind bis heute und Aussagen von Zeitzeugen insgesamt über die abgrenzte und sie als bürgerliche oder naive Er- nicht ange­ Hälfte der Seitenzahlen einnehmen, werden sie ziehung verworfen hat. Die Aufgabe der Kinder- messen aufge­ar­ nur in Ausnahmefällen ausreichend kontextuali- freunde ist es nach Kanitz vielmehr, »bewußt so- beitet worden. siert. Die Interviews mit Zeitzeugen selbst werden zial empfindende, denkende und handelnde Men­ meist kommentarlos abgedruckt, ohne Datum schen« heranzubilden, um »dem Proletariat neue des Entstehens, ohne Angabe, wer sie geführt Quellen der Kraft für seinen Kampf um die sozia- hat. Ihr Inhalt wird ohne Einschränkung als Wahr- listische Gesellschaft« zu erschließen,23 ohne frei- heit behandelt – weder werden Probleme der lich in die bei den kommunistischen Erziehungs- Oral History reflektiert, noch der Fundort der In- organisationen (Edwin Hoernle) übliche Parteiun- terviewtransskripte verraten. Leider wird dadurch terordnung abzugleiten. Die Erziehung, die den die Zitierfähigkeit des Buches ernsthaft in Frage Kinderfreunden Österreichs und insbesondere dem gestellt. Schönbrunner Kreis vorschwebte, ist also mit-

58 nichten eine ahistorische und rein aufs Indivi­ kriegen, die skandalösen und zum Teil traumati- duum zentrierte Reformpädagogik, wie Weiss sie schen Zustände in den proletarischen Familien gerne sehen möchte, sondern eben sozialistische beschreiben, beklagt Weiss ungerührt, dass der Erziehung. Im Vorwort zum vorliegenden Buch Falkenfunktionär Alois Jalkotzy seine Jugend wird kein Wort von der klassenbewussten und nicht »in der Geborgenheit einer Familie« (S. 33) sozialistischen Erziehung, die für Kanitz zentral erleben durfte. Dass es in einem Waisenheim, wo war, verloren, dafür aber das Erziehungsziel der Jalkotzy groß geworden war, vermutlich auch »humanitär-fortschrittlichen Entfaltung des Ein- nicht heimelig war, legitimiert nicht eine solche zelnen« in Schönbrunn verortet, mit der »zu einer Idealisierung der häuslichen Zustände. neuen gerechten Gesellschaftsordnung« (S.6) ge- langt werden sollte. Diese Vorstellung von Erzie- Der selbstgesetzte Anspruch, die »Einmaligkeit hung mag für den rechten Flügel der österrei­ der jungen Leute im Schloss Schönbrunn noch- chischen Sozialdemokratie, der sich nach dem mals lebendig werden zu lassen« (S.7) konnte Zweiten Weltkrieg durchgesetzt hat, eine größere vom vorliegenden Band mit Hilfe zahlreicher Anek­ Rolle spielen – für die Kinderfreunde zwischen doten, Berichte und Bilder erfüllt werden. Dies den Weltkriegen und für Otto Felix Kanitz waren ist ein nicht zu unterschätzendes Verdienst des solche Formulierungen undenkbar. ­Buches von Heinz Weiss. Jedoch wird weder die »pädagogische Reform, die […] vom Schön­ Darüber hinaus finden sich eine Menge Begriffe brunner Kreis ausging, vorgestellt und bewusst- aus aktuellen pädagogischen Trends in Weiss’ gemacht«, wie auf S. 7 angekündigt, noch der Analyse der historischen Kinderfreunde und der »Schönbrunner Kreis« selbst greifbar. Er ist nicht Roten Falken. Nicht immer scheinen diese ange- historisch-politisch oder historisch-pädagogisch messen, oftmals bleibt der Eindruck, durch eine kontextualisiert worden, und abseits der Chrono- konstruierte Wesensverwandtschaft sollten heu- logie ist ein Roter Faden schwerlich zu erkennen. tige Paradigmen historisch legitimiert werden. Während also ein erster Zugang zu spannenden Die Rede ist bei Weiss beispielweise von Förde- historischen Zusammenhängen und Vorgängen rung der »Problemlösungskompetenz« bei Kindern erleichtert wird, ist unter wissenschaftlichen Ge- in den 1920er Jahren und deren Erziehung zu »ak- sichtspunkten die Würdigung der Schönbrunner tiven selbstständigen Persönlichkeiten, die gerne Schule im historischen und pädagogischen Kon- im Team arbeiteten (sic!)« (beides S.6). Die Roten text sowie die Ausarbeitung des Einflusses der Falken (1925) erscheinen bei Weiss als »peer group AGsEs gescheitert. education« und daher bei ihrer Gründung als »pä­da­gogische Innovation« (S.72) oder gar »pä- dagogische Revolution« (Buchrücken). Unerwähnt bleibt dabei, dass in Österreich Jahre vor der Grün­ 1 Parteitagsprotokoll der 3 Die Selbstbezeichnung ­Sozialdemokratischen Partei ­lautete »Schönbrunner dung der Roten Falken bereits (christliche) Pfad- Österreichs 1923, Wien, ­Kinderfreunde-Schule«, vgl. finderorganisationen gegründet worden waren,24 S. 81f., zitiert nach: Nikolaus ­beispielhaft ein entsprech­endes Richartz, Die Pädagogik Zeugnis, abgedruckt in: Henri- zum Teil als explizite Gegengründung gegen die der Kinderfreunde. Theorie ette Kotlan-Werners, Otto Fe- Kinderfreunde. Auch Kanitz attestiert ihnen eine und Praxis sozialdemokra­ lix Kanitz und der Schönbrun- »modern(st)e pädagogische Form,« allerdings »mit tischer Erziehungsarbeit in Ös- ner Kreis. Die Arbeitsgemein- terreich und in der Weimarer schaft sozialistischer Erzieher 25 ausgeprägt klerikalem Inhalt«. Die Literatur, die Republik, Weinheim, Basel 1923 –1934, Wien 1982, S. 324. eine differenziertere Auffassung der Verhältnisse 1981, S. 319. In der ­Literatur wird meist von der »Schönbrunner Schule« ermöglicht hätte, lässt Weiss an dieser Stelle un- 2 Roland Gröschel, Einheit oder »Erzieherschule« gespro- berücksichtigt. in der Vielfalt. Über die Grün- chen. dung der Reichsarbeitsgemein- schaft der Kinderfreunde. Eine 4 Vgl. Helmut Uitz, Dies führt auch zum Teil zu ärgerlichen Passagen. lange Reise über ­sieben Statio- Die österreichischen Kinder- Während Kanitz in seinen Thesen über das prole- nen, in: ders., Auf dem Weg zu freunde und roten Falken 1908 einer sozialistischen Erziehung. –1938, Wien, Salzburg, 1975, tarische Kind in der bürgerlichen Gesellschaft und Beiträge zur Vor- und Frühge- S. 214f. Adelheid Popp in ihren Erinnerungen, immerhin schichte der sozialdemokrati- schen »Kin­derfreunde« in der zwei der populärsten Bücher der sozialistischen ­Weimarer Republik, Essen Ju­gendbewegung Österreichs zwischen den Welt­ 2006, S. 55 – 92, hier S.71.

59 5 Hermine Weinreb war nicht nur Die Schön- Engagierte Geschichte ­eine treibende Kraft der Schönbrunner brunner Schule, sondern hatte auch eine Kinder- Alexander J. Schwitanski, Oer-Erkenschwick enorm wichtige Rolle für die Entwick- freunde- Schule lung des ­jungen Kanitz. Er widmete Peter Birke, Bernd Hüttner, Gottfried Oy (Hg.), ihr sein Buch »Das proletarische Kind 12 Kotlan-Werner, Kanitz, S. 155f. in der bürgerlichen Gesellschaft« mit Alte Linke – Neue Linke? Die sozialen Kämpfe den ­Worten: »Dem Andenken mei- 13 Uitz, Kinderfreunde, S. 287 –307. der 1968er Jahre in der Diskussion, ner Lehrerin und Freundin Hermine 14 Vgl. Heinz Weiss, Ein­leitung, in: Weinreb in unauslöschlicher Dank- Berlin: Karl Dietz Verlag, 2009 (Texte/Rosa- Katalog zur Ausstellung­ »Die Päda- barkeit.« Und als Erläuterung: Luxemburg-Stiftung, Bd. 57), 241 Seiten, gogen des Schönbrunner Kreises«, ­»Her­mine Weinreb. Geboren am o.O., o.J., S. 6. ISBN 978-3-320-02195-5, Preis: 14,90 Euro 31. Dezember 1863 in Brünn. Gestor- ben am 20. Oktober 1922 in Wien, 15 Uitz, Kinderfreunde, S. 220. hat als eine der ersten die große Be- 16 Vgl. Heinz Weiss, Die Schön­ Das vorliegende Buch bietet einen besonders deutung der Kinderfreundebewegung brunner Schule – ­nahezu vergessen?, für den Sozialismus erkannt. Sie war ­interessanten Ansatz, da es die Geschichte der in: ­Katalog zur Ausstellung »Die Pä­ unsere erste Wegweiserin bei unseren dagogen des Schönbrunner Kreises«, 68er-Protestbewegungen aus einer engagierten Bestrebungen, die Kinder der Arbeiter­ S. 9– 21, insbesondere S. 15 –21. Perspektive betrachten will und dabei auch da- klasse im Geiste des Sozialismus zu erziehen. Ihr starker und edler Geist 17 Unbedingt zu nennen ist hier mals Beteiligte zu Wort kommen lässt. Im Grunde durchweht auch die Blätter dieses aber Henriette Kotlan-Werners Werk geht es darum, die Geschichte politischer und so- ­Buches.« In: »Die Frau«, 23. Oktober »Otto Felix Kanitz und der Schön- 1947, ­abgedruckt in: Jakob Bindel brunner Kreis. Die Arbeitsgemein- zialer Kämpfe als Teil eines andauernden poli­ (Hg.), 75 Jahre Kinderfreunde, 1908 – schaft sozialistischer Erzieher 1923 – tischen und sozialen Kampfes zu schreiben. Dies 1983, Skizzen, Erinnerungen,­ Berich- 1934«, welches 1982 in Wien erschien. te, Aus­blicke, Wien, München 1982, Das Buch kann zumindest mit zahlrei- ist ein Experiment, das innerhalb der Arbeiter­ S. 38f. Aber nicht nur für Kanitz war chen Ansätzen und Quellenhinweisen jugendbewegung auf Aufmerksamkeit rechnen sie von Bedeutung, sondern sie war, dienen. Leider wird dieses Buch im darf, es zeigt jedoch auch die Probleme dieses so heißt es weiter, »für eine ganze vorliegen­den Werk nicht verwendet. Generation proletarischer ­Erzieher Ansatzes. 18 Insgesamt finden sich ­etwa 90 und Kinderfreunde Organisa­­toren Anmerkungen für das gesamte Buch, die führende Persönlichkeit im von ­diesen ist weniger als die Hälfte besten Sinne des Wortes« (ebd.). Der Sammelband, der eine Tagung an der Univer­ Literatur­verweis oder ­Quellenbeleg. 6 Kotlan-Werner, Kanitz, S. 124f. sität Hamburg dokumentiert, die im Erinnerungs­ 19 Einige Beispiele: S. 82–84 zahl­ jahr 2008 zum Thema 1968 abgehalten wurde, 7 Aufstellung des Personals für reiche Angaben ohne Belege; S. 60 1922/23 bei Kotlan-Werner,­ Kanitz, »verbürgt ist ...« ohne jeden Beleg (!); will sich von der 2008 zahlreich erschienenen Li- S. 136. Auch Adolf Maticka und für die Aussagen über Karl Popper als teratur durch seinen kritischen Zugang zur in der ­Wilhelm Zvacek, Die Kinderfreunde- Angestellter der Wiener Kinderfreunde schule Schönbrunn, in: Bindel,­ (S. 72 bzw. Anm. 22) dient eine 600 ­Geschichtswissenschaft gerade populären Inter- ­Kinderfreunde, S. 73 – 77, zählen ­Seiten starke Biografie als Beleg – pretation absetzen. Dieser Interpretation, die als ­Fächer und Lehrkräfte auf. ­allerdings ohne ­Angabe von Seiten- zahlen. ein kulturgeschichtlicher Ansatz identifiziert wird, 8 Richartz, Pädagogik, S. 324f. der die Protestereignisse um das Jahr 1968 als 20 Otto Felix Kanitz, Das proletari- 9 Ebd. sche Kind in der ­bürgerlichen Gesell- ­Begleitphänomene langdauernder gesellschaftli- 10 Ebd., S. 322. schaft, ­Jena 1925. cher Modernisierungsprozesse begreift, werfen die 11 In der Literatur über die Schön- 21 Adelheid Popp, Jugend einer Herausgeber des vorliegenden Bandes vor, die brunner Schule gibt es teils wider- ­Arbeiterin, Bonn 1977. sprüchliche Angaben, die das Ende Vergangenheit nur aus einem musealen Interesse 22 Otto Felix Kanitz, ­Kämpfer der der Schönbrunner Schule betreffen. Zukunft, in: Werder (Hg.), Kanitz, zu betrachten und damit endgültig in die Zone So gibt Lutz von Werder, Vorwort, S. 107–160, 4. Grundsatz, S. 111 und in: ders (Hg.), Otto F. Kanitz – Das des Belanglosen zu verabschieden. Dagegen wol- S. 122 –125. proletarische Kind in der bürgerlichen len die Herausgeber die Vergangenheit aus den ­Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1974, 23 So Kanitz in seinem Grundsatzre- Anforderungen der Gegenwart heraus deuten S. 10, das Ende der Schule mit 1925 ferat auf der zweiten Reichskonferenz an, während z.B. Maticka und Zvacek, am 12. und 13. Dezember 1920 (»Die und dabei an den Sinnhorizont der damaligen Ak- Kinderfreundeschule, S. 73 – 77, den Erziehungs­auf­gaben des Arbeiter­ tiven anschließen. Dies ist möglich, weil sich die Bestehenszeitraum mit 1919 –1924 vereins ›Kinderfreunde‹«), ab­gedruckt angeben. Zusätzlich verwirrt die ein- in Werder (Hg.), ­Kanitz, S. 177 –193, Herausgeber mit den Zielen der sogenannten jährige Zwischenepisode der Abend- hier S. 192f. Achtundsechziger identifizieren und sie als Teil schulform. 24 http://de.wikipedia.org/wiki/ eines fortdauernden Ringens um Emanzipation Pfadfinder­geschichte_im_deutsch­ deuten. In diesem Sinne ist die Beschäftigung mit sprachigen_Raum# C3.96sterreich, letzter Zugriff 27. April 2011 und ht- der Geschichte von 1968 eine Form der Selbst- tp://www.pfad­finderbund.at/uber- aufklärung über die eigene Position innerhalb der uns/geschichte-des-opb, letzter Zugriff 27. April 2011. langen Geschichte sozialer Kämpfe um eine bes- sere Welt und die Suche nach dem revolutionären 25 Kanitz, Kämpfer der Zukunft,­ S.155. Moment in der Geschichte.

60 Das Buch gliedert sich in fünf Teile, die man als setzung ausgezeichnet und sei eben dadurch als argumentative Schwerpunkte im Rahmen des distinkter Akteur erkennbar. Kulturelle Phänome- Neue oben aufgezeigten Zieles verstehen kann. So be- ne, wie neu aufkommende Musikstile, haben in Bücher leuchten die Aufsätze im ersten Teil 1968 welt- dieser Interpretation lediglich die Rolle von trans- weit den transnationalen Aspekt der Protestereig­ portierenden Medien. nisse, während der mit Soziale Kämpfe überschrie­ bene Teil eben die Ernsthaftigkeit der Auseinan- Wenn Ebbinghaus die verschiedenen, auch natio- Engagierte dersetzungen betont. Auch die anderen Teile des nal verschiedenen Bewegungen als Teil des glo- Geschichte Buches tragen selbsterklärende Überschriften. In balen Phänomens 1968 in ihren Gemeinsam­ Die Neue Linke werden Aspekte der Akteurs­ keiten charakterisiert und dabei zu der Einschät- konstellation untersucht und der Teil Kultur und zung gelangt, sie seien »individualistisch und ­Revolution greift den Zusammenhang zwischen ­demokratisch, libertär, egalitär und sozialistisch« ­sozialen Protesten und ihren kulturellen Formen (S. 24) gewesen, ist es nicht unproblematisch, und Zielen auf, allerdings auf eine unvermutete noch die Gemeinsamkeit zu erkennen. Weise. Einen abschließenden Teil bietet Rückblick und Ausblick und versammelt unter diesem Titel Einen Blick auf die geschichtspolitische Dimension sowohl einen bibliografischen Essay zu Neu­ von 1968 werfen Armin Kuhn und Juliane Schu- erscheinungen zum Thema wie auch eine kurz macher in ihrem Beitrag Kurzer Traum und langes gefasste Deutung von »1968« und seiner historio­ Trauma. 1968 in Mexiko. Sie greifen die gene­relle grafischen Behandlung von Gerd-Reiner Horn, die These des Buches auf, die Proteste von 1968 hätten bekräftigt, dass all die zuvor diskutierten Phäno- den Willen der Massen zur Freiheit und ihre Fähig­ mene auf die Offenheit der Geschichte zu jener keit zur Selbstorganisation gezeigt und sehen Zeit verweisen, in der durch die Protesthandlun- darin die eigentliche Bedeutung der damaligen gen eine Veränderung der Welt zum Besseren hin mexi­kanischen Ereignisse. Diese eigentliche Be- möglich gewesen sei. deutung werde durch das offizielle Geschichts-­ bild ausgeblendet. Die mittlerweile konservativen Angelika Ebbinghaus versucht in ihrem Beitrag ­Regierungen Mexikos instrumentalisierten das Gab es ein globales »1968«? an die Argumenta- Gedenken, indem sie die mexikanische Revolte in tion des kulturalistischen Ansatzes anzuschließen, einen Vorläufer ihrer eigenen, gegen die Partei diesen aber für die eigene Perspektive nutzbar zu der Institutionalisierten Revolution gerichteten machen. Auch sie sieht langandauernde struktu- Politik umdeuteten. Staatliche Repression werde so Staatliche« Re­ relle Veränderungen wie erhöhte wirtschaftliche zu einem rein historischen Phänomen. Eine ähn­ pression werde Leistungsfähigkeit und einen im Mittel gestie­ liche Funktion erblicken die Autoren auch in der so zu einem genen Bildungsstand, sieht darin aber die Grund- gängigen deutschen Interpretation der Ereignisse rein historischen lage für die Protestereignisse. Auf der Basis eines von 1968. Phänomen. ­Modells der relativen Deprivation argumentiert Eine ähnliche ­Ebbinghaus, dass die genannten Entwicklungen Internationale Gemeinsamkeiten von Protester- Funktion er­ auch Verlierer erzeugten und die erfahrenen Lohn­ eignissen macht auch Boris Kanzleiter aus, der in blicken die unterschiede oder Mängel im Bildungssystem Pro­ seinem Beitrag Proteste zwischen Ost und West. ­Autoren auch test generierten. Die zeitliche Nähe der jeweiligen Die Neue Linke und 1968 in Jugoslawien die in der gängigen Protestereignisse habe dann im Bewusstsein der ­dortigen Proteste in den Blick nimmt und auch in deutschen Inter­ Akteure das Bild von einer einheitlichen Bewe- ihnen Elemente findet, die auch von westlichen pretation der gung geschaffen. Das Selbstverständnis der Ak- Akteuren formuliert worden waren. Allerdings Ereignisse von teure ist für Ebbinghaus durchaus eine zentrale setzt Kanzleiter deutlich eigene Akzente, wenn er 1968. Kategorie, um von einer einheitlichen, globalen in seinem Aufsatz für einen neuen Blick auf die 68er-Bewegung zu sprechen. Auch in der politi- jüngere Geschichte Jugoslawiens plädiert, dessen schen Zielsetzung sieht sie verbindende Elemen- Auseinanderbrechen er weniger in ethnischen Kon­ te: Trotz nationaler Unterschiede, die auf entspre- flikten begründet sieht, sondern in sozioökono- chenden, national divergierenden strukturellen mischen Entwicklungen die bereits in den 1960er- Grundlagen basierten, habe sich die globale Be- Jahren feststellbar gewesen seien. wegung durch die Subjektzentrierung ihrer Ziel-

61 Eine wirklich globale Perspektive nimmt der Auf- schlussfähig gewesen. Die im Kern gesamtgesell- Neue satz von Christian Frings, Die Ungleichzeitigkeiten schaftliche Bedeutung der Proteste habe im Nach­ Bücher der ›globalen Revolution ‹. 1968 im Weltsystem, hinein dazu geführt, dass die späteren Reformen ein. Frings argumentiert anhand struktureller Da- nicht mehr als Ergebnis im Kern proletarischer ten des World Labour Research Projects, warum Kämpfe erkennbar seien. Der in diesen Kämpfen 1968 zu Recht Signifikant einer weltumspannen- eingeschlossene Sinn einer Umgestaltung der Ge- Engagierte den revolutionären Bewegung sei, obschon die da­ sellschaft und ihrer Produktion und einer Neube- Geschichte zu­zurechnenden Protestereignisse teilweise deut- trachtung des Menschen in der Gesellschaft und liche zeitliche Abweichungen aufwiesen. Frings ihrer Produktion führe jedoch dazu, dass es sich sieht die langfristige Bedeutung der damaligen bei diesen Kämpfen nicht um eine abgeschlos­ Proteste in der Etablierung neuer Proteststruktu- sene Vergangenheit handele, sondern um die ren, die in der nächsten Krise des Kapitalismus Grundlage eines neuen, künftigen Protestzyklus. zum Tragen kommen würden: die Abkehr von staatssozialistischen Konzepten, die Feminisierung Der Zusammenhang von Arbeitsorganisation und und Internationalisierung des Proletariats und die individuell-kulturellen Interessen wird auch von engere Verbindung des globalen Südens mit dem Knud Andresen in seinem Beitrag über Die bun- Norden. desdeutsche Lehrlingsbewegung von 1968 bis 1972.Konturen eines vernachlässigten Phänomens Der zweite Teil des Buches beginnt mit einem aufgegriffen. Der Lehrlingsbewegung sei es um Aufsatz von Peter Birke mit dem Titel Unruhen ein Ende der betrieblichen Bevormundung in per- und »Territorialisierung«. Überlegungen zu den sönlichen Fragen wie die der richtigen Bekleidung Arbeitskämpfen der 1968er Jahre, der recht oder Haartracht zu tun gewesen, verbunden mit ­eigent­lich eine umfassende Interpretation der handfesten ökonomischen Interessen wie einer Pro­teste, die 1968 ausmachen, gemäß des pro- verbesserten beruflichen Ausbildung. Das Merk- grammatischen Anspruchs des Sammelbandes vor­ mal der Selbstorganisation, das Birke zum Beispiel nimmt. Ausgangspunkt von Birkes Betrachtungen in den wilden Streiks abseits gewerkschaftlicher Die im Kern » sind die – oft wilden, nicht gewerkschaftlich orga- Organisation in der 1968er-Bewegung verwirk- gesamtgesell­ nisierten – Arbeitskämpfe jener Zeit. In ihnen liege licht sieht, ist auch für Raquel Valera maßgeblich, schaftliche eine Bedeutung, die auch zum Verständnis der um in ihrem Beitrag Alte Linke in der Nelkenrevo- ­Bedeutung der gegenwärtigen sozialen Konflikte beitragen könne lution. Die Portugiesische KP zwischen 1968 und Proteste habe und daher nicht nur für Historiker interessant 1975 die Nelkenrevolution von 1974 als Folge im Nachhinein ­seien, sondern auch für diejenigen, die Partei der früheren Protestereignisse außerhalb Portu- dazu geführt, ­seien in diesen Konflikten. Auch hier wird Ge- gals zu werten. Die Verselbstständigung der zu- dass die schichte als Aufklärung verstanden. Den eigent­ nächst durch das Militär initiierten Revolution zu ­späteren Re­ lichen Sinn der damaligen Proteste sieht Birke in einer – zumindest kurzfristig – sozialrevolutionä- formen nicht der Revolte gegen die fordistische Organisation ren Bewegung und den mangelnden Einfluss der mehr als der Arbeitswelt, die sich, in dem sie sich zum Bei- Kommunistischen Partei auf die antistalinistisch Ergebnis im spiel auch mittels Architektur und Stadtplanung orientierte Bewegung sind für Valera Anlass, eine Kern prole­ in den Raum eingeschrieben habe, über die Fa­ Analogie zu den früheren Protesten herzustellen. tarischer briken hinaus die Gesellschaft bestimme und die ­Kämpfe er­ Menschen unter die Herrschaft wirtschaftlicher Ebenfalls einen Analogieschluss bemühen Arndt kennbar seien. Verwertungsinteressen gebracht habe. Der Pro- Neumann in seinem Beitrag Zwischen Hollywood test gegen dieses Prinzip sei somit ein Kampf für und Youtube. Die »kulturelle Revolution« und ihre Selbstbestimmung am Arbeitsplatz, für die Demo­ Folgen und Bernd Hüttner und Gottfried Oy in kratisierung der Betriebe und für eine am gesell- ihrem Aufsatz Beste action, beste Botschaft. Die schaftlichen Nutzen orientierte Produktion gewe- Medienpolitik der Revolte zwischen Selbstüber- sen. Da aber in anderen, ebenfalls durch fordisti- schätzung und Gegenmacht. Diese im vierten Teil sche Prinzipien geregelten gesellschaftlichen Sys- versammelten Aufsätze – ich verlasse hier eine temen ähnliche Missstände existiert hätten, seien Besprechung der einzelnen Beiträge der Reihen- die Proteste der Arbeitenden auch für weitere folge nach und werde auch keine vollständige ­gesellschaftliche Gruppen wie Studierende an- Besprechung aller Beiträge bezwecken – sehen in

62 Autorinnen und Autoren anna der Ausgabe ANNA Siemsen 2011/II Symposion Anke Bodo Michael Uwe Susanne SIEMSEN Asfur Brücher Dehmlow Fuhrmann Hertrampf 28. April 2012 Kritische Beiträge der aktuellen Forschung Archiv der Arbeiter- zum Leben und Werk jugendbewegung Oer-Erkenschwick der sozialistischen Pädagogin

Günter Sonja Kay Alexander J. Wolfgang In den letzten Jahren wurden fünf Disser­ ­Dabei ist die Zuweisung von Bildung ­bzw. Debatte über Siemsen eingeordnet werden. Regneri Schlegel Schweigmann- Schwitanski Uellenberg-van tationen zur sozialistischen Pädagogin Erziehung als entscheidendes gesellschaft- Der starke biografisch-his­torische Zugang Greve Dawen ­Anna Siemsen vorgelegt. Damit fand liches Transformationsmoment von zen­ der Forschungsbeiträge verlangt nach einem die lange Zeit vergessene Pädagogin ein traler Bedeutung. weiteren Rahmen­referat, das die methodischen ­neues wissenschaftliches Interesse. Die Ansätze ­resümiert und die Perspektiven einer Pädagogin und Politikerin Anna Siemsen, In einem Symposion wollen wir die neuen ­historischen Pädago­gik aufzeigt. Damit sollen die sich in reformpädagogischen Kon­ Forschungen zu dieser wichtigen Inspi­ erziehungs- und geschichtswissenschaftliche texten sozialdemokratischer, pazifistischer, ratorin auch der Arbeiterjugendbewegung Ansätze interdisziplinär verknüpft werden. europäischer, feministischer und demo­ zusammenfassen und einer breiteren kratischer Provenienz bewegte, wichtige ­Öffentlichkeit vorstellen. Neben den ein- Das Interesse von Angehörigen der SJD – Beiträge für die sozialistische Erziehungs- zelnen Forschungsbeiträgen stehen zwei Die Falken, das eigene pädago­gi­sche Handeln wissenschaft erarbeitet und sich insbe­ Rahmenreferate, die die Forschungsleis- theoretisch zu fundieren, findet Raum in sondere in der Arbeiterjugendbewegung tungen aus unterschiedlichen Perspektiven einem eigenen Workshop, wo Gelegenheit engagiert hat, bietet ein wichtiges und bewerten und verorten. Aus erziehungs- besteht, das Gehörte im Gespräch mit ausge- Anke Asfur, M.A., Studium der Geschichte, Germanistik, Theater-, Film- und Günter Regneri, geb. 1963, ist gelernter Elektroniker. Studium der Geschichte, gleichzeitig zukunftsweisendes Potential wissenschaftlicher Perspektive soll die wählten Refe­renten und Referentinnen zu ­ Fernsehwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum, Geschäftsführerin des Gemanistik und Soziologie mit dem Abschluß Magister Artium. Er ist als Büros Zeitkontext – Dienstleistungen für Wissenschaft, Kultur und Medien Gewerkschaftssekretär in der Gewerkschaft NGG tätig. an konzeptionellen Fragestellungen und ­Aktualität Anna Siemsens für die derzei­ti­ reflektieren und zu vertiefen. in Aachen; inhaltliche Schwerpunkte: regionale Industriegeschichte, Arbeits­ Ideen, um institutionalisierte Formen von gen Diskussionen über Pädagogik aus­ge­ Sonja Schlegel, geb. 1955, Dipl. Sozialarbeiterin, Marte Meo Therapeutin, migration, Geschichte der Frauenerwerbstätigkeit. 20 Jahre Beratung von NS-Verfolgten u. a. im Bundesverband Informa- Bildung solidarischer, menschengerechter lotet und die einzelnen Beiträge in die Weitere Informationen zum Symposion und Workshop sind beim Archiv zu erfragen: Bodo Brücher, geb. 1926, Akademischer Direktor i.R., arbeitet an der tion und Beratung für NS-Verfolgte e.V. Köln, seit 2010 selbstständig und demokratischer werden zu lassen. bisherige erziehungswissenschaftliche [email protected]. Wir bitten um Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld, Arbeitsgruppe (www.auseigenerkraft.com),u. a. Gastdozentin der Universität Köln zum eine formlose Anmeldung an diese Adresse. Jugend/Medien/Forschungsmethoden. Lehramt an Volksschulen (1949), Thema kultursensible Altenhilfe, Referentin (Thema »Marte Meo als Lehrer u. später Schulleiter 1949 bis 1973. Studium der Fächer Deutsch Unter­stützung für traumatisierte alte Menschen«), Forschungsarbeiten und Geschichte (Lehramt für Realschulen,1956), Promotionsstudium der zu Lebenslagen der NS-Verfolgten im vereinten Deutschland und NS-Ver- PROGRAMM Erziehungswissenschaft und Geschichtswissenschaft. Lehramt der Sekundar- folgte in der Altenhilfe, Koordinatorin der Angebote für Menschen über stufe II in Sozialpädagogik, berufliche Fachrichtung u. Geschichte (1980). 60 bei der Ev. Gemeinde Köln. Samstag, 28.04.2012 14.45 Uhr Workshop für Teilnehmende

Promotion zum Doktor der Philosophie im Fach Erziehungswissenschaft. 45 Anna Siemsens Europa-Konzepte der SJD – Die Falken Kay Schweigmann-Greve, geb. 1962, zunächst Wandervogel, seit 1979 aktiv 10. Uhr Schwerpunkt Geschichte der Erziehung (1976). Nebenamtliche Lehrtätigkeit in der Weimarer Republik, bei den Falken, 1990 – 1993 Bezirksvorsitzender in Hannover. Mitbegründer Anna Siemsen – Eine demokratisch-­ 30 00 am Pädagogischen Institut Düsseldorf sowie an den Volkshochschulen. Marleen von Bargen (Hamburg) 19. Uhr – 21. Uhr des dortigen Israel-Arbeitskreises der Falken, seit 2003 Vorsitzender der sozialistische Reformpädagogin Reflexion des Symposions: 15.30 Uhr Kaffeepause Michael Dehmlow, geb. 1976 in Hannover, Dipl.-Sozialpädagoge und ­ Deutsch-Israelischen Gesellschaft in Hannover, seit 2009 des Trägervereins Manuela Jungbluth (Paderborn) Anknüpfungspunkte zur eigenen Arbeit gepr. Finanzbuchhalter Sozialwirtschaft. Mitglied der SJD – Die Falken der Jüdischen Bibliothek Hannover. Arbeitet als Justiziar bei der Landeshaupt- 11.30 Uhr 16.00 Uhr seit 1990, von 1998 bis 2005 Mitglied des Vorstands im Bezirksverband stadt Hannover, promoviert über Chaim Zhitlowsky, einen russisch-jüdischen Die Bedeutung Anna Siemsens Gescheiterte Remigration? Sonntag, 29.04.2012 ­Hannover mit den Schwerpunkten SJ-Ring und Internationales, von 2000 Neukantianer, Sozialrevolutionär und Theoretiker eines säkularen jüdischen Eine sozia­listische Pädagogin in der Erziehungswissenschaft 30 00 bis 2003 Bezirksvorsitzender. Seit 2009 Bundessekretär für Beratung und Diasporanationalismus. in der Hansestadt ­Hamburg Wolfgang Keim (Paderborn) 9. Uhr – 11. Uhr Vernetzung. Vertiefung: Bildung als gesellschaftsver­ Alexander J. Schwitanski, geb. 1971, Studium der Geschichte und Philoso- Alexandra Bauer (Hamburg) 16.45 Uhr ändernde Kraft im Werk Anna Siemsens Uwe Fuhrmann, geb. 1979, hat Geschichte, Soziologie und Erziehungs­ phie. Promotion im Fach Neuere Geschichte, Leiter des Archivs der Arbeiter- 12.15 Uhr Ziele und Perspektiven einer historischen wissenschaften (M.A.) studiert. Er lebt in Berlin und promoviert zurzeit an jugendbewegung. Anna Siemsen – Bildung und Literatur Beschäftigung mit Pädagogen 11.00 Uhr – 11.20 Uhr Pause der FU über den Einfluss von Protesten im Jahr 1948 auf die Entstehung Christoph Sänger (Wuppertal) Till Kössler (Bochum) 20 00 Wolfgang Uellenberg-van Dawen, geb.1950, Promotion im Fach Geschichte, 11 Uhr – 12. Uhr der Sozialen Marktwirtschaft (gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung). 30 Leiter des Ressorts Politik und Planung in der Ver.di Bundesverwaltung, Vor- 13.00 Uhr Mittagspause 17. Uhr Abschlussdiskussion Sicherung der Ergebnisse 00 Susanne Hertrampf, geb. 1962, Studium der Geschichte, Ethnologie und sitzender des Förderkreises »Dokumentation der Arbeiterjugendbewegung«. 14.00 Uhr 18.00 Uhr Ende der Veranstaltung 12 Uhr Gemeinsames Mittagessen Philosophie. Promotion im Fach Neuere und Neueste Geschichte. For- Ende der Veranstaltung Anna Siemsen and the European 18.30 Uhr Abendessen schungsschwerpunkte: Politische Biografie, nationale und internationale Federalism of her Time Frauen­bewegungen. Archivarin der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn. Francesca Lacaitia (St. Andrews, UK)

2011/II 2011/II Archiv der Arbeiterjugendbewegung · Oer-Erkenschwick Archiv der Arbeiterjugendbewegung · Oer-Erkenschwick den neuen Medien, insbesondere in den Ver­ Aktiven gesetzten Sinnhorizont zu erschließen, öffentlichungsformen des Internets, die Überwin- durch dessen Nachvollzug in aktuellen sozialen dung fordistischer Prinzipien im Mediensektor. Kämpfen in einer kleiner gewordenen Bewegung Diese Überwindung gilt als Resultat von Medien­ zu einer Oberhoheit des Zeitzeugen über die aneignung und Mediennutzung im Gefolge der Deutung der Geschichte führt. Wenn Gisela Notz 68er-Bewegungen. Als Beleg dafür wird zumeist ihren Beitrag Kommunen, Kinderläden, Alterna- das Selbstverständnis derjenigen, die damals über tivbewegungen. Errungenschaften und Folgen Medien und Mediennutzung nachdachten und der StudentInnenbewegungen, den sie selbst aus neue Formen ausprobierten, herangeführt, aller- eigenem, gestaltendem Erleben wie historiografi- dings ergibt sich daraus nicht unbedingt eine Art scher Beschäftigung geschrieben hat, mit einem Wirkungsgeschichte. Es lassen sich eher Paralle- Bourdieu entlehnten Aufruf zur Entwicklung neu- len aufzeigen zwischen damaligen Zielen und den er Kommunikationsformen zwischen – ehemals – in den aktuellen Medien vorliegenden Möglich- politisch Aktiven und Forschern beschließt, so keiten einer nichthierarchischen Mediennutzung. benennt sie ein Problem, von dem auch das vor- Dem Selbstverständnis der damaligen Akteure liegende Buch betroffen ist. sind weitere Beiträge gewidmet, die nicht zuletzt auch von damals Aktiven verfasst sind. So be- schreibt Kristina Schulz in Lesarten der »sexuellen Revolution«. Die Debatte um Sexualität und Ge- schlechterbeziehungen in der bundesdeutschen Linken die Rezeption von Wilhelm Reich, Gerhard Hanloser skizziert in seinem Beitrag Zwischen Klassenkampf und Autonomie. Die Neue Linke und die soziale Frage Interpretaments und Ak- tions- und Organisationsformen der Neuen Linken. Das führt zu mehr oder weniger interessanten Einsichten, in weiteren Beiträgen jedoch zeigt das Ansinnen, den Sinn der Handlungen, der diesen von den Akteuren unterlegt wurde, zu bewahren, seine methodischen Schattenseiten. So gleichen in Hartmut Rübners bibliografischem Essay Zäh- mende Historisierung oder fundamentale Des­ truktion. Was um 2008 zu »1968« erschien die Besprechungen von autobiografisch geprägten Schriften zu 1968, die sich wie Götz Alys Unser Kampf zu den damaligen Zielen und Aktionen dis­tanzierend verhalten, eher Abrechnungen mit Dissidenten, anstatt unter Rückgriff auf den auto- biografischen Charakter nach den Gründen der Distanzierung zu suchen und diese als Teil der Wir­ kungsgeschichte von 1968 nutzbar zu machen. Markus Mohrs unorthodoxe Einlassung unter dem Titel Die Erben der Scherben. Eine Perfor- mance zum Thema »Rezeption der 1968er Jahre« bietet viel sprachlichen Witz, behält aber in der Quintessenz die Beschäftigung mit dem Phäno- men denjenigen vor, die selbst nach alternativen Lebensformen suchen und disqualifiziert eine akademische Beschäftigung mit dem Thema. Hier zeigt sich, dass die Behauptung, der Sinn der da- maligen Aktionen sei nur in dem durch die damals

63 ARCHIV Die Gruppe TAGUNG i n d e r G e s c h i c h t e 20.– 21. Jan. ’12 der Arbeiterjugendbewegung Archiv der Arbeiter- Die Jugendgruppe scheint ein unveränderliches Kernstück der Jugendarbeit jugendbewegung und Jugendbewegung zu sein. In Heft 2010/II der Mitteilungen haben wir ­ ­jedoch Fragen und methodische Überlegungen aufgezeigt, die nahelegen, Oer-Erkenschwick daß auch die Gruppe eine Geschichte hat. Anhand dieser Überlegungen wollen wir nun in der Jahrestagung 2012 der Geschichte der Gruppe nachspüren.­ Auf der Basis vieler unterschiedlicher Quellen fragen wir nach Veränderungen­ im Funktionieren der Gruppe, aber auch nach den Wirkungen, die die Erfah- rung des Gruppenlebens auf Mitglieder der Arbeiterjugendbe­wegung hatte. Zu dieser Tagung laden wir wieder herzlich ein.

PROGRAMM

Freitag, 20.01.2012 Samstag, 21.01.2012

18.00 Uhr 9.00 Uhr 14.30 Uhr Begrüßung und Eröffnung Die Gruppe als Lern- und Sozialisations- Die Gruppe der Jungenschaften Wolfgang Uellenberg-van Dawen, Köln raum für Kinder und Jugendliche der 1950er-Jahre 18.15 Uhr ­Arne Schäfer, Oer-Erkenschwick Jürgen Reulecke, Essen Vorstellung der Kernaussagen 10.00 Uhr Kaffeepause 15.30 Uhr Kaffee und Kuchen (im Speisesaal) von Interviews zur Gruppenerfahrung 10.30 Uhr 16.00 Uhr Marianne Berger, Bremen Die Gruppe der Arbeiterjugend Die Gruppe Gorch-Fock 19.00 Uhr vor 1918 – Hamburg-Bergedorf Gudrun Probst-Eschke, Hamburg Vorstellung der Kernaussagen von und Dresden im Vergleich 17.00 Uhr Gruppenbüchern der 1950er Jahre Eric Schley, Köln Falkengruppen in Schweinfurt und Anja Ritzen, Köln 11.30 Uhr Frankfurt zu Beginn der 1950er Jahre 20.00 Uhr Die Gruppe der Kinderfreunde Hedi und Christian Tschierschke, Frankfurt a.M. Lebensgeschichtliche und generationelle Bodo Brücher, Werther i.Westf. 18.00 Uhr Prägungen durch die Jugendbewegung.­ 12.30 Uhr Mittagspause Kommentar und Abschlussdiskussion Konzeptionelle Überlegungen zum Wolfgang Uellenberg-van Dawen, Köln ­Umgang mit auto­biografischen Quellen. 13.30 Uhr 30 Barbara Stambolis, Münster Zwischen Wandervogel u. Sozialistischer 18. Uhr Abendessen Front: Eine Gruppe der Kinderfreunde gemütliches Beisammensein 20.45 Uhr Buffet, Gemütliches Beisammensein Ende der Veranstaltung in Hannover 1928–1934 Kay Schweigmann-Greve, Hannover

ANMEANMELDUNGLDUNG Anmeldung per Fax: 0 23 68.5 92 20 | per E-mail: [email protected] An folgenden Veranstaltungen nehme ich teil: An der Tagung »Die Gruppe in der Arbeiterjugendbewegung: Archivtagung 2011 Freitag,Struktur, 21. Janua Funktionr, 18.00 und Uhrbiografische bis Samstag, Wirkung« 22. Januar, ca. 18.30 Uhr Name · Vorname (20./21. Januar 2012) nehme ich teil. Mitgliederversammlung desKosten: Förderkreises 40 Euro T agungsbeitrag2011 Sonntag, einschl. 23. UJanuarnterkunft/ ab V11.00erpflegung Uhr Fr/ Sa

Übernachtung Samstag/Sonntag einschl. Frühstück, 20 Euro Ich wünsche Unterbringung im: Name/Vorname Die Kosten von 40 Euro werden für jeden Teilnehmenden berechnet. Wir gehen davon aus, daß die ­Unterbringung im Salvador-Allende-HausDoppelzimmer während der Fr Tagungeitag durchgängig auf Samstag: in Einzelzimmern 37,50 Euro erfolgenp.P. kann. Adresse Im Preis enthalten ist neben der Übernachtung auch die Verpflegung durch das Salvador-Allende-Haus ­einschließlich eines Abendessens amDoppelzimmer Samstag. Für Schüler, Samstag Studenten auf und Sonntag: Erwerbslose 34,– bis zum Euro vollendetenp.P. 28. Lebensjahr kann nach Rücksprache mit dem Archiv ein ermäßigter Preis gewährt werden. Es besteht die Möglichkeit, zusätzlich von SamstagEinzelzimme auf Sonntagr-Buchung, im Salvador-Allende-Haus EZZ pro Nacht zu übernachten. 5,– Euro Die Über- Adresse Ort · Datum · Unterschrift nachtung von Samstag auf Sonntag einschl. eines Frühstücks am Sonntag­morgen kostet zusätzlich 20 Euro. Ermäßigter Preis für alle Leistungen Schüler/Studenten/Erwerbslose bis zum vollendeten 28. Lebensjahr Ort/Datum/Unterschrift

64 das archiv der arbeiterjugendbewegung Thema Luise und Karl Kautsky • sammelt und bewahrt Quellen zur Geschichte Personen ·neue bücher der Arbeiterjugendbewegung aus mehr als 100 Jahren Veranstaltungen • es stellt sie der Öffentlichkeit zu Forschungszwecken zur Verfügung • und beteiligt sich selbst an der Aufarbeitung der Geschichte. 2011/II Der Förderkreis ›D okumentation der Arbeiterjugendbewegung ‹ …

• unterstützt die Arbeit des Archivs finanziell • er beteiligt sich an der Erforschung der Geschichte der Arbeiterjugendbewegung • durch eigene Tagungen und Veröffentlichungen Archiv der Arbeiterjugendbewegung Das Archiv der Arbeiterjugendbewegung ist auf die Unterstützung des Förderkreises angewiesen – und der Förderkreis auf seine Mitglieder! Jede Mitgliedschaft unterstützt das Archiv!

Mitgliedsantrag Archiv der Arbeiterjugendbewegung Einzugsermächtigung Haardgrenzweg 77 · 45739 Oer-Erkenschwick Archiv der Arbeiterjugendbewegung Ja, ich trete dem Förderkreis Dokumentation Konto: Zeltlagerplatz e.V./Förderkreis · Sparkasse Vest Recklinghausen der Arbeiterjugendbewegung bei. Konto-Nr. 701284 · BLZ 42650150 IBAN DE96 4265 0150 0000 7012 84 · BIC WELADED1REK Ich unterstütze die Arbeit des Archivs der Arbeiterjugendbewegung mit einem jährlichen Beitrag von: Hiermit ermächtige(n) ich (wir) Sie widerruflich, die von mir (uns)

Mindestbeitrag für Personen 25,– € zu entrichtenden Zahlungen für den Förderkreis Dokumentation der Institutionen 35,– € Arbeiterjugendbewegung bei Fälligkeit zu Lasten meines (unseres) Die Zahlung erfolgt nach Erhalt der Rechnung, Kontos mittels Lastschrift einzuziehen: sofern keine Einzugsermächtigung (rechts) vorliegt.

Name · Vorname Geburtsdatum Genaue Bezeichnung der kontoführenden Bank

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Telefon/Fax/E-Mail Name/Vorname (Kontoinhaber/in)

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2011/II Archiv der Arbeiterjugendbewegung · Oer-Erkenschwick

Die »Mitteilungen des Archivs der Arbeiterjugendbewegung« werden Archiv der Arbeiterjugendbewegung vom Förderkreis »Dokumentation der Arbeiter­jugend­bewegung« und Haardgrenzweg 77 | D-45739 Oer-Erkenschwick dem Archiv der Arbeiterjugendbewegung herausgegeben. Fon: 02368–55993 | Fax: 02368– 59220 [email protected] | www.arbeiterjugend.de Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Bankverbindung Zeltlagerplatz e.V./Förderkreis Konto-Nr. 701 284 | BLZ 426 501 50 Sparkasse Vest Recklinghausen Redaktion Bodo Brücher, Alexander J. Schwitanski, IBAN DE96 4265 0150 0000 701284 SWIFT/BIC WELA DED1 REK Wolfgang Ullenberg-van Dawen ISSN 1866-3818

Gestaltung Gerd Beck In einigen Fällen konnten die Inhaber von Rechten an Fotografien nicht ermittelt werden. Abbildung Umschlag Bild-Montage Gerd Beck Etwaige Inhaber von Rechten an in diesem Heft abgebildeten Fotos werden gebeten, Kontakt mit dem Archiv der Arbeiterjugendbewegung aufzunehmen.