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2015 · 10 Film-Konzepte 40

Fabienne Liptay (Hg.) Milena Canonero FILM-KONZEPTE Begründet von Thomas Koebner Herausgegeben von Michaela Krützen, Fabienne Liptay und Johannes Wende

Heft 40 · Oktober 2015 Milena Canonero Herausgegeben von Fabienne Liptay Redaktion: Michelle Koch

ISSN 1861-9622 ISBN 978-3-86916-448-9 E-ISBN 978-3-86916-449-6

Umschlaggestaltung: Thomas Scheer Umschlagabbildung: © 2014 Twentieth Century Fox Home Enter tainment, Inc. All Rights Reserved

Die Abbildungen aus den Filmen sind Screenshots.

Die Reihe »Film-Konzepte« erscheint mit vier Nummern im Jahr. Die Hefte können einzeln oder im vergünstigten Abonnement für € 59,– oder im UN!-Abo für € 39,– durch jede Buchhandlung oder über den Verlag bezogen werden. Die Kündigung des Abonnements ist bis zum Oktober eines jeden Jahres für den folgenden Jahrgang möglich.

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara Preis für dieses Heft € 20,– Preis für dieses E-Book € 19,99

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National- bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, be darf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektroni-schen Systemen.

© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2015 Levelingstraße 6a, 81673 München www.etk-muenchen.de

Buchgestaltung: Kathrin Michel, Satz+Layout Fruth GmbH, München Druck und Buchbinder: e. kurz + co gmbh, Kernerstraße 5, 70182 Stuttgart FILM-KONZEPTE 40

Milena Canonero

Herausgeberin: Fabienne Liptay

003 Vorwort

007 Daniela Sannwald Kampfmonturen, Subkulturen. Milena Canonero und

027 Burcu Dogramaci Blixens weiße Kleider und der postmoderne Safari-Look. Filmkostüme für Out of Africa

044 Vera Cuntz-Leng Kleider machen Grufties … oder Vampire? Vampirmythos trifft Popkultur in The Hunger

053 Gertrud Lehnert & Julia Burde Zwischen Etikette und modischer Neugier. Marie Antoinette

070 Susanne Marschall Kostüm-Bilder. Milena Canonero und

087 Susanne Vill Eine »zweite Haut« für Opernsänger. Milena Canoneros Kostüme für die Opernbühne

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110 Werkverzeichnis (Kostümbild)

112 Autorinnen

5026_Bd_40_Canonero_001-118_AK2.indd 2 04.09.15 10:26 Auge fürs Detail Ein Vorwort

Kostüme sollen den Eindruck erwecken, dass sie selbstverständlich getra- gen werden, so als seien sie geradewegs der Garderobe der Figuren ent- nommen und nicht eigens für den Film geschneidert, geliehen oder ge- kauft. Dabei haben Kostüme vieles zu leisten: Sie unterstützen die Schauspieler in der Findung und Entfaltung ihrer Rollen, verleihen ih- nen Persönlichkeit und Stil, Haltung und Kontur. Sie enthüllen und ver- bergen die Identitäten und Absichten, Gefühle und Stimmungen von Figuren. Und sie erwecken eine Epoche, ein Milieu, ein Genre zum Leben. Kostüme bilden das ästhetische Gewebe des Films, die Textur seiner Mitteilungsgestalt. In dieser Hinsicht sind sie immer schon im Hinblick auf Bilder gestaltet, auf das kompositorische Zusammenspiel von Farbe und Licht, Material und Muster, Figur und Grund. Niemals wirken Kos- tüme daher nur für sich. Ihre Einbindung in das visuelle Gesamtkonzept des Films erfordert ihre enge Abstimmung nicht nur auf die Maßgaben von Drehbuch und Regie, sondern darüber hinaus auf die Ausstattung und Lichtsetzung im Dialog mit den Verantwortlichen für Szenenbild und Kamera. In ihrer dienenden Funktion wird den Kostümen und ihren Designern nur ausnahmsweise besondere Aufmerksamkeit zuteil, zu- meist im Rahmen opulent ausgestatteter Historienfilme, die den Roben eine Bühne bereiten, auf der sie gesehen und bewundert werden. Bereits als junge Kostümbildnerin, die von Italien nach kam und dort von Stanley Kubrick engagiert wurde, konnte sich Milena Cano nero auf dem Feld des Historienfilms profilieren. Für ihre Entwür- fe für (1975) erhielt sie ihren ersten Academy Award, den sie sich mit Ulla-Britt Søderlund teilte. Ein in altrosa Tinte geschriebener Brief von Søderlund an Kubrick, den das Stanley Kubrick Archive in London verwahrt, zeugt nicht nur vom Unmut seiner Verfasserin ange- sichts eines Zeitungsartikels, der Canonero den alleinigen Credit für das Kostümbild zusprach, sondern auch von der Aufgabenteilung, die ihre Zusammenarbeit grundierte: »During the work on Barry Lyndon I was contracted as costume designer and Milena your personal assistant, taking care of historical research on make-up, hair and costumes, taking pictures and being your ›sharp eye‹, as you didn’t have time to follow every detail in costumes.« Während Søderlund die Herstellung der Kostüme in einer

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Milena Canonero (rechts) am Set von Barry Lyndon, The Stanley Kubrick Ar- chive at University of the Arts London, Licensed By: Warner Bros. Entertain- ment Inc. All Rights Reserved

eigens dafür gemieteten Flugzeugfabrik in einem großen Team über- wachte, verantwortete Canonero vor allem deren Entwürfe auf der Grundlage von historischen Recherchen in europäischen Bibliotheken, Museen und Archiven, aus denen sie einen reichen Fundus kostümbild- nerischer Ideen generierte. Jenseits der handwerklichen Ausführung ist es die gedankliche Kon- zeption, die Canoneros Kostümentwürfe auszeichnet. Sie zeugt vom ver- tieften Studium historischer und zeitgenössischer Moden, die im Blick auf die jeweiligen Anforderungen des Films neu gestaltet und variiert werden. In Canoneros Verantwortung fallen auch Schminke und Frisur, die sie ihrer Konzeption einverleibt, ausgehend von dem Diktum, dass das Kostümbild zuallererst beim Kopf beginnt. Selbst dort, wo Canonero vom Scheitel bis zur Sohle die getreue Rekonstruktion einer Epoche oder eines Milieus anstrebt, greift sie nur teilweise auf die originalen Bestände aus den Kostümverleihen und Auktionshäusern zurück. Meistens handelt es sich um ihre eigenen Entwürfe nach historischen Modellen und Mus-

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Milena Canonero (von hinten) am Set von Barry Lyndon, The Stanley Kubrick Archive at University of the Arts London, Licensed By: Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved

tern, in die Versatzstücke originaler Kleider und Stoffe als Spuren geleb- ter Geschichte einfließen. Was zunächst ins Auge fällt, sind die ironischen Akzente und Extra- vaganzen, die sich Canonero gelegentlich im Bruch mit dem Gesamtbild erlaubt. Avantgardistische Straßenkleider in dämonischem Weiß mit über der Hose getragener Schamkapsel, Springerstiefeln, Melone und Wim- pernkranz (A Clockwork Orange/Uhrwerk Orange, 1971), Trench- coats und Nadelstreifenanzüge in den bunten Grundfarben des Comic- strips (Dick Tracy, 1990), französische Hofmode in den Pastellfarben der Macarons von Ladurée (Marie Antoinette, 2006), Hoteluniformen in Lila und Mauve, dazwischen ein Kleid aus goldenem Seidensamt mit handgemalten Ornamenten wie aus einem Gemälde von Klimt (The Grand Budapest Hotel/Grand Budapest Hotel, 2014) – dies sind nur einige der denkwürdigen Kreationen, die Milena Canonero für die Filmleinwand geschaffen hat. Selten halten sich ihre Kostümentwürfe diskret zurück. Eine Annäherung an ihre Arbeit verlangt jedoch stets ein genaueres Hinsehen, bei dem sich Canoneros Blick fürs Detail in all sei- ner Subtilität erst erschließt. Die Reihe Film-Konzepte widmet sich mit diesem Heft dem vielgestal- tigen Werk einer herausragenden Kostümbildnerin. Es versammelt Bei- träge zu Milena Canoneros Entwürfen für Stanley Kubrick und Wes

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Anderson. Es fragt nach dem Bezug der Filmkostüme zur Modegeschich- te in Marie Antoinette und betrachtet den Einfluss ihrer Filmkostüme auf die Gothic-Kultur in The Hunger (Begierde, 1983) sowie auf den Safari-Look in Out of Africa (Jenseits von Afrika, 1985). Und es wirft Seitenblicke auf ihre Arbeiten für die Opernbühne in der Zusam- menarbeit mit und . Damit werden die Kostüme von Milena Canonero erstmals in einer umfassenden Darstellung gewür- digt. Ein großer Dank gilt den Autoren, die sich auf das Abenteuer der Be- sprechung eines kaum erschlossenen Werks eingelassen haben. Danken möchte ich in diesem Zusammenhang auch dem Stanley Kubrick Archi- ve in London, das uns im Rahmen der Kostümrecherchen Zugang zu der dort beherbergten Sammlung gewährt hat, sowie Warner Bros. Enter- tainment Inc., Fox Searchlight Pictures, dem Deutschen Filmmuseum, dem Royal Ontario Museum, den Metropolitan Opera Archives und der Lipperheideschen Kostümbibliothek für die Bereitstellung von Bildmate- rial für den Druck. Rebecca Boguska hat den gesamten Prozess der Bild- recherche und -beschaffung für dieses Heft mit unermüdlichem Engage- ment begleitet und damit entscheidend zu dem vorliegenden Ergebnis beigetragen. Ein herzlicher Dank gebührt außerdem Ulrike Brandt und Jerome Schäfer für das Lektorat sowie Michelle Koch für ihre redaktio- nelle Unterstützung.

Fabienne Liptay Juli 2015

5026_Bd_40_Canonero_001-118_AK2.indd 6 04.09.15 10:26 Daniela Sannwald Kampfmonturen, Subkulturen Milena Canonero und Stanley Kubrick

In der Mitte der 1960er Jahre, als Milena Canonero nach London kam, galt die britische Metropole als »swinging«, als Zentrum kultureller, mo- discher und vor allem popmusikalischer Entwicklungen – wo also sollte eine junge Italienerin Anfang 20, die soeben ein Modestudium absolviert hatte, sonst reüssieren?1 Schon bald lernte sie Stanley Kubrick kennen, der sich ein paar Jahre früher in London niedergelassen hatte. Und so kam sie zu ihrem ersten Filmauftrag. Man kann sich vorstellen, dass die junge Modedesignerin von dem fast 20 Jahre älteren, zu der Zeit bereits arri- vierten Regisseur viel lernen konnte: »Kubrick gave me a lot of guidance. He took me along to check out sites and sent me to photograph certain things. He wanted me to understand what he was looking for. He told me that the head is the most visible part in film and I should start from there.«2 Später allerdings behauptete Canonero, dass Kubrick sich über- haupt nicht für die Kostüme interessiert habe.3 Jedenfalls arbeiteten die beiden an zwei aufeinanderfolgenden Roman- adaptionen zusammen: Die Dystopie A Clockwork Orange (Uhr- werk Orange, 1971) war das Debüt für die junge Kostümbildnerin, da- nach kam der Historienfilm Barry Lyndon (1975), für den sie mit dem ersten ihrer inzwischen vier Academy Awards ausgezeichnet wurde, während Kubrick selbst zwar in drei Kategorien nominiert war, aber leer ausging. Die kongeniale Zusammenarbeit zwischen Kubrick und Cano- nero sollte sich fünf Jahre später, bei The Shining (Shining, 1980), noch einmal wiederholen. Angeblich hätte Canonero auch für Kubricks letz- ten Film Eyes Wide Shut (1999) die Kostüme entwerfen sollen, musste aber wegen anderer Produktionen absagen.4 Dass alle Filme von Kubrick sich aufeinander beziehen, hat eine große Zahl seiner Apologeten immer wieder beschrieben.5 Weniger war die Rede davon, dass diese Referen- zen bis in die Kostüme hineinreichen, was so verwunderlich nicht ist, wenn man der Arbeit der Kostümbildnerin einen ähnlichen individuell- kreativen Status zugesteht wie der des Regisseurs. Abgesehen von der persönlichen Handschrift der Designerin führen die Kostüme auch, zu- mindest im Fall von A Clockwork Orange und Barry Lyndon, den sozial-kulturellen Kontext vor Augen, in dem diese Kostüme entstanden

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sind. Die Filme sind damit im doppelten Sinne period pictures: Sie bilden neben der im Film erzählten Zeit – einer nahen, aber unbestimmten Zukunft in A Clockwork Orange bzw. der zweiten Hälfte des 18. Jahr- hunderts in Barry Lyndon – die Londoner Jugendkultur in den Swin- ging Sixties ab, also die Zeit unmittelbar vor Beginn der Dreharbeiten.

I. A Clockwork Orange

1. Weiß für Gewalt: Die Droogs In dem 1962 veröffentlichten Roman von Anthony Burgess beschreibt Alex, der jugendliche Erzähler, gleich zu Anfang den extravaganten Klei- dungsstil seiner Gang, der Droogs: »The four of us were dressed in the height of fashion, which in those days was a pair of black very tight tights with the old jelly mould, as we called it, fitting on the crotch underneath the tights, this being to protect and also a sort of a design you could viddy clear enough in a certain light, so that I had one in the shape of a spider, Pete had a rooker (a hand, that is), Georgie had a very fancy one of a flo- wer, and poor old Dim had a very hound-and-horny one of a clown’s litso (face, that is). (…) Then we wore waisty jackets without lapels but with these very big built-up shoulders (›pletchoes‹ we called them) which were a kind of a mockery of having real shoulders like that. Then, my brothers,

Die Droogs in Weiß, mit Schamkapseln, Hosenträgern, Militärstiefeln, Hüten und Spazierstock in A Clockwork Orange

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we had these off-white cravats which looked like whipped-up kartoffel or spud with a sort of a design made on it with a fork. We wore our hair not too long and we had flip horrorshow6 boots for kicking.«7 Es ist erstaunlich, dass sich von diesem eindrücklich geschilderten Outfit nur wenig in den Filmkostümen wiederfindet, die zu Ikonen des Films selbst geworden sind. Übrig geblieben sind die Suspensorien, die allerdings über den weißen, in die Stiefel gesteckten Hosen getragen werden, und die Stiefel selbst. Die bizarren Plastikverzierungen auf Sus- pensorien und Krawatten sind auf die Manschetten der weißen Hemden oder die Hosenträger gewandert. Marisa Buovolos Beschreibung der »Uniform« ist präzise und bereits interpretierend: »Sie besteht aus einer raffinierten Kombination von Versatzstücken aus der Mode der Vergan- genheit und der Zukunft. Die kragenlosen Hemden, die Hosenträger, die Hüte und die codpieces als archaische und unverkennbar männliche Attribute einer vergangenen Epoche stehen im scharfen Kontrast zu ihren ›futuristisch‹ wirkenden weißen Hosen. Alle tragen eine Art auffälligen Ritualschmuck aus Plastik, der als makabere Kampftrophäe bereits das Gewalttätige in ihnen erahnen lässt: ein herausgeschnittenes Auge mit seiner blutigen Spur. Ihre weiten Hosen sind in Militärstiefel hineinge- steckt. Sie erscheinen dadurch wie aufgeblasen und verleihen den Droogs ein durchaus bedrohliches Aussehen, zugleich signalisieren sie ihre Ge- waltbereitschaft.«8 Außerdem tragen die Droogs Spazierstöcke mit Knauf,

Die Droogs in der Korova-Milchbar, mit Plastikornamenten in Form von blutigen Augen an den Manschetten in A Clockwork Orange

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Seite 10 und 11: Kostümproben mit Malcolm McDowell für A Clockwork Orange, The Stanley Kubrick Archive at University of the Arts London, Licensed By: Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved

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