Deutschland

KARRIEREN Der Vorsitzende Franz Müntefering, Partei- und Fraktionschef der SPD, soll die Seele der Partei wärmen. Unbemerkt ist seine Macht gewachsen, mittlerweile kümmert er sich auch um die Regierung von Gerhard Schröder. Er sendet unscharfe Signale. Von Matthias Geyer

ben unter dem Dach stört ist. Es ist die Partei der wohnt jemand, der Agenda 2010, der Unsicherheit Onicht erkannt werden und der Angst. Tausende Mit- möchte. Er hat keinen Namen, glieder sind ihr weggelaufen, auf dem Schild neben seiner und die, die geblieben waren, Klingel steht eine vierstellige wussten nicht mehr, woran sie Nummer. 0701*. Niemand glauben sollten. Es gab kein weiß, wer das ist, 0701. Programm mehr, das gültig Es ist ein Plattenbau in Ber- war. Und es gab keine Perso- lin-Mitte, das Letzte, was von nen mehr, denen man trauen Erich Honecker übrig geblie- konnte. In Berlin gab es ver- ben ist. Er steht da, als hätte wirrte Minister und einen ihn die Abrissbirne vergessen. Kanzler, der langsam ver- Abends führen junge Männer stummte. Es hieß, man solle im Hinterhof Kampfhunde jetzt an Müntefering glauben. spazieren, sie flämmen Rhodo- In den Leitartikeln stand, dendronblüten mit Feuerzeu- dass Schröders Zukunft als gen an und sagen „Fick dich“. Kanzler davon abhänge, ob er Oben wohnt Franz Münte- die Arbeitsteilung mit Münte- fering. fering hinkriegt oder nicht. Ob Er sagt, dass er sich hier ei- Müntefering loyal ist. Oder ob gentlich ganz wohl fühle. „Ich Müntefering, der ja auch Frak- hab es nicht weit zur Firma.“ tionschef der SPD ist und da- Er fährt um zwanzig nach mit der mächtigste Mensch in sieben los, und um halb acht der deutschen Politik, eines Ta- sitzt er am Schreibtisch bei der ges zu groß werden wird. SPD. Es dauert nur ein paar Ab und zu sendet Franz Minuten, dann lebt er in einer Müntefering kleine Signale Welt aus Glas und Holz. Die aus, aber sie geben keine Ant- Arbeiterpartei hat eine schicke worten. Sie lassen alles offen. Zentrale in Berlin, unten gibt Wie lange steht er zu diesem es einen Laden, der teure Wei- Kanzler? Wohin will er mit sei- ne verkauft. ner Partei? Was hat er vor? An einem Montagmorgen Sie heißt Karin und wartet steht Franz Müntefering in der seit einer halben Stunde. Es ist Eingangshalle dieser Zentrale ein Mittwochabend, sie ist ins vor zwei Plakaten, die der SPD Freizeitforum Berlin-Marzahn über die Europawahl helfen gekommen, weil ihre Seele sollen. ist bei ihm, wund ist. Die SPD hat einen

als Statue. Brandt streckt die PRESS JENS SCHICKE / ACTION Saal im ersten Stock gemietet, Hand aus, darunter steht Mün- Müntefering, Willy-Brandt-Skulptur in der SPD-Zentrale unten gibt es ein Bowling-Cen- tefering. ter, oben ein Karate-Studio, ein Müntefering guckt fröhlich Er hat von Gerhard Schröder eine Partei paar Plakate hängen im Foyer, und sagt irgendwas. Irgendwas übernommen, die verstört ist. Es ist die Partei der demnächst kommen Costa Positives, es sind Journalisten Cordalis und Drafi Deutscher. da. „Sie sehen also hier …“, Agenda 2010, der Unsicherheit und der Angst. Heute ist Franz Müntefering sagt Müntefering, er dreht sich da. zu den Plakaten und guckt sie an. Auf den Er geht mit kleinen, schnellen Schritten Er ist ein bisschen zu spät und läuft mit Plakaten stehen Sätze wie: „Neue Stärke. zu einem Aufzug, der ihn in sein Büro seinen kleinen, schnellen Schritten in den SPD“. Oder auch: „Politik mit einem kla- bringt. Sein Kopf ist etwas nach vorn ge- Saal. Bevor er redet, sagt die Kreisvorsit- ren Prinzip“. Müntefering schluckt. Dann schoben. Er muss weitermachen. Neue zende, dass es gut sei, dass er da ist. dreht er sich schnell wieder um. Stärke. Klares Prinzip. Er darf nicht auf- „Franz“, sagt sie, „du bist der, der die See- Er sieht aus wie jemand, der sich gera- fallen. Einfach weitermachen. le der Sozialdemokraten findet.“ de über sich selbst erschrocken hat. Franz Müntefering ist seit März Vorsit- Darum geht es. Um die Seele der Sozi- zender der SPD. Er hat von Gerhard aldemokratie. Franz Müntefering ist * Nummer von der Redaktion geändert. Schröder eine Partei übernommen, die ver- auch deshalb SPD-Chef geworden, weil

32 der spiegel 22/2004 Deutschland es heißt, er sei ein Sachverständiger für aldemokraten sie trugen, als Willy Brandt Dunst verzogen ist. Ob Müntefering eine die Seele. 1972 wiedergewählt wurde. Er trägt diese grundsätzlich andere Politik bringen wird. Dann steht er da, blaues Jackett, graue Nadeln wie ein Piercing, das so etwas wie Wahrscheinlich ist das alles nicht so Hose, und hält seine Rede. Das heißt, ei- sozialdemokratisches Lebensgefühl aus- wichtig. Wahrscheinlich ist nur wichtig, gentlich hält er keine Rede, eigentlich trägt drücken soll. dass jeder vermutet, dass er es könnte. er Sätze vor. Sätze über Globalisierung, Es sind kleine Gesten, mit denen Franz Gerd-Josef Plass öffnet sein Wohnzim- über Rente, über Gesundheit, über Arbeit. Müntefering seine Partei lockt. Er hat die mer, sein Haus liegt auf einem Hügel über Manchmal nennt er die Namen von Willy Sundern. Ein langes Brandt und Ferdinand Lassalle, aber ei- schwarzes Ledersofa steht in gentlich merkt man das nicht. Seine Stim- Schröder sagte: „Ich hätte ihn gern dem Wohnzimmer, „da sitzt me verändert sich nicht. Er redet nicht laut zum Freund.“ Müntefering antwortete: er immer, wenn er hier ist, und nicht leise, seine Stimme ist wie sein Beine nach oben, Zigarillo Gesicht. Es sieht immer gleich aus. Es hat „Ich bin kein Kumpel.“ in der Hand“, sagt Plass. Augenbrauen, die merkwürdig halbiert Vor ein paar Wochen war sind, und einige tiefe Furchen. Nichts ist Franz Müntefering zum letz- abzulesen in diesem Gesicht, keine Freude, ten Mal hier. Sundern im kein Leiden, es ist nicht so wie bei Gerhard Sauerland ist seine Heimat. Schröder, dem man am Morgen ansieht, Es heißt immer, Franz Mün- wie der Abend war. Es ist ein trockenes tefering sei ein sehr typi- Gesicht, das niemals schwitzt. scher Sauerländer. Und man fragt sich: Wie sieht eine See- Plass und Müntefering le aus, die Franz Müntefering retten kann? sind zusammen zur Schule Die Frau, die Karin heißt, tritt vorsich- gegangen, sie waren zusam- tig an ein Mikrofon. Sie sagt, dass sie seit men bei den Pfadfindern, 46 Jahren arbeitet. sie ist Betriebsratsvor- bei den Messdienern und sitzende in einem Betrieb in Lichtenberg, später bei der SPD. Als heute Morgen war sie um sechs Uhr im Müntefering die Schule ver- Büru. 100 Leute stehen vor der Entlassung. lassen musste, verloren sie Sie sagt, dass sie die Agenda 2010 in der sich aus den Augen. Plass Theorie begriffen hat, aber wenn 100 Leu- machte Abitur und studier- te gehen müssen, weiß sie nicht mehr, was te. Müntefering machte sei- sie sagen soll. ne Lehre und spielte Fuß- Franz Müntefering hat ein DIN-A4-Blatt ball, bis er 18 war, dann zweimal gefaltet, er schreibt etwas darauf, hörte er auf mit Fußball und vielleicht sind es Antworten, auf jeden Fall begann zu lesen. Er hat sie- hört er ihr zu. ben Jahre lang nur gelesen. Dann sagt er: „Karin hat gesagt, dass sie Dann wurde die Verbindung seit 46 Jahren arbeitet. Ich arbeite seit 50 zu Gerd-Josef Plass wieder Jahren. Und ich bin seit 50 Jahren in der enger. DAK. Zum Jubiläum hab ich eine Schach- „Er konnte plötzlich die tel Zigarillos bekommen.“ Unterschiede zwischen Ca- Er steckt seinen Zettel ins Jackett und mus und Sartre benennen“,

geht. Auf dem Zettel stehen ein paar Wör- DARCHINGER MARC sagt Plass. „Wenn man so ter, aber hauptsächlich hat er Striche und Schröder, Müntefering (in Berlin) will, hat sich der Franz kleine Kästchen darauf gemalt. selbst erfunden.“ Karin klatscht, als er geht. Ausbildungsplatzabgabe durchgedrückt, Sind sie Freunde? Hat er ihre Frage beantwortet? ganz steif hat er sich dabei gemacht, die „Es ist sehr freundschaftlich. Aber so „Eigentlich nicht.“ Wirtschaftsbosse haben getobt und alle So- richtig Freund, das mag er nicht. Dafür Hat es sich gelohnt, dass sie gekommen zis, die der Partei sowieso nicht ge- steht er nicht zur Verfügung“, sagt Plass. ist? heuer sind, Clement, Steinbrück, und Müntefering weiß mehr über ihn als er „Eigentlich ja.“ Warum? die Mitglieder haben gedacht: Guck mal über Müntefering, sagt Plass. „Ich will „Na, wegen seiner Art, irgendwie.“ an, der Franz. nicht sagen, dass es Distanz ist. Es ist eher Franz Müntefering trägt Stecknadeln mit Er spricht, je näher die Europawahl Vorsicht. Franz ist vorsichtig.“ roten Köpfen an seinen Jacketts, wie Sozi- kommt, nicht mehr so oft von „Zumutun- Franz Müntefering hat keinen richtigen gen“. Er redet lieber von Ma- Freund. Der Einzige, den er so nannte, ist nagern, die mit 500 000 im vor 30 Jahren bei einem Unfall gestorben. 949 550 950000 Monat nach Hause gehen, ob- Niemand kennt ihn wirklich. Gerd-Josef SPD-Mitglieder wohl die gar nicht so viel mehr Plass sagt, das passe eigentlich nicht zu je- Quelle: SPD 850000 leisten können als der tüchtige mandem, von dem es heißt, er sei ein ty- Angestellte. Von jungen Leuten, pischer Sauerländer. die „ihre Schangse“ im Leben Am 21. März, als Müntefering zum neu- 750000 628508 haben müssen, unabhängig da- en Vorsitzenden der SPD gewählt wurde, März von, wie viel der Vater verdient. erschien im Berliner „Tagesspiegel“ ein In- 650000 Von denen, die unser Land auf- terview mit Franz Müntefering und Ger- PARTEIVORSITZENDE gebaut haben, und von der hard Schröder. Es war der Tag, an Schröder Münte- 550000 Vogel Scharping Würde des Arbeitnehmers über dem sich Schröder an Müntefering aus- Engholm Lafontaine fering 50. Es sind Sätze wie Rauschgift geliefert hatte. für die SPD, und niemand fragt Schröder sagte in diesem Interview: „Ich 1990 95 2000 04 sich, was kommt, wenn der hätte ihn gern zum Freund.“ Müntefering

34 der spiegel 22/2004 Deutschland antwortete: „Ich bin kein Kumpel.“ Beim Sparbücher plündert und Schily auf die Er wartet vor dem Festspielhaus in Reck- Lesen wurde einem kalt. Grünen pupt. Man kann Gerhard Schröder linghausen, wo gleich die Ruhrfestspiele Sie haben sich kaum angeguckt während als Fliehenden beobachten, er ist immer ir- eröffnet werden, es ist der 1. Mai, ein Fei- dieses Interviews. Schröder spielte mit ei- gendwo, aber meistens ist er weg. Franz ertag der Sozialdemokratie. Gleich soll es nem Streichholzheftchen, auf dem „Bun- Müntefering ist immer da. Er bleibt einfach einen großen Spaß mit Franz Müntefering deskanzleramt“ stand. Das Streichholz- sitzen. Er sagt Sachen, die eigentlich ein Re- geben, aber der, der da steht, sieht aus, als heftchen sah aus wie ein Spieleinsatz. gierungschef sagen müsste. Dass Eichel wäre er der Falsche. Manchmal sagt Franz Müntefering gar Minister bleiben wird, aber dass Eichel Der Bergmannsverein „General Blum- nichts, wenn man ihn fragt, ob er bald Politik für das ganze Land machen muss. Er enthal“ rückt an, Männer mit schwarzen Kanzler der Bundesrepublik Deutschland schlägt mit der Hand auf den Tisch, wenn Trachten und Federbüscheln auf dem Hut. sein wird. Manchmal steht er nur da und Eichel und Wieczorek-Zeul um Geld strei- Ein großer Dicker mit rotem Gesicht geht bläst stumm den Rauch von einem Ziga- ten, und sagt: Schluss jetzt. Er sagt, dass voran, er wird Müntefering gleich das „Ar- rillo in die Luft. Manchmal schleder“ verleihen. Bergleute trugen Ar- sagt er aber auch: „Nein, das schleder bei der Fahrt in die Grube. war es dann.“ Wahrscheinlich Wer das beobachtet, könnte meinen, stimmt das. Müntefering hätte früher selbst mal Kohlen Er kann ja keine Außen- geschippt. Er hat Industriekaufmann ge- politik, das sagt er selbst. „Da lernt, er konnte gut rechnen, er arbeitete gibt es weiße Flecken.“ Wenn mit dem Kopf. Israel den Hamas-Gründer „Wir wollen uns bei einem Freund der Scheich Jassin ermordet und Bergleute bedanken. Ich hoffe, du nimmst Müntefering etwas dazu sagen die Ehre an“, sagt der Dicke. Er schwitzt. soll, dann sagt er: „Es wäre „Ja, ja“, sagt Müntefering. nicht vernünftig, sich von hier Man bindet ihm eine Lederschürze um, aus in dieser Sache zu positio- dann muss er sich bücken. Jemand hält nieren.“ Israel. Mord. Was eine Schaufel vor sein Gesäß, und der sagt man da, als Deutscher? Dicke schlägt dreimal mit einem Vor- Müntefering will nicht schlaghammer zu. Glück auf. Müntefering Kanzler werden, so viel ist ist jetzt „Ehrenhauer“ und kriegt einen wohl klar. Unklar bleibt, wie Schnaps. lange das gut geht mit Schrö- Er steht wieder aufrecht, dann lacht er ders Kanzleramt und Münte- kurz, es ist ein düsteres, langsames Lachen, ferings Partei. Sie belauern wie man es von Geisterbahnen kennt. Das sich jetzt ein bisschen. Sie Arschleder schlackert um seine Beine, er trauen sich nicht so ganz. Aber sieht ein bisschen einsam aus. „Ich bedan- sie brauchen sich. Und wenn ke mich“, sagt er, dann will er einen Kaf- man sie beobachtet, kann man fee trinken. Dem Seelenzuständigen der den Eindruck bekommen, dass SPD ist nicht ganz wohl, wenn ihm Men- Gerhard Schröder Franz Mün- schen zu nahe kommen. tefering mehr braucht als um- Der Dicke vom Bergmannsverein hat gekehrt. sich an einen Bierstand verzogen und sagt, Vor kurzem sind sie bei ei- dass er die Schnauze voll hat von denen

ner internationalen Wirt- PRESS JENS SCHICKE / ACTION in Berlin. Von den ganzen Brandt-En- schaftstagung der SPD in ei- Müntefering am 1. Mai in Recklinghausen keln, die mal ihre Backen aufgeblasen ha- ner Berliner Bank zusammen- ben und jetzt weg sind. Scharping, Eng- gekommen. In der Bank war Dem Seelenzuständigen der SPD holm, Lafontaine. Nur Schröder ist noch ein Podest aufgebaut, zu dem ist nicht ganz wohl, wenn da, noch. eine kleine Treppe führte, die Müntefering ist zwar nur vier Jahre äl- links vom Podest angebracht ihm Menschen zu nahe kommen. ter als Schröder, aber er scheint nicht zur war. Müntefering hielt eine selben Generation zu gehören. Er ist weder kurze Eröffnungsrede, dann sollte Schrö- sich die Europäische Union überlegen muss, 68er noch Enkel. Als die 68er auf die der sprechen. Als Schröder die kleine Trep- was sie will, drei Prozent für Forschungs- Straße gingen, saß Müntefering in Sundern pe hinaufging, sprang Müntefering mit ei- ausgaben oder drei Prozent Neuverschul- im Büro der Firma Pingel und kümmerte nem Satz vom Podest. Es sah so aus, als dung, und mit der Verzögerung von einem sich um die Anfertigung kleiner Metalltei- wollte er ihm nicht zu nahe kommen, je- Tag sagt Schröder: Ja, stimmt. le. Als die Enkel damit begannen, die ver- denfalls nicht öffentlich. Müntefering wird langsam immer miefte Republik von zu lüf- Schröder musste am Ende seiner Rede größer, aber man merkt es nicht. Man kann ten, lernte Müntefering als SPD-Bezirks- eigentlich los, aber er setzte sich noch für sich leicht täuschen in ihm. Er ist 1,76 Me- chef im westlichen Westfalen, wie man einen Moment auf den Stuhl neben Mün- ter groß, aber wenn ihn Leute zum ersten Mehrheiten organisiert. Er hat die Enkel tefering. Er flüsterte ihm etwas ins Ohr und Mal auf der Straße sehen, sagen sie, dass bei ihrem Scheitern beobachtet, er sah die schlug dann auf seinen Oberschenkel. sie ihn größer eingeschätzt haben. ganzen Visionen auseinander fliegen, und Müntefering guckte nach unten und be- Die Sonne scheint auf Franz Müntefe- jetzt muss er die Trümmer wegräumen. trachtete sein Übersetzungsgerät. Dann lief ring, er hat noch ein paar Minuten Zeit, Wenn Schröder Brandts letzter Enkel ist, Schröder davon, und Müntefering blieb und er weiß nicht, was er damit anfangen dann ist Müntefering vielleicht so etwas einfach sitzen, er wartete ab, was oben auf soll. Er steht mitten in einem Haufen Men- wie Brandts einziger Sohn. dem Podest passierte. schen, aber ihm fällt nichts ein, worüber er „Der Franz“, sagt der Dicke, „ist immer So ist es jetzt öfter in diesen Wochen, wo gerade mit ihnen reden könnte. Er kippt wahrhaftig geblieben.“ Es ist, als hätte der sich die Regierung zerlegt, wo Eichel durch von einem Bein auf das andere, dann steckt Franz mit dem ganzen Politikbetrieb nichts die Haushaltslöcher stolpert, Clement die er sich einen Zigarillo an. zu tun, als wäre er neu dazugestoßen, von

36 der spiegel 22/2004 Deutschland weit her, von außerhalb. Es ist alles wie Müntefering sei ein einfacher Mann ge- Podium einer Kongresshalle stehen Pla- eine große Illusion. wesen, der einfache Sätze gesprochen katsäulen mit dem SPD-Logo und lauter Als Franz Müntefering 1996, anderthalb habe, aber auch einer mit großem Selbst- glücklichen Menschen, lachenden Babys, Jahre vor Gerhard Schröders erstem Wahl- bewusstsein, sagt Karpinski. „Der hat sich klugen Kindern, entspannten Rentnern. sieg, zum ersten Mal in die Hamburger von Schröder nie beeindrucken lassen.“ Das Podium ist eine perfekte Täuschung. Werbeagentur KNSK kam, war er schon Karpinski hat Schröder, je näher die Wahl Vor dem Saal werden „Image-Produkte“ vieles gewesen. Stadtrat in Sundern, Un- kam, „als hochnervös kennen gelernt“, der verkauft, SPD-Regenjacken und CDs mit terbezirksvorsitzender, Bezirksvorsitzen- Einzige, der immer ruhig blieb, sei Münte- den Liedern der Arbeiterbewegung. Wer der, Landesminister. fering gewesen. nicht von der SPD ist, fragt sich, wo die Jetzt war er Bundesgeschäftsführer, und Irgendwann fiel Detmar Karpinski auf, SPD ihre Wähler herkriegen will. Die Ju- er trug graue Schuhe von Romika mit dass Franz Müntefering seine einfachen sos verkaufen aufblasbare Kugelschreiber. Gummisohlen. Es war noch nicht klar, wer Sätze gern wiederholt. Er dachte an Wer- Müntefering redet viel von Globalisie- Kanzlerkandidat der SPD werden würde, bestrategien. An Beck’s Bier. An Marken. rung, obwohl er kein Englisch kann. Den Lafontaine oder Schröder, aber Franz Man muss das Schiff von Beck’s Bier nur letzten Urlaub verbrachte er im Dorint-Ho- tel am Müggelsee. Er redet von Wenn Schröder Brandts letzter Enkel ist, dann ist Müntefering „neuen Aufgaben“ und von „der Sache mit der Solidarität“, wie vielleicht so etwas wie Brandts einziger Sohn. ein Hausmeister des Godesberger Programms, der darauf aufpasst, dass die Grundsätze nicht in der Globalisierung verdampfen. „Lie- be Genossinnen und Genossen“ ist bei ihm ein Wort, „Liebege- nossinngenossn“, sagt er. „Es muss getz ein Weg gefunden wer- den.“ Er sagt nicht, wie der Weg aussieht, er behauptet nur, dass es einen Weg gibt. Am Ende hält Franz Müntefe- ring eine Ansprache an neue Parteimitglieder, sie dauert viel- leicht zwei Minuten, aber es ist alles drin, Lassalle, unterhaken, Brandt. Dann verteilt er rote Rosen, „hängt sie schön auf und trocknet sie“. Er steht draußen vor der Hal- le und wundert sich ein bisschen über sich selbst. Er erzählt, dass er früher oft bei Wahlkampfver- anstaltungen von gewesen sei. „Der erzählte nur Geschichten, und ich dachte: Was macht der da? Am Ende waren Wahlkämpfer Brandt, Müntefering (1976) die Leute begeistert. Ich habe mich seitdem oft gefragt, wie man Müntefering suchte die richtige Agentur oft genug über den Bildschirm segeln las- Vertrauen schafft. Ich glaube, die Partei- für den Wahlkampf. sen, irgendwann kaufen die Leute das Bier. mitglieder vertrauen mir, weil ich auch ein Er saß in einem Konferenzraum und sah Karpinski glaubt inzwischen, dass Münte- Geschichtenerzähler bin“, sagt Müntefe- auf die Alster. Der Agenturchef Detmar fering das Münteferingischsein veredelt. ring. Karpinski sagte ihm, dass er eigentlich kei- „Er hat festgestellt: In seiner Klientel Von hat es auch immer ne Lust habe, Werbung für die SPD zu ma- kommt das an“, sagt er. geheißen, dass es ihm nur um die Sache chen. Weil Politikwerbung immer Schrott Marken bedienen das Bedürfnis nach Il- ging, und dabei war nicht mal klar, ob Weh- sei. Weil er Angst habe, das Image zu ver- lusionen. Wenn Thomas Gottschalk eine ner für die Marktwirtschaft war oder da- lieren. Weil er keine Lust habe, seine Pla- Frisur hätte wie , sänke die gegen. Wehner war jedenfalls dafür, dass kate durch Parteigremien zu wuchten. Und Quote. Müntefering hat seine Busfahrer- die SPD an der Macht blieb, und eines Ta- weil für eine Kampagne frisur und seine kurzen Sätze, Fraktion gut, ges war Willy Brandt nicht mehr Kanzler. der falsche Kandidat sei. Partei gut, Glück auf. Franz Müntefering wurde als Bundes- Franz Müntefering sah einen Moment Er ist der einzige Politiker in Berlin, der politiker bekannt, als ihn Rudolf Scharping auf den Boden und sagte dann: „Kriegen einen Spitznamen hat: „Münte“. Man kann zum Bundesgeschäftsführer machte. Dann wir alles hin.“ Man konnte ihn leicht un- oft hören, dass es Münte immer nur um die wurde Scharping von Lafontaine gestürzt, terschätzen mit seinen grauen Schuhen von Sache geht, so wie das bei Herbert Wehner und Müntefering war für Lafontaine. Spä- Romika. auch war, und wenn man noch einmal dar- ter war er für Lafontaine und Schröder Karpinski entwarf eine Kampagne, die über nachdenkt, fragt man sich, welche Sa- gleichzeitig, für Innovation und Gerech- nur auf Gerhard Schröder zugeschnitten che das eigentlich ist. tigkeit, es ging immer gut. war, aber er sagte es nicht, es war ein stil- Er fährt mit seiner Sache nach Oberhau- Im Dezember 2002 erschien in der ler Entschluss. Man merkte es, oder man sen in Nordrhein-Westfalen, ins Zentrum „Zeit“ ein letzter Beitrag über den Beton- merkte es nicht. „Müntefering hat es sofort sozialdemokratischer Angst. Die SPD eröff- sozi Franz Müntefering. Es war der Mün- gemerkt“, sagt Karpinski. net ihren Kommunalwahlkampf. Auf dem tefering, der dann sagte, Beton sei ein mo-

38 der spiegel 22/2004 Deutschland derner Baustoff. Als Gerhard Schröder ausbaubaren Sozialstaat. Die Facharbeiter, Vielleicht ist sie so, die Seele der SPD. wenig später seine Rede zur Agenda 2010 um die es Münteferings Partei einmal ging, Sie ist schwer zu fassen. Vielleicht hat sie hielt, sagte Müntefering im , dass sind in der Mitte der Gesellschaft ange- sich deshalb jemanden ausgesucht, der so Schröder seine volle Unterstützung habe. kommen. Die SPD-Milieus haben sich auf- ist wie Franz Müntefering. Wenn man ihn fragt, wie es zum Wandel gelöst, es gibt keine Ziele mehr, keine Auf- Es ist nach 23 Uhr, er sitzt in einem ita- seiner Überzeugungen gekommen ist, ant- gaben, die nur Sozialdemokraten lösen lienischen Restaurant, sieben Etagen unter wortet er mit Zahlen. Die Zahlen kamen könnten. Die Agenda 2010 sollte so eine seiner Plattenbauwohnung mit der Num- Anfang 2003, und die Zahlen waren nicht Aufgabe sein, aber sie ist der Partei un- mer 0701. Er hat lange über die SPD gere- gut. Die Zahlen sagten: Mit Deutschland heimlich geblieben. Alles schwimmt. det und dabei drei Bier bestellt. Er hat sie geht es bergab. Also musste man etwas an- Vorhin hat Franz Müntefering erzählt, schnell getrunken und dann aufgehört. Er ders machen, sagt Müntefering. dass er kein Abitur machen konnte, weil zu will sich immer unter Kontrolle haben. Ob ihn das gequält hat? Liebt er die SPD? Ja, schon, sagt er. „Liebe wäre zu viel. Es ist Manchmal spricht Franz hohe Sympathie, würde ich sa- Müntefering von der „Einsicht gen.“ in die Notwendigkeit“, was er Das Gespräch geht dann um bei Friedrich Engels über die die katholische Kirche. Er war ja Freiheit gelesen hat. Aber Mün- mal Messdiener, sagt er, Ober- tefering meint damit, dass man messdiener. Seinen Vater hat er manchmal keine Wahl hat. Jetzt nie mit einem Buch gesehen, knetet er eben Ferdinand Las- nur mit dem Gesangbuch. salle und das Arbeitslosengeld Neben dem Tisch bedient ein II ineinander. junger Mann einen schwarzen Der letzte SPD-Chef, den Steinway-Flügel. Er hat gerade man mit Müntefering verglei- „Buona sera signorina“ gespielt, chen kann, ist 1963 gestorben. jetzt spielt er „Fest soll mein war als Sohn Taufbund immer stehn“. Es ist eines Maurers zur Welt gekom- die Hymne aller Obermessdie- men, Münteferings Vater arbei- ner. tete als Knecht bei einem Bau- Franz Müntefering erkennt ern. Ollenhauer hat die SPD-In- sie nicht. Es ist so lange her. Er stanzen von klein nach groß ist jetzt ganz woanders. durchlaufen, so wie Müntefering Vertrauen sie sich, Schröder auch. Ollenhauer kümmerte sich und er? um die Organisation der Partei, „Das Vertrauensverhältnis ist sie war sich selbst genug. Mit gewachsen“, sagt er. Vorsitzenden wie Brandt, La- Es ist alles noch am Anfang, fontaine und Schröder hat die und bisher ist es gut gegangen. SPD nach fremden Milieus ge- Schröder widerspricht ihm griffen, es reichte fünfmal für nicht. Müntefering hat Plakate über 40 Prozent. Jetzt liegt sie von Schröder vor seinem Büro bei 27 Prozent und kommt nicht hängen. Es sind Plakate von vom Fleck. Franz Müntefering Schröder, der Wahlen gewonnen ist ein Vorsitzender für das, was hat. Das muss nichts heißen, von der SPD übrig geblieben ist. vermutlich hingen auch schon

Er verlässt das Freizeitforum PRESS / ACTION FOCKE STRANGMANN Plakate von Rudolf Scharping Marzahn in seinem Dienstwa- Sozialdemokrat Müntefering und Oskar Lafontaine vor Mün- gen, und die, die ihm zugehört teferings Büro. haben, gehen hinaus ins Foyer. „Meine Loyalität gehört der Partei, weil ich Langsam lässt Franz Münte- Es fällt auf, dass die meisten un- fering Zigarillodampf aus dem gefähr so alt sind wie Müntefe- schon will, dass die Geschichte der Mundwinkel entweichen. Er ring. Er ist 64. Er ist so alt wie SPD nicht zu Ende ist, dass sie weitergeht.“ sagt: „Meine Loyalität gehört zwei Drittel aller SPD-Mitglie- der Partei, weil ich schon will, der. Sie sind so angezogen wie Müntefe- Hause das Geld fehlte, dass er mit 14 von dass die Geschichte der SPD nicht zu Ende ring, sie tragen Kombinatio- der Schule ging und 20 Jahre bei derselben ist, dass sie weitergeht.“ Er ist loyal zu nen, die man im Kaufhof bekommt. Sie Firma war. „Man muss sich anstrengen“, Schröder, solange Schröder der SPD nutzt. haben Gesichter, die sagen: Ich bin seit 40 sagte er. Er hat sich immer angestrengt. Er In ein Buch, das Gerhard Schröder zum Jahren in der SPD, ich bin seit 40 Jahren würde nie jemandem einen Cent Sozial- 60. Geburtstag geschenkt bekam, schrieb in der Gewerkschaft, ich bin seit 40 Jahren hilfe zahlen, der sich nicht anstrengt. Müntefering den Satz: „Ich helfe dir, so in der DAK. Und jetzt sind es erschöpfte Als Müntefering weg ist, sitzen ein paar gut ich kann.“ Gesichter. Männer draußen vor dem Saal an weißen Auf dem Boden steht ein Pilotenkoffer, Sie sehen nicht aus wie Arbeiter, sie se- Plastiktischen und trinken Pils. „Ich trinke den er immer bei sich trägt. Er zieht eine hen aus wie Angestellte. Kaufhof-Kombi- Pils, weil beim Wein der Schaum oben- Zeitschrift heraus und schiebt sie über den nationen-Angestellte glauben nicht an die drauf fehlt“, hat Müntefering eben noch Tisch. Es ist die neue Ausgabe des Satire- befreiende Kraft ihrer Klasse. Seit ihre Par- gesagt. Es ist ein Satz, mit dem man nach magazins „Eulenspiegel“. Auf dem Titel- tei an der Regierung ist, wird es immer Hause gehen kann. bild sieht man Franz Müntefering als Ché schwerer, überhaupt an etwas zu glauben, „Man darf nicht davonlaufen“, sagt ei- Guevara. Darunter steht: „Auf zum letzten an standfesten Pazifismus, an Umvertei- ner. Er redet leise, man hört das Rumpeln Gefecht.“ lung von oben nach unten, an einen ewig von Bowlingkugeln. „Gefällt mir“, sagt er. ™

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