Kultur

Objekttyp: Group

Zeitschrift: Schweizer Monatshefte : Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur

Band (Jahr): 83 (2003)

Heft 12-1

PDF erstellt am: 10.10.2021

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Eduard Stäuble, 1924 in St. Gallen geboren, studierte an der Universität Zürich Literaturwissenschaft und Schweizer Volkskunde «Jenes einschneidende Erlebnis» und promovierte mit einer Dissertation über Pirmin Meiers neues Buch «Der Fall Federer» Albrecht von Haller. Er ist für Zeitungen, das Radio und das Fernsehen Heinrich Federer wurde 1902 wegen Verdachts auf publizistisch tätig. homosexuellen Umgang mit einem zwölfjährigen Jungen Von 1965 bis 1986 war er Leiter der Abteilung angeklagt, aber nicht verurteilt. Pirmin Meier hat «jenes Kultur beim Schweizer einschneidende Erlebnis» zum Thema seines neuen Fernsehen. Buches gewählt. ' Der Stein, den die Bauleute nach dem damals vorherrschenden Zeitgeist verworfen haben, wird bei Pirmin Meier zum Eckstein in Federers Werk.

Lrharles Linsmayer hat 1994 derstrebend auf «jenes einschneidende ein «Schweizer Lesebuch» herausgegeben, Erlebnis» ein: «Wir stehen vor der dunkelsten das auch den Prosatext «Wo schlafen?» von Seite in Federers Lebensbuch. Den Freund Heinrich Federer enthält. In einer Anmerkung des lieben Menschen schmerzt es tief, davon dazu weist Linsmayer darauf hin, sprechen zu müssen. Im Jahre 1902 wurde dass dieser Text «jenes einschneidende Federer in einen sehr peinlichen Prozess Erlebnis in der Biographie des katholischen verwickelt. Man zog ihn wegen seines Verhaltens Geistlichen und künftigen Schriftstellers» einem Jungen gegenüber vor Gericht, spiegle, als er 1902 unter der (bald wieder setzte ihn aber, aus Mangel an Beweisen fallengelassenen) Anklage des homosexuellen wirklicher Schuld, wieder auffreien Fuss. Umgangs mit einem Jugendlichen in Heinrich litt unsäglich und schreitet gebrochen einem Obwaldner Hotel verhaftet worden aus der Untersuchung heraus in eine war. 1931 schrieb der Berner Dramatiker Welt, die sich für ihn mit einem Schlage Arnold H. Schwengeler eine Dissertation ganz verändert hatte.» über «Heinrich Federer im Spiegel seines journalistischen Schaffens», worin er auch Verdrängtes ans Licht gehoben «jenes einschneidende Erlebnis» erwähnte: «Ein furchtbarer Schlag von aussen stürzte Diese Beispiele zeigen, wie lange man Federer vom Redaktionssessel» (der «Zürcher bestrebt war, «jenes einschneidende Erlebnis» Nachrichten»), «eineKatastrophe, unerwartet von 1902 aus Heinrich Federers Biographie und vernichtend Die Anklage lautete zu verdrängen oder es nur verschämt aufunsittliche Vergehen gegenüber am Rande zu erwähnen. Man war bemüht, Kindern. Federer war homosexuell. Ob er aber der peinlichen Episode keine entscheidende die Schuld der Tat aufsich lud, ist fraglich. Bedeutung für das literarische Schaffen Die Aussagen der Zeugen, die gegen ihn Federers beizumessen. Sie blieb im auftraten, sind zweifelhaft. Federer selbst leugnete Halbdunkel. alles ab Und man wird nie sicher Nun hat Pirmin Meier jenes Erlebnis wissen, wo die Wahrheit liegt.» — Wegen zum Thema eines Buches gemacht. Dabei Androhung einer gerichtlichen Verfügung bewährt sich Meiers historiographische mussten diese Stellen aus der Originalfassung Erzählweise aufs beste. Mit kriminalistischer getilgt werden. Die «bereinigte», Akribie, Verbissenheit und verstümmelte Fassung von Schwengelers Unbestechlichkeit geht er der Geschichte nach, Buch erschien 1932 im Verlag Paul Haupt. recherchiert gründlich und schafft bisher Noch 1960 P. Frick in und unbekanntes Material 1 Pirmin Meier, Der Fall geht Sigisbert vernachlässigtes Fédérer, Ammann Verlag, seinem Buch «Heinrich Federer — Leben und zutage. Federers schriftstellerisches Zürich 2002. Dichtung» nur andeutungsweise und wi¬ Werk ist heute so gut wie vergessen. Ist

40 SCHWEIZER MONATSHEFTE 82783. JAHR HEFT 12/1 KULTUR DER FALL FEDERER also Meiers Unternehmen überhaupt gen morgen balgen sich die beiden in notwendig, ist eine genaue Kenntnis des «Falles harmlosen Kinderspielen. Federer war naiv Federer» noch von Belang? Immerhin Eduard Korrodi, und unvorsichtig genug, sie mitzumachen. nannte Eduard Korrodi, der Feuilletonchef Zimmernachbarn vermuteten dahinter der «Neuen Zürcher Zeitung», Federer der sexuelle Handlungen und verklagten Federer anlässlich seines 50. Geburtstages 1916 «den Feuilletonchef bei der Hoteldirektion. katholischen Kontrapunkt zu ». Wenige Tage nach diesen Vorfällen der «NZZ», Ein starkes Lob, das uns anhalten schrieb Federer an eine Frau Dr. X: «Ich sollte, dieses Werk erneut auf seine Wert- nannte Federer habe viele Fehler und Mängel, aber in dieser haltigkeit und Beständigkeit zu prüfen. «den katholischen Angelegenheit weiss ich mich frei von dem Pirmin Meiers Federer-Buch hat angeschuldigten Makel und soviel das Kontrapunkt» verständnisvolle und verständnislose Rezensenten Gerücht an Unwahrheiten dazu gestreut hat, gefunden. Die verständnislosen setzen zu Gottfried in diesem Punkte bin ich unschuldig sich dem Verdacht Federers Werke Wie ein Kind hatte ich mich bei diesem Jungen, aus, Keller. nur ungenügend zu kennen, ihren Sigmund der mir familiär wie ein jüngster Bruder Freud nicht gründlich genug gelesen und ist, benommen, unendlich unklug, aber offenbar noch nie etwas von Triebsubli- auch unendlich harmlos. » mierung als einem starken Motiv künstlerischen Aufgrund zweifelhafter Zeugenaussagen Schaffens gehört zu haben. Denn wurde Federer am 2. August auf der um einen solchen exemplarischen Fall Talstation Stanserhorn festgenommen. Bis handelt es sich hier. Dieses Exemplarische zum 24. August bleibt er in Untersuchungshaft allein würde Pirmin Meiers Buch rechtfertigen. im Rathaus Samen. Es kommt zu erniedrigenden Verhören und peinvollen Heinrich Federer, 1866 in Brienz geboren, Prozessverhandlungen, an deren Ende besuchte die Gymnasien von Samen Federer «wegen unsittlicher Handlungen» zu und Schwyz, studierte Theologie in Eich- einem Monat Gefängnis und zu 500 Franken stätt, Luzern und Freiburg, wurde nach Busse verurteilt wird. Die Gefängnistage der Priesterweihe Kaplan im sanktgalli- gelten durch die Untersuchungshaft schen Jonschwil und wirkte von 1899 bis als getilgt. Am 15. Januar 1903 entlastet 1902 als Redaktor der «Zürcher Nachrichten». das Nidwaldner Obergericht Federer. Es Sigisbert Frick, der mit Federer blieb nur noch der Tatbestand des befreundet war und ihn intimer kannte, «Öffentlichen Ärgernisses»; die Busse wurde auf bezweifelt, ob Federer bei der Redaktionsarbeit 300 Franken reduziert. je glücklich war. Er habe jedenfalls Aber das Unheil war passiert. Federer erwogen, sie aufzugeben. Aber er konnte litt unsäglich unter dieser Affäre. Er kam sich nie dazu entschliessen, weil er befürchtete, sich geächtet und verachtet vor, zumal sich dass ihm das Leben eines freien die «Neue Zürcher Zeitung» genüsslich Schriftstellers, das ihm als Ideal auf den Fall stürzte und schon am 4. vorschwebte, wohl unüberwindliche August vom «neuesten Fall cölibatärer Schwierigkeiten bringen würde. Das Schicksal Verirrungen» berichtete. Es gebe Indizien, «dass nahm Federer diesen Lebensentscheid ab. Knaben aus katholischen und protestantischen Heinrich Federer machte am 1. August Familien diesem Wolfe im Schafspelz 1902 mit Emil Brunner, dem zwölfjährigen Federer, der zum Opfer gefallen sind». Eine klassische Sohn einer Zürcher Architektenfamilie, homosexuell und Vorverurteilung, mit der eine Pressehetze den er als Privatlehrer und Erzieher Federer losgetreten wurde, die nicht pädophil gegen betreute, eine Fahrt aufs Stanserhorn. Dort wieder gutzumachen war. Auch die ganze quartierten sie sich für die Nacht in einem veranlagte katholische Presse liess Federer fallen. Doppelzimmer ein. Emil wollte mit Federer Priester, in einem Bett schlafen. Federer sträubte Geburt eines Schriftstellers sich. Emil, ein intelligenter, aber erlebte unbeherrschter und aggressiver Knabe, setzte eine Stunde der Für Federer folgten acht schwerste Lebensjahre. seinen Willen durch. Federer, der homosexuell Er das Priesteramt und die schwersten gab und pädophil veranlagte Priester, Redaktorentätigkeit auf und war auf das erlebte eine Stunde der schwersten Versuchung. Wohlwollen grossmütiger Familien und Versuchung. Er widersteht ihr in einem Freunde angewiesen. Der Text «Wo schlafen?» leidenschaftlichen Kampf gegen sich selbst. Ge- ist ein erschütterndes Zeugnis aus je-

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ner Zeit der verlorenen Ehre, Verfemung gen. Es erschienen die Romane «Pilatus» und Vereinsamung. In diesen Jahren der (1912), «Das Mätteliseppi» (1916), die Verzweiflung brach der Schriftsteller in Wir erleben Erzählung «Sisto e Sesto» (1917), «Umbrische Federer durch. Wir erleben den klassischen Reisegeschichten» (1917), «Der Fürchtemacher» den Prozess einer Triebsublimierung, bei klassischen (1919), «Papst und Kaiser im der sich sexuelle Impulse in geistige Tätigkeiten Prozess einer Dorf» (1924) und viele andere. Nach und kulturell orientierte Verhaltensweisen Federers Tod (1928) folgte eine Ausgabe seiner Triebsublimierung, umwandeln. Die Sexualität erfährt Werke in 12 Bänden. Er war ein in künstlerischen, sozialen und geistigen bei der bedeutender Erzähler des deutschsprachigen Aktivitäten eine Erhöhung, Verfeinerung sich sexuelle Realismus und ein Erfolgsautor jener Zeit. und Veredlung. Wie ein Besessener stürzt Die Gesamtauflage seiner Werke ging bald sich Federer in die SchriftsteUerei. Impulse in die Hunderttausende. 1919 ehrte ihn In kürzester Zeit wirft er einen in geistige die Philosophische Fakultät der Universität Napoleon-Roman aufs der aber nie Bern mit dem Titel eines Ehrendoktors, Papier, Tätigkeiten erschienen ist. Unter dem Titel «Wessen 1924 wurde er mit dem Gottfried Sohn?» setzt er zu einem kolportagehaften und kulturell Keller-Preis und 1926 mit einer Ehrengabe Schlüsselroman an, in dessen Mittelpunkt orientierte der Schillerstiftung ausgezeichnet. Am ein hochbegabter Junge namens Emil von 29. April 1928 starb Heinrich Federer. Er Verhaltensweisen Brun stand; die Endfassung bricht aber wurde unter Anteilnahme einer grossen mitten im Satz mit dem Namen Emil ab umwandeln. Trauergemeinde auf dem Friedhof Rehalp Federer unternimmt Reisen, hauptsächlich in Zürich beigesetzt. nach Italien, das ihm zu einer geliebten Federer gilt als gemütvoller, liebenswürdiger zweiten Heimat wurde und wo sich und humorvoller Erzähler, der viele seiner späteren Erzählungen abspielen. lebenswahre Menschen und anrührende Er begann novellenartige Geschichten Schicksale schildert, ein heimatseliger, zu schreiben, darunter «Vater und Sohn im naturverbundener und naiv gläubiger Fabulierer. Examen» (1903/04), «Der gestohlene König Der Schein trügt. Die seelische von Belgien», «Unser Nachtwächter Verwundung durch «jenes einschneidende Prometheus». Sie werden später in die Erlebnis» hat Federer nie überwunden. Sein Sammlung «Lachweiler Geschichten» auf manchen Seiten heiter und sonnig eingehen. erscheinendes Werk ist einem tiefen Schmerz Aber vorderhand bleibt das Geschriebene abgerungen. Das wird uns durch Meiers in der Schublade. Nur Weniges wird Psychogramm bewusst und nachvollziehbar. unter Pseudonym veröffentlicht. Er Man wird nach seiner Untersuchung verdiente nur wenig, oft nicht genug für die das Werk Federers neu lesen müssen. Wohnungsmiete. Federer litt auch unter Nachdem Meier den lebenslangen Kampf Asthma und kämpfte zeitweise um sein des Dichters mit dem Dämon aufgedeckt Leben. Aber er schrieb und schrieb... hat, erkennen wir, wie sehr sich jene tragische Erfahrung oft in Federers Erzählungen Federer neu lesen und Romane hineingedrängt hat. Vieles in diesem Werk werden wir erst heute Dann, 1909, machten ihn Bekannte auf richtig verstehen. So fällt auf, welch breiten einen Novellenwettbewerb der Berliner Raum die Kinder in Federers Werk Zeitschrift «Daheim» aufmerksam. Federer einnehmen. Seine Neigung zu ihnen sehen reichte seine frühe Erzählung «Vater wir heute klarer unter dem Aspekt eines und Sohn im Examen» ein und gewann pädagogischen Eros, dem der Dichter den ersten Preis, fünftausend Reichsmark. zuneigte (Federer kannte seinen Piaton). In der Jury sass der schon damals vielgelesene Meiers Buch stellt die Federer-Interpretation . Die Auszeichnung auf eine neue Grundlage. Umso verhalf Federer schlagartig zu Berühmtheit. bedauerlicher, dass Federers Werke heute Der bedeutende Verlag Grote in kaum mehr greifbar sind, und umso bot ihm einen Vertrag an, und Federer wünschenswerter wäre es, wenn ein repräsentativer holte seinen Roman «Berge und Band ausgewählter Werke ein Wiederlesen Menschen» hervor, der ein grosser Erfolg wurde. Federers ermöglichte. Es gälte, einen Zwei Jahre später folgten die «Lachweiler bedeutenden Schweizer Dichter neu zu Geschichten». Der Durchbruch war gelun- entdecken.

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Widerstand gegen den Trend Rainer Moritz, geboren 1958, studierte Friedrich Christian Delius wird sechzig Germanistik, Philosophie und Romanistik. Promotion. Seit 1998 Wer in den Geschichten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Leiter des Hoffmann und nachschlägt, stösst mit Sicherheit seinen Namen. Der im Hessischen Campe Verlags, auf Hamburg. Essayist und Kritiker, aufgewachsene undjetzt in Berlin lebende Friedrich Christian Delius u.a. für die »Neue istfest gebucht, wenn Germanisten für die dokumentarisch-politisch Zürcher Zeitung« und der und nach einer •Der Tagesspiegel». geprägte Zeit Sechziger- Siebzigerjahre Zahlreiche Buchpublikationen Bezugsgrösse suchen. u.a. Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die Delius das deutschsprachige - ist dann, wie dersetzungen gibt. Delius argumentiert Gegenwartsliteratur etwa in Wilfried Barners umfänglicher bedächtig, fast spröde und nur gelegentlich (herausgegeben mit Andrea «Geschichte der deutschen Literatur von mit galligem Spott in der Stimme. Köhler, Leipzig 1998); 1945 bis zur Gegenwart», ein Autor unter «Theorie war meine Sache nie», bekennt er Das Buch zum Buch. Ein anderen, einer, dessen Bücher in der Regel lapidar, und auch seine akademischen ABC der Leselust, München 2002. keiner Einzelanalyse unterzogen werden. Anfänge richteten sich nicht vorrangig auf Delius ist offenkundig in den Augen vieler literaturtheoretische Querelen. Seine 1971 ein ewig junger Schriftsteller geblieben, in Buchform erschienene Dissertation «Der dessen Renommée sich zuerst aus Jugendwerken Held und sein Wetter» trägt den nicht nur über «Unsere Siemens-Welt» oder zeittypischen Untertitel «Ein Kunstmittel den Kaufhauschef Helmut Horten speist. und sein ideologischer Gebrauch im Die Prozesse darüber liessen Delius in die Roman des bürgerlichen Realismus» und zielt Justizgeschichte der Literatur einziehen — wie etliche seiner erzählerischen und und prägten das Etikett des unentwegt lyrischen Arbeiten — darauf, untergründige politisch agierenden Autors, der nicht altern Machtsysteme in Gesellschaft und darf. Zu Delius' sechzigstem Geburtstag Kunst aufzuzeigen. legt der Rowohlt Verlag eine Art Rückschau Dass Delius gelernter Literaturwissenschaftler vor, eine Blütenlese aus Essays der ist, zeigt sich auch in seiner Jahre 1967 bis 2002. » Was meist für den Geburtstagssammlung. Die eindringlichsten Tagesgebrauch geschrieben war, liegt nun Texte gelten Kollegen wie , als gekürzte Sammlung von Exzerpten vor, Heiner Müller oder Nicolas Born. die in alphabetischer Ordnung von Wenn er Letzteren als Autor «zwischen der «Achtundsechzig» bis «Zweifel» Einblick in priesterlichen und der bieder politischen Delius' Denken geben. Prosa» ansiedelt, so meint man, eine Natürlich haftet dieser — auch zu dezente Selbstbeschreibung herauszuhören. Wiederholungen neigenden — Zusammenstellung Mit Weihetönen, wie sie die fast Willkürliches an, und nicht bei allen gleichaltrigen oder Texten bestand unbedingt die Notwendigkeit, anschlugen, weiss Delius wenig anzufangen; sie nach vielen Jahren zu reanimieren. gleichzeitig wollte er nie als einseitiger Doch wer anfängt, sich in diesem Büchlein Agitprop-Repräsentant verstanden werden festzulesen, stösst allenthalben auf kluge — auch nicht in seiner Trilogie «Deutscher Bemerkungen und vorausschauende Herbst» (1981-1992), die sich aus Einschätzungen, die Delius einerseits als den Zeitromanen «Ein Held der inneren streitbaren und, wenn man will, «linken» Sicherheit», «Mogadischu Fensterplatz» und Zeitbeobachter kennzeichnen und ihn «Himmelfahrt eines Staatsfeindes» andererseits als behutsam reflektierenden zusammensetzt und die zu den nicht sehr 1 Friedrich Christian Kommentator der politischen Entwicklungen zahlreichen epischen Auseinandersetzungen Warum ich Delius, ausweisen. Es ist gewissermassen mit den grossen Themen der immer schon Recht hatte - das Dilemma des Essayisten Delius, dass er bundesrepublikanischen Geschichte gehören. und andere Irrtümer. Ein lautstark Delius' den öffentlichen Leitfaden für deutsches nicht zum polemisierenden Einmischungen in Denken. Rowohlt-Berlin Meinungsführer taugt, der wie manche seiner Diskurs sind von Leitmotiven Verlag, Berlin 2002. Kollegen Öl ins Feuer der Tagesauseinan¬ bestimmt, von wiederkehrenden Feind- und

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Freundbildern, die in unterschiedlicher schaft von politisch bewussten Differenziertheit gezeichnet werden. Da «Geistesmenschen», die sich bei allem Meinungsstreit das Sich-Reiben publizistischen als ist einmal am Es ist immer zusammengehörig fühlen, Dominierungswillen der «Frankfurter ist eine der kleinen Utopien, denen Delius Allgemeinen Zeitung», der Delius das Dilemma des anhängt. 1988 eigens ein amüsantes Buch - Essayisten Dahinter verbirgt sich, wie gesagt, nicht «Konservativ in 30 Tagen» — gewidmet hat. Und der Wunsch nach Gedankennormierung, Delius, dass er da ist das Unverständnis gegenüber einer sondern nach vielfältiger Debatte, die mehr Gesellschaft, die sich ihres moralischen nicht zum als blosse Zustimmung oder Ablehnung Fundaments zu entledigen scheint. Delius lautstark hervorruft. Als Dozent an der Universität — «aus der letzten Generation, die noch ohne Paderborn hat Delius dieses Dilemma so polemisierenden Fernsehbilder erzogen worden ist» — sieht in formuliert: «Unsere Gesellschaft, unser den Achtzigerjahren einen Niedergang Meinungsführer Verhalten scheint immer mehr auf den simplen einsetzen, den Dualismus der binären er, ausgesprochen plakativ, taugt. Logik zu schrumpfen: als «Triumph der Shareholder und Verlustmacher Ja-Nein, Gut-Böse, In-Out, On-Off usw. So über die Werte- und fallen Entscheidungen, Wertungen, so wird Verantwortungsträger» geisselt. Delius, der bekennende heute Schicksal gemacht. Ich behaupte, dass es Nicht-Zyniker, argumentiert hier dagegen Opposition gibt, die nach mehr oder holzschnittartig, und man wird daran zweifeln weniger bewussten Ausgleichs- oder dürfen, ob es um die Rolle der «Werteträger» Widerstandsformen sucht gegen den Trend zur in den Fünfziger- und Sechzigerjahren computergestützten Ja-Nein-Mensch-Maschine, grundsätzlich anders bestellt war. die von der beschleunigten Elektronik des Geldes angetrieben wird. Literatur, und Der Schriftsteller und die Gesellschaft daran zweifle ich nicht, gehört im weitesten Sinn zu dieser Opposition und kann ein Schriftsteller sind - wenn sie nicht Günter Widerstandspotenzial gegen den Trend sein»? Grass oder heissen - keine Friedrich Christian Delius ist ein Leitfiguren der öffentlichen Auseinandersetzung Schriftsteller, der mit autobiografischen mehr, was einen wie Friedrich Zeugnissen geizt. Er äussert Meinungen, Christian Delius, der um 1970 selbst zur polemisiert und ironisiert, doch aus dem viel beachteten rebellierenden eigenen Leben mag er nur selten erzählen. Intellektuellengeneration zählte, schmerzen muss. Das sollte man einem Autor in Zeiten Umso eindringlicher klingen deshalb seine allgemeiner Bekenntniswut nicht ankreiden. Klagen darüber, dass ein verbindliches Ziel Manchmal nur scheint es so, als würden der schriftstellerischen Bemühungen nicht seine Texte von ihrer Nüchternheit verlieren, mehr zu existieren scheint: «Gibt es in der wenn sie nur ein wenig mehr aus dem schreibenden Zunft noch das eine gemeinsame seelischen Interieur ihres Verfassers Interesse: die Vielfalt der Argumente, berichteten. Einmal vor allem, 1994, hat sich Differenzen, Geschichten, Debatten fordern zu Delius auf dieses Terrain begeben, als er in helfen, also den Humus unserer Arbeit zu pflegen? seiner grossartigen Erzählung «Der Sonntag, Die Bereitschaft, gerade auch von den an dem ich Weltmeister wurde» über die Meinungen sich anregen zu lassen, die man eigene Kindheit schrieb, über den glücklichen nicht hat? In den oberen Etagen Beissen und Tag des Fussball-WM-Endspiels 1954. Treten, in den unteren kindisches Jammern. Der überraschende 3:2-Sieg der deutschen Merkt noch jemand, was uns verloren geht?» Mannschaft über die Ungarn lieferte der Delius selbst nahm in ganz jungen Jahren Nation die ersehnte Gelegenheit, sich wieder an den letzten Tagungen der Gruppe selbstbewusst zu zeigen, und er war 47 teil und mag vielleicht auch deswegen zugleich ein Befreiungsschlag für das Kind den Zeiten eines differenzierten Friedrich Christian, das den religiösen literarisch-gesellschaftlichen Gesprächs Zwängen des Elternhauses zu entfliehen nachtrauern. Die aktuelle Situation stellt sich 2 Friedrich Christian begann. Delius' Fussball-Geschichte wurde so für ihn als ein Gegen- oder Nebeneinander Delius, Die Zukunft der zu seinem persönlichsten und vielleicht zu Wörter, Paderborner Uni vereinzelter Schreibender dar, die durch seinem gelungensten Buch. Vielleicht, so versitätsreden, kein einigendes Band mehr darf dem 60-Jährigen wünschen, zusammengehalten herausgegeben von Peter man jetzt sind. Der romantisch angehauchte Freese, Paderborn greifen seine kommenden Werke wieder auf Gedanke einer diskussionsseligen Gemein- 1995, S. 22. diesen Fundus zurück.

44 SCHWEIZER MONATSHEFTE 82783. JAHR HEFT 12/1 KULTUR Grosser Künstler Kerl Klaus Hübner, - schlechter geboren 1953 in Landshut, Hiltrud Häntzschel weiss alles über Brechts Frauen Dr. phil., lebt als Publizist und Redakteur der Zeitschrift 'Fach- dienst Germanistik» Uzs Thema ist nicht neu. könnt ihr nicht bauen.» So lauten die in München. Paula Banholzer, Marianne Zoff, Marieluise bekannten Verse «Vom armen B.B», und sie Fleisser, Helene Weigel, Elisabeth scheinen bei allem, worüber sie schweigen, Hauptmann, Margarete Steffin und Ruth etwas Zutreffendes mitzuteilen. Unter Berlau — das sind die sieben Frauen anderem, dass dieser Brecht offenbar oft um , denen die Münchner «sorglos» war, grenzenlos naiv und Germanistin Hiltrud Häntzschel ihr Buch1 selbstherrlich in seiner Hoffnung, all die Frauen widmet. Nicht besonders aufregend? Doch! würden ihn und einander schon irgendwie Die Lektüre dieser mit einem instruktiven verstehen. Das Muster, das sich seit seiner Anhang versehenen und auch äusserlich Augsburger Jugendliebe zu Paula Banholzer angenehm aufgemachten Studie ist durchaus professionalisiert und verfeinert, nicht aufregend, nicht zuletzt deshalb, weil aber geändert hat, umreisst Häntzschel so: Häntzschel gegen einen bis kurz vor «Immer im richtigen Augenblick trifft er den Schluss des Buches ungenannt bleibenden passenden, ihm nützlichen Menschen, kann Gegner anschreibt. Er heisst John Fuegi. ihn an sich ziehen und meist auch halten, Vor ein paar Jahren machte dieser Germanist versteht es, ihn in seine Arbeit einzubinden zuerst in den USA und dann in den und neue, bislang ungenutzte Fähigkeiten in deutschsprachigen Ländern Furore. Sein ihm zu wecken, und — weil es meistens «Brecht & Co.» wäre wohl kaum über die Frauen sind — Begehren zu entfachen, Lust üblichen Germanistenkreise hinaus beachtet zu schenken, für eine Zeit lang, bis die nächste worden, wenn Fuegi dort nicht den Frau auftaucht. Dann bleibt ihm eine grossen B.B. als üblen Verächter und kundige und engagierte Mitarbeiterin, auf halbkriminellen Ausbeuter so ziemlich aller deren Zuarbeit er angewiesen ist, sie macht Frauen aus seinem Umkreis biossgestellt sich damit auch finanziell von ihm abhängig hätte. In seinem «als wissenschaftlich und ist darauf angewiesen, dass gelegentlich aufgemachten 1086Seiten starken Kolossaltribunal» ein bisschen Liebe für sie abfällt. » Das gilt habe Fuegi das Frauen-um-Brecht-Thema noch nicht für Paula Banholzer und nur «auf das Niveau der Regenbogenpresse bedingt für Marianne Zoff, sicher aber für heruntergeschrieben», stellt Häntzschel fest. Elisabeth Hauptmann, der Häntzschel zu Dort aber gehört es nicht hin. Denn die Recht grössten Respekt entgegenbringt, für Frauen haben erheblichen Anteil an der Margarete Steffin und für Ruth Berlau. Es grossen Weltliteratur des kleinen Brecht. gilt auch für Helene Weigel, während Marieluise Und diese Frauen waren keineswegs nur Fleisser, auf die Hiltrud Häntzschel Ausgebeutete, nach Liebe lechzend und nicht sonderlich gut zu sprechen ist, als abhängig vom Wohlwollen des Meisters. Sonderfall gelten muss. «Wenn eine Frau, Häntzschels Buch, das ganz unterschiedlichen die Brecht begehrte, von ihm nicht ausgebeutet Persönlichkeiten gerecht zu werden und nicht hintergangen wurde, dann war sucht, führt uns die Eigenständigkeit der es Marieluise Fleisser», so das Fazit des Fleis- Brecht-Frauen mit Bravour und stupender ser-Porträts in einem Buch, dessen feministisches Sachkenntnis vor Augen, ohne ihre bisweilen Engagement angenehm unangestrengt ungeheuerlichen, niemand anderem als aus enormer Belesenheit und Brecht anzulastenden physischen und philologischer Seriosität erwächst. Die Literatur psychischen Leiden zu verschweigen oder zu selbst und bisweilen auch die Philologie

verkleinern. werden geschickt in die schlüssig argumentierenden «In meine leeren Schaukelstühle vormittags und flüssig zu lesenden Porträts Setze ich mir mitunter ein einbezogen. Und das hebt das nicht neue, 1 Hiltrud Häntzschel, I paar das Brechts Frauen, Frauen I Und ich betrachte sie sorglos und aber erneut spannende Thema auf ihm Rowohlt, Reinbek 2002. sage ihnen: I In mir habt ihr einen, auf den angemessene Niveau.

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