
Kultur Objekttyp: Group Zeitschrift: Schweizer Monatshefte : Zeitschrift für Politik, Wirtschaft, Kultur Band (Jahr): 83 (2003) Heft 12-1 PDF erstellt am: 10.10.2021 Nutzungsbedingungen Die ETH-Bibliothek ist Anbieterin der digitalisierten Zeitschriften. Sie besitzt keine Urheberrechte an den Inhalten der Zeitschriften. Die Rechte liegen in der Regel bei den Herausgebern. Die auf der Plattform e-periodica veröffentlichten Dokumente stehen für nicht-kommerzielle Zwecke in Lehre und Forschung sowie für die private Nutzung frei zur Verfügung. Einzelne Dateien oder Ausdrucke aus diesem Angebot können zusammen mit diesen Nutzungsbedingungen und den korrekten Herkunftsbezeichnungen weitergegeben werden. Das Veröffentlichen von Bildern in Print- und Online-Publikationen ist nur mit vorheriger Genehmigung der Rechteinhaber erlaubt. Die systematische Speicherung von Teilen des elektronischen Angebots auf anderen Servern bedarf ebenfalls des schriftlichen Einverständnisses der Rechteinhaber. 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Pirmin Meier hat «jenes Kultur beim Schweizer einschneidende Erlebnis» zum Thema seines neuen Fernsehen. Buches gewählt. ' Der Stein, den die Bauleute nach dem damals vorherrschenden Zeitgeist verworfen haben, wird bei Pirmin Meier zum Eckstein in Federers Werk. Lrharles Linsmayer hat 1994 derstrebend auf «jenes einschneidende ein «Schweizer Lesebuch» herausgegeben, Erlebnis» ein: «Wir stehen vor der dunkelsten das auch den Prosatext «Wo schlafen?» von Seite in Federers Lebensbuch. Den Freund Heinrich Federer enthält. In einer Anmerkung des lieben Menschen schmerzt es tief, davon dazu weist Linsmayer darauf hin, sprechen zu müssen. Im Jahre 1902 wurde dass dieser Text «jenes einschneidende Federer in einen sehr peinlichen Prozess Erlebnis in der Biographie des katholischen verwickelt. Man zog ihn wegen seines Verhaltens Geistlichen und künftigen Schriftstellers» einem Jungen gegenüber vor Gericht, spiegle, als er 1902 unter der (bald wieder setzte ihn aber, aus Mangel an Beweisen fallengelassenen) Anklage des homosexuellen wirklicher Schuld, wieder auffreien Fuss. Umgangs mit einem Jugendlichen in Heinrich litt unsäglich und schreitet gebrochen einem Obwaldner Hotel verhaftet worden aus der Untersuchung heraus in eine war. 1931 schrieb der Berner Dramatiker Welt, die sich für ihn mit einem Schlage Arnold H. Schwengeler eine Dissertation ganz verändert hatte.» über «Heinrich Federer im Spiegel seines journalistischen Schaffens», worin er auch Verdrängtes ans Licht gehoben «jenes einschneidende Erlebnis» erwähnte: «Ein furchtbarer Schlag von aussen stürzte Diese Beispiele zeigen, wie lange man Federer vom Redaktionssessel» (der «Zürcher bestrebt war, «jenes einschneidende Erlebnis» Nachrichten»), «eineKatastrophe, unerwartet von 1902 aus Heinrich Federers Biographie und vernichtend Die Anklage lautete zu verdrängen oder es nur verschämt aufunsittliche Vergehen gegenüber am Rande zu erwähnen. Man war bemüht, Kindern. Federer war homosexuell. Ob er aber der peinlichen Episode keine entscheidende die Schuld der Tat aufsich lud, ist fraglich. Bedeutung für das literarische Schaffen Die Aussagen der Zeugen, die gegen ihn Federers beizumessen. Sie blieb im auftraten, sind zweifelhaft. Federer selbst leugnete Halbdunkel. alles ab Und man wird nie sicher Nun hat Pirmin Meier jenes Erlebnis wissen, wo die Wahrheit liegt.» — Wegen zum Thema eines Buches gemacht. Dabei Androhung einer gerichtlichen Verfügung bewährt sich Meiers historiographische mussten diese Stellen aus der Originalfassung Erzählweise aufs beste. Mit kriminalistischer getilgt werden. Die «bereinigte», Akribie, Verbissenheit und verstümmelte Fassung von Schwengelers Unbestechlichkeit geht er der Geschichte nach, Buch erschien 1932 im Verlag Paul Haupt. recherchiert gründlich und schafft bisher Noch 1960 P. Frick in und unbekanntes Material 1 Pirmin Meier, Der Fall geht Sigisbert vernachlässigtes Fédérer, Ammann Verlag, seinem Buch «Heinrich Federer — Leben und zutage. Federers schriftstellerisches Zürich 2002. Dichtung» nur andeutungsweise und wi¬ Werk ist heute so gut wie vergessen. Ist 40 SCHWEIZER MONATSHEFTE 82783. JAHR HEFT 12/1 KULTUR DER FALL FEDERER also Meiers Unternehmen überhaupt gen morgen balgen sich die beiden in notwendig, ist eine genaue Kenntnis des «Falles harmlosen Kinderspielen. Federer war naiv Federer» noch von Belang? Immerhin Eduard Korrodi, und unvorsichtig genug, sie mitzumachen. nannte Eduard Korrodi, der Feuilletonchef Zimmernachbarn vermuteten dahinter der «Neuen Zürcher Zeitung», Federer der sexuelle Handlungen und verklagten Federer anlässlich seines 50. Geburtstages 1916 «den Feuilletonchef bei der Hoteldirektion. katholischen Kontrapunkt zu Gottfried Keller». Wenige Tage nach diesen Vorfällen der «NZZ», Ein starkes Lob, das uns anhalten schrieb Federer an eine Frau Dr. X: «Ich sollte, dieses Werk erneut auf seine Wert- nannte Federer habe viele Fehler und Mängel, aber in dieser haltigkeit und Beständigkeit zu prüfen. «den katholischen Angelegenheit weiss ich mich frei von dem Pirmin Meiers Federer-Buch hat angeschuldigten Makel und soviel das Kontrapunkt» verständnisvolle und verständnislose Rezensenten Gerücht an Unwahrheiten dazu gestreut hat, gefunden. Die verständnislosen setzen zu Gottfried in diesem Punkte bin ich unschuldig sich dem Verdacht Federers Werke Wie ein Kind hatte ich mich bei diesem Jungen, aus, Keller. nur ungenügend zu kennen, ihren Sigmund der mir familiär wie ein jüngster Bruder Freud nicht gründlich genug gelesen und ist, benommen, unendlich unklug, aber offenbar noch nie etwas von Triebsubli- auch unendlich harmlos. » mierung als einem starken Motiv künstlerischen Aufgrund zweifelhafter Zeugenaussagen Schaffens gehört zu haben. Denn wurde Federer am 2. August auf der um einen solchen exemplarischen Fall Talstation Stanserhorn festgenommen. Bis handelt es sich hier. Dieses Exemplarische zum 24. August bleibt er in Untersuchungshaft allein würde Pirmin Meiers Buch rechtfertigen. im Rathaus Samen. Es kommt zu erniedrigenden Verhören und peinvollen Heinrich Federer, 1866 in Brienz geboren, Prozessverhandlungen, an deren Ende besuchte die Gymnasien von Samen Federer «wegen unsittlicher Handlungen» zu und Schwyz, studierte Theologie in Eich- einem Monat Gefängnis und zu 500 Franken stätt, Luzern und Freiburg, wurde nach Busse verurteilt wird. Die Gefängnistage der Priesterweihe Kaplan im sanktgalli- gelten durch die Untersuchungshaft schen Jonschwil und wirkte von 1899 bis als getilgt. Am 15. Januar 1903 entlastet 1902 als Redaktor der «Zürcher Nachrichten». das Nidwaldner Obergericht Federer. Es Sigisbert Frick, der mit Federer blieb nur noch der Tatbestand des befreundet war und ihn intimer kannte, «Öffentlichen Ärgernisses»; die Busse wurde auf bezweifelt, ob Federer bei der Redaktionsarbeit 300 Franken reduziert. je glücklich war. Er habe jedenfalls Aber das Unheil war passiert. Federer erwogen, sie aufzugeben. Aber er konnte litt unsäglich unter dieser Affäre. Er kam sich nie dazu entschliessen, weil er befürchtete, sich geächtet und verachtet vor, zumal sich dass ihm das Leben eines freien die «Neue Zürcher Zeitung» genüsslich Schriftstellers, das ihm als Ideal auf den Fall stürzte und schon am 4. vorschwebte, wohl unüberwindliche August vom «neuesten Fall cölibatärer Schwierigkeiten bringen würde. Das Schicksal Verirrungen» berichtete. Es gebe Indizien, «dass nahm Federer diesen Lebensentscheid ab. Knaben aus katholischen und protestantischen Heinrich Federer machte am 1. August Familien diesem Wolfe im Schafspelz 1902 mit Emil Brunner, dem zwölfjährigen Federer, der zum Opfer gefallen sind». Eine klassische Sohn einer Zürcher Architektenfamilie, homosexuell und Vorverurteilung, mit der eine Pressehetze den er als Privatlehrer und Erzieher Federer losgetreten wurde, die nicht pädophil gegen betreute, eine Fahrt aufs Stanserhorn. Dort wieder gutzumachen war. Auch die ganze quartierten sie sich für die Nacht in einem veranlagte katholische Presse liess Federer fallen. Doppelzimmer ein. Emil wollte mit Federer Priester, in einem Bett schlafen. Federer sträubte Geburt eines Schriftstellers sich. Emil, ein intelligenter, aber erlebte unbeherrschter und aggressiver Knabe, setzte eine Stunde der Für Federer folgten acht schwerste Lebensjahre. seinen Willen durch. Federer, der homosexuell Er das Priesteramt und die schwersten gab und pädophil veranlagte Priester, Redaktorentätigkeit auf und war auf das erlebte eine Stunde der schwersten Versuchung. Wohlwollen grossmütiger Familien und Versuchung. Er widersteht ihr in einem Freunde angewiesen. Der Text «Wo schlafen?» leidenschaftlichen
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