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Gertrud Rapp 1 Kornelis Heiko Miskotte: Das Wesen der Jüdischen Religion2

Bereits zu Beginn der 1930er-Jahre hat Kor- nelis Heiko Miskotte (1894 –1976), ein Vertreter der niederländisch-reformierten Kirche, seine Dis- sertation verfasst, die nun erstmals von Heinrich Braunschweiger ins Deutsche übersetzt wurde. Der Verfasser will mit seiner Untersuchung die Entdeckung des Judentums als zentrales Thema für die christliche Theologie ausführlich darstellen. in Judentum und Christentum p Die Diskussion über die Frage war im Jahre 1904 durch die Veröffentlichung Adolf von Harnacks Schrift über Das Wesen des Christentums ausge- löst worden. Bereits ein Jahr später hatte der re- formjüdische Rabbiner Leo Baeck (1873 –1956)

Persönlichkeiten mit seiner Untersuchung über Das Wesen des Ju- dentums geantwortet. Baeck deutet das Judentum in der Kontinuität der Epochen. Dabei wird das Gebot, die ethische Forderung, zum Ausdruck des Religiösen. Es ist wichtiger als jedes Zeremo- war Miskotte mit seiner seit 1932 vorliegenden nialgesetz. Baeck vertritt ein religionsphilosophi- Arbeit ein weiterer christlicher Theologe, der mit sches Geschichtsverständnis, das eine positive einer konstruktiven Darstellung des Judentums Würdigung des Christentums nahelegt. Zu einem reagierte. Zeitpunkt, als christliche Theologen jüdische Ent- Ist dieses Werk Miskottes, mit dem er 1932 würfe überhaupt nicht zur Kenntnis nahmen, lag zum Doktor der Theologie promoviert wurde, der Untersuchung Leo Baecks eine optimistische heute nur noch von historischem Interesse? Sicht auf das Christentum zugrunde. Die Rezensentin wird im Verlauf dieser Be- So schreibt er am Ende seiner Untersuchung: sprechung zeigen, dass dieses Werk der Mühe »Wir gestehen allen anderen Bekenntnissen ihre lohnt, auch heute noch gelesen zu werden. Reichtümer zu, vor allem denen auch, die aus un- Dem Werk Miskottes ist die Offenheit für das serer Mitte und aus unserem Geiste hervorgegan- aktuelle Geschehen der Zeit und für das Fremde gen sind« (S. 311/312). anzumerken sowie seine enorme Belesenheit. Er Während Leo Baeck von jüdischer Seite gleiche registriert die gesellschaftlichen Entwicklungen Bedeutung beigemessen wurde und wird wie und Verwerfungen seiner Tage. Früh sah er im und , findet man Hitlerismus eine Gefahr für den Weltfrieden. Als seine Erwähnung oder gar eine Auseinanderset- eigentliche Ursache des Antisemitismus diagnos- zung mit seinem Werk im Jahre 1929 nur bei dem tizierte er 1939 einen grenzenlosen, viel zu lange katholischen Theologen Erich Przywara. 3 Danach verschwiegenen Hass gegen den Gott der Torah.

ZfBeg 1/2|2020 1 Dr. Gertrud Rapp ist Oberrechtsdirektorin und Beauftragte 3 Przywara, Erich (1929): Judentum und Christentum, in: für den jüdisch-christlichen Dialog in der Erzdiözese Freiburg. ders.: Ringen der Gegenwart. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2, 2 Miskotte, Kornelis Heiko (1932): Das Wesen der Jüdischen Augsburg, S. 624–661. Religion, in: Braunschweiger, Heinrich (Hg.) (2017): Tübinger Judaistische Studien, Bd. 3, 526 Seiten, ISBN 978-3-643-13715-9 (br.). 113

che, dass das »Wesen« der jüdischen Religion zur Klarheit gebracht werde (S. 39). Miskotte sieht es als großen Gewinn, das Judentum in der Frage nach seinem »Wesen« durch seine Religionsphilo- sophen zu Wort kommen zu lassen (S. 77– 408). Er will sich das Wesen der jüdischen Religion von denen zeigen lassen, die kongenial erachtet wer- den dürfen und zugleich lebendige Zeugen der in Judentum und Christentum historischen Wirklichkeit und des allgemeinen p Geisteslebens in seinen heutigen Wechseln sind (S. 64). So befragt er als Ersten (1884– 1968) auf den Seiten 77– 90, der 1921 ein Be-

kenntnisbuch mit dem Titel Heidentum, Chris- Persönlichkeiten Kornelis Heiko Miskotte, 1925. tentum, Judentum geschrieben hat und der nach Ansicht Miskottes nur ein Problem hat: die Frage nach dem Sinn des Leids. Ist Gott ewig-vollkom- Umso unverständlicher mutet es an, dass 2015 men, dann ist das Leben und Leiden der Men- ein evangelischer Theologe das Alte Testament aus schen sinnlos – damit ist das tiefste Motiv von dem Kanon »eliminieren« möchte. Auch Adolf Brods Dualismus angedeutet. Für ihn lässt sich von Harnack behauptete in seinem Marcion- das Leiden der Welt nur schwer mit dem Glauben Buch, das Alte Testament zum Kanon der Kirche an einen allmächtigen und allgütigen Gott verein- zu rechnen, führe zu deren Lähmung. baren. Eine weitere Frage beschäftigte ihn: »Ist die In der 75 Seiten umfassenden Einleitung legt Seele unsterblich?« Miskotte Wert auf die Feststellung, dass sich das Judentum keineswegs als eine »Vorstufe« des Leo Baecks Hauptwerk Das Wesen des Juden- Christentums zeigt, sondern als eine Religion sui tums ist die vollständigste Beschreibung des We- generis, die als solche keine Erfüllung oder Er- sens der jüdischen Religion. Seine Polaritätslehre gänzung brauche. So müsse der talmudische An- ist die geeignetste Form, das »Wesen« darzustel- spruch der Synagoge auf das Alte Testament mit len (S. 131). Zwischen Geschöpf-sein und Schöp- Nachdruck unterstrichen werden (S. 19). Die jü- fer-sein, zwischen Geheimnis und Gebot entsteht dische Religion habe trotz ihrer Veränderungen die Spannung, ebenso zwischen dem Gott der Fer- ihr Wesen behalten (S. 28) und sei als solche mit ne und dem Gott der Nähe; aber so, dass die Span- der Existenz des Volkes aufs Engste verbunden. nung zwischen dem Gott-über-uns und dem Gott- Es stehe auch im Interesse der christlichen Kir- in-uns letztlich nur als die religiöse Ausdrucks-

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form der sittlichen Spannungen in der menschli- chen Natur erscheint. Zwischen der Transzendenz des Ziels und der Immanenz des Weges verläuft die Spannung, die absichtlich nicht vermindert wird, weil Baeck zufolge der menschlichen Natur das Schöpferische innewohnt, das als Waffe gegen das Schicksal den Lauf der Welt bestimmt. Bei Baeck liegt unverkennbar ein stärkerer Akzent auf Hermann Cohen, vor 1906. in Judentum und Christentum p dem Menschen als Schöpfer als auf dem Men- schen als Geschöpf. Konkretion. Das Wesen der jüdischen Religion ist Hermann Cohen (1842 –1918), Mitbegründer als Lehre des ewigen Heiligungsprozesses zu be- und Hauptvertreter der Marburger Schule, des schreiben. Die Korrelation von Gott und Mensch,

Persönlichkeiten Neukantianismus, fußte als Ethiker auf dem Fun- die Vereinigung von Erlösung und Autonomie hat dament der jüdischen Sittenlehre und baute sie keinen anderen Sinn als diesen. In Maimonides’ bewusst weiter aus. Cohens religionsphilosophi- Lehre der Selbstvervollkommnung als höchstes sches Hauptwerk Die Religion der Vernunft aus Prinzip, auf das sich Cohen so gerne beruft, fin- den Quellen des Judentums erhebt die jüdische den wir dieselbe Dialektik von Trennung und Ver- Religion zur wahren Religion der Vernunft. Gott einigung. ist der Gott einer wirklichen Religion, der israeli- tische Monotheismus erkennt ihm ein Sein zu, Martin Buber (1878 –1965), in Wien geboren, mit dem verglichen alles andere Sein nur Dasein wuchs in einer großbürgerlichen Familie auf. Sein heißen kann. Großvater war ein besessener Talmudforscher. Das Wesen der jüdischen Religion äußert sich Die Ehe der Eltern zerbrach (Buber sprach später durch die Propheten. Sowohl die Ethik des reinen von »Vergegnung«), als er drei Jahre alt war. Doch Willens als auch die Religion der Vernunft orien- bei seinen Sommeraufenthalten auf dem väterli- tieren sich an ihren Schriften als klassischen Doku- chen Landgut in der Bukowina und als Gymnasiast menten dieser Religion, die zugleich die Religion im polnischen Lemberg lernte er die Glaubens- der Vernunft ist. Im Talmudischen sieht Cohen welt des Ostjudentums kennen: begeisterte Eks- weniger eine Weiterentwicklung der Lehre als tase aus Freude an Gott, aber auch eine realisti- eine nähere Beleuchtung des Wesens der Lehre. sche Weltfrömmigkeit, die Gottes Herrlichkeit im Die Torah wird von den Propheten her gedeutet. ganz normalen Alltag entdeckt, und seine Nähe Cohen sieht das »Wesen« darin, was Torah und im Schmerz. Es hielt den neugierigen, für alle Propheten gemeinsam haben. Sie beleuchten einan- Strömungen aufnahmebereiten jungen Mann nie der; die Propheten geben der Torah die ethische lange an einem Ort. In Wien, Leipzig und Zürich Erhebung, die Torah den Propheten die ethische studierte er Philosophie, Germanistik, Kunst- und

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Literaturgeschichte und einiges mehr. In der Zeit leme, mit denen auch christliche Denker beschäf- der Weimarer Republik entfaltete er Wirkung als tigt waren. Für Rosenzweig sind theologische Fra- Mitarbeiter des Freien Jüdischen Lehrhauses Frank- gen menschliche Fragen. Schon die gängige Tren- furt, Zeitschriftenherausgeber und Vortragsreisen- nung von Theologie und Philosophie ist seiner der. Buber hielt sich für keinen Philosophen. »Ich Meinung nach ebenso unhaltbar wie die zwi- habe keine Lehre«, pflegte er zu sagen, »aber ich schen Theologie und Wirklichkeit und zwischen führe ein Gespräch.« allgemeiner Menschlichkeit und konkretem, zum Keiner hat das Prinzip der dialogischen Phi- Beispiel jüdischem Bekenntnis (S.265). in Judentum und Christentum losophie so konsequent durchdacht wie Buber. Wichtig für das Wesen der jüdischen Religion p Der Mensch wird erst richtig Mensch, wenn er ist die Tatsache, dass der Indikativ ewiges Sinnbild lernt, Du zu sagen. der Schöpfung ist und der Imperativ das Sinnbild Bei Buber hat die Begegnung mit Gott oft die der Offenbarung. Hier findet Rosenzweig auch Gestalt eines verzweifelten Ringkampfs. In der den Ort, um über das Geheimnis des Eigenna-

Gottesfinsternis ist das Licht nicht erloschen, nur mens im Allgemeinen und des Gottesnamens im Persönlichkeiten verborgen. Der verborgene Gott ist ansprechbar, Besonderen zu sprechen. Grund der Offenbarung selbst wenn er nicht antwortet. ist die Offenbarung des göttlichen Namens. Sie Im Gegensatz zu Cohen findet Buber das We- gründet einen wirklichen Mittelpunkt im Raum sentliche der jüdischen Religion im Mythos aus- und einen wirklichen Anfang in der Zeit. Geist ist gedrückt. Die Lehre vom dialogischen Leben der Akt des Benennens. Mit Gedanken zum Hohe- schließt den dialogischen Monolog aus. Die Liebe lied versucht Rosenzweig das Wesen der jüdischen als Weltgeheimnis und Grundkraft des Lebens Religion zu umreißen und die Linien des »natür- wird in Bubers Fundierung das Wesentliche; sie lichen« Denkens durchzuziehen (S. 294–297). fasziniert die theoretische Besinnung, und diese Den existentiellen Sinn der Erlösung sieht Ro- ist der Rahmen, in dem das Wesen der jüdischen senzweig darin, dass Gott den Menschen nicht Religion neu erscheint. ohne ihn erlösen will. Die Möglichkeit, Gott zu versuchen, ist die äußerste Spitze der menschli- Nach dem Rationalisten Cohen und dem Mys- chen Freiheit (S. 305). »Alles, alles liegt in Gottes tiker Buber gibt Miskotte einem dritten Zeugen Hand, nur eines nicht: die Gottesfurcht« – eine das Wort: Franz Rosenzweig (1886–1929), Schü- der talmudischen Grundpositionen, auf die Ro- ler Cohens, Freund und Mitarbeiter Martin Bu- senzweig sich öfter beruft (wie auch Brod, Baeck, bers. Er hat eine ganz eigene Sicht auf das Wesen Buber und Cohen). der jüdischen Religion und eine andere systema- Im Gottesdienst ist der Ort, an dem das Eigent- tische Methode, sie zu beschreiben (S. 259). liche der jüdisch-orthodoxen Religion zu sehen Zu Rosenzweigs Freunden gehörten – nicht zu- und das Wahre zu erkennen ist. Subjekt dieses fällig – viele christliche Denker. Sein Verständnis Geschehens ist das Volk. Während jede andere der Schrift gibt größtenteils Antwort auf die Prob- Gemeinschaft eine institutionelle Organisation

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nötig hat, um sich zu behaupten, ist Israel eine Zum Wesen der jüdischen Religion gehört Ro- Blutsgemeinschaft, welcher »die Gewähr ihrer senzweig zufolge, dass das Volk als solches Träger Ewigkeit schon heute warm durch die Adern der Offenbarung und Vorbote des Messias ist. rollt« (S. 308). Seine Existenz ist sozusagen amtlich (S. 322). Die Ruhe des Schabbat trägt die Erlösung in sich, denn am Schabbat fühlt sich die Gemeinde Wenn Cohen das Wesen der jüdischen Reli- als erlöste – heute schon. gion mit den Denkmitteln der kritischen Philoso- Das Fest der Befreiung aus Ägypten (= Pes- phie und Buber mit den Mitteln seiner Sprach- in Judentum und Christentum p sach), das Sinai-Fest (= Schawuot) und das Laub- philosophie beschrieben haben, greift Rosenzweig hüttenfest (= Sukkot) bilden einen Zyklus von zu den Denkmitteln einer Theologie des neuen Offenbarungs-Festen. Immer ist das Volk zentral: Denkens. Das neue Denken lässt Platz, schafft Es geht um seine geschichtliche Schöpfung, um Raum für den Ernst der konkreten Gesetzeserfül- seinen Empfang der Torah, um seine Reise mit lung aus der Sicht der Lehre des dialektischen Zu-

Persönlichkeiten der Torah durch die Welt. sammenhangs von Offenbarung und Erlösung. Zum Wesen der jüdischen Religion gehört ih- Wer dieser Philosophie keine philosophische Gel- re mütterliche Sorge für die (anderen) Völker. Die tung zugestehen kann, kann dennoch in ihrer Echtheit der Sorge zeigt sich Rosenzweig zufolge Entfaltung einwandfrei Wesenszüge der jüdischen in der Würdigung des Christentums als historisch Religion in den Blick bekommen. Alles in allem notwendigen Weg der Völker. Das Christentum sind uns aber nicht drei Wesen begegnet, sondern ist ein Strahlenbündel, aus dem feurigen Kern von ein Wesen ist uns begegnet. Dieses Eine kann wie Israels Stern über die Völker gegossen, um ihnen folgt beschrieben werden: den ewigen Weg zu weisen (S. 314). Einheit des Lebensgefühls, das keinen Bedarf »Die Christenheit muss missionieren. Das ist hat, die souveräne Majestät Gottes zu denken, in ihr so notwendig wie dem ewigen Volk seine dem Gott der Gefährte des Volkes (oder des Men- Selbsterhaltung im Abschluss des reinen Quells schen) ist und das Volk (der Mensch) Gottes Part- des Bluts vor fremder Beimischung. Ja, das Missio- ner, in dem das Sittliche deshalb nicht nur eine nieren ist ihr geradezu die Form ihrer Selbsterhal- menschliche Angelegenheit ist, sondern eine Funk- tung.« 4 tion, mit der Gott als dem Hilfsbedürftigen gedient »So drängt sich das christliche Bewusstsein, wird. ganz versenkt in Glauben, hin zum Anfang des Wegs, zum ersten Christen, zum Gekreuzigten, Dem Philosophen der »konkreten Utopien«, wie das jüdische, ganz versammelt in Hoffnung der Tagträume und des Prinzip Hoffnung, Ernst hin zum Manne der Endzeit, zu Davids königli- Bloch (1885 –1977), sind die Seiten 347 –360 ge- chem Spross.« 5 Hier ist der Gegensatz zwischen widmet. Im Zentrum seines Denkens steht der den Balken des Kreuzes und den Strahlen des über sich hinausdenkende Mensch. Für ihn ist das Sterns auf Davids Schild. Judentum die eine universale Sekte, in der der

ZfBeg 1/2|2020 4 Rosenzweig, Franz (1988): Der Stern der Erlösung, Berlin, S. 104. 5 Ebd., S. 111f. 117

Auch wenn in der Kunst Franz Kafkas (1883 – 1924) der Name Gottes nicht einmal genannt wird, ist seine Kunst doch Wort für Wort voll des Fragens nach Gott, des Ringens mit ihm wegen seines Fernseins. Kafka hat sich durch umfangrei- auf dem XV. Schriftstellerkongress in Berlin, 1956. che Lektüre intensiv mit der jüdischen Religion auseinandergesetzt. Persönlicher Kontakt bestand zu Martin Buber. Nach Worten Max Brods und von in Judentum und Christentum Geist der Utopie lebt und wirkt, die ihre Anhän- Hans Joachim Schoeps wird Kafka der Mensch, p ger in allen Ständen, unter allen Konfessionen der »als von aller apriorischen Sicherheit abge- hat, eine universale Sekte, die nicht wie die Logen schnittener Wahrheitssucher sich in die Schwebe der Freimaurer und Theosophen mühsam organi- der Ungewissheit hineingehalten weiß, in der das siert werden müsste, die quer durch alle Organi- reine Nichts auf den Menschen lauert«. Kafkas

sationen hin besteht und die dennoch nicht in Weltanschauung ist tragisch. Er anerkennt und Persönlichkeiten einen allgemeinen Humanismus zerfließt, weil sie bekennt Gott, aber keinen Zusammenhang zwi- auf der sehr alten, sehr starken, sehr lebendigen schen Gott und Welt, höchstens einen ironischen. Wurzel Israels blüht und somit ethisch-magisch Am seidenen Faden hängt für den gottverlassenen eingestellt ist (S. 360). Menschen die minimale Chance einer eschatolo- gischen Hoffnung. Kafka akzeptiert also Cohens Constantin Brunner, Pseudonym des Philoso- Deutung vom Wesen der jüdischen Religion. Als phen, Schriftstellers und Literaturkritikers Arjeh Idealkonstruktion bekennt er sich auch zu Bubers Yehuda Wertheimer (1862 –1937), gilt als Vertre- Lehre von »Ich und Du«, aber diese wird durch ter des Holismus und wandte sich in mehreren das Ernstnehmen dessen, was Rosenzweig das Schriften gegen den Antisemitismus. Judenhass existentielle Denken nennt, radikal gestört, denn ist Menschenhass. Antisemitismus ist für ihn ein die Frage ist: Kann eine Idee für uns noch Wahr- Beispiel dafür, wie man den Egoismus verabsolu- heit sein, für die man sich im konkreten Leben tieren und sich von der Basis der allgemeinen Mit- unmöglich entscheiden kann? menschlichkeit entfernen kann. Auch äußerte er Im Unterschied zu allen bisher behandelten sich ablehnend gegenüber dem Zionismus, da die- jüdischen Denkern ringt Kafka mit dem Problem ser die jüdische Emanzipation gefährde. Brunner der Erbsünde. Sie bedeutet die Unmöglichkeit, sieht das Wesen des Judentums in einer eigenarti- auch die Denk-Unmöglichkeit der Freiheit. Kafka gen Mystik oder besser: mystischen Möglichkeit, fühlt sich auf dieser Erde gefangen, ihm ist eng, die die von Jesus vollkommen verwirklicht wurde. Wahnvorstellungen der Gefangenen brechen bei Die Heilige Schrift des Alten Testaments spiegle ihm aus, kein Trost kann ihn trösten, weil es eben eine Geisteshaltung wider, die an das menschlich nur Trost ist, gegenüber der großen Tatsache des Höchste heranreicht (S. 361). Gefangenenseins. Damit ist der jüdische Optimis-

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mus radikal aufgegeben. Das Wesen der jüdischen Samson Raphael Hirsch (1808 –1888). Abraham Religion kann Kafka zufolge nichts anderes sein als ist der in der Schöpfung wiederhergestellte Adam die Bewusstmachung und Rechtfertigung unserer und Erez Jisroel der Garten Eden. Einsamkeit. Brod sagt über Kafka: »Das große Ge- Sobald man sieht, dass nur die Torah eine wah- heimnis: dass dennoch und immer wieder Ruhe re Menschlichkeit möglich macht, kennt man ihre von diesem gequälten Menschen ausging.« Dies Qualität: Offenbarung. ist ein Symbol für die Wirkung des modernen Ju- dentums auf den modernen Geist; die Ehrlichkeit Erst spät entdeckt wurde in seinem theologi- in Judentum und Christentum p im Bekenntnis der Unerlöstheit bekommt eine ei- schen Bestreben der außerordentlich begabte Na- gene, religiöse Würde. turforscher und Arzt Salomon Ludwig Steinheim (1789 –1866). Das Wesen des Judentums liege in In einem kleineren Kapitel widmet sich Mis- seinem Protest gegen das Heidentum. Die Offen- kotte der neuen Orthodoxie (S. 385– 408), ob- barung ist nichts anderes als eine Mitteilung. Die

Persönlichkeiten wohl die im strengen Sinn orthodoxen jüdischen Religion oder die Offenbarung ist Israels Wesen, Theologen und Religionsphilosophen nach seiner und jedes jüdische Individuum ist eo ipso ein leib- Meinung in seine Untersuchung eigentlich nicht haftiger Protest gegen alles Heidentum und gegen hineingehören, weil sie in ihrer inneren Entwick- jegliche philosophische Dogmatik. Die Offenba- lung noch zu keiner Besinnung auf das »Wesen« rung ist die Mitteilung einer Wahrheit, auf die der ihrer Religion gekommen seien. Er fasst deren Mensch von sich selbst nicht käme und die der Werke unter dem Titel Begrenzungen zusammen. Vernunft entgegensteht, die aber, einmal gehört Das Alte Testament ist gegeben, um den Gott zu und verstanden, sich als Rechtfertigung des Lebens, offenbaren, der für uns Lebende nirgends anders der Vernunft, der Menschlichkeit aufdrängt. zu finden ist als in seiner Torah. Im Begriff derOf- fenbarung steckt die Möglichkeit, das Wesen der Hans Joachim Schoeps (1909 –1980) gibt sich jüdischen Religion zu retten in einer Zeit, in der nicht zufrieden mit der Betrachtung und Be- das substituierte Wesen, nämlich das Volk selbst, schreibung des Wesens der jüdischen Religion, auch als geistige Einheit auseinander zu fallen be- sondern bietet einen Entwurf einer systemati- ginnt. schen jüdischen Theologie. Ihn bewegt die Frage Weder Autonomie noch Heteronomie, sondern nach der Möglichkeit des Heils in unserer gottver- Schöpfungsnomie ist das Wesen des Judentums. lassenen Zeit. Theologie muss als Funktion des In der Schöpfung (nicht in der Natur) liegt die Glaubens aufgefasst werden. Es habe nie eine jüdi- Wahrheit beschlossen, Wahrheit im alttestament- sche Theologie existiert, die einen anderen Grund lichen Sinn = das Wirkliche und das Rechte. und ein anderes Ziel haben konnte als das Wort Jude sein bedeutet Geschöpf sein, Geschöpf Gottes. Schoeps sieht das Wesen der Lehre in der sein wollen, nichts als Geschöpf sein wollen. Das Transzendenz Gottes, die positiv die Beziehung ist der Sinn der Offenbarung nach Meinung von Gottes zur Welt in das hörbare Wort stellt.

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Das vorletzte Kapitel befasst sich mit der Leh- den wir bei Cohen und den Seinen ebenso wie re der Korrelation als neue Bundeslehre (S. 409 – bei dem Mystiker Buber und beim existentiellen 441). In vorausgegangenen Kapiteln tauchte die Denker Rosenzweig. Ihnen allen ist die Weige- Frage auf, ob ein Judentum ohne die jüdische Ge- rung gemein, hinter der Relation nach einer hö- setzestreue existiert. Die weitgehende Assimila- heren, tieferen usw. Wirklichkeit zu suchen. Von tion bewog sowohl die Orthodoxie als auch den daher sei die Stellung von Erez Israel im Wesen Liberalismus, die Gesetzestreue in größerem oder der jüdischen Religion zu verstehen, auch die geringerem Maße nach Kern und Peripherie zu Funktion der Klagemauer. Phänomenologisch von in Judentum und Christentum differenzieren und ihr den Hintergrund einer in Be- größtem Gewicht sei die Dialektik der Offenba- p griffe des allgemeinen Geisteslebens zu übertra- rung, wie sie Rosenzweig formuliert habe. genden Weltanschauung oder Lebenshaltung, ein Die Torah als das »tragbare Vaterland« werde ethisches Prinzip oder eine Idee, zu geben. in der Tat getragen. Nicht sie trägt Israel, sondern Zur Rechtfertigung seiner Untersuchung be- Israel trägt sie.

ruft sich Miskotte auf Julius Gutmann, der sagt: Persönlichkeiten »Die an die Stelle der äußeren Normierung des Um vieles mehr als die Sünde, die in jedem Glaubens getretene innere Bindung an die religiö- Augenblick durch die Bekehrung getilgt werden sen Grundüberzeugungen des Judentums hat sich kann, quält das Leid den jüdischen Geist. Die Ge- als fest genug erwiesen, um dem Judentum seine bote Gottes wollen das Leid verhindern; die Men- einheitliche Glaubensgrundlage zu erhalten.« So schenliebe leidet am Leben wegen des Leides, das geht Miskotte Stück um Stück den Strukturein- der Arme, der Fremdling, der Unbegabte, der Un- heiten nach, die die untersuchten Religionsphilo- geliebte erduldet. sophen aufgezeigt haben, um das Zentralste be- Brod hat – wie wir gehört haben – das Leid stimmen zu können. als das eine Thema hingestellt, an dem das Wesen Der Rationalismus Moses Mendelssohns sei der jüdischen Religion zu demonstrieren ist, doch auf der ganzen Linie überwunden. Der Wesens- auch in Cohens Hauptwerk nimmt das Leid einen Gegensatz zu jeglichem Pantheismus sei über- ungeheuren Stellenwert ein. Er wirft der Stoa und nommen worden. Am stärksten sei er in der Neo- Spinoza das Wegargumentieren des Sinns vom Orthodoxie, aber kaum weniger stark bei Cohen, Mitleiden vor und schildert den Messias als Stell- Buber und Rosenzweig fallen gelassen. vertreter nicht unserer Schuld, sondern unseres Eine Ausnahme bilde die extreme Erscheinung Leidens. Auch bei Buber und Rosenzweig konnte Constantin Brunners, aber auch bei ihm sei jeder eine ähnliche Faszination durch das Leid aufge- Form von Naturalismus gewehrt. Alle stimmten zeigt werden. Miskotte geht es in diesem Teil sei- darin überein, dass der Pantheismus zu verwerfen nes Werkes um den Zusammenhang zwischen sei. Diesem werde nicht die eine oder andere Form Leid und Heiligung der Welt. Gott hat Israel nötig von Weltanschauung gegenübergestellt, sondern nicht nur zur Heiligung der Welt, sondern auch zur der Messianismus. Das Denken in Relationen fin- Heiligung seines Namens. Die Gegenseitigkeit von

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Im letzten Kapitel (S. 443 – 504) vergleicht Miskotte die berith-Lehre mit der Struktur des Alten Testaments, was schwierig ist. Er vergleicht

Max Brod, 1914. aber nicht das »Wesen« der jüdischen Religion mit dem »Wesen« des Christentums und misst es nicht am Neuen Testament. Gott und Mensch ist ein auf die Heiligung, auf die Zukunft gerichteter Bund. Die Lehre der Korrela- Hinsichtlich der Grundlagen der wissenschaft- in Judentum und Christentum p tion ist die moderne Form der alten berith. lichen Bibelforschung als bedeutend zu erwähnen Deshalb können Pantheismus und Theismus ist Abraham Geiger (1810 –1874), dessen Urschrift verworfen werden, und deshalb ist sowohl das und Übersetzungen der Bibel in ihrer Abhängig- »Rationalistische« als auch das »Mystische« als keit von der inneren Entwicklung des Judentums »existentielle« Fundierung brauchbar. 1857 erschienen ist. Er sieht, dass jedes Stadium

Persönlichkeiten Israel erlebt Gott in der Geschichte, in seiner der Entwicklung der jüdischen Religion eine eige- Geschichte. Ob die berith ein »königliches Priester- ne Bibel hatte und unternimmt einen Versuch, die tum« als Ziel setzt oder es voraussetzt, ist schwer rabbinischen Exegesen der Schrift »wegzufegen«, zu ergründen. »Der heilige Geist wird im Men- indem er diese selbst zum Objekt einer kritischen schen lebendig, insofern dieser sich selbst heiligt. Untersuchung macht. Ein rationalistischer Me- Und in dieser Selbstheiligung vollzieht er die Hei- thoden-Monismus ist die Voraussetzung für die ligung Gottes«. »Ob Gott transzendent oder im- zugeneigte und vertrauensvolle Haltung, die das manent ist, ist nicht eine Sache Gottes, es ist eine liberale Judentum der alttestamentlichen Wissen- Sache des Menschen« (Buber). »Die Ewigkeit muss schaft gegenüber einnimmt. Der Versuch, die alt- nämlich beschleunigt werden, sie muss stets testamentlichen Urkunden restlos in die Welt des heute schon kommen können: nur dadurch ist sie alten Orients einzuordnen, stößt auf wenig Wi- Ewigkeit. Wenn es keine solche Kraft, kein sol- derstand. Was von der vergleichenden Religions- ches Gebet gibt, welches das Kommen des Reichs geschichte popularisiert in das allgemeine Den ken beschleunigen kann, so kommt es nicht in Ewig- der Zeit einging, schreckt unter den Laien eher keit, sondern – in Ewigkeit nicht« (Rosenzweig). die Christen auf als die Juden. Der Bundesschluss ist gemäß verschiedener Tal- Heiligkeit ist kennzeichnend für die geistige mudstellen Israel zu verdanken. Gott hat die Torah Grundstruktur des ganzen Alten Testaments. Alle allen Völkern angeboten, Israel war das einzige, »Eigenschaften« Gottes sind Offenbarungsweisen das auf das Angebot einging. Und: Weil Moses die dieses einen offenbarten Grundwesens, des Na- Herrlichkeit des ägyptischen Hofes verlassen hat, mens. Heiligkeit ist nicht etwas, das dem erhabe- um nach seinen Brüdern zu sehen, darum hat der nen, unbekannten Gott, dem Gott-an-sich, zu- Heilige die Herrlichkeit des Himmels verlassen, käme, sondern vielmehr die Beschreibung Gottes, um mit ihm auf dem Sinai zu sprechen. wie er in seiner Offenbarung, seinem Wohnen,

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seinem Nahesein erkannt wird (S. 452). Eine entwickeln mussten.« Das Wesen der jüdischen Trennung zwischen dem hohen Jahwe und seiner Religion könnten wir nicht für identisch halten schweifenden, leidenden Schechina, wie das das mit dem Wesen des Alten Testaments. Wer aber im spätere Judentum gelehrt hat, ist im Alten Testa- Allgemeinen das »Wesen des Christentums« in ment nicht zu finden. Für Ezechiel sind Gottes einer Lehre oder Haltung suche, die ethisch das Ehre und seine Transzendenz dauernd aufeinan- Judentum überträfe, tut dem Wesen der jüdischen der bezogen. Auch der Thronwagen drückt aus, Religion Unrecht (S. 466). Er verweist mit guten dass Jahwe nicht nur über der Erde, sondern auch Beispielen darauf, dass in umfassenderem religi- in Judentum und Christentum über den Himmeln thront. Gott selbst ist niemals onsgeschichtlichem und kulturmorphologischem p von seinem Geschöpf abhängig. Er fällt das unwi- Zusammenhang Judentum und Christentum ei- derrufliche Urteil über seine Zeit und nach sei- nander am nächsten verwandt sind und sich die- nem Maß. Allein Gott ist heilig. ser Verwandtschaft auch besser bewusst werden Dass Jahwe König ist, steht im Alten Testa- (S. 470). Die Art, wie die Autoren des Neuen Tes-

ment viel mehr im Mittelpunkt, als dass er König taments das Alte Testament zitieren, zeige, dass Persönlichkeiten werden muss. Jahwe wird schon in der Zeit der sie dieselbe Identität zwischen Wort Gottes und Richter unter dem Begriff malk (melekh) gedacht Schrift statuieren, wie das die Synagoge zwischen und nicht als el und nicht als baal – denn baal ist dem Willen Gottes und der Torah tat. (so Buber) »die vorgefundene Gottheit«, aber malk Der Messias ist für das Judentum nicht der ist »der mitgehende Gott«. Das Tetragramm besie- Wiederkommende, sondern der Kommende. Doch gelt die absolute Freimacht dieses melekh (S. 454). das kann, von der Lehre der Korrelation aus gese- In einem seiner letzten Werke sagt Buber: »Bei hen, in seiner Wortstruktur nicht intakt gelassen jeder Gebotserfüllung soll der Mensch sprechen: werden, Israel wird, die Einheit der Menschheit Ich tue dies, um den Heiligen, gesegnet sei Er, mit wird, mit oder ohne ein konkretes Israel, zum seiner Schechina zu vereinigen.« Mittelpunkt. Das Kommen wurde, gemäß der im- Dem Heiligen als Heiligen gefällt es, bei denen manenten Logik der Wesensstruktur, u.a. bei zu wohnen, die zerbrochenen Geistes sind (Jesaja Baeck und Rosenzweig, durch die Konsequenz 57,15). Mit dem Namen »der Heilige Israels« ver- der Lehre der Korrelation notwendigerweise ein bindet sich oft das Epitheton »Erlöser« (Jesaja 41, Werden. 14; 43,14; 47,4 ). Die eindrückliche Begegnung mit den jüdi- Miskotte kommt schließlich zu dem Schluss, schen Religionsphilosophen, die Miskotte uns mit dass »die Struktur des Alten Testaments und die seinem Werk ermöglicht hat, hat große Bedeutung des Judentums einander nicht decken«, doch sei für die Schärfung des Unterscheidungsvermögens, zuzugeben, »dass die Struktur des Alten Testa- für die Vertiefung der Einsicht in den zentralen ments Elemente enthält, die durch eine gewisse Iso- Sinn der Verkündigung der Kirche. Insofern lohnt lation oder Akzentuierung sich logisch und recht- es sich auch heute noch, die 1932 verfasste Dis- mäßig zum Lehrgehalt des späteren Judentums sertation zu lesen.

ZfBeg 1/2|2020 Hall of Names, Yad Vashem, Jerusalem

In der »Halle der Namen«, dem letzten Raum im Rundgang des Museums zur Geschichte des Holocaust, sind die Namen und persönlichen Daten der jüdischen Opfer des nationalsozialistischen Massenmords gesammelt. Als Grundlage dienten die Angaben auf »Gedenkblättern«, die von Verwandten und Bekannten der Ermordeten gemacht worden waren. Sie sind oft die einzigen Erinnerungen an die Opfer.