Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung saiten

zeitschrift des Studienganges Medien UND musik

LICHT UND

AUSGABE 6 WINTER 2012 DUNKELHEIT ZUM MITNEHMEN

1 Zvi Dori Geigenbaumeister

Neubau Anzeige ReparaturGeigenbauer MietinstrumenteDori Bögen & Zubehör

Schiffgraben 59 30175 Hannover [email protected] www.zvidori.de 2 Termine nach telefonischer Vereinbarung! INHALT | EDITORIAL | IMPRESSUM

EDITORIAL INHALT Zvi Dori Schlagzeilen gehören zum Musikbusi- Boulevard ness wie die Musik selbst: hier ein 10 Fragen an Cäthe...... 4 Geigenbaumeister Drogenskandal, dort eine verbotene Liebesgeschichte. Promis stehen im Plattenkritik...... 4 Rampenlicht; deshalb müssen sie damit taktlos...... 5 rechnen, dass auch ihre Privatsphäre Das hört die Redaktion ...... 7 nicht im Dunkeln bleibt. Schwerpunkt Licht und Dunkelheit Licht und Schatten – das steht aber nicht immer nur für Skandale und Enthüllun- Glamour mit Ergänzungsausweis...... 9 gen aus dem Privatleben von Stars und Ein Rollentausch am Ursprungsort der Travestie Sternchen. Im sechsten „Saitensprung“ Ich erlebe die Welt in einem anderen Licht ...... 12 haben wir uns ganz anderer Themen Synästhetiker können ihre Fähigkeit vielseitig einsetzen angenommen. Wir haben das Verborge- ne hinter den Kulissen zweier Konzerte Fünf Songs ...... 14 beobachtet. Wir haben erfahren, wie es Stimmungsaufheller in der Klassikszene ...... 16 sich anfühlt, im Schatten der Nacht zu ar- beiten, und haben einen DJ im Club und Die im Dunkeln sieht man nicht...... 18 einen Moderator im Radiostudio beglei- Backstage: Gar nicht so Luxuriös...... 20 tet. Wir haben den Schatten der Musiker Neubau – das Phänomen Groupie – genauer un- Belohnung vor dem Schlafen ...... 22 ter die Lupe genommen und dabei fest- RAP in Punktschrift...... 24 gestellt, dass fanatische Fans sich gar nicht so sehr von Musikjournalisten un- Das Saitensprung-Foto ...... 26 Reparatur terscheiden, wie wir uns das oft vorstel- Grölen, zischen, klacken. Stille...... 28 len. Außerdem sprechen wir über Tabus und Themen, die in der Öffentlichkeit oft Vergiss nicht das Licht...... 31 keine Aufmerksamkeit finden oder finden Der schatten der schönen Helene...... 36 sollen: Doping, Transsexualität, Synästhe- Mietinstrumente sie und Blindheit. Die verborgenen Wünsche der Stars ...... 39 Kein licht am Ende des Tunnels ...... 41 Licht und Schatten – in diesem Heft geht es uns nicht um Schwarzweißmalerei, nachts ist alles anders...... 42 sondern um eine bunte Mischung von Dirigent der Nacht ...... 44 Bögen & Zubehör Themen, die über die allseits besproche- Nur kein Neid ...... 47 nen Themen der Musikszene hinausge- hen. Wir wünschen allen Leserinnen und La-LE-LU ...... 48 Lesern ein besonderes, unterhaltsames und informatives Lesevergnügen. Das SAitensprung-rätsel...... 47

Lena Klimkeit

IMPRESSUM Herausgeber: Studiengang Medien und Musik • Institut für Bildnachweis Journalistik und Kommunikationsforschung Hannover Titel, S. 8, 10-11, Paul Sklorz S. 22-23 Lisa Hedler Redaktion: Frederike Arns, Katharina Bock, Josephine Hartmann, Lisa Hedler, 24-27, 49 Anne Kleinfeld, Lena Klimkeit, Erik Klügling, Stephan Kragl, S. 28 Pressefoto Anna Leimbrinck, Samira Leitmannstetter, Paul Sklorz, Benedikt Spangardt, S. 4 Pressefoto Thorsten Dirr/ S. 30, 32 Olaf Struck/ Schiffgraben 59 Frauke Steinhoff, Anthrin Warnking DEAG Music Theater Kiel Layout: Marcus Torke S. 12 Erik Klügling/ Stephan Kragl S. 31 Pressefoto Kontakt: [email protected] S. 16 Stephan Kragl S. 37-38 Österreichisches V.i.S.d.P.: Prof. Dr. Gunter Reus, S. 18 Johanna Forstner Theatermuseum Wien Prof. Dr. Ruth Müller-Lindenberg 30175 Hannover S. 20-22, 43 Lena Klimkeit S. 40[M], 44-45, 47 Katharina Bock Herstellung: Layout · Satz und Druck Michael Heiland Lister Damm 5–7, 30163 Hannover [email protected] www.zvidori.de 3 Termine nach telefonischer Vereinbarung! BOULEVARD

OST UND WEST IM HERZEN 10 Fragen an Cäthe, Singer- Songwriterin aus Hamburg

CD, Mp3 oder Vinyl? Zu Musik tanzen oder in Ruhe zuhören? Dein aktueller Soundtrack? Vinyl. Tanzen. Die neue Leonhard Cohen wird mich durch den Frühling begleiten. „Old Ideas“ Wann warst du das letzte Mal in der Oper? Auf einer langen Autofahrt – Radio oder heißt die. Vor drei Jahren. die eigene Playlist? Eigene Playlist. Ost oder West? Wärst du lieber taub oder stumm? Für mich gehören Ost und West zueinan- Wow! Das ist gar nicht so einfach... Die Platte aus dem Schrank deiner Eltern, der. Ich trage beide Mentalitäten in mei- Stumm. die dich am meisten beeinflusst hat? nem Herzen und möchte auf keine davon Das ist nicht einfach... Cindy Lauper – verzichten! Dein schönstes Live-Erlebnis? „Girls just wanna have fun“. Von meinen eigenen Konzerten: Köln, die Aufgezeichnet von Samira Leitmannstetter letzte Tour. Und ansonsten PJ Harvey live Spirituell oder materiell? und Josephine Hartmann in Berlin. Das war Gänsehaut pur. Spirituell.

NICOLAS STURM – NICOLAS STURM Debütalbum ist voller anglo-amerikani- PLATTEN- scher Referenzen, von Woody Guthrie bis „The times they are a-changin’“ – nicht Buddy Holly. In „Herzkammer“ lädt dann jedoch bei Nicolas Sturm. Gleich im Johnny Cash zum Line Dance. „Löcher“ ist elegisch-epischen „Prolog“ wird klar, in ungeheuer eingängig, „Schiffbruch“ zarter, KRITIK welchen Schubkästen des Gehirns sich auf der Bettkante vorgetragener Indie- der 30-Jährige mit seinem Debütalbum Diese Seiten sind Hannovers festsetzen möchte. „Don’t think twice, it’s all right“ schrieb Bob Dylan 1962, fünfzig lebendiger und vielseitiger Musik- Jahre später streut Sturm englischspra- szene gewidmet. In jeder Ausgabe chige Sprengsel wie „Baby don’t think twi- stellen wir aktuelle und spannen- ce, because it’s alright“. Die Anlehnung de Veröffentlichungen von Bands an Dylan scheint dem Sänger und Song- und Künstlern aus der Region vor. schreiber, der unter anderem in Hanno- ver aufgewachsen ist, eine Herzenssache Stilistische Grenzen setzen wir uns zu sein. Schon auf seiner vor zwei Jahren dabei nicht – ob Rock, Hiphop oder veröffentlichten EP „Doppelleben“ gingen Klassik. Unser Credo lautet: Ehrlich Sturms „Regenhunde No. 53“ mit Dylans loben und konstruktiv kritisieren. „Rainy Day Women #12 & 35“ Gassi. Das

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OST UND AUSLAUFMODELL BIEBER taktlos Justin Bieber ist kein Teenie-Idol son, Elvis Presley, John Lennon – sie alle brett und mit anknipsbaren Lichtern? WEST IM mehr! „Was?“ Ja, Sie haben richtig ge- sind noch weit nach ihrem Ableben dick Andererseits kosten solche Spielerei- lesen. In knappen anderthalb Jahren, im Geschäft. Gut, diese Idee sollte viel- en einen Bub, der über 184 Millionen im März 2014 nämlich, wird der Kna- leicht nicht Marketing-Tool Nr. 1 werden. Google-Treffer erreicht, wenn man „Jus- HERZEN be mit den glockenklaren R&B-Stimm- Anderer Plan: Altmeister! Die können tin Bieber Hair“ eingibt (aber nur 13 bändern zwanzig. OMG möchte man schon rein historisch nichts falsch ma- Millionen in der Kombination „Justin da schreien. Erste Abnutzungserschei- chen und verkaufen, verkaufen, verkau- Bieber Songwriter“), wahrscheinlich zu nungen zeigten sich bereits, als er sich fen – egal wie schlecht das neue Material viel Kreativität. von seiner Signature-Matte ®©™ – die auch ist. Sie sind die Rosinen im Kuchen auch schon vier Lads aus Liverpool der Plattenbosse. Aber faltig wie eine ge- Bleibt noch eine Lösung, um auch berühmt machte – getrennt hatte. Ge- trocknete Weinbeere wird Justin erst in zukünftig im Gespräch zu bleiben: stutzte Haarpracht und verglühender etwa 40 Jahren. Eine zu große Zeitspan- Alkohol, Drogen und Skandale. Aber Teenybopper-Bonus in Kombination ne. Wie wäre es mit dem wirklich immer auch hier: Fehlanzeige. Der Zartbesai- lassen die Plattenverkäufe einbrechen. florierenden Weihnachtsgeschäft? Pünkt- tete musste sich zwar letztens mitten 374.000 Einheiten verkaufte er in der lich zu Lebkuchen und Wham! werden sie auf der Bühne übergeben, schuld war ersten Woche von seinem dritten Stu- jährlich auf dem Markt geschmissen, wie aber einfach zu viel Milch. Justin, du dioalbum in den USA. Den knapp zehn bei einer Flasche Ketchup, deren Inhalt bist im wahrsten Sinne des Wortes also Jahre älteren Mumford & Sons, briti- den ganzen Teller füllt, weil man auf den ein „Auslaufmodell“. Aber wer weiß, scher Herkunft und – anders als der Boden der Flasche geklopft hat: die Ar- vielleicht brechen ja demnächst deine adrett gebügelte Bieber – gekleidet in maden von Greatest-Hits-Alben, Best-Ofs Zahnpflegeprodukte inklusive singen- vergilbten Hemden, speckigen Hosen und Special-Editions. Wann sonst gönnt der Zahnbürsten sämtliche Rekorde. und zudem unrasiert und ungekämmt, man dem Plattenschrank die mittlerwei- Anderthalb Jahre gehörst du ja noch wurden 600.000 Exemplare aus den le vierte Version von „Darkness On The der Zahnspangenzielgruppe an. Händen gerissen. Kein Bieber-Fieber Edge Of Town“, das Uber-Deluxe-Box-Set mehr. von U2s „Achtung Baby“ inklusive der le- Katharina Bock gendären The-Fly-Sonnenbrille oder die Was also tun? Wer verkauft denn streng limitierte Edition von „The SMiLE heuer noch Platten? Tote! Michael Jack- Sessions“ der Beach Boys inklusive Surf-

Folk. Sturms rauchige Stimme überbringt KLÄMPNER – HYPERPIPE zen sich angenehm im Gehörgang fest. auf den zwölf Tracks des Albums dabei Tex- Im nächsten Song pömpeln die „KlÄmp- te wahlweise fürs Poesiealbum („Ein Kuss Im vergangenen Jahr hörte und sah man ner“ weiter darauf los und hoffen mit brennt auf den Lippen und der Westwind auf Hannovers Stadtfesten noch eine „Nobody can stop me“ die Leichtigkeit zu weht ihn fort“), für den nächsten Banksy Gruppe Blaumänner mit ordentlich Blech erhalten. Das gelingt ihnen, bis Blaufrau („Erinnerungen brennen so schlecht“) oder auf der Bühne und deutsch philosophie- Bell den Spagat zwischen angestrengter den neuen Jutebeutel („Der Okzident war renden „Freiheit“-Texten zu karibischen Soulstimme und Reggae versucht und dir zu dekadent“). Da das Album am Ende Reggae-Rhythmen. Der „KlÄmpner“- etwas ausfranst, hätte man sich zum Ab- Frontmann wurde nun allerdings gegen schluss nochmals ein Machtwerk wie „Pro- eine Frau in Blau getauscht: Natascha log“ gewünscht, eben einen Epilog. Man Bell mit giftroten Dreadlocks und einer kann aber auch Haare spalten. weniger derben, dafür aber souligen Stim- me. Der Off-Beat ist „Hyperpipe“ erhalten Label: PIAS Germany geblieben und trägt, wie ein kontinuierli- Mehr davon: www.nicolassturm.de ches Plätschern in Hannovers Rohrleitun- gen, durch die fünf Songs. Der erste Track Katharina Bock „Intimacy“ zeichnet sich weniger durch ausgefeilte Poesie, als vielmehr durch eingängige Hooks der Bläser aus. Die set-

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ihr dabei die Mühelosigkeit abhanden- ihren Namen bereits phonetisch die des Quartetts. Was Post-Rock ausma- kommt. Zurücklehnen kann man sich da- Richtung, die diese EP einschlagen will: chen sollte, nämlich Geschichten ohne für bei „Rules of life“, und bei dem Track Worte nur durch Musik zu erzählen, „Vacation“ sieht man sich im Strandkorb schaffen auch Hermelin. Mit ihrem Spa- am Leineufer entspannen. „World made gat „Sanft und melodisch vs. laut und auf of clocks“ schließt „Hyperpipe“ mit jazzig- die Zwölf“ setzen sich die Hannoveraner dissonanten Klängen ab. Abschließend in der deutschen Post-Rock-Szene fest beweisen sie nochmals, dass es sich und erfreuen sich steigender Beliebtheit. hierbei um eine sauber produzierte Platte Die Band hat offensichtlich ein Herz für handelt, die der nächste Klempner beim ihre Fans, sodass man „Erzwo“ kostenlos Pömpeln laut aufdrehen sollte. von ihrer Bandcamp-Seite herunterladen kann. Wer den Jungs etwas zurückgeben Label: – möchte, kauft sich die CD mit selbst ge- Mehr davon. www.klämpner.de basteltem Cover.

Samira Leitmannstetter tweeezzzz. pexxxx. Tiefe Elektrobeats, spacige Dance-Elemente und eine kleine SHUBANGI & THE MAXONS – MASALA Brise Dubstep spiegeln den Facetten- KINGDOM REMIXED reichtum der Gewürzmischung Masala 2.0 gut wider. So legen sich die elektroni- Ein Aufruf im sozialen Netzwerk Face- schen Beats beispielsweise in Tweezer’s book legte den Grundbeat für die Remix- Version von „Music“ scharf auf Shuban- EP der Münsteraner Band Shubangi & gis Stimme und geben sie erst in aller- The Maxons. „Masala Kingdom“, ange- letzter Sekunde wieder frei. Dagegen ist lehnt an das grell-rote indische Masala- im Remix von „Jungle Queen“ von der Gewürz, bewies im November 2011, wie Gesangsspur nicht mehr als ein kleiner man Hip-Hop-, Funk- und Soul-Elemente Rest Synthie-Chor übrig geblieben. Wer in Einklang bringen kann. Gepaart mit bei „Masala Kingdom Remixed“ also auf Label: Digital Kunstrasen dem kräftigen Stimmorgan von Frontfrau neue Stimmwunder der Münsteraner Mehr davon: www.hermelinband.de Shubangi hatte die Platte eine Hand- Sängerin hofft, wird hier leider enttäuscht voll eingängiger Melodien in petto. Mit werden. Erik Klügling den virtuellen Freunden kommen nun ganz frische Gewürze ins Spiel und ver- Label: nur digital mischen sich mit den alten Vocals und Mehr davon: www.shubangi.com STEVE FROM ENGLAND – ROONEY! Beats. Die Remix-Künstler nennen sich Tweezer oder Hempex und weisen mit Samira Leitmannstetter Mit ihrer EP, die womöglich nur aus Zufall so heißt wie der englische Fußballspie- Ihr wollt eure CD im ler, hauen die fünf Jungs aus Hannover HERMELIN – ERZWO ordentlich auf den Putz. Sie gehen mit ih- „Saitensprung“ rezensieren rem eigenen Erfolg zwar eher ironisch um lassen? Die vier Hannoveraner der Gruppe „Her- und bezeichnen ihren Musikstil als „Ger- Dann schickt eure Platte melin“ meldeten sich vor Kurzem mit man-Amateur-Hardcore“, doch Amateure und dazugehöriges ihrem bereits dritten Album „Erzwo“ zu- sind sie schon lange nicht mehr – im Ge- Informationsmaterial an: rück. Darauf schaffen sie in knapp 40 genteil. 2011 kürte der „Metal Hammer“ Minuten etwas, das nicht allen Post-Rock- Steve From England zu den „Helden von Bands dieser Zeit gelingt: In den drei (!) Morgen“, und das aus gutem Grund. Auch Redaktion „Saitensprung“ Liedern wurde eine solide Balance zwi- wenn es diesmal keine 14-Song-LP ist, Institut für Journalistik und schen melodischen, verträumten, für den so schlagen die sechs Titel ein wie eine Kommunikationsforschung Postrock geradezu typischen Passagen Bombe. Jeder wird unterstützt von Crew- Gunter Reus und richtig harten Kracherparts kreiert. Shouts und ist durchzogen mit ausgereif- Expo Plaza 12 Auch wenn man immer wieder starke An- ten und perfektionistisch eingespielten 30539 Hannover klänge an Vorbilder wie Tool oder Kyuss Gitarrenmelodien. Die Platte stellt ein heraushört, überrascht die Vielfältigkeit schlüssiges Gesamtkunstwerk dar, das

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im Vergleich zum Vorgänger „Serenity is just a Relic“ (2010) noch druckvoller, DAS HÖRT DIE REDAKTION Musik am Tag, Musik in der Nacht – auch die „Saitensprung“-Redaktion hört Musik zu jeder Uhrzeit: der eine zum Abschalten oder Einschlafen, die andere zum Abtanzen oder Einschwingen. Hier ein kleiner Auszug aus dem Musikre- pertoire, das die Redaktion derzeit am liebsten tagsüber und nachts hört.

Frederike Arns Tagmusik: Roy Ayers Ubiquity – „Everybody Loves The Sunshine“ Nachtmusik: Billy Joel – „New York State Of Mind“

Katharina Bock Tagmusik: Kai Fish – „Homerton Baby“ gleichzeitig aber auch eingängiger ist. Die Texte, immer mit einer Prise Ironie oder Nachtmusik: Bruce Springsteen – „Streets Of Fire“ Kritik versehen, kommen durch Sänger Martin und dessen energischen Shout- Lena Klimkeit Stil, der sich wie Schmirgelpapier anfühlt, Tagmusik: Katzenjammer – „Land of Confusion“ stark zur Geltung. Die Gitarrenparts las- Nachtmusik: Parov Stelar – „Catgroove“ sen professionelle Arbeit und Feingefühl erkennen. Obwohl die Eigenproduktion im Proberaum der Band – unter der Regie Erik Klügling von Drummer Alex – entstand, kann sich Tagmusik: The Shins – „New Slang“ „Rooney!“ mit den professionell in teuren Nachtmusik: Sigur Rós – „Starálfur“ Label-Studios produzierten Alben großer Bands messen, klingt dabei aber rauer und authentischer. Zu empfehlen ist die Stephan Kragl ganze Platte, hervorzuheben sind vor al- Tagmusik: Diverse – „Rocky Road to Dublin“ lem der erste Song „Black Flags“ und der Nachtmusik: Sentence – „Resistance“ vierte „Just Another Wisdom, Kid“. Ruth Müller-Lindenberg Label: - Mehr davon: www.stevefromengland.de; Tagmusik: Georg Friedrich Händel – „Klaviersuiten“, gespielt von Keith Jarrett https://www.facebook.com/stevefro- Nachtmusik: Charlie Haden & Pat Metheny – „Beyond the Missouri Sky“ mengland Gunter Reus Josephine Hartmann Tagmusik: Johnny Clegg & Savuka – „I call your name“ Nachtmusik: Gabriel Fauré – „Requiem, op. 48“

Paul Sklorz Tagmusik: Babylon Circus – „La Cigarette“ Nachtmusik: Dredg – „The Ornament“

Frauke Steinhoff Tagmusik: Maximo Park – „The National Health“ Nachtmusik: James Blake – „A Case of You“

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geliehen, der etwas locker sitzt. Die Schu- GLAMOUR MIT he sind mir sieben Nummern zu groß, was wir mit drei Paar Socken und einer halben Rolle Küchenpapier ausgleichen. ERGÄNZUNGSAUSWEIS Meine langen Haare verschwinden unter einer Perücke, die an Florian Silbereisen erinnert. Den Flaum auf Oberlippe und EIN ROLLENTAUSCH AM URSPRUNGSORT Wangen deuten wir mit Lidschatten an. DER TRAVESTIE Trotz aller Mühe wirke ich neben Julia eher wie ein pubertärer Konfirmand und nicht wie ein stattlicher Mann. Auf der Bühne sieht man sie oft, Julia Angelina hat sich für den großen im Alltag eher selten: Männer in Abend richtig in Schale geworfen: Sie Ungestört als Frau Frauenkleidern. Transsexualität trägt einen kurzen schwarzen Rock, hohe kleiden und bewegen Schuhe, eine Netzstrumpfhose und eine ist zwar inzwischen medizinisch dunkelrote glänzende Bluse. Ihre langen Mit 18 Jahren lernte Peter seine jetzi- anerkannt, aber nach wie vor dunklen Haare fallen elegant auf die ge Frau kennen. Sie wusste von Anfang an ein Tabuthema für viele. Präsen- Schultern. Eine starke, selbstbewusste von seiner Transsexualität und tolerierte tieren sich Transvestiten und Frau, die weiß, was sie zu bieten hat. Nur sie nicht nur, sondern unterstützte ihn, in- Transsexuelle auf der Bühne und ist sie gar keine Frau. Julia heißt eigent- dem sie ihm mit ihrer Wohnung einen Ort bei Events wie dem Christopher lich Peter (Name von der Redaktion ge- bot, wo er sich ungestört als Frau kleiden ändert) und ist transsexuell. Bereits mit und bewegen konnte. Mit seiner Frau hat Street Day als glitzernde und 14 Jahren entdeckte er seine weibliche Peter vier Kinder. Doch mit der Zeit wuchs strahlende Figuren, so stecken Identität, doch es dauerte fast dreißig der Wunsch, ganz als Frau zu leben. Und oft harte Schicksale hinter der Jahre, bis er sich traute, dies öffentlich zu so begann Peter nach der Geburt seines glamourösen Fassade. Wie es machen. Aufgewachsen in einem konser- letzten Kindes eine Hormontherapie. sich anfühlt, für den Ausdruck vativen Elternhaus, musste er sich damit Durch die Einnahme von weiblichen Hor- seiner Geschlechtsidentität begnügen, heimlich Frauenkleider anzu- monen wird das Testosteron im männli- angestarrt zu werden, versucht probieren und sie – wie andere Jungen chen Körper unterdrückt. Sekundäre Ge- ihre Playboysammlung – in einem Kasten schlechtsmerkmale bilden sich aus, der „Saitensprung“-Redakteurin unter dem Bett zu verstecken. Bartwuchs geht zurück. Gleichzeitig führt Frauke Steinhoff in einem „Gen- die Einnahme der Östrogene jedoch auch der-Change“-Experiment nachzu- Julia geht an diesem Abend mit mir in zur Abnahme der Libido und bei längerer fühlen. Ein Abend als Mann – und die Oper. Im Theater hatte die Travestie Einnahme zu Unfruchtbarkeit – ein Preis, als Fremder im eigenen Körper. ihren Ursprung. Da es seit der Antike im- den Peter gerne zahlt. mer wieder Phasen gab, in denen Frauen auf der Bühne verboten waren, mussten Doch trotz der Medikamente waren die weiblichen Rollen von Männern über- die bisherigen Versuche zum Scheitern nommen werden. Doch wie reagieren die verurteilt: Die erste Hormontherapie wur- Menschen, wenn sie auch abseits der de durch eine starke Virusinfektion been- Bühne mit einem Mann in Frauenkleidern det, die Peter zum Absetzen der Medika- konfrontiert werden? Um zumindest an- mente zwang. Beim zweiten Versuch kam satzweise nachempfinden zu können, wie sie nur knapp mit dem Leben davon, als es sich anfühlt, von allen für sein Ausse- nachts im Schlaf ihre Aorta kurz vor dem hen angestarrt zu werden, nehme ich Juli- Herzen riss und sie innerlich fast verblu- as „Gender Change Service“ in Anspruch, tete. Wieder war er gezwungen, die Hor- den sie auf ihrer Internetseite – neben mone abzusetzen. Bald möchte sie einen Perücken, Kosmetik, Burlesque-Auftritten neuen Versuch starten. Am liebsten wür- und Begleitservice – anbietet. Normaler- de sie es „voll durchziehen“ und einen weise hilft sie Männern dabei, für einen operativen Eingriff vornehmen lassen, Tag in die Rolle einer Frau zu schlüpfen. aber die Risiken sind mit einer künstli- Die umgekehrte Verwandlung ist auch für chen Herzklappe und der noch immer in- Julia eine Herausforderung. Von einem stabilen Aorta zu groß. Ein hartes Schick- Kommilitonen habe ich mir einen Anzug sal, zumal Julia bereits so nah am Ziel

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war: „Ich habe die Wechseljahre schon Männer das nicht? Oder gewöhnt man Peters Herzinfarkt hatte jedoch auch hinter mir und die weibliche Pubertät so- sich mit der Zeit daran? Julia ist mit dem etwas Gutes: Die Nahtoderfahrung gab gar zweimal erlebt.“ Und selbst das hält Auto da, wir finden ein paar Straßen von ihm den Mut, sich öffentlich als Frau zu sie nicht davon ab, eine Frau zu werden. der Oper entfernt einen Parkplatz. „Jetzt outen. An seinem 44. Geburtstag lud er kommt der Spießrutenlauf“, meint Julia. seine Gäste zu der Abschlussshow eines Als wir los wollen, stehe ich vor dem Und tatsächlich sehen alle Passanten, Burlesque-Kurses ein, an dem er teil- ersten Problem. Wohin mit Portemon- die uns entgegenkommen, zweimal hin. nahm. Dort präsentierte sie sich allen naie, Handy, Notizblock, Stift und Schlüs- Der erste Blick fällt meistens auf Julias als Frau – eine große Überraschung, vor sel, wenn nicht in die Handtasche? lange Beine, danach schauen die Men- allem für seine Eltern, die bis zu diesem Kurzerhand wandert alles in die Hosen- schen in ihr Gesicht. Ihre Mienen ändern Zeitpunkt ahnungslos waren. „Ich dachte, taschen, die sich weit nach außen beu- sich dabei von angetan zu überrascht/ mein Vater rennt auf die Bühne und zerrt len, sodass ich nun auch noch pummelig irritiert und peinlich berührt. Einem Mann mich runter“, erzählt Julia. Doch es war wirke. Der Inhalt drückt und piekt unan- fällt vor Schreck glatt sein Handy aus der seine Mutter, die nach der Show ganze genehm in meine Oberschenkel. Spüren Hand. Auf mich achtet kaum einer. fünf Wochen nicht mit ihm redete. Bis heute wird Peters Transsexualität in der Familie totgeschwiegen.

Vor der Oper bin ich gespannt. Ich ha- be ein ermäßigtes Ticket und muss daher gemeinsam mit meiner Karte meinen Studentenausweis vorzeigen. Und auf dem bin ich als Frau abgelichtet. Doch die Dame am Einlass ist ganz Profi und nimmt mein Ticket kommentarlos entge- gen. Das Gleiche an der Garderobe. Ich bin enttäuscht. Zumindest ernten wir vie- le Blicke von anderen Operngästen. Vor allem als wir uns zu unseren Plätzen be- geben – die ich extra mitten in der Reihe gebucht habe, sodass wir uns an den be- reits sitzenden Gästen vorbeiquetschen müssen. Aber auch sie sagen nichts.

Seit gut zehn Jahren nennt sich Peter privat Julia Angelina. „Der Name Julia hat mir schon immer gefallen, die Ergänzung Angelina ist etwas verruchter. Die perfek- te Mischung!“ Peter hat sogar einen „Er- gänzungsausweis“ mit ihrer weiblichen Identität. Diesen kann man beantragen, wenn man über eine ärztliche Beschei- nigung verfügt, die bestätigt, dass ein „transsexuelles Syndrom“ vorliegt.

Das Orchester setzt mit der Ouvertüre ein. Wir sehen Gounods „Faust“ in kon- zertanter Aufführung. Und welche Überra- schung: Ich bin nicht die einzige Frau im Anzug an diesem Abend. Die Rolle des Si- ébel wird von Monika Walerowicz gesun- gen. Die weibliche Besetzung soll andeu- ten, dass es sich bei der Figur um einen sehr jungen Mann handelt. Genau wie ich ja auch eher aussehe wie ein Jüngling.

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Allerdings bin ich die Einzige mit Florian- Silbereisen-Frisur. Die Perücke wird mir langsam unangenehm. Nicht nur, dass sie rutscht, vor allem beginnt meine Kopf- haut zu jucken. Ich versuche den Drang zu kratzen zu unterdrücken. Mir ist ziem- lich heiß in dem Jackett und mit den drei Paar Socken. Mann sein ist hart.

Begegnet man Peter, erinnert wenig an die glamouröse Julia Angelina. Er wirkt eher unscheinbar. Nur seine Fingernägel verraten ihn: Sie sind extrem lang und mit Nagellack und bunten Glitzerstein- chen verziert. „Mit diesen Fingernägeln habe ich bereits ein Haus gebaut, einen Pool ausgehoben und eine Solaranlage aufgebaut“, antwortet Julia auf meine skeptische Frage, ob solche Krallen nicht total unpraktisch seien. Unpraktisch also ßerer Tabubruch, sich als Mann weiblich der Männerklamotten kaufen.“ Frauen- nicht, aber verräterisch. Oft wird Peter zu kleiden denn umgekehrt. kleidung besitzt sie hingegen in Massen auf seine Nägel angesprochen. Auf sei- – alleine 500 Paar Schuhe stapeln sich ne Antwort, er sei transsexuell, reagieren Das Bier treibt und so suche ich die auf dem Dachboden, gemeinsam mit die meisten mit Neugier. „Ich bin noch Toilette auf – die Herrentoilette, versteht 100 Perücken und einem Berg an Klei- nie blöd angemacht worden“, sagt Peter. sich. Vor der Toilettentür muss ich einmal dern und Kostümen aller Art. Er geht sogar so weit zu sagen, dass die durchatmen. Ich stelle mir vor, wie ein meisten Männer etwas neidisch auf ihn alter, geifernder Mann mich anbrüllt und Nach der Vorstellung fahren wir direkt seien: „Die würden auch gerne mal in aus der Toilette zerrt. Doch genau das will nach Hause. Wir sind beide erschöpft. Ich Frauenklamotten rumlaufen, trauen sich ich ja bewirken. Also Augen zu und durch. bin froh, als ich meine Maskerade wieder aber nicht. Männer sind Angsthasen.“ Bei den Pissoirs steht ein Mann mit dem ablegen kann. Nicht nur, weil mir heiß ist Rücken zu mir. Mit starrem Blick gera- und die Perücke kratzt, sondern weil ich In der Pause stelle ich mich an die Bar, deaus gehe ich im Stechschritt auf die endlich wieder ich sein kann und nicht um für meine Begleitung und mich etwas Kabine zu. Puh, geschafft. Beim Hände- mehr eine Rolle spielen muss, die nicht zu trinken zu holen – ganz Gentleman. waschen lasse ich mir etwas mehr Zeit. zu mir passt. Gleichzeitig fühle ich mich Als der Mann vor mir zahlen will, reicht Doch mehr als irritierte Blicke bekomme schuldig – für mich war das nur ein kurz- ihm seine Frau das Geld. Mit einem Au- ich nicht. Als ich aus der Toilette trete, zeitiges Experiment, Julia hingegen muss genzwinkern sagt er zu mir: „Die Frauen bin ich trotzdem erleichtert, diese Mut- tagtäglich eine Rolle spielen: die eines haben finanziell immer den Finger drauf.“ probe ohne größeren Ärger überstanden Mannes, der sie nicht ist. Umso mehr be- Ich freue mich – scheint es doch, als wür- zu haben. Es hat inzwischen zum zweiten wundere ich sie für ihr Selbstbewusstsein de er mich als männlichen Leidensge- Mal geläutet, und Julia und ich nehmen und ihre Lebensfreude. Sie ist eben doch nossen ansehen. Während Julia und ich unsere Plätze wieder ein. Als das Licht das, was ich von Anfang an in ihr gesehen trinken, lasse ich möglichst unauffällig ausgeht, entspanne ich mich etwas. Es habe: eine starke Frau. meine Blicke durchs Foyer wandern. Ja, ist anstrengend, die ganze Zeit beäugt wir werden angeschaut. Einige scheinen zu werden und zu fürchten, jeden Augen- Frauke Steinhoff über uns zu tuscheln, aber keiner spricht blick böse angegangen zu werden. uns an. „Das ist normal“, meint Julia. „Die Deutschen sagen nie etwas. In Ame- Hauptberuflich arbeitet Peter als In- rika würde ich mich so nie auf die Straße genieur – als Mann. „Den Job hätte ich trauen. Die Deutschen stört das mindes- als Frau nie bekommen. Die Leute fühlen tens genauso, aber sie sind zu feige, was sich oft auf den Arm genommen, wenn zu sagen.“ Die Blicke sind vielfältig: Vor ich als Frau auftrete“, meint sie. Dennoch allem Julia erntet viele pikierte und irri- fühlt er sich unwohl in seiner Rolle, „ge- tierte Blicke, während ich eher belustigt tarnt als Mann“. „Für den Job musste ich beäugt werde. Anscheinend ist es ein grö- mir das erste Mal seit sechs Jahren wie-

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„ICH ERLEBE DIE WELT IN EINEM ANDEREN LICHT“

SYNÄSTHETIKER Es spielt keine Rolle, in welcher Grö- Verknüpfung unserer Sinne: So kann zum ße, Farbe oder Schriftart Annika Schmitz Beispiel das Hören von Tönen oder das KÖNNEN IHRE FÄHIGKEIT (Name von der Red. geändert) das Wort Sehen von Buchstaben in anderen Sin- VIELSEITIG EINSETZEN „Saitensprung“ schreibt. Für sie sieht nen mitwirken“, erklärt Markus Zedler, es immer gleich aus – rot. „Das liegt vor Oberarzt und Facharzt für Psychiatrie an allem an den Buchstaben S und A. Bei- der Medizinischen Hochschule Hannover de sind bei mir rot und dominieren die (MHH). Demnach können Synästheti- Farben der anderen Buchstaben.“ Was ker zum Beispiel beim Musikhören Far- vielleicht für andere etwas verrückt oder ben sehen oder sogar Töne schmecken. befremdlich klingt, ist für Annika normal. Manchen erscheinen Buchstaben in be- Sie „hat“ Synästhesie, ein Phänomen, stimmten Farbmustern. Annika braucht das nur bei vier Prozent der Bevölkerung keinen Marker, denn sie markiert Texte weltweit vorkommt. „Synästhesie ist die durch bloßes Lesen.

12 Synästhesie

Synästhesie – eine Spielart der Evo- die meisten Betroffenen vor allem Positi- ren Jahren bestehenden Arbeitskreis für „ICH ERLEBE DIE WELT lution? Zwar wurde das neurologische ves aus ihrer Situation. Von einem Leiden Synästhesie an der Medizinischen Hoch- Phänomen schon vor über 300 Jahren mag auch Annika nicht sprechen, weil schule, spricht immer wieder mit Betrof- untersucht, doch bis heute kann man „ich es zu meinem Vorteil nutzen kann. fenen und merkt ihnen eine besondere IN EINEM ANDEREN LICHT“ sich nicht genau erklären, wie Synäs- Ich erlebe die Welt in einem anderen Lebensfreude an. Auch wenn das alles thesie eigentlich entsteht. Einer Theorie Licht als die meisten Menschen.“ Man schön und gut klingt, bleibt dennoch nach wird es vererbt, da es in Familien hört von ziemlich allen Betroffenen, dass eine Frage offen: Kommt Annika auch häufig mehrmals auftritt. Es sind deutlich sie ihre ganz besondere Sicht des Lebens wirklich mit ihrer ganz speziellen Sicht mehr Frauen als Männer davon betroffen; als etwas Alltägliches und Universelles des Lebens klar? „Ich frage mich, wie ihr vielleicht ist die Ursache eine Modifikati- empfinden. „Wenn mir meine Lehrerin Dienstag und Donnerstag so einfach un- on auf dem X-Chromosom. 1866 prägte in der Grundschule erklären wollte, dass terscheiden könnt.“ Weil die Wörter sich der Neurophysiologe Alfred Vulpian den die Buchstaben auf der Tafel diese eine so ähnlich sind, haben sie auch die glei- altgriechischen Begriff Synästhesie, der bestimmte Farbe hätten, habe ich sie im- chen Farben für Annika. übersetzt so viel wie „mitempfinden“ oder mer für verrückt gehalten. Ich habe doch „gleichzeitig wahrnehmen“ bedeutet. Das immer meine Farben darin gesehen. Was Manchmal bereiten ihr die vielfachen Phänomen hat etliche Ausprägungen und mich von den meisten Menschen unter- Sinneseindrücke durchaus Schwierig- Varianten, sodass jeder Synästhetiker scheidet, ist mir erst später bewusst ge- keiten. So kann sie Werbeflächen mit seine spezielle Kombination von Sinne- worden.“ Synästhetiker besitzen so etwas großen Buchstaben erst spät erkennen. serfahrungen erlebt. „Das Gehirn leistet wie einen „inneren Monitor“. Dadurch „Auch wenn ich in einem Konzert sitze sich mit der Synästhesie einen Luxus“, sehen sie die Welt auf ihre Art, wissen und die Finger des Pianisten sehe, höre meint Wolfgang Dillo, Mitglied des Ar- aber auch, wie wir sie sehen. So können ich immer diesen Schlagrhythmus der beitskreises für Synästhesie an der MHH. sie ihre „Begabung“ zumeist beliebig ein- Tasten, monotone Geräusche, die die setzen. Ähnliche Erfahrungen könnten Musik übertönen“, sagt sie. „Das kann Meistens merken die Betroffenen „Normalsterbliche“ höchstens durch be- mir schon das ein oder andere Konzert jahrelang nicht, welche besonderen Fä- wusstseinsverändernde Drogen wie zum vermiesen.“ Trotzdem lebt sie gerne mit higkeiten sie haben. „Ich habe es erst Beispiel LSD machen. Synästhesie, auch wenn sie eine andere 2007 zufällig entdeckt“, erzählt Annika. Sicht der Welt nicht kennt. Sie fühlt sich „In einem Seminar wurde eine Umfrage „Synästhesie ist keine Krankheit, son- ganz normal und gesund. Es schmerzt sie der Medizinischen Hochschule Hannover dern ein Begabungsmerkmal. Häufig -er nur, wenn sie mit Menschen über all das verteilt. Ich hatte völlig unterschiedliche öffnet es den Betroffenen Möglichkeiten redet und nicht verstanden wird. „Doch je Ergebnisse als meine Freundin.“ Seitdem der Vielschichtigkeit, die normalerweise länger ich über meine Welt nachdenke, versucht sie, ihre außergewöhnlichen Fä- nicht erreichbar sind“, ist sich Markus desto grauer erscheint mir eure.“ higkeiten zu ergründen. Zedler sicher. Er leitet den seit mehre- Erik Klügling

Annika sieht Musik, selbst wenn sie nicht weiß, woher sie kommt. Während ein Musikschüler ein paar Fingerübun- gen im Raum nebenan auf dem Klavier abspult, reagiert ihr Gehirn unwillkürlich: „Im Hintergrund blitzen viele kleine graue Punkte auf und schwirren durch die Ge- gend.“ Da Annika selbst musikalisch ak- tiv ist, kennt sie alle Töne auf dem Kla- vier. Jedes Mal, wenn sie auf die Tasten schaut, erscheinen Farben in allen denk- baren Variationen. „Manche Farben habe ich in der Realität noch gar nicht ent- deckt, ich weiß manchmal nicht, wie ich sie beschreiben soll“, sagt Annika. Es fällt ihr oft schwer, anderen ihre Eindrücke zu erklären. Öffnungszeiten: Montag - Freitag 09.00 - 18.00 Uhr Samstag 09.00 - 13.00 Uhr Auch wenn „Synästhesie“ für manche nach einer Krankheit klingt, ziehen doch

13 Fünf Songs

BOSSE – DIE NACHT (2011) dies“ – aus den 80ern macht man sich selten Gedanken. Dass diese Auseinan- „Im nächsten Stück geht es um je- dersetzung lohnenswert und vor allem manden, von dem du genau weißt, dass überraschend sein kann, zeigt Corey er dir nicht gut tut, der dich aber trotzdem Hearts „Sunglasses At Night“ aus dem irgendwie nie loslässt.“ So oder ganz ähn- Jahr 1984. Oder wusste irgendjemand, lich kündigte ein verschwitzter Axel Bos- dass der kanadische Popmusiker mit se im vergangenen Februar diesen Song diesem Song eine wunderbare Metapher an – zu seinen Füßen eine mucksmäus- geschaffen hat, die nicht etwa coole Par- chenstille Menschenmasse im ausver- typeople mit ihren hippen Sonnenbrillen kauften Capitol. Knapp, aber stimmig: Track Nummer vier auf Bosses viertem Studioalbum „Wartesaal“ ist ein roman- tischer Aufschrei in Bildern, eine Liebes- erklärung ohne Beziehungsabsichten, die NÄCHTLICHE nachts keiner Worte bedarf und im hell- lichten Alltag nichts zu suchen hat. In kla- rer Sprache geht es da um verklärte Erin- VERIRRUNG nerung („Du blitzt auf und spielst verrückt wie tausend alte Fotostrecken“), den klei- Sie ist Segen und Fluch, Einsam- nen dunklen Schwachpunkt auf jedem Herzen und das unsichtbare Band, das keit und Kribbelbauch, quälender nur die Nacht skrupellos zwischen zwei Schmerz und großes Gefühl, Menschen aufspannt, um so lange daran Leidenschaft und Fiebertraum. zu ziehen, bis es wehtut. Zum Glück folgt beschreibt, sondern vielmehr das Licht Dunkel, bedrohlich, befreiend auf die nächtliche Verirrung am Morgen am Ende des Tunnels, obwohl gerade al- und knisternd, so still und so wieder das echte Leben („Dann kommt les schiefläuft? Denn darum geht es: das Gefühl, sich selbst verfremden zu wollen, laut, Frische und Abgrund. Warm Sonne in die Fenster und du bist komplett um Abstand zu einer Erkenntnis zu gewin- und geborgen, schreiend und verschwunden, noch nicht mal ein Ge- fühl“). Und im Zuge sorgfältiger Kopfhy- nen (in diesem Falle, oh Überraschung: beißend, geheimnisvoll, verlo- giene waschen sich Gedankenfilme zu- diese Frau betrügt mich und macht mir ckend und listig. Sie kommt im- sammen mit Zigarettendunst und Bierge- etwas vor!). Noch im dunklen Licht der mer wieder. Mal plötzlich, unter ruch ganz von selbst in den Ausguss. Bis Nacht ist dann ein Hoffnungsschimmer Freunden, in schützenden Armen, zur nächsten Dämmerung. zu sehen. Verzweiflung, Liebe, Eifersucht, im Schichtdienst oder Schnell- aber auch Hoffnung – in diesem Song steckt alles. Zugegeben, der immerzu restaurant, neben dröhnenden wiederholte Satz „I wear my sunglasses Boxen, am Schreibtisch, im Taxi at night“ lässt sich auch viel einfacher in- und Bett eines Fremden. Oder terpretieren: Die letzte Nacht war einfach einfach mit einem guten Buch, zu wild, ich sehe so fertig aus – da las- dessen Ausgang man noch ken- se ich die Sonnenbrille auf der morgigen nen muss. Sie macht glücklich, Party lieber auf. verzweifelt, einen klaren Kopf und betrunken. Ist voller Dämo- W. A. MOZART – EINE KLEINE nen, unbekannter und eigener. NACHTMUSIK (1787) Sie lässt uns nicht schlafen, hält uns umschlungen, weckt Sehn- Was hat der „Frühling“ aus Vivaldis sucht, Ängste, Liebe, Wahnsinn „Vier Jahreszeiten“ mit Puccinis „Nessún COREY HEART – SUNGLASSES und Wut. Die Nacht. Ein Karus- Dorma“ gemeinsam? Und was verbindet AT NIGHT (1984) diese beiden wiederum mit Bachs „Ba- sell der Emotionen und damit dinerie“ und Wagners „Walkürenritt“? allemal Anlass genug, ihr die Über den textlichen Inhalt mancher Alle diese Stücke finden sich mit hoher Rubrik „Fünf Songs“ zu widmen. Hits – man mag fast schon sagen „Ol- Wahrscheinlichkeit gemeinsam auf Titel-

14 Fünf Songs

listen von CDs wieder, die Namen tragen amradio und festem Bestandteil jeder Geschichte, während Barry Gibb zu Ehren wie „Meisterwerke der Klassik“, „Classic durchschnittlichen Erwachsenenparty. Ei- seiner Brüder solo weitermachen will. Moments“, „Höhepunkte der Klassik“ gentlich ein guter Song mit noch besserer Aus der Bee Gees-Zeit legendär bleiben oder – ganz kreativ – „Klassik classics“. Geschichte: Bruce Springsteen schreibt wird aber vor allem der 1977 erschiene- Ende der 70er ein Stück über Lieben- ne Soundtrack zu „Saturday Night Fever“, de, Nacht und Leidenschaft, mag seine der Songs wie „How Deep is Your Love?“, eigene Aufnahme aber nicht besonders „More Than a Woman“ und auch dieses und lässt es kurzerhand von Patti Smith Prachtstück – „Night Fever“ – enthält. und ihrer Band einspielen. Warum? Weil 40 Millionen Mal wurde der Soundtrack die zufällig gerade im Probenraum ne- verkauft und ist damit das erfolgreichste benan zugange sind. Smith überarbeitet die Lyrics, Springsteen ernennt sie zur Co-Writerin, 1978 entert die Single die weltweiten Hitlisten, und der Grundstein für unzählige Kopien ist gelegt: Neben der Dorfdisko-Version des deutschen -Sternchens Cascada sind da beispielsweise die 10.000 Maniacs mit Es handelt sich dabei um Kompilationen, ihrer Alternative-Variante, außerdem etli- die im besten Fall ein netter Zusammen- che weitere Tanz-, Geigen-, Schrammel-, schnitt sind von „Habe ich schon mal ge- Triphopinterpretationen, auch spanische, hört“ und „Kenne ich irgendwoher“. Im japanische und geflüsterte. Darunter im- schlimmsten Fall sind es Fetzen, die aus mer wieder ein Charterfolg. Ja, viele Kö- ihrem angestammten Lebensraum geris- che verderben den Brei. Aber in diesem sen wurden wie ein einsames Eisbärpär- Fall eben auch: Der älteste Tropfen ist Album der australischen Gruppe. Davon chen im Tierpark. Dieses bittere Schick- immer der beste. Klebt vielleicht ein biss- hat nicht nur sie selbst profitiert. Sollten sal widerfährt auch der „Serenade Nr. 13 chen, schmeckt aber auch nach über 30 die Originalaufnahmen der Bee Gees ir- für Streicher in G-Dur“ von Mozart viel Jahren. gendwann einmal an Anziehungskraft zu oft. Die kennen Sie nicht? Klar doch! einbüßen, so gibt es immer noch Teenie- Das ist die „Kleine Nachtmusik“ – die mit Schwärme wie die Boygroup „Take That“, dem markanten Anfangsthema im ersten die ihre Songs erfolgreich covern. „Night Satz. Dieser Satz, Allegro, ist es auch, der Fever“ ist jedenfalls auf jeder Jugendsün- stets den Weg auf die besagten Klassik- den-Party zu hören und einfach so tanz- Sampler findet. Schade eigentlich, denn bar, dass ihn die DJs wahrscheinlich auch der Rest (drei weitere Sätze) ist ebenso noch spielen werden, wenn die drei uns hörenswert; kompositorisch ausgefeilt, nachfolgenden Generationen ihre ersten aber doch gänzlich unaufgeregt und kei- fiebrigen Partynächte abfeiern. ne schwere Kost. Das wäre dann doch etwas, das die Aufnahme des Werks auf Anne Kleinfeld/Benedikt Spangardt/ einen Klassik-Sampler rechtfertigte. Ach Anthrin Warnking ja, dazu kommt noch die Tatsache, dass die „Kleine Nachtmusik“ tatsächlich ein Werk der Klassik ist – im Gegensatz zu den vier Eingangsbeispielen.

BEE GEES – NIGHT FEVER P Atti SMITH – BECAUSE THE (1977) NIGHT (1978) Um Barry ist es einsam geworden. Viele Köche verderben den Brei, heißt Jahrelang standen die Brüder Gibb unter es. Viele qualitativ fragwürdige Coverver- dem Bandnamen „Bee Gees“ erfolgreich sionen verderben den Hit. Heißt es nicht, gemeinsam auf der Bühne. Nun ist nach ist aber so im Fall von „Because the Maurice vor kurzem auch Robin Gibb ge- Night“, einem Dauerbrenner im Mainstre- storben. Die Bee Gees sind also offiziell

15 Doping

STIMMUNGSAUFHELLER IN DER KLASSIKSZENE

Dass manche Hochleistungs- sportler zu Medikamenten grei- fen, um ihre Leistung zu steigern, wissen alle. Aber auch aus der Klassikszene sind solche Fälle bekannt. Prof. Dr Helmut Möller aus Berlin hat sich auf berufliche Belastungen von Musikern spe- zialisiert und weiß, unter wel- chem Druck sie stehen.

Saitensprung: Opernsänger Endrik Wot- trich hat die Diskussion um Doping in der Klassikszene angestoßen. Er behauptet, dass viele Profimusiker Medikamente Die meistverbreiteten Mittel sind die Be- Illegaler Drogenmissbrauch ist wohl eher einnähmen, um dem großen Leistungs- tablocker, durch die der Herzrhythmus ein Rock-/Pop-Phänomen. Alkohol ist hin- druck gewachsen zu sein. Wie schätzen konstant niedrig gehalten und so ein Ge- gegen auch im Klassikbereich sehr ver- Sie dieses Problem ein? fühl von Ruhe und Sicherheit vermittelt breitet und wird vor allem nach dem Kon- wird. Die zweite Stoffgruppe sind Benzo- zert zur Entspannung konsumiert. Aber Möller: Der Leistungsdruck, der auf Mu- diazepine, die im Gehirn die Angsterre- auch hier kann ich Ihnen keine konkreten sikern lastet, ist in der Tat enorm. Das gung unterdrücken und muskelentspan- Zahlen nennen. liegt zum einen an den neuen Produkti- nend wirken, wie das Valium. Auch die onsmöglichkeiten: Aufnahmen werden Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, also Kann sich der Medikamentenmissbrauch unter Laborbedingungen produziert und die Antidepressiva, sind beliebt. Denn auch negativ auf das Spiel auswirken? falsche Töne retuschiert. Das Publikum Angst und Depression sind quasi Ge- erwartet im Konzert dieselbe Qualität, schwister – stimmungsaufhellende Mittel Bei der falschen Dosis kann es natürlich und das wissen die Musiker. Sie stellen wirken gleichzeitig angsthemmend. sein, dass sich die Medikamente auf die oft Ansprüche an sich, die sie gar nicht Reaktionsfähigkeit, das Sehen oder Hö- erfüllen können. Hinzu kommt der wach- Ist es ethisch vertretbar, dass Ärzte einen ren auswirken. Daher muss jeder Musi- sende Konkurrenzkampf. Ein Weg, mit solchen Medikamentenmissbrauch un- ker zunächst mit den Medikamenten ex- dem Druck umzugehen, ist die Einnah- terstützen? perimentieren und die Dosierung in einer me von Medikamenten. Wissenschaftlich Probesituation testen. ist es allerdings sehr schwer, konkrete In bestimmten Situationen kann ein Me- Zahlen zu gewinnen, da Auftrittsangst ein dikament durchaus helfen, solange es Was gibt es für Alternativen, mit Auftritt- Tabuthema ist. Aber nach meiner Erfah- sich um zeitlich begrenzte Einnahmen sangst umzugehen? rung und den bestehenden Studien zu handelt. Bei ständiger Auftrittsangst löst dem Thema würde ich schätzen, dass 10 das Medikament allein allerdings keine Es bieten sich vor allem Entspannungs- bis 25 Prozent der Berufsmusiker zu Me- Probleme. Daher sollte ein Arzt darauf methoden wie Yoga, autogenes Training dikamenten greifen, um ihre Angst in den drängen, psychologische Hilfe in An- oder Qigong an. Jeder Musiker muss Griff zu bekommen. spruch zu nehmen. selbst herausfinden, was zu ihm passt. Außerdem sollte man bei der Wahl seines Was sind das für Mittel, die gegen Auf- Greifen einige Musiker auch zu härteren Lehrers und Orchesterleiters darauf ach- trittsangst eingenommen werden? Mitteln, zum Beispiel illegalen Drogen? ten, dass er eine positive Einstellung zu

16 Doping

Fehlern hat. Fehler sollten nicht als etwas Glauben Sie, dass durch die neue Auf- Nicht nur für Musiker, sondern auch für Negatives, sondern als essentieller Be- merksamkeit in den Medien das Tabu ge- andere Berufe, die auf ähnliche Weise standteil des Lernens angesehen werden. brochen und das Problem bewältigt wird? belasten. Nur so kann gegen Ängste vor- Auch sollte man sich selbst beobachten: gegangen werden. Wie wurde ich sozialisiert? Projiziere ich Ich bin jedem Medium dankbar, das die- alles auf mich selbst? Überkompensiere ses Thema aufgreift. Ich glaube, dass Das Gespräch führte Frauke Steinhoff ich? Bei solchen Anzeichen sollte man der Blick hinter die Bühne ein wichtiger sich rechtzeitig Hilfe holen. Schritt ist, um Verständnis zu gewinnen.

„NERVOSITÄT IST EINE KRANKHEIT, DIE ICH MIT MEDIKAMENTEN BEHANDELE“ me von Medikamenten. In der Hoch- schule habe ich mit niemandem über ERFAHRUNGEN EINES GEIGERS MIT BETABLOCKERN das Thema gesprochen und weiß von niemandem, der Betablocker oder Ähn- Kilian (Name von der Redaktion ge- nahme negativ auf das Spiel auswirken liches nimmt. In dem Orchester, in dem ändert) studiert im Fächerübergrei- könnte? ich früher gespielt habe, lagen die Pil- fenden Bachelor Musik und Mathe- len aber bei einer Violinistin immer im matik an der Hochschule für Musik, Da ich zu Anfang immer positive Erfah- Geigenkasten. Theater und Medien Hannover. Seit rungen gemacht habe, hatte ich wenig dem Alter von vier Jahren spielt er Sorgen. Ich hatte aber immer viel Res- Im Sport ist Medikamenteneinnahme Geige und Klavier. Doch von Anfang pekt vor den Medikamenten. Deshalb verboten, weil man sich dadurch einen an quälte ihn Auftrittsangst. Als mit habe ich die Einnahme auf wirklich wich- Vorteil verschafft. Ist es nicht anderen 15 Jahren das erste große Vorspiel tige Auftritte beschränkt und nie mehr als Musikern gegenüber unfair, wenn man anstand, gab ihm seine damalige eine Tablette genommen. durch die Einnahme von Betablockern Geigenlehrerin eine halbe Tablette sein Spiel manipuliert? Betablocker gegen die Nervosität. Hast du auch andere Mittel gegen die Jahrelang vertraute er auf die Hilfe Nervosität ausprobiert? Nein, ich rechtfertige die Einnahme da- des Herzmedikaments. mit, dass jeder Körper anders ist und Ja, ich habe manchmal ein bis zwei Bier ich anderen gegenüber einen Nachteil Saitensprung: Wie lässt sich die Wir- vorm Klassenspiel getrunken, um gelas- habe, weil ich nervöser reagiere als kung der Betablocker beschreiben? sener zu werden. Das würde ich aber nie andere. Ich zittere so sehr, dass ich vor einem Konzert machen. Ansonsten nicht spielen kann. Die Nervosität eine Kilian: Man wird ruhiger, das Zittern habe ich diverse homöopathische Mittel Krankheit, die ich mit Medikamenten lässt nach und man entspannt sich. und Entspannungsmethoden auspro- behandele. Ich habe nach der Einnahme meis- biert, die mir aber nicht geholfen haben. tens besser gespielt als sonst. Nach Wie gehst du heute mit deiner Auftritts- dem Auftritt war ich immer unheimlich Wann fiel die Entscheidung, die Medika- angst um? müde und schlapp. Die Sorge zu ver- mente abzusetzen? sagen bleibt aber trotzdem. Die Beta- Während meines Auslandssemesters blocker nehmen einem nicht die Angst. Als ich trotz der Betablocker mehrere hatte ich einen Lehrer, der viel mit mir Aber je öfter du positive Erfahrungen Male schlecht gespielt habe, ist mir klar an meinem Selbstbewusstsein gearbei- mit dem Medikament machst, desto si- geworden, dass die Medikamente kein tet hat. Ich bin jetzt selbstsicherer. Au- cherer wirst du, wenn du die Tabletten gutes Spiel garantieren und dass ich ßerdem versuche ich mich nicht mehr nimmst. Das kann natürlich auch der auch auf sie verzichten kann. zu sehr in die Angst hineinzusteigern, Placebo-Effekt sein. Mit der Zeit kann indem ich erst so spät wie möglich zu das zu einer psychischen Abhängigkeit Gehören Medikamente zum Alltag von einem Auftritt gehe. Aus heutiger Sicht führen – man denkt, dass man ohne Profimusikern oder ist das eher die Aus- finde ich es grob fahrlässig, dass meine Tabletten nicht mehr spielen kann. nahme? Lehrerin mir damals Betablocker gege- ben hat. Waren da nie Sorgen um die Nebenwir- Fast alle meine Instrumentallehrer und kungen oder darüber, dass sich die Ein- Professoren sind strikt gegen die Einnah- Das Gespräch führte Frauke Steinhoff

17 DIE IM DUNKELN SIEHT MAN NICHT...

… oder nicht rechtzeitig. Doch sie haben mehr Aufmerksamkeit verdient: die vielen Helfer im Hintergrund, ohne die kein Star bei Konzerten und Festivals im Lichte stünde. Der „Saitensprung“ nennt sie beim Namen – im „A-Z des Unsichtbaren“.

Aufnahmeleiter/-in nehmen Backliner das Stimmen der Ins- Sanitäter/-in Ist Herr/Frau über Bild und Ton. Be- trumente. Leistet bei Schwachgewordenen, Umge- stimmt, was bei Live-Aufzeichnungen kippten, Dehydrierten und anderen Be- ausgestrahlt wird. Journalist/-in dürftigen erste Hilfe. Steht entweder vor der Bühne oder ist im Bühnendesigner/-in Backstage- und Pressebereich auf der Tontechniker/-in Ist zuständig für ganz besondere „Au- Suche nach News. Sorgt auf und vor der Bühne für den rich- genblicke“ – wie etwa die LED-Leinwand tigen Ton und damit für das kollektive beim Eurovision Song Contest 2011 in Kameramann/-frau Klangerlebnis. Düsseldorf. Liefert zu den Ereignissen die passenden Bilder. Umbauhelfer/-in Caterer/-in Ist besonders bei Festivals oder Events Sorgt für das leibliche Wohl der Künstler Lichttechniker/-in mit mehreren Acts gefragt – damit die – und manchmal auch für deren Sonder- Rückt Künstler, und bisweilen auch das Pausen zwischen den Auftritten mög- wünsche. Publikum, mit Scheinwerfern ins richtige lichst kurz bleiben. (Rampen-)Licht. Dolmetscher/-in Visagist/-in Hat immer die passenden Wort parat, Merchandise-Verkäufer/-in Ab in die Maske! Hier bekommen die wenn es mit der Kommunikation mal Ob T-Shirts, Poster oder Pins: Wer sich Künstler vor ihrem Auftritt das perfekte nicht klappt. mit Fan-Utensilien ausstatten will, der ist Make-Up. hier richtig. Einlasspersonal Würstchenverkäufer/-in Reißt meist nur kurz das Ticket ein und Näher/-in Während für die Künstler der Caterer den Besucher dann nicht weiter auf. Als Kostümbildner schneidern sie das kocht, stillen die Besucher ihren Hunger Bühnenoutfit und sorgen damit für das an den Fressständen. Feuerwehrmann/-frau Maß aller Dinge. Lässt nichts anbrennen. Ist bei Festivals Xylophonpfleger/-in auch zur Stelle, wenn es stürmt und ge- Ordner/-in Damit Instrumente gut aussehen und wittert. Stehen für die Sicherheit der Künstler klingen, bringen Musiker und Fachleute und Besucher. Nehmen vorne die Crowd- sie ständig in Schuss. Garderobenfrau/-mann surfer in Empfang. Lässt nichts verloren gehen. Wer etwas Yogalehrer/-in abholen oder abgeben will, muss aber oft Pyrotechniker/-in Hilft Musikern, die Atmung und Konzen- erst anstehen. Till Lindemann von Rammstein darf es tration zu verbessern und dabei Stress selbst. Andere beauftragen bei Spezialef- abzubauen. Helping Hands fekten einen Profi. Ob als Stagehand vor Ort oder unterwegs Zeltverleiher/-in als Roadie: Sie bauen die Technik auf und Reinigungskräfte Sorgt dafür, dass es bei Festivals auch wieder ab. Räumen die leeren Campingplätze oder Zeltbühnen gibt – was bei schlechtem die verlassenen Zuschauerräume auf, Wetter ganz praktisch ist. Instrumentenstimmer/-in die nach den Events bisweilen einem Machen es die Musiker nicht selbst, über- Schlachtfeld gleichen. Zusammengestellt von Paul Sklorz

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GAR NICHT SO LUXURIÖS

Ingwertee, Smalltalk, ein Paar Sneakers – bevor Künstler ins Scheinwerferlicht treten, geht es hinter der Bühne eher gelas- sen zu.

Ob Pianist oder Rockstar – wenn Mu- siker die Bühne betreten, sind sie voll in ihrem Element und zeigen dem Publikum all ihr Können. Doch was passiert eigent- lich hinter der Bühne? Was machen Stars vor ihren Auftritten? Und welche Men- schen tragen noch zu diesen Auftritten bei? Ist der „heilige“ Backstage-Bereich eine Zone der Ruhe, oder wird hier aus- gelassen gefeiert? Diesen Fragen gingen Erik Klügling und Lena Klimkeit auf den Grund. Sie waren bei einem Klassikkon- zert in Köln und einem Popkonzert in Hannover, um sich hinter der Bühne um- zusehen. Saal“, sagt ein Kameramann. „Vielleicht mache ich irgendwas falsch?“, ruft der können wir aus dem Material auch noch Tontechniker von seinem Pult aus einem * etwas für die Sendung im Fernsehen der sieben Männer auf der Bühne zu. Ei- schneiden.“ Mit nervösen Handzeichen ner der Stagehands springt von Box zu Alle Kameras fertig justiert, es kann kommuniziert er mit seinen Kollegen, die Box, um an das vordere Stück der Bühne losgehen. 11 Uhr. Obwohl das Eröff- entlang der oberen Ränge verteilt sind. zu gelangen. Ein anderer haut mit der lin- nungskonzert zum „Acht Brücken Festi- So leise wie möglich verlässt er anschlie- ken Hand auf die Tom des Schlagzeugs. val“ in Köln erst in neun Stunden beginnt, ßend den Saal. Durch die Lautsprecher dröhnt kurz Gitar- laufen in der Philharmonie die Vorberei- rengeschrammel, dann setzen auch noch tungen auf Hochtouren. Das komplette * Bass und Schlagzeug ein. Der Bühnen- Instrumentarium steht schon in Reih und raum ist vollgestellt. Im Zuschauerraum Glied, das Kölner Symphonieorchester Schummrig ist das Licht im fensterlo- ist das Licht hell angeschaltet. Von der betritt die Bühne. Gastdirigent Jonathan sen Flur des hannoverschen „Capitols“. Empore gegenüber der Bühne werden Stockhammer ist extra aus den USA an- Der Türspalt gibt den Blick auf einen Kabel heruntergelassen. gereist. Er hat seine Musiker fest im Griff langen Tisch frei, auf dem eine Colafla- bei der nun anstehenden Probe. Souve- sche und eine Kaffeemaschine stehen. Während die Techniker die Bühne rän und entschlossen gibt er seine Anwei- Daneben liegt auf einem Brett ein ange- herrichten, sitzt Kim Sanders unge- sungen. schnittenes Baguette. Im Brotkorb liegen schminkt und im schwarzen Jersey-Kleid zerknüllte Papierservietten. Es ist still. drei Stunden vor Konzertbeginn in einem Sieben große Kameras fangen derweil kleinen Raum, der vom fensterlosen Flur das Szenario aus jedem Winkel des kreis- Zwei Stockwerke tiefer laufen die Vor- im Obergeschoss abgeht. Auf dem roten förmigen Saals ein. „Wir gucken schon bereitungen für das Kim-Sanders-Kon- Sofa neben ihr steht ein aufgeklappter einmal nach optimalen Kameraspots im zert auf Hochtouren. „Ist die PA aus oder Laptop, ihr Facebook-Profil ist gerade

20 Backstage

ne ist es dann, als lege sich ein Schalter um.“ Musikalische Erfahrung hat sie, ab- gesehen von ihrer Teilnahme an der Cas- tingshow „The Voice of Germany“, bereits eine Menge gesammelt: als Vorgruppe von Shaggy oder als Background-Sän- gerin. „Aber erst jetzt kennen die Leute mein Gesicht.“ Sie genieße es, endlich auf ihrer ersten eigenen Tour auftreten zu können.

*

Im Kölner Künstlerfoyer sitzt, eine Tasse Kaffee vor sich, Martin Grubinger. Er ist der Klassik-Star des Abends. Man sagt ihm nach, er könne die Menschen mit seinen Schlagstöcken verzücken. Zwei Frauen lenken ihn noch vom gro- ßen Auftritt ab, er gibt ihnen neugierig nachfragend Autogramme, ein bisschen Smalltalk, Küsschen links und Küsschen rechts. Gelassen sitzt er da, muss er doch später eine beachtliche athletische und präzise Leistung darbieten. „Ich freue mich total auf heute Abend“, sagt er. „Es ist ein besonderer, auch wenn ich hier oft zu Gast bin.“ Die Generalprobe habe er schon hinter sich. Grubinger spielt etwa 120 Konzerte im Jahr, seine Familie sieht er da viel zu selten. Er nutzt die Zeit vor geöffnet. „Behind the scenes ist es gar hindurch“, berichtet sie. „Hier mit dem den Auftritten, um mit Frau und Kind zu nicht so luxuriös“, lacht die gebürtige US- Orchester kaum.“ telefonieren. Amerikanerin. Sie greift nach der Tasse, die auf ihrem roten Koffer steht. „Ingwer- * * tee“, sagt sie, leert die Tasse und greift mit ihren langen Fingern nach den Ing- Im Capitol ist der Soundcheck in vol- Auf der Fensterbank des kleinen Auf- werstückchen, die sie anschließend an- lem Gange. Der Pianist sitzt auf einem enthaltsraums reihen sich sieben Paar knabbert und aufisst. Podest und spielt, der Schlagzeuger tes- High-Heels aneinander, dazwischen ein tet das Schlagzeug, setzt ab, richtet das Paar Sneakers. Es riecht nach dem hei- * Crashbecken und spielt weiter. Im hin- ßen Bügeleisen, das auf dem Tisch auf ei- teren Teil des Saals zieht ein Mann an nem schwarzen Stück Stoff steht. „Schu- Eine blonde Frau in einem kurz ge- Metallketten die massiven Lichtleisten in he, Kosmetik, Klamotten für tagsüber schnittenen roten Kleid macht sich auf die Höhe. Erst auf der linken Seite, dann – das ist fast alles, was ich brauche“, er- den Weg zum Künstlerfoyer der Kölner auf der rechten. Es knattert, dann hängt zählt Kim Sanders fröhlich. Und ihre Afro- Philharmonie. Iveta Akpalna kommt aus die Leiste rechts weit höher als links, der Perücke. „Man muss eben tricksen, viele Lettland und wird international als das Techniker läuft hinüber und zieht die lin- Künstler machen das so.“ Bei der Pro-Sie- Highlight an der Orgel gefeiert. „Excited? ke Seite auf Höhe. ben-Castingshow sei sie in den Genuss Ja. Nervous? Nein“, sagt sie ganz ent- einer richtigen Maske gekommen. Nun spannt. Die Organistin spielt heute Abend „Vor dem Konzert laufe ich meistens sei sie wieder ihre eigene Stylistin. auch ein Stück allein – „Souvenir“ von nur hin und her, ich habe immer extrem John Cage. Sie hat in den letzten Tagen Lampenfieber“, sagt Kim Sanders, die Nach einigen Liedern Soundcheck im intensiv zu Hause und im Konzertsaal ge- Beine übereinandergeschlagen, und Freizeitlook und mit guter Laune gehen übt. „Nach 23 Uhr. Und das drei Nächte wirkt dabei fast gelassen. „Auf der Büh- die Künstler in geschlossener Runde es-

21 Umfrage

sen. Kurz vor dem Konzert sind im Trep- Ein Geruch nach Frauenparfüm mischt penhaus laute Lacher zu hören, die aus sich mit einem Männerduft, dann läuft dem Raum hinter dem provisorischen die Band herausgeputzt in Bühnenoutfits Büro des Tourmanagers kommen. Die zum Eingang. Sanders lacht noch einmal Stimmung ist gut, gleich geht es an die Ar- laut und kichert. Ihre Haare sind jetzt viel beit. Dete Schumann, Technischer Leiter voller. Sie wirkt zufrieden und gar nicht im „Capitol“, macht jetzt endlich Pause. aufgeregt. Die Bandmitglieder gehen zu- „Solange nichts kaputtgeht, ist es wäh- erst auf die Bühne, bevor schließlich auch rend der Konzerte für mich relativ ruhig“, die Tür hinter der Sängerin zuschlägt. Das sagt er. Der Feierabend ist in greifbarer Schlagzeug setzt ein: Die Show beginnt. Nähe – aber nur, wenn sich die Band früh verzieht. „Ich schätze, ich muss noch bis * halb eins“, meint er. In der Pause füllt sich das Künstler- * foyer. Zu den Dutzenden Musikern ge- sellen sich Persönlichkeiten der Philhar- Das Jubiläumskonzert rückt immer monie. Darunter Louwrens Langevoort, näher, das Personal in der Kölner Phil- der Intendant. Er prostet mit einem Glas harmonie wird nervöser. Hunderte Leu- Sekt seinen geladenen Gästen entgegen. te treten nach und nach ein, geben ihre Manche Musiker unterhalten sich locker Sachen ab und bestellen Getränke. Man- untereinander, diskutieren verschiede- che lutschen Kräuterbonbons, um später ne Passagen der gespielten Stücke oder nicht husten zu müssen. Und plötzlich ist fachsimpeln über Musikinstrumente. das Foyer wieder leer, die Mitarbeiter sind Noch können sie sich entspannen, Kraft sichtlich erschöpft. Erst in der Pause wird tanken, die trockenen Kehlen befeuch- sich alles wieder mit Leben füllen. ten. Und dann, dann geht es wieder auf die Bühne. Musik von Charles Ives und * Leonard Bernstein erklingt durch die Flu- re. Aber nur dumpf. Sonst ist alles ruhig. Die Absätze von Kim Sanders’ High- Heels klackern auf den Treppenstufen. Erik Klügling/Lena Klimkeit

BELOHNUNG VOR DEM SCHLAFEN Ob Schriftsteller, Künstler oder Pia Siemer, 19 Jahre (Klavier) Christoph Biermann, 27 Jahre Musiker – ihnen allen wird nach- „Ich höre abends auf jeden Fall viel (Gesang) gesagt, dass ihre Inspiration mehr Musik, weil mir die Musik dann „Ich bin sowieso ein Nachtmensch. nachts am größten ist und sie zur Entspannung und als Abschluss des Da fühle ich mich einfach wohl, und oft Tages dient. Die abendliche Atmosphäre dann am kreativsten arbeiten habe ich dann auch meine kreative Pha- ermöglicht es mir auch, in Ruhe zu üben se, was aber nichts mit der Nacht an sich können. „Saitensprung“ hat und den Trubel des Tages hinter mir zu zu tun hat, sondern mit meinem Tages- an der Hochschule für Musik, lassen.“ rhythmus, der normalerweise eher spät Theater und Medien Hannover beginnt. Ich bin häufig nachts wach und nachgefragt: Wann übt es sich höre dann auch viel Musik – wenn ich zu am besten? Sind Musiker nachts Hause bin, meistens übers Internet. Es ist produktiver? Und klingt Musik in ein schönes Gefühl, wenn ich spätabends der Nacht besser als am Tag? oder nachts nichts mehr vor mir habe und trotzdem noch nicht gleich ins Bett gehe, sondern mir als eine Art Belohnung für den Tag ein bis zwei Stunden Musik am PC gönne. Unbekannte Musik kennenzu-

22 Umfrage

bereitet man sich konkret auf Auftritte, irgendwie produktiver. Körperlich bin ich Konzerte und Prüfungen vor und spart dann oft schon müde, aber mein Kopf auch die Kräfte genau dafür auf. Daher kann nicht abschalten. Deswegen wären kann ich mir auch schwer vorstellen, für mich eigentlich Übezellen ideal, die morgens ein Konzert zu geben, weil die über Nacht offen sind, weil ich da krea- abendliche Atmosphäre einfach eine tive Gedanken in die musikalische Tat Konzertatmosphäre ist.“ umsetzen würde. Außerdem ist das Mu- sikhören vor dem Schlafengehen auch Ruzanna Minasyan, 21 Jahre eine Belohnung, weil ich dann wirklich (Klavier) nur meine Musik höre.“ „Ich lebe und wohne in der Philhar- monie, und dort kann man in Übeboxen Anna Wolf, wissenschaftliche abends und nachts üben, was ich auch Mitarbeiterin oft nutze. Man vergisst abends einfach lernen ist eine typische Abendbeschäfti- besser die Probleme vom Tag, kann sich gung für mich, bevor der Tag wirklich zu fallen lassen und besser auf die Musik Ende gehen kann.“ konzentrieren.“

Artur Pacewicz, 34 Jahre Carlo Eisenmann, 24 Jahre (Klavier) (Posaune) „Ich übe abends eigentlich gar nicht, weil die Konzentration bei mir morgens am besten ist. Mit dem Feierabend lässt sie dann einfach nach. Deswegen be- schäftige ich mich lieber tagsüber mit „Die Proben des Chores, in dem ich Musik.“ singe, sind immer abends und bieten da- mit einen Kontrast zum Arbeitstag. Wenn Lynda Cortis, 26 Jahre (Cello) man mit vielen Menschen Musik macht „Ich übe gerne nachts – weil ich dann und danach wieder in die Dunkelheit ent- wieder nüchtern bin und mein Körper lassen wird, ist das sicherlich etwas ganz besser funktioniert als frühmorgens. Man anderes, als in einer Übezelle die Etüden braucht den Körper ja auch, um spielen „Ich höre nachts oft Musik – am liebs- runterzurattern. Hobby, Entspannung zu können.“ ten spät nachts – und kann mich dann und Abend fallen für mich zusammen. auch schwer von ihr verabschieden. Da Aber auch das Gegenteil kommt vor. Eine Pawel Zuzaanske, 35 Jahre wird’s schon mal locker 2 oder 3 Uhr, bleibende Erfahrung habe ich während (Violine) weil ich da am ehesten Ruhe finde. Das der Proben zur Johannespassion kurz „Morgens hat man vielleicht mehr hängt mit meinem Rhythmus zusammen. vor Ostern gemacht. Ich bin regelmäßig Konzentration, um zu üben, aber abends Ich übe auch lieber abends. Da bin ich aufgewacht und hatte die chromatischen Gesänge als Ohrwürmer in meinem Kopf. Egal was ich versucht habe, ich bin aus der Fuge nicht mehr rausgekommen – das war eine extrem unangenehme Mu- sikerfahrung, die einem Albtraum schon recht nahekam.“

Aufgezeichnet von Anna Leimbrinck und Lisa Hedler

Artur Pacewicz Lynda Cortis Pawel Zuzaanske

23 RAP IN PUNKTSCHRIFT

Wegen eines Tumors erblindet er Saitensprung: In eurem Song „Diese Tage“ sein werden, wie Autofahren. Und natür- kurz vor seinem zweiten Lebens- heißt es: „Das Schicksal hat mich gef…“ lich gibt es Phasen, in denen ich traurig jahr. Der heute 22-jährige Ben bin, dass etwas nicht geht. Ich lasse aber Lübke alias Ben Addicted lernt Lübke: Den Part hat ein Kollege gerappt. auch nicht zu, dass mich das so sehr he- Es geht in dem Track darum, zu zeigen, runterzieht und ich deswegen kein nor- damit umzugehen, wie er sagt, dass man weitermachen muss, auch males Leben führen kann. Ich spreche weil er ein Leben mit „sehenden wenn einen etwas runterzieht. Der Track das Thema an, wenn es vom Kontext her Augen“ nicht kennt. Sein Motto: sollte einfach eine Beschreibung dessen passt oder wenn ich einen Track speziell Mach das Beste draus. „Saiten- sein, wie es einem an schlechten Tagen dazu schreiben will. Aber dadurch, dass sprung“ hat den Rapper in seiner geht. Wenn man das Gefühl hat, dass mich das im Alltag nicht so verfolgt, ist es Heimatstadt Dortmund besucht man nicht weiterkommt mit dem, was auch nicht das Hauptthema. man macht. und mit ihm über Texte, Auftritte Was ist denn das Hauptthema? mit Kollegen sowie sein Leben Inwieweit spielt das Schicksal „Blindheit“ und seine Leidenschaft außer- in den Songtexten eine Rolle? Es geht mir mehr um gesellschaftskriti- halb der Musik gesprochen. sche Themen, zum Beispiel die Kluft zwi- In den Texten bringe ich öfters mal Din- schen Arm und Reich. Den Frust rauszu- ge rein, die etwas damit zu tun haben. lassen. Und auf eine sportliche Art sich Vergleiche oder Situationen, die ich erle- von anderen abzuheben. Der sportliche be. Natürlich gibt es Dinge, die ich nicht Wettkampf, sich mit den Zeilen Respekt machen kann und die auch nie möglich zu verschaffen.

24 Blind

Worin unterscheidet sich ein blinder Rap- Aber wie kommt man dann auf der Büh- nichts sehe, und gesagt: Dann müsst ihr per künstlerisch von anderen? ne klar? umso lauter sein, damit ich euch höre. Man kann auf verschiedenen Ebenen ani- Meine Arbeitsweise ist eine andere. Ich Meistens bin ich mit mindestens einem mieren. Ich suche mir den Weg, der für schreibe die Lyrics mit dem Laptop, an- anderen auf der Bühne. Jemandem, der mich möglich ist. schließend dann auch noch in Punkt- mitrappt, damit man auch mal Luft holen schrift auf Papier, weil es so einfacher ist, kann. Da lasse ich mir vorher zeigen, wie Gilt das auch beruflich? den Text mit in die Aufnahmekabine zu viel Platz ich zur Verfügung habe: nach nehmen. Als Blinder kann man nicht so links, nach rechts, nach vorne und nach Ich mache in Mainz eine Ausbildung zum schnell vom Blatt lesen wie Sehende, die hinten. Zu Anfang des Auftritts stehe ich Masseur. Auch da habe ich einen Weg ge- mit den Augen über den Text fliegen und in der Mitte, sodass ich auch weiß, dass funden, der nichts mit Korbbinden zu tun sofort verinnerlicht haben, was da steht. ich auf allen Seiten genug Platz habe. Ich hat. Sondern einen Job, der einen fordert Bei Blindenschrift hat man nur einen Fin- brauche eine ungefähre räumliche Vor- und der nicht monoton ist. So dass man ger auf einem Buchstaben, daher ist man stellung von der Bühne, damit klar ist, eben ganz normal arbeiten kann. langsamer. wie viel ich mich bewegen kann. Wenn ich zu weit an den Rand käme, würde mich Ist da noch eine Leidenschaft außer dem Und was kommt nach dem Durchlesen? schon jemand warnen. Bisher ist aber nie Rap und der Arbeit? etwas passiert. Wenn ich mir den Text gut gemerkt habe, Ich bin mit Borussia Dortmund aufge- rappe ich ihn. Oder ich lese den Text erst Welcher Auftritt hat am meisten Spaß ge- wachsen und habe die Hochs und die im 4- oder 8-Zeilen-Rhythmus, merke ihn macht? Tiefs miterlebt. Mit fünf Jahren war ich mir, rappe ihn aus dem Kopf ein, stoppe das erste Mal im Stadion. Ich könnte und lese die nächsten Zeilen durch, die Hier in der Jugendfreizeitstätte Dort- Plätze kriegen für Sehbehinderte, wo ich ich dann wieder aufnehme und so wei- mund-Schüren finden im Sommer immer dann über Kopfhörer einen Audiokom- ter. Manchmal, wenn wir uns spontan zu Konzerte statt, um die örtlichen Künstler mentar bekomme. Schöne Sache, dass mehreren im Studio treffen, schreibt je- auf die Bühne zu bringen. Die meisten die Möglichkeit besteht. Aber wenn ich mand auf dem PC oder auf dem Papier Rapper kennen sich. Für mich war hier schon da bin, will ich einfach die Atmo- mit, diktiert es mir anschließend, und ich mein erster richtiger Auftritt vor relativ sphäre, die Stimmung erleben und mit übertrage es dann in Blindenschrift. Zu- vielen Leuten. Es waren wohl so um die den anderen singen. dem habe ich eine Sprachausgabe auf 200. Da ist direkt eine gute Stimmung dem PC, ein Programm, das mir vorliest, entstanden, und es haben selbst Leute Das Gespräch führte Paul Sklorz was ich eingebe oder was zum Beispiel mitgemacht, die mich gar nicht kann- auf einer Internetseite steht. ten. Ich habe gleich klargestellt, dass ich

25 WALL OF DEATH L IE P

26 SCHATTENS WALL OF DEATH

27 Bummel

GRÖLEN, ZISCHEN, KLACKEN. STILLE

GERÄUSCHE EINER SPÄTSOM- des vietnamesischen „Street Kitchen“ hige Gitarrenklänge, versuchen die Gäste MERNACHT IN HANNOVER dringen die harten, elektronischen Beats zum Einzutreten zu überreden. Doch das von Technomusik. Die Musik ist laut, der Geklimper der Biergläser ist zu laut. Die An diesem lauen Sommerabend ist Bass bebt und die darüber in hohen Tö- Leute hören nicht. die Stimmung ausgelassen. Zwischen nen klingende, schnelle, hitzige Melodie Bierzeltgarnituren steht die feiernde sitzt den letzten gemütlich speisenden Die Blätter der Bäume auf dem Hin- Public-Viewing-Meute – gerade ist das Gästen förmlich im Nacken. terhof von „Feinkost Lampe“ in der Eleo- EM-Spiel Holland gegen Deutschland norenstraße rascheln in der leichten Bri- zugunsten der deutschen Nationalmann- Vor der Sparkasse im nächsten Häu- se. Wo donnerstags meist unbekannte schaft zu Ende gegangen. Aus den Laut- serblock sitzen drei heruntergekommen Bands die Kellerbühne stürmen, ist am sprechern der kleinen Bühne, auf deren aussehende Männer, die Bierflasche des Mittwoch die Tür geschlossen. Schräg Leinwand noch einmal Bilder des Fußball- einen mit der Lederjacke, der Cappy und gegenüber im „... und der böse Wolf“ er- spiels zu sehen sind, tönt „Orange trägt den langen braunen, fettigen Haaren schlägt einen die Lautstärke beim Öffnen nur die Müllabfuhr“ von Mickie Krause. klirrt, als er sie auf den Boden stellt. Eine der Tür. Da ist kein Platz mehr für eine Supermarktfiliale hat noch bis 24 Uhr of- weitere Stimme, denn die Gäste schrei- Kräftige Männerstimmen grölen im fen, davor ist einiges los. „Quieeeeetsch.“ en gegen die aufgedrehte Musik an, die Gleichklang mit. Beim Ton des langen Fahrräder kommen an. Fahren wieder sich an all den Leuten nicht zu stören „As“ von Orange weichen alle vom Origi- weg. Die Spannung in den Oberleitungen scheint. Die Fußball-Euphorie ist hier ver- nal im Hintergrund ab. Die falschen Töne der Straßenbahn entlädt sich beim Her- flogen, kein Trikot, kein Fangesang. Zwei erstrecken sich fortan dominant über das annahen der Bahn mit einem „Fizzzz“. Billardkugeln schlagen gegeneinander, ganze Lied. Die schlechten Sänger sind Beim Ausfahren der Treppen klackt es, mehrmals, und ihr Knallen ist das Ein- immer noch zu hören, obwohl die Laut- die Türen öffnen sich mit Schwung und zige, was den Rhythmus der Musik kurz stärke abnimmt, je weiter der Kirchplatz knallen gegen die Waggonwand. Die Tü- durchbricht. an der Bethlehemkirche in der Abend- ren schlagen zu, dann ist der Bürgersteig dämmerung zurückbleibt. leer. Die Straßenbahn rattert in die Nacht. Am Eckhaus zur Falkenstraße steht eines der Fenster im dritten Stockwerk of- Auf der Weckenstraße in Hannover- Das hupende Auto fährt am Küchen- fen. Die Straßenbahn rattert vorbei, dann Linden ist es leer. Trotz der warmen Som- garten fast über eine rote Ampel. Hier dudelt Schlagermusik, als wollte die Freu- merluft sind die Fenster geschlossen, aus skaten vier Jugendliche über den dunk- de förmlich aus dem Fenster springen. keinem Haus dringt ein Laut. Die Fahrrad- len Platz mit den orangeroten Steinen. Sie wird aufgefangen vom Geklapper klingel des vorbeifahrenden Fußballfans Die Rollen des Skateboards schrammen der leeren Porzellanteller, die der Kellner mit dem weißen Deutschlandtrikot und über den Boden, und beim Sprung auf des „Trattoria Da Giorgio“ in das Lokal der Hawaii-Kette schellt in der Abendru- die Bank erklingt ein hölzernes Klackern. zurückträgt. Dabei klingelt das Silberbe- he. Ansonsten sind da nur die gurrenden Gemütliches Licht aus dem „11a“ be- steck in den Ohren, weil es auf dem Ge- und singenden Vögel. Sie scheinen unbe- leuchtet das Geschehen. Eine zarte Frau- schirr hin und her rutscht. Nicht einmal eindruckt vom Fußballspiel. Ihre Stimm- enstimme säuselt aus einem Strandkorb im „Capitol“ gegenüber ist ein Konzert, chen sind ruhig, als würden sie sich eine des Lokals. wo auf weißem Grund in schwarzen Let- Gute-Nacht-Geschichte erzählen. Das tern die Namen der zuletzt aufgetretenen Spiel hat sie nicht interessiert. Erst an der In den Kneipen auf der Stepha- Künstler prangen. Nur im „Happy Döner“ Kreuzung zum Kötnerholzweg wird es leb- nusstraße ist nur noch wenig Betrieb, gegenüber läuft eine halbe Stunde nach hafter. Menschliche Laute kommen nun die Flachbildfernseher sind bereits aus- Mitternacht noch der Fernseher. Der letz- dazu, ein unbestimmbares Gebrabbel, geschaltet. Die Straße ist dunkel, die te Kunde nuschelt „Einen Lahmacun zum das so schwer auf der Abendluft liegt wie Schaufenster der Modegeschäfte auf der Mitnehmen, bitte“, eine Bedienung kratzt die drückende Hitze, die noch zwischen rechten Straßenseite sind nur sporadisch Fettreste von der Arbeitsplatte. Als der den Häusern zu stehen scheint. beleuchtet. Vor dem „Centrum“ auf dem Kunde geht, wird es auch hier langsam Lindener Marktplatz sitzen einige Leute still. So still, dass man sogar den Sand Die Stadt geht an einem Mittwoch- auf den Bierbänken. Die Flasche mit dem von der Baustelle gegenüber wegwehen abend offenbar bereits um 23 Uhr schla- kühlen Bier beschlägt in der anhaltenden hört. fen, die Lokale auf der Limmerstraße Wärme des Abends. Beim Öffnen zischt haben jedenfalls nur noch vereinzelt ge- sie, als wollte sie von ihrer Frische abge- Erik Klügling/Lena Klimkeit öffnet. Aus den bodenlangen Fenstern ben. Aus der Kneipe dringen warme, ru-

28 Bummel

BAYERISCHE STRASSENMUSIKER UND DIE NORDDEUTSCHE FUSSGÄNGERZONE Straßenmusiker sind in Hannovers wir diesen Tagesbedarf meistens ab“, aber nach einer halben Stunde Spiel- Innenstadt keine Seltenheit. Ob mit sagt Kaufmann. Das Startkapital bezö- zeit gewechselt werden. Die Richtlinien Tamburin und Gitarre am Kröpcke oder gen sie aus vorangegangenen Auftritten. der Stadt legen außerdem die erlaubte Klarinette, Kontrabass und Trommel „Oder wir versteigern uns bei Ebay.“ Da- Größe der Band fest: Umfasst sie mehr neben Zara in der Großen Packhof- durch haben die jungen Bayern in einem als vier Leute, muss sie den öffentli- straße – bis in die frühen Abendstun- Jahr sogar 700 Euro eingenommen und chen Platz verlassen. den darf hier musiziert werden. Für beim „Käufer“ ihre Tour gestartet. Straßenmusiker gelten aber strenge Die Drimslige 7 machen dennoch Regeln, die auch die „Drimslige 7“ aus Zwischen ihren Stationen übernach- weiter, zumal sie den Norden in Bezug dem Allgäu zu spüren bekamen, als sie ten die Jungs bei Bekannten, Studienkol- auf Blechmusik auch überraschender- im Sommer Halt in Hannover machten. legen oder unter freiem Himmel. „Manch- weise toleranter empfinden als den mal sind die Leute so begeistert von uns, Süden, wo sie beheimatet ist: „Das ist Seit fünf Jahren tourt die fast aus- dass sie uns für eine Nacht bei sich unter- etwas Besonderes, fast Kurioses hier schließlich aus Studenten bestehende bringen“, sagt Kaufmann. In den Fußgän- oben“, sagt Kaufmann. Im nächsten Blasmusik-Band einmal im Jahr für gerzonen der Städte meldeten sie sich Jahr sind sie wieder im Sommer un- eine Woche durch Deutschland. Mit gu- prinzipiell nicht an. „Von Stadt zu Stadt terwegs und werden mit Schlagzeug, ter Laune und Instrumenten im Gepäck wird das ohnehin anders gehandhabt. In Tuba, Bariton, Melofon, Tenorhorn und machen sie sich auf, die bayerische München dürfen Blechbläser zum Bei- Trompete in ihren kurzen Lederhosen Blasmusik auch im Norden zu verbrei- spiel gar nicht spielen.“ In Hannover auch nicht nur die Aufmerksamkeit ihres ten. „Ziel ist es, ohne eigenes Geld los- nicht, sagt Pressesprecher Udo Möller. meist 50- bis 60-jährigen Straßenpubli- zuziehen“, erzählt Bandmitglied Micha- Kein Wunder also, dass die Drimslige 7 kums, sondern auch die der Ordnungs- el Kaufmann. Jeden Tag benötige die nach einer halben Stunde verscheucht hüter auf sich ziehen. sechs- bis zehnköpfige Band zwischen wurden. 100 und 130 Euro für Zugtickets, 40 Lena Klimkeit bis 80 Euro für Essen und noch mal die In Hannover ist das öffentliche Mu- gleiche Summe für Getränke. „Wenn sizieren wochentags zwischen 10 und wir eine halbe Stunde spielen, decken 20 Uhr zwar erlaubt. Standorte müssen

29 30 Lichttechnik

wird und die Orientierung verliert, obwohl „VERGISS NICHT Licht da ist. Der Darsteller nutzt das Licht also als Instrument zum Ver- und „Ent- bergen“. Es ist ein unsichtbares Kostüm DAS LICHT!“ – wie ein Kleidungsstück, und Kleidung macht bekanntlich attraktiv. Der Choreograf und Tänzer Lars Scheibner über sein Wie verbinden sich dann Licht und Ton? Werk „Lux Aeterna“ Durch Licht und Ton findet immer eine Der Komponist Rodion Shchedrin Wie wichtig ist Ihnen Licht für eine Insze- Fokussierung statt. So steht zum Beispiel sagte einst vor der Uraufführung nierung? diffuses Licht für einen Klangteppich. seines Werkes „Der versiegelte Klares Licht wiederum für einen klaren Sehr wichtig, wenn nicht sogar am wich- Akkord. Genau so hat Ligeti – dessen Engel“ zum Choreografen und tigsten. Ich gehe hochphilosophisch und „Lux Aeterna“-Komposition auch in mei- Tänzer Lars Scheibner: „Lars, perfektionistisch an dieses Thema heran. ner Inszenierung vorkommt – das ge- vergiss nicht das Licht! Es ist Man kann die Bühne als leeren, schwar- macht: Erst gibt es ein Töne-Cluster, und am wichtigsten!“ Dass Shched- zen, magischen Raum definieren. Sie ist dann ist auf einmal ein klarer Sopran zu rin damit nicht die Beleuchtungs- eine „Blackbox“, die zunächst ein Vaku- hören. Der wirkt dann wie ein Laserstrahl. technik, sondern das Leuchten um erzeugt. Sobald man aber etwas in Das Heraustreten aus dem Hintergrund diese „Blackbox“ hineingibt – einen Kör- ist also letztlich Licht und Ton. Lichtquali- der Musik meinte, war Lars per oder eine Requisite –, erzeugt man tät ist auch immer hörbar. Deswegen sind Scheibner klar. Es war ihm so maximalen Eindruck. Das funktioniert Licht und Ton voneinander untrennbar. „leuchtend“ klar, dass Shche- aber niemals ohne Licht. Man will Sicht- drins Aussage ihn zu seinem barkeit und Unsichtbarkeit schaffen – Das passiert auf der Bühne, aber wie ist eigenen Werk „Lux Aeterna“ für etwas betonen oder auch flach machen. das denn im Ballettsaal bei der Probe? Ballett und Chor – eingerahmt Licht kann aber auch einen zeitlichen Ver- mit Musik von György Ligeti, Ed- lauf oder Stimmungen darstellen. Licht ist deswegen Basis der Wahrnehmung und ward Elgar, Sergeji Rachmaninov Kommunikationsbrücke im typisch euro- und Francis Poulenc – inspirier- päischen Guckkasten-Theater. Mit Licht te. Lars Scheibner ist Experte für kann man verdecken und manipulieren. „ewiges Licht“, und deswegen Durch Licht entzieht man Reize oder legt war es für den „Saitensprung“ sie offen dar. Nur durch Licht kann man unumgänglich, mit ihm zu spre- einen Dialog mit dem Publikum führen und eine Dramaturgie erschaffen. chen. Wie sieht die philosophische Herange- hensweise aus, von der Sie sprachen?

Saitensprung: Was macht die Inszenie- Das kann ich am besten mit Martin Hei- ? Lars Scheibner rung von „Lux Aeterna“ aus? deggers Begriff des „Entbergens“ erklä- ren. Das ist ein schöner Begriff für die Im Ballettsaal gibt es natürlich noch kei- Scheibner: Ich wollte das Licht als Körper- Bühne. Dort findet genau dieses Spiel ne Lichteffekte. Tänzer müssen oft erst lichkeit, als gleichberechtigten Partner zwischen Verstecken und Zeigen statt – mit der Klavier-Partitur üben – müssen von Gesang und Tanz auf der Bühne se- deswegen gleichzeitig natürlich ein Spiel genau hören und werden nicht verwöhnt hen. „Lux Aeterna“ eröffnet einen in sich der Lichtwinkel. Frontales Licht bewirkt, vom kompletten Klang. Das Gleiche pas- geschlossenen Raum, in dem über die dass der Körper Dreidimensionalität ver- siert auch mit dem Licht. Je nüchterner, Existenz des Menschen verhandelt wird. liert. Wenn das Licht aber von den Seiten karger der Ballettsaal, desto bereichern- Das Leben der Menschen wird beleuch- kommt – im Theater „Gassenlicht“ ge- der ist nachher der Auftritt auf der be- tet. Ihre Liebe, Sehnsucht, Hoffnung und nannt –, ist das für das Publikum ein tol- leuchteten Bühne. Jede Komponente der ihr Leid. Der Chor, die Darsteller, die Sze- ler Effekt, weil der Tänzer aus dieser Sicht Bewegung muss erst vollends auf den nerie und das Licht sind in „Lux Aeterna“ zu schweben scheint. Für ihn selbst ist es Punkt gebracht werden, damit sie reif für eine dynamische, tanzende Einheit. aber schrecklich, weil er total geblendet die Bühne ist.

31 DIE EWIGE PAUSE

Überfordert die Bühne einen dann nicht te ich in einer „dezenten Opulenz“ dar- ein Signal zum Publikum, sodass eine erst einmal? stellen. Zum einen hatten wir dafür eine Verbindung entsteht. Und genau diese sehr starke und 72 Quadratmeter große Verbindung ist es, durch die Theater nie- Bei den Proben zu „Lux Aeterna“ hatte Leuchtwand, auf die Einzelteile eines mals eine überholte Form sein wird. Die sich irgendwann eine Betriebsblindheit alten Tanzteppichs geklebt waren. Das Verbindung von Licht, Körper und Musik eingeschlichen. Im Ballettsaal wirkte wirkte wie Schuppen, die dann natürlich wird immer eine Aura haben. Da muss ich das Stück hohl und leer. Dann fiel uns auch irgendwann abgerissen wurden. Da auch Walter Benjamin widersprechen. Im irgendwann auf: „Ach ja, das Licht fehlt wurde ein Monster geschaffen, das eine Theater geht die Aura niemals verloren. ja noch!“ Das ist immer eine Wucht, ein Eigendynamik entwickelt hat. Zum ande- magischer Moment – man sieht die Cho- ren hatten wir einen von der Decke he- Das Gespräch führte Frederike Arns reografie auf einmal mit anderen Augen. rabhängenden Kubus, in dem sich acht Auf einmal lebt da was, als ob ein Kind der leistungsstärksten Theaterscheinwer- geboren wird. Und genau das ist das Ziel: fer befanden. Die technische Umsetzung die Synchronisierung zu einer höheren haben wir dem Theater Kiel zu verdan- Einheit. Diese höhere Einheit wird dann ken, wo die Uraufführung stattgefunden durch das Publikum perfektioniert. Ich hat. Nur so war die Offenbarung und der glaube, man kann das Publikum zwingen, Höhepunkt durch Licht erst möglich. mitzugehen. Wenn man das geschafft hat, gewinnt die Inszenierung endgültig Eine letzte, persönliche Frage: Was faszi- an Kraft und Energie. niert Sie an Licht, wenn Sie tanzen?

Wie hat man sich das dann auf der Bühne Licht ist ein Machtinstrument, um den bei „Lux Aeterna“ im Detail vorzustellen? Körper zu zeigen. Damit schafft man dann die direkte Brücke zum Zuschau- Das Licht musste sich an Übergängen er. Als Tänzer erzeugen wir primär keine und Kanten brechen können. Das woll- Töne, aber durch das Licht senden wir

32 StartUp-Impuls 10 Zehn Jahre erfolgreiche Gründungen

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Bewerbungsschluss ist der 2. Januar 2013.

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hannoverimpuls FÜNF SONGS

34 FÜNF SONGS WÄRST DU DIE SONNE, WÄR ICH NICHT GERN DER MOND

LICHT UND DUNKELHEIT IN SONGS, SCHLAGERN UND LIEDERN

Collage: Stephan Kragl 35 Operette

DER SCHATTEN DER SCHÖNEN HELENE

Heute als kleine Form der feinen Oper verstanden, hat die Operette ihren Ursprung in den schmutzigen Milieus von Paris in den 1850er Jahren. Weshalb sie so wurde, wie sie heute ist, hat eine Ausstellung im „Österreichischen Theatermuseum“ in Wien bis Anfang Herbst gezeigt. Dort veranschaulichten die Kuratoren, welche frechen, aber auch dunklen Seiten die Geschichte des Genres prägen.

Ihr weiß gepuderter Rücken ist gut fenbachs Werke lange vom bürgerlichen sich, bis es zur biederen Unterhaltung für sichtbar, die Schulter liegt frei. Das cham- Publikum abgelehnt wurden – der franzö- den ,Kleinen Mann‘ mutierte.“ (Ausstel- pagnerfarbene, mit schimmernden Pail- sische Journalist und Schriftsteller Émile lungstext) letten bestickte Kleid verhüllt nur den Zola ging 1880 so weit, die Zustände der unteren Teil ihres Oberkörpers und reicht Operettenwelt mit denen der Edelbordel- Von Paris aus gelangte die Operette bis über die Knie. Das Gesicht der Dame le zu vergleichen –, galt sein Werk „La auch in andere große Kunststädte wie blickt über die linke Schulter nach hinten, belle Hélène“ (1864) als Musterbeispiel Wien und Berlin und schließlich bis nach ihre rotgeschminkten Lippen sind leicht der Operette und verbreitete sich über die New York: Wiener Produzenten wie Victor geöffnet, fast lächelt sie. Auf ihrem Kopf Grenzen von Frankreich hinweg. Léon, Wilhelm Karczag und Franz Lehár sitzt eine glitzernde Haube, die Form äh- inspirierten um 1905 vor allem die Ope- nelt der eines Schutzhelms. Zu Empörung führten nicht nur die retten-Szene in Übersee. In den 1920er „normalen“ erotischen Inhalte der neuen Jahren guckten sich Wiener Komponis- Die Frau auf dem Plakat der Aus- Form des Musiktheaters. Die Diven der ten wiederum bei den amerikanischen stellung „Welt der Operette“ im Wiener Operette schlüpften in die Rolle des Man- Kollegen ab, was als besonders modern Theatermuseum wirkt fast ein wenig bü- nes und zogen damit das Publikum an. galt. Zur selben Zeit wurde Berlin zur bisch, obwohl ihr Kleid, ihr geschminktes Lesbische Untertöne, die sich aus diesem deutschsprachigen Operettenmetropole: Gesicht und ihr glitzernder Ring an der Geschlechterwechsel ergaben, betonten Weil Komponisten in Deutschland besser linken Hand alles andere als jungenhaft die sexuelle Freizügigkeit der Operette. verdienten, wagten sich viele Künstler sind. Das Bild gibt einen ersten Einblick Bei Offenbach wurden auch Männer in aus Wien an die Spree. Einer der erfolg- in die Geschichte der Operette, wie sie Frauenkleider gesteckt. reichsten Produzenten und Regisseure die wenigsten heute noch kennen. Als so- war Erik Charell. Er ließ in seine Operet- zialkritisch, humorvoll und frivol wird sie Wie das gaffende Männerpublikum in ten Jazzmusik einfließen. Nachdem er in der Ausstellung präsentiert – hervorge- der Vorstellungswelt der Kritiker aussah, sich schließlich vermehrt dem neuen Er- gangen aus den schmutzigen Gedanken zeigt die Wiener Ausstellung auch: An- folgsgenre der Tonfilmoperette gewidmet der Pornographie und von Moralaposteln zügliche Fotografien halbnackter Frauen hatte, verließ er Deutschland und ging heftig kritisiert. sind umrahmt von karikierten Männern, nach Hollywood. die durch ihre langen Fernrohre beobach- „Die Operette ist doch schließlich nicht ten, was sich ihnen bietet. Bei genauem Ohne Jazz, Politik, Zeitbezug, Erotik für Betschwestern, spröde alte Jungfern Hinsehen sind es nicht nur Männer, die – und vor allem ohne jüdische Autoren: und Hypermoralisten gemacht.“ (Süd- sich amüsieren: Mittendrin sitzen auch So sollte sie sein, die „arisierte Operette“, deutsche Theaterzeitung, 1885) schicke Damen und betrachten das wie sie die Nazis nach Hitlers Machter- Schauspiel. Entscheidend für den weit- greifung 1933 durchsetzen wollten. Jü- Um 1850 entstand in Paris das, was reichenden Erfolg der Operette waren dische Autoren durften ihren Beruf nicht sich mittlerweile als festes Genre etabliert ihre Interpreten. Das Publikum kam, um weiter ausüben. Einige flüchteten nach hat. Zu ihrer Entstehungszeit stellte die wahre Stars zu sehen. Die Handlung der Wien oder gingen nach Holland, Frank- Operette eine Neuheit in der Geschich- Stücke stand dabei oft im Hintergrund. reich, England und in die USA, wo sie teil- te des Musiktheaters dar und gewann Die Interpreten wurden zu Testimonials in weise berühmt wurden. Vielen Künstlern rasch an Beliebtheit: Nicht nur in Paris der Werbung, Stilikonen und Identifikati- gelang die Flucht aber nicht, sie starben feierte das männliche Publikum die halb onsfiguren. in Konzentrationslagern. Die beliebtesten nackten Damen. Jacques Offenbach und Operetten stammten zwar zumeist von Louis Auguste Florimond Ronger, besser „Je populärer das Genre wurde und je jüdischen Komponisten und Librettisten bekannt als „Hervé“, wurden wegweisend breiter die Publikumsschichten, desto – ihre Werke wurden dennoch verboten. für den Erfolg der Gattung. Obwohl Of- ,anständiger‘ und ,seriöser‘ gerierte es Für diese „entarteten“ Erfolgsstücke der

36 KLOSTERMUSIK

37 OPERETTE

1920er Jahre ließen die Nazis Ersatzwer- direkt auf die Geschehnisse in Deutsch- folge der 20er Jahre oder die „Arisierung“ ke schreiben: Plagiate, die teilweise bis land und können als Kommentar zur NS- während der NS-Zeit veränderten ihre heute weiterbestehen. Ideologie verstanden werden. Ästhetik und Aufführungspraxis. Bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte So wurden beispielsweise die großen „Die Operette war ursprünglich nicht ver- das Genre Publikumsschichten erreicht, Johann-Strauß-Sammlungen aus dem staubt und altmodisch, sondern oft sozi- die weniger liberal eingestellt waren als Besitz seiner jüdischen Familie „arisiert“ alkritisch, humorvoll und immer frivol.“ die Besucher der jungen, grotesken und und an die Ideale der Nazi-Operette an- (Ausstellungstext) frechen Operette. Auch dies änderte all- gepasst. Nachdem die Spuren der jü- mählich den Charakter des Genres. dischen Familiengeschichte vernichtet Nach 1945 lebte die Operette auf, worden waren, wurden Strauß’ Werke als schlug aber wegen der dunklen Geschich- Film- und TV-Operette sind Weiterent- Vorzeigestücke weiter gespielt. Am Silves- te einen anderen Weg ein: Neue Stars wicklungen, die mit der Entstehung neuer tertag 1939 führte Clemens Krauss mit aus der Opernszene etablierten sich – sie Medienformen und Verbreitungsmöglich- den Wiener Philharmonikern die „außer- waren weniger exzentrisch und erotisch keiten einhergingen. Sie führten zu einer ordentlichen“ Johann-Strauß-Konzerte als die Interpreten vor 1933. Das Stili- Renaissance der Operette, der jedoch kein Massenerfolg wie vor 1933 mehr beschieden war. Was in ihren Anfängen als Gestaltungsmittel eingesetzt wurde und zum Erfolg führte, wird der Operette in ihrer späteren Form vorgeworfen: der Hang zum Kitsch.

Obwohl die meist als verstaubt und altmodisch wahrgenommene Operette heute kein besonders innovatives, krea- tives und kommerziell erfolgreiches Gen- re mehr darzustellen scheint, fließt ihre Ästhetik gleichwohl in die Arbeit junger Theatermacher ein. In gewisser Weise können auch einige spätere Musicals als moderne Weiterentwicklung der Operette beschrieben werden. So verarbeiteten beispielsweise Julian Nitzberg und Roger Neil 2006 in ihrem hoch gelobten und er- folgreichen Stück „The Beastly Bombing: A Terrible Tale of Terrorists Tarned by the Tangles of True Love“ aktuelle politische Themen bewusst in der altmodischen Operettenmanier.

Lena Klimkeit

ein. Aus ihnen ist das heute immer noch deal wurde der allgemeinen Stimmung beliebte Neujahrskonzert hervorgegan- der Wirtschaftswunderjahre angepasst: gen. Auch Werke von Franz Lehár wurden keusch und zurückhaltend. Die Verfol- umfunktioniert und teilweise aufgeführt, gung und Ermordung der jüdischen Auto- ohne dass die Namen der Textdichter ge- ren von einst war lange Zeit kein Thema nannt wurden. – bis heute wird an dieses dunkle Kapitel eher selten erinnert. Lediglich in Wien bestand die Operet- te in ihrer ursprünglichen Form mit Erotik Von dem, was die Operette in ihren und Zeitkritik noch bis etwa 1938 weiter. Anfangsjahren ausmachte, ist wenig ge- Die Werke aus dieser Zeit beziehen sich blieben. Nicht erst die kommerziellen Er-

38 WUNSCHZETTEL

DIE VERBORGENEN WÜNSCHE DER STARS: 25,5 GRAD UND NEUE TOILETTENSITZE, BITTE

Die Wunschlisten von Künstlern und Fighters bitte keinen Blumenkohl, aber muss die Raumtemperatur exakt 25,5 Bands für die Zeit vor und nach dem Auf- unbedingt einen Entsafter. Grad Celsius betragen. Cher sollte sich tritt geben einen guten Einblick in die daher überlegen, ob sie den verlangten Welt hinter Show und Bühnenglanz. Und Aber nichts toppt wohl die Rider wirk- Extra-Raum für ihre Perücken zumindest siehe da: Die Zeiten von Sex und Drugs licher Diven. Mary J. Blige, Mariah Carey um eine Klimaanlage aufstocken sollte. scheinen im Rock ’n’ Roll vorüber. Na ja, und Madonna verlangen nach neuen Auf den verschwitzten Elton John warten fast. Jedenfalls sind auch Fitness-Drinks, Toilettensitzen an jeder Konzertstation. indes nach einem Auftritt genau 74 Hand- Wellness und Plastikfolie vertraglich zu- Ob die vor Benutzung eingeschweißt sein tücher. Bloß nicht 75 bereitlegen. Und für gesichert. müssen, ist nicht überliefert. Jedenfalls ihn bitte keine Lilien. ist dies im Backstagebereich von Prince Gut, die Killers wissen anscheinend absolut unumgänglich. Alle Gegenstände Und zu guter Letzt: Niemals verges- noch, wie man sich ordentlich besäuft, müssen dort mit Plastikfolie umhüllt sein. sen Jennifer Lopez’ Kaffee immer entge- und planen jeden einzelnen Wochentag: Nur der Künstler selbst darf die Folie öff- gen dem Uhrzeigersinn zu rühren! Montags, mittwochs und freitags wird nen. Jennifer Lopez betritt ihre Gardero- Weinbrand mit Vanille-Note verlangt, au- be hingegen nicht, wenn dort nicht alles, Katharina Bock ßerdem Wodka. Dienstags, donnerstags wirklich alles weiß ist. Elegante Hingu- und samstags steht bitteschön Gin und cker, wie weiße Lilien, weiße Rosen und Quellen: Intro Festivalguide 2007-2009, eine ordentliche Flasche Jack Daniel’s weiße Kerzen dürfen auf keinen Fall feh- www.nme.com, www.thesmokinggun.com, bereit. Allein sonntags geben sich die len. Damit sich J.Lo richtig entfalten kann, www.musikexpress.de, www.spinner.com Las-Vegas-Boys träge und verlangen nur Tequila. Fehlen trotzdem noch 96 Bierdo- sen, 24 Dosen Cider und zwei Flaschen Rotwein – das bitte jeden Tag. Da wirken AC/DC wie pubertierende 15-Jährige: Sie verlangen gerade mal nach einer Kiste Bier zum Durchspülen ihrer Kehlen.

Auch Franz Ferdinand sind lieber sportlich unterwegs und möchten isotoni- sche Getränke, wie Gatorade, nebst seri- öser Zeitung wie dem „Guardian“. Maxï- mo Park fordern immerhin Kondome, zusätzlich Postkarten mit Sehenswür- digkeiten aus der Gegend und Vollkorn- Kekse. Der Wellness-Trend ist also nicht von der Hand zu weisen, da ist knuspri- ges Haferflockengebäck nur die Spitze des Eisbergs. Kate Nash braucht Vitamin- pillen, die Editors Fitness-Drinks, Björk möchte – und das ist vertraglich penibel festgelegt – Ginseng-Drinks. Zwölf kleine Flaschen und nur koreanischer Herkunft. Die Red Hot Chili Peppers mögen lieber Sojamilch, die sie dann im geforderten Meditationsraum schlürfen. Für die Foo

39 40 PLATTENLADEN

lesen. Die mit jedem einzelnen Vinyl eine KEIN LICHT AM gewisse Situation verbinden. Deren Plat- tensammlung eine richtige Geschichte hat, in der jede Plattenrille eine Erinne- ENDE DES TUNNELS rung trägt. Muss man mittlerweile von einer Kultur-Krise anstatt von einer Krise Im kleinen Musikladen sind nur Namen zu buchstabieren. Jürgen Har- der Musikindustrie sprechen? noch zwei Vinylplatten zu finden burg zuckt mit den Schultern. „Natürlich gibt es noch Vinyl-Freaks. Die – als Dekoration auf der Toilette. „Mein Finanzberater hat mir irgendwann kommen auch – man unterhält sich dann Und auch die CD wird irgend- Beine gemacht. Seit der Eröffnung ist der ausgiebig über Musik. Aber sie werden wann aussterben... Verkauf von Tonträgern kontinuierlich immer weniger. Ich würde schätzen, zurückgegangen, und deswegen musste dass sich in der Region Einbeck mit zirka Wenn man in Einbeck durch die Stra- das Vinyl als erstes dran glauben. Vinyl 30000 Einwohnern nur noch 25 Leute ßen läuft, weiß man, dass man sich in hat in einer Kleinstadt wie Einbeck ein- für Vinyl interessieren. Meine Generation einer Kleinstadt in Südniedersachsen fach keine Daseinsberechtigung mehr. – geboren in den 60er Jahren – war die mit nur 26.000 Einwohnern befindet: Wenn überhaupt, kann sich ein Vinyl-La- stärkste, die hat noch richtig gesammelt. Jeder kennt jeden, man sieht immer die den nur noch in einem Ballungszentrum Aber sobald die Leute 30 geworden sind, gleichen Gesichter. Der alte Lehrer grüßt halten. Hier auf dem Lande spürt man haben sie Familien und Haushalte ge- seine ehemalige Schülerin, hat aber ver- nichts von dieser Retro-Vinyl-Bewegung, gründet und interessieren sich immer we- gessen, wie sie heißt. Jedes Café hat die angeblich gerade im Kommen ist. niger für Musik. Die haben dann irgend- seine Stammgäste, und im Stadtkern die Darüber hinaus muss ich mit meinen wann den Anschluss verloren. Deswegen typischen Geschäfte: ein Bastelladen, verbleibenden CDs natürlich sehr spezi- kommen heutzutage Freunde zu mir und mehrere Schuhläden, ein Drogeriemarkt alisiert sein. Ich habe nur Ausgewähltes fragen mich, ob ich ihre alte Sammlung – was es eben so gibt. Etwas abgelegen aus Rock ’n’ Roll, Beat, Progressive, In- kaufen will. Da ist auf einmal eine ganze dann doch eine Überraschung: einen dependent und Alternative. Ein bisschen Käuferschicht weggebrochen. Und das Plattenladen. In einer Zeit, in der ganze Jazz und Blues auch noch. Die meisten Musikinteresse der jungen Leute ist ein- Ketten wie „WOM“ oder „Fat Beats“ – ein Leute interessieren sich eh entweder für fach zu zerstreut. Kaum einer interessiert ehemaliges New Yorker Mekka für alle Klassiker oder irgendwelche limitierten sich noch für ein ganzes Konzeptalbum. Hip-Hop-Fans – in Großstädten längst Ausgaben.“ Stattdessen kaufen sie einzelne Mp3s geschlossen haben, ist ein Plattenladen im Online-Store. Du wirst irgendwann mit in einer Kleinstadt eine ganz besondere Das Gespräch muss mehrfach unter- deinen Kindern ins Museum gehen und Seltenheit. Man öffnet die Tür, die Be- brochen werden – immer wieder schellt sagen, ,Guck mal, da dreht sich noch sucherklingel schellt, und der Besitzer die Klingel, und Jürgen Harburg widmet was!‘“ Jürgen Harburg – ein untersetzter Mann sich der individuellen Kundenberatung. in den 50ern – begrüßt einen mit Hand- Es wird nach Stimmgeräten oder nach Die einzigen beiden Vinylplatten, die schlag. Werkzeug für klitzekleine Schrauben an noch im Laden zu finden sind, sind zwei einem Bass gefragt, kein einziges Mal 7-Inch-Singles von Barry Ryan und „De- Jürgen Harburg: „Mein Laden heißt aber nach einem Tonträger. rek and The Dominos“. Sie dienen aber ,FREEquenz‘, und daran erkennt man als Dekoration auf dem stillen Örtchen. schon, dass hier vieles aus freiem Idea- „Meine Haupteinnahmequelle sind natür- Vinyl, ruhe in Frieden. Jedenfalls in der lismus und Leidenschaft entstanden ist lich die Musikinstrumente. Es gibt Tage, Kleinstadt. – ich habe mir einen Lebenstraum er- da kommt kein einziger Kunde rein, der füllt. Vor der Eröffnung plante ich einen sich für Tonträger interessiert. Dass es Frederike Arns Laden, der zur einen Hälfte Vinyl, CDs hier überhaupt noch Tonträger gibt, ist und DVDs, zur anderen Saiteninstrumen- einzig meiner Leidenschaft zu verdan- te – überwiegend Gitarren – anbietet. In ken. Ich sehe da auch kein Licht am Ende diesem Jahr hat der Laden 10-jähriges des Tunnels, auch die CD wird irgend- Jubiläum.“ wann aussterben.“

In einer Ecke des Ladens sucht man in Was ist nur aus den Liebhabern ge- den Kisten nach der letzten „Kasabian“- worden? Die die Plattenhülle noch in CD. Nichts. Ein Vinyl ist schon gar nicht zu den Händen halten wollen, die Bilder im finden. Es nutzt auch nichts, den Band- Booklet ansehen und die Danksagungen

41 STUDIO

„Die besten Sendungen sind manch- rern, packt detaillierte Anekdoten zu den NACHTS mal gerade die, bei denen ich nicht über- einzelnen Stücken aus und bastelt so konzentriert bin“, sagt Möller. Er stellt eine Dramaturgie und einen inhaltlichen sich locker vor das Mikro, dann dimmt er Zusammenhang für die Sendung. Bei der IST ALLES das Licht herunter. „Ich habe es gern ein Musikauswahl lässt er sich durchaus von bisschen gemütlicher.“ Nachdem er kon- seinen Lieblingsbands inspirieren: So zentriert ein letztes Mal sein Skript durch- brachten ihn die Peaking Lights in einem gelesen hat, legt er eine Büroklammer Interview auf Chris & Cosey, die er eben- ANDERS auf den Regler, den er gleich als erstes falls in seinem Programm unterbringt. Wenn sich die Nacht über Ham- bewegen muss, und setzt den Kopfhörer auf. Das Ende der Nachrichten um Mit- Während er auf Sendung geht, stellt burg legt und die Städter schla- ternacht spricht die Moderatorin, die ein er sich oft vor, wer wohl gerade zuhört. fen gehen, macht sich Jan Möller Stockwerk tiefer sitzt, langsam. In dieser „Ich sende ja praktisch immer ins Leere.“ mit dem Fahrrad auf den Weg Nacht gibt es nicht mehr viel zu berich- Weil die Sendung vor allem unterwegs zur Arbeit. Die Taxifahrer in der ten. Als sie „Das waren die Nachrichten“ gehört werde, bekomme er auch nur sel- Stadt, die nächtlichen Pendler sagt, geht es für Möller los: Er spielt den ten direktes Feedback seiner Hörer, bei- auf der Autobahn oder die für Nachtclub-Trailer ab, dann geht die rote spielsweise per Mail. Quoten gebe es für On-Air-Lampe an. „Heute mit Jan Möller, die Sendung nicht. In seiner Vorstellung den Nachtdienst Eingeteilten in hallo“, sagt er und startet die Sendung aber ist der Nachtclub-Stammhörer ein Fabriken oder Krankenhäusern – mit dem ersten Lied „Ghost Train“ von Taxifahrer. „Und wenn ich aus dem Fens- alle sie könnten es sein, die den den Swanks. Trommelwirbel setzt ein, ter ein Auto vorbeifahren sehe, denke ich Nachtclub auf NDR Info zwischen bluesige Gitarrenklänge folgen. immer: Vielleicht hört er’s gerade.“ Mitternacht und zwei Uhr mor- gens hören, wenn Möller hinter „Nachts ist der Ton ganz anders als Am Ende von Alkibar Gignors „Zein- tagsüber, der Sprachstil einfach ein biss- abou“ wippt Möller mit, dann bedient er dem Mikrofon steht. Genau weiß chen lockerer“, erklärt Möller. „Das ist wieder einen Regler. „Wenn man nachts er nicht, an wen sich seine Mu- Luxus für mich.“ Einen entspannten Job arbeitet und so ganz alleine hier ist, ist sik und seine Moderation rich- hat er aber keinesfalls: Rund zwei Tage man auf eine Art intimer“, meint er. „Ich ten. Nachts ist er allein. braucht der 43-Jährige für die Konzepti- lasse mich dann auch richtig auf die Mu- on seiner zweistündigen Live-Sendung. Er sik ein, das geht nachts besser als tags.“ Die Schranke, die den Zugang zum In- will seinen Hörern ein abwechslungsrei- Manchmal mache er die Augen zu und nenhof des NDR-Funkhauses freigibt, öff- ches Programm bieten. Neben neuer Mu- fühle sich ein bisschen wie in einem Club. net sich, als Möller den beiden Pförtnern sik spielt er deshalb auch ab und zu älte- Für die Nacht spiele er aber dennoch kei- winkt. Lampen beleuchten den Platz. re Sachen – Hauptsache Musik aus allen ne speziellen Songs. „Manche Sachen Möller fährt bis zum hinteren Gebäude Stil- und Himmelsrichtungen, wie er sagt. hören sich wirklich anders an am Tag als vor, dann kettet er sein Rad an. Im Trep- Finnland, Mali, Ägypten, Kolumbien sind in der Nacht. Trotzdem würde ich diesel- penhaus des Funkhauses ist es still. Nur nur einige Länder, in die er seine Hörer ben Lieder auch tagsüber spielen.“ noch zwei Redakteurinnen sitzen um vier- diese Nacht auf eine musikalische Reise tel vor zwölf vor ihren Bildschirmen am einlädt. „Jeder macht diese Sendung hier Gegen Ende der ersten Stunde ist Schreibtisch in den weitläufigen Räumen nach seinem eigenen Geschmack.“ Möller aufgeregt. „Das ist immer eine der Redaktion im oberen Stockwerk des Rechnerei wie bei einem Mixtape“, sagt Gebäudes. In der Sprecherkabine been- EIGENE RECHERCHEN er, als er austüftelt, welches Lied in den det ein Moderator gerade seine Sendung. letzten Abschnitt vor die Nachrichten um Möller geht es darum, die Hörer zu ein Uhr passt. Dann ist die erste Stun- Jan Möller hat noch einen Kaffee ge- überraschen, sie nicht darauf vorzuberei- de vorbei, die Infos läuten Möllers kurze trunken, bevor er mit seinen CDs im Jute- ten, was als nächstes kommt. „Es ist ein Pause zur Halbzeit ein. „Nach den ersten beutel zum Sender losgefahren ist. Jetzt bisschen wie eine Mixkassette.“ Wichtig zwanzig Minuten geht die Sendung meis- richtet er sich am großen Pult mit dem sei, dass die Hörer nicht direkt abschal- tens sehr schnell vorbei.“ Dann kommt Mischgerät, der Computertastatur und ten, wenn ihnen eine Musikrichtung nicht auch schon sein Stichwort: Der abschlie- den CD-Spielern ein, legt die erste CD in passe. Deshalb komme nach einem ru- ßende Satz der Wettervorhersage „Und die Anlage und testet über den Kopfhö- higeren Stück auch oft ein schnelleres hier die weiteren Aussichten“ signalisiert, rer die Lautstärke seines Mikros. In acht oder lauteres. Der größte Teil der Musik, dass es weitergeht. Mit „What You Wan- Jahren hat er für die nächtliche Radiosen- die er spielt, beruht auf eigenen Recher- ted“ von der Band Seapony startet Möller dung seine Routinen entwickelt. chen. Davon erzählt Möller seinen Hö- in die zweite Runde der Sendung.

42 STUDIO

spielen soll.“ Frustrierende Musik für die Daheimgebliebenen kam jedenfalls nicht in Frage. Für die Moderation hatte er sich ein paar lustige Sprüche ausgedacht. Nach den Nachrichten um Mitternacht stieß er dann mit einer Kollegin drei Mi- nuten zu spät statt mit Sekt mit Wasser an. Damals wurde die Sendung noch aus einem alten Studio ohne Fenster gesen- det. „Während ich die Nachrichten über die Neujahrsfeste in aller Welt hörte, kam ich mir vor wie in einer Raumkapsel“, sagt Möller und lacht.

Feierabend

Nachdem er seine Hörer nach einer musikalisch abwechslungsreichen zwei- ten Stunde mit einem Lied von Nocow in die Nacht verabschiedet hat, packt er müde seine Sachen zusammen. Er macht die Lichter in der Redaktion aus, wech- selt im Treppenhaus noch ein paar Wor- te mit einem Sicherheitsmann, sagt der Reinigungskraft, die mit ihrem Wagen im Flur vor der Eingangstür steht, „Tschüss“ und schwingt sich wieder auf sein Rad. Nach zwei Stunden Sendung mit fast 30 verschiedenen Musikstücken hat Jan Möller um viertel nach zwei Feierabend. Während es für die imaginären Taxifahrer und Pendler auf der Autobahn womöglich noch weitergeht, geht es für ihn endlich nach Hause.

Lena Klimkeit

„Früher habe ich oft für andere Leute redaktion arbeitet, bei 90,3 das Ta- Kassetten aufgenommen, um ihnen Mu- gesprogramm und die Kultursendung sik zu zeigen“, erzählt Möller. Bevor er in „Abendjournal“ beliefert und ab und zu den frühen neunziger Jahren das erste für andere öffentlich-rechtliche Sender Mal für das Radio gearbeitet hat, schrieb sowie dem Internetradiosender ByteFM er unter anderem für das Stadtmagazin Beiträge macht. „Szene Hamburg“ und „Die Zeit“ – meis- tens über Musikthemen. Durch eine „Tre- In der einsamen Redaktion sei die At- senbekanntschaft“ kam er dann 2004 mosphäre vor allem im Winter besonders. zufällig an den Job in der Nachtclub-Re- „Dann sehe ich aus dem Fenster, wie die daktion. „Am Anfang war das alles ganz Schneeflocken fallen.“ Seine interessan- schön aufregend – und das ist es auch teste Nacht im Studio hat Möller aber immer noch“, sagt Möller, der seit drei Silvester verlebt. „Da wusste ich wirklich Jahren außerdem in der NDR 90,3-Sport- nicht, wer überhaupt zuhört und was ich

43 CLUB

DIRIGENT DER NACHT

Tanzbären, Nachteulen, Party- René macht sich daran, sein minima- 23:00 Uhr löwen – wenn das Wochenende lisiertes Equipment aufzubauen. Plötzlich ruft, gibt es für sie kein Halten hallt ein „Aaaach“ durch den (noch) blitz- Start. Die Lichter sind gedimmt, der Eingang wird aufgeschlossen. René legt mehr. Clubs, Diskos und Bars blank polierten Club. „Ich wollte heute Abend Videoimpressionen per Beamer den ersten Song auf: „All We Ever Wan- ziehen diese wilden Horden ma- an die Wand projizieren. Aber da erkennt ted Was Everything“, ein Bauhaus-Cover gnetisch an. Und für die Unter- man ja überhaupt nichts.“ Stimmt, Be- von MGMT. Aber so ganz aus dem Är- malung mit den richtigen Tunes wegungen sind zu erkennen, Lichtspiele, mel geschüttelt und spontan ist dieser sorgt er: der DJ. Er ist musika- war das da gerade jemand auf einem Song nun auch wieder nicht. „Die ersten lischer „Direktor“ und gibt der Fahrrad? Egal, das hat auch Charme, und zwei und die letzte Stunde gehören dem Nacht Gestalt, vielleicht sogar René wuselt eh schon wieder oben am DJ.“ Deshalb hat der 31-Jährige so eini- Pult herum. Es ist ein komisches Gefühl, ge Songs im Kopf, die er in dieser Zeit Charakter, und er weiß genau, einen Club komplett leer und mit voller spielen will. Außerdem hält er sich an wie man einem wilden Haufen Beleuchtung zu sehen. Die Tanzfläche selbst auferlegte Regeln und Ideen. So Tanzwütiger glühende Wangen glänzt mit kalten Fliesen, an der Bar wer- sei beispielsweise höchstens jeder dritte und leuchtende Augen beschert. den Strohhalme drapiert, die Barhocker Song unbekannt oder neu. Häufig baste- Auch der „Saitensprung“ hatte stehen in Reih und Glied, die Akustik ist le er an kleinen 30-Minuten-Konzepten, Hummeln im Hintern, verbrachte verändert. Alles wurde auf Null gesetzt. wie zum Beispiel einer Pfeifsong- oder Berlin-Phase. Gerade ist René Alleinun- eine Nacht mit DJ René Gutt im Und auch René polt sich jeden Abend, an dem er auflegt, immer wieder neu. „Ich terhalter im wahrsten Sinne des Wortes. Café Glocksee in Hannover und stelle mir vorher keine Playlist zusam- Noch keiner hat sich um kurz nach 23 begleitete den Dirigenten der men. Ich finde es äußerst schwierig, die Uhr auf die Tanzfläche verirrt. Kein Wun- Nacht hinter seinen Reglern. Dramatik einer Nacht im Vorhinein auf- der, immerhin ist Fußball-EM, draußen bauen zu wollen. Ich bin da spontan.“ ist es immer noch angenehm warm, und Endlich ist Freitag. Living for the week- end. Die Woche war anstrengend. Eigent- lich irrwitzig, dass man sich jetzt nicht auf sein Bett freut. Stattdessen stehen die Tanzschuhe bereit. Feiern bis zum Mor- gengrauen. So die eine Seite. Auf der an- deren Seite ist da René Gutt, auch seine Woche war anstrengend – und ist noch nicht zu Ende. Er macht sich auf den Weg zur Arbeit. Es geht „Auf.Indie.Disko“, so das heutige Motto im Café Glocksee. Um 22.30 Uhr betritt René durch den Nebeneingang des Clubs, der in eine Art Abstellkammer-Küchen-Garderoben- Büro-Kombination führt, seine heutige Wirkungsstätte und holt sich als erstes eine Cola. Seinen weißen 80er-Jahre- Tenniskoffer in der einen, die Cola in der anderen Hand, hinauf zum DJ-Pult. Wie? Und wo sind die Platten, die CDs? „Alles hier drin“, sagt er lachend und deutet auf sein Retrogepäck. „Im Januar habe ich komplett auf Mp3 umgestellt.“ Ein we- nig unglamourös, aber es sei praktisch, wenn man morgens nicht mehr diverse Koffer nach Hause schleppen müsse.

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auf dem zweiten Floor im Obergeschoss hat. René lässt die Nebelmaschine auch Fade“, The Drums wollen zum Surfen brettert seit 21 Uhr beharrlich eine Punk- noch ein zweites Mal zischen. Der Ven- animieren, Retro Stefson wecken Sehn- Hardcore-Band, deren Fans eben nicht tilator, der links etwas oberhalb des DJ- sucht mit „Karamba“, die die Beach Boys Zielgruppe des britischsten aller DJs in Pults montiert ist, läuft ebenfalls, denn mit „Fun, Fun, Fun“ in den kalifornischen Hannover sind. Um 23:18 Uhr wird zumin- es wird wärmer, und ganz langsam nimmt Kosmos katapultieren. The Young Friends dest das erste Bier am Tresen verkauft. die Party an Fahrt auf. Das Verhältnis auf schließen den kurzen Trip zum Beach mit Als sich wenig später Blur mit „The Univer- dem Tanzboden hat sich inzwischen bei „Make Out Point“. Nach diesem schönen sal“ schwülstig aus den Boxen pellt, zieht elf zu fünf eingepegelt. Elf Jungs, fünf Intermezzo jetzt alle mal den DJ küssen, es die ersten mit ausgestreckten Armen Mädchen. So ganz geht Renés Rechnung denn schließlich ist er bestimmt ein Frau- auf die Tanzfläche. Nur Jungs – und vier damit zwar nicht auf, aber bestimmt enmagnet, ein Mini-Rockstar, eben einer, Minuten später ist die Tanzfläche schon nur, weil Pete Doherty gerade so heftig den man lieben muss, weil er Tonnen von wieder verwaist, und die kleinen Laser- lamentiert. Musik kennt. „Nein, so was kommt nicht punkte der Diskobeleuchtung tanzen al- vor. Ich dachte zwar, meine Berufe als lein über die nackten Fliesen. René meint 00:15 Uhr Erzieher und eben nebenberuflich als DJ ein wenig amüsiert: „Man muss eben erst würden alle Frauen anziehen“, schmun- die Mädchen zum Tanzen bringen, bevor Love. Die ersten Gäste, die sich vorhin zelt der 31-Jährige, der fernab der Nacht die Jungs kommen.“ schon in das kleine, mit alten Ledersofas anderthalb- bis dreijährige Kinder be- ausstaffierte Séparée verzogen hatten, treut. „Aber das hat sich nicht bewahrhei- 23:56 Uhr knutschen gerade heftig auf der Tanz- tet.“ Des Öfteren wird René aber als reine fläche. In diese romantische Szenerie Jukebox angesehen. Dann versuchen die Nebel. Das erste Mal an diesem passt hervorragend Renés erste Konzept- Gäste, den eigenen USB-Stick oder das Abend. So langsam wird’s gemütlich, ab- phase, die wohl die Überschrift „Strand, Handy ans Mischpult zu klemmen. Aber gesehen von der Musik, die sich von 90 Surfen, Sonnenbaden“ trägt: Battles bei netten Songwünschen sagt René Dezibel auf nun 100 Dezibel gesteigert eröffnen mit Steel Drum in „Dominican nicht nein.

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00:56 Uhr verrät René, legt sogleich „The Rocka- 05:10 Uhr feller Skank“ in der Full Version auf und Konkurrenz. Die Hardcore-Punk-Band verschwindet Richtung Klo. Von Fatboy Scheideweg. Die Blütezeit scheint vo- vom oberen Floor lässt nun schon ihre Slim kriegt eine Person allerdings nichts rüber, so langsam leert sich der Tanzflur. dritte Zugabe vom Stapel. Anscheinend mehr mit. Alle Viere von sich gestreckt, Beim Durchschreiten der immer noch ist dieser Abend eher schlecht für Brit- liegt ein junger Mann mit verschwitztem stickigen und von hoher Luftfeuchtigkeit pop, Indie und Indietronic geeignet. So T-Shirt im hinteren Teil der Glocksee auf triefenden Glocke fällt auf, wie klebrig schlecht wie das Frauenklo in der oberen einer Couch – auch er macht gerade Pau- der Boden ist und dass sich etliche Glas- Etage – zugekotzt. Schnell wieder runter, se und schläft den Schlaf der Gerechten. scherben in die Schuhsohlen fressen. Die da ist zum Glück nur ein WC mit Toilet- Spuren der Nacht, eine „Champagne Su- tenpapier verstopft. Von der sterilen An- 04:22 Uhr pernova“, die sich im Club breitgemacht fangssituation im leeren Club ist wahrlich hat. Wie passend, dass Oasis das gerade nichts mehr übrig. Wunschliste. Am DJ-Pult, dessen Glas- verkünden. balustrade so hoch ist, dass man sich auf 01:48 Uhr die Zehenspitzen stellen muss, um die 07:02 Uhr wippenden Köpfe der Nachtschwärmer Manie. Es wird voll. Phoenix haben zu sehen, bildet sich gerade eine Schlan- Ende. In den letzten anderthalb Stun- mit „Lisztomania“ die vormals scheinbar ge. „Spielst du ‚Ghostbusters‘“, fragt ein den ist nicht mehr allzu viel Aufregendes geschlossenen Türen endgültig aus den Mädchen mit Pferdeschwanz und gerin- passiert. Aber trotz geringfügiger Müdig- Angeln gerissen. Das Verhältnis zwischen geltem Achselshirt. „Bei höflichen und keit bleibt eine erlesene Menge Tanzen- Jungs und Mädchen ist ausgeglichen. charmanten Songwünschen kann man der mit letzten Resten in den Gläsern und Das Publikum gibt sich heute Abend an- ja kaum nein sagen“, erzählt René und Lächeln auf dem Gesicht standhaft. Mit scheinend ein wenig exzentrisch: hier verweist gleichzeitig auf allzu aufdringli- David Bowie und A-Ha hat René ein letz- eine Morrissey-Frisur, dort Lovefoxx-Leg- che oder fehlplazierte Wünsche. „Wenn tes Mal für hitziges Aufbäumen auf dem gings, da ein eng geschnittenes Mod- sich jemand AC/DC wünscht, dann sage Tanzboden gesorgt. Nun geht es an den Hemd, drüben ein lässiger Fedora-Hut. ich ihm, er solle doch noch mal ins Pro- Abgesang dieses Diskoabends. „Es war Die Mannschaft an der Bar hat jetzt rich- gramm gucken, ob er hier heute Abend heute sehr anstrengend“, resümiert er tig Betrieb und schiebt die Bierflaschen wirklich richtig ist. Und ‚Sex On Fire‘ von und meint damit die Startschwierigkei- wie im wilden Western über den Tresen den Kings Of Leon werde ich niemals ten und die leere Tanzfläche zu Anfang. – allerdings nur über die kurze Seite, man spielen.“ Ein zweites Mädchen schnappt René hat 19 Songwünsche erfüllt, immer- will ja nicht zu viel riskieren. René baut sich den bereitliegenden Kuli und einen hin 13,9 Prozent der 136 Songs, die in derweil einen witzigen Kniff in sein Set Zettel und notiert ihren Songwunsch fein dieser Nacht, in acht Stunden, gespielt ein: Nachdem gerade „Love Will Tear Us säuberlich und typografisch sehr anspre- wurden. Erik Saties „Troisième Gymnopé- Apart“ von Joy Division lief, wird direkt im chend. Keine Herzchen – aber Pfeile, die“ ist der letzte. René packt, ein wenig Anschluss zu „Let’s Dance To Joy Divisi- Punkte und Unterstreichungen müssen erschöpft, sein Equipment in den weißen on“ von den Wombats getanzt. Und das schon drauf sein. Sie übergibt den Zettel, Tenniskoffer, holt sich seine Gage aus machen jetzt auch die Laserpunkte der und drei Songs später wird ihr Song ge- dem Büro, bestellt sich ein Taxi („das ist Diskobeleuchtung: Sie schweben über spielt: Robyn mit „Dancing On My Own“. hier inklusive“) verabschiedet sich von den wild tanzenden Gästen. Es ist an der Zeit, die abgegebenen allen, die noch hinten im Büro zu finden Wunschzettel genauer zu inspizieren. Vie- sind, und raucht draußen hastig eine Zi- 03:01 Uhr le sind es, die sich da gestapelt haben. garette, bevor das Taxi ihn nach Hause Und komische. Roxette hat sich wer ge- dirigiert. Pausenfüller. So gut wie die Leute wünscht oder „Bakerman“ – ja, diesen jetzt unterwegs sind, so lang ist der Abend Song mit dem Fallschirmvideo von Laid Katharina Bock auch schon. René hat bisher noch nicht Back, allerdings von The Doors, da hat ein Mal sein Refugium verlassen. Denn wohl jemand was verwechselt. Toll auch: schließlich weiß man ja nie, wie lang die „Ich hasse Boy (die Band)“ oder „Sabota- Schlange vorm stillen Örtchen wirklich ist ge vonne Beastie Boys R.I.P. MCA“. Aber und ob man es wieder pünktlich an die am besten: ein zerknüllter Zettel mit dem Regler schafft. Da kann ein Song schon Statement „Draußen ist Sonne“ (tatsäch- beträchtlich kurz werden. „Ich spiele in lich scheint sie mittlerweile) und ein wei- diesem Fall immer gern ‚Blue Monday‘ teres Blatt mit der in Großbuchstaben von New Order oder einen langen Club formulierten Feststellung: „ICH BIN PAUL Mix von Daft Punk. Oder diesen hier“, MCCARTNEY.“

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nur in den Bühnengraben, sondern auch gewinnen. Neben dem besonderen Fan NUR KEIN backstage. Dorthin, wo die Künstler ihre sieht er mit seinem schwitzigen Gesicht, Aufenthaltsräume haben und im V.I.P.-Be- seinen durcheinandergeratenen Haaren reich Partys feiern. Dieses Privileg haben und der riesigen Foto-Tasche allerdings NEID sonst nur Manager, Veranstalter, Familie wie ein Häufchen Elend aus. Und da und Freunde der Künstler – der einfache säuselt es auch schon neben ihm: „Your Fan eigentlich nicht. Einige besondere show was so amazing! I can’t believe it! Auch Groupies geht es letzlich Fans jedoch schaffen es immer wieder You look so good!“ – Aus. Vorbei. Schon doch nur um die Musik. Aber der hinter die Bühne. Der Musikjournalist ist der Künstler mit dem besonderen Fan kann sie beobachten, während er unge- verschwunden. Verzweifeltes Seufzen. Musikjournalist bekommt na- duldig auf den Künstler für ein Exklusiv- Wieder kein Interview. Nennen wir das türlich wieder einmal kein Inter- Interview wartet. Diese besonderen Fans Elend endlich beim Namen: Groupie. view... sind vorrangig weiblich, schöner als alle anderen und perfekt gestylt. Aber für Schon Petrus war über Jesus’ speziel- Als akkreditierter Musikjournalist darf Neid ist jetzt keine Zeit. Er muss jetzt alles les Verhältnis zu Maria Magdalena min- man bei einem Konzert manchmal nicht tun, um den Künstler für ein Interview zu destens genauso verärgert wie der Mu- sikjournalist über das Groupie: „Sollte er tatsächlich mit einer Frau allein gespro- chen und uns ausgeschlossen haben? Sollten wir ihr etwa zunicken und alle auf sie hören?“ Levi versuchte ihn zu be- schwichtigen: „Wenn aber der Retter sie für wert genug hielt – wer bist dann du, dass du sie verwürfest? Sicherlich kennt der Retter sie ganz genau. Und deshalb hat er sie auch mehr als uns geliebt.“

Jesus kannte Maria Magdalena also ganz genau, und deswegen hatten sie eine besondere Beziehung. Sie hat ihm gut getan, und er hat sie geschätzt. Die Rockmusikerin Patti Smith findet Maria Magdalena auch cool: „Sie war so was wie das erste Groupie. Die stand total auf Jesus und ist ihm gefolgt. Ich wünschte, sie hätte Tagebuch geschrieben. Das ganze Gequatsche über Jesus, wie toll er war. Ich will eigentlich nur wissen, wie er im Bett war.“

Natürlich hat das Groupie auch Sex mit dem Künstler. Gene Simmons von der Band „Kiss“ weiß den Bühnenauftritt zwar zu schätzen, aber noch größeren Spaß mache es ihm, zurück ins Hotel zu fahren und sich spezielle Zugaben ab- zuholen. Courtney Love, die Skandal-Ro- ckerin und Witwe von Nirvana-Frontmann Kurt Cobain, bringt es auf den Punkt: „Zum Rock gehört der Schwanz einfach dazu. Es gehört dazu, dass man zu einem Konzert geht und mit dem Kerl vögeln will.“ Aber offensichtlich ist es noch mehr als das. Für Jimi Hendrix zum Beispiel

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geht es nicht ausschließlich um die „rein von Cameron Crowe vermittelt ein ande- Bühne. Sie verstehen beide, was es be- körperliche Angelegenheit“, und Jimmy res Bild des Groupies: „Ich bin kein Grou- deutet, ein Musikstück oder eine Band Page von „Led Zeppelin“ meint, dass die pie. Groupies schlafen mit Rockstars, weil so maßlos zu lieben, dass es wehtut. Ein Groupies gute Freundinnen seien und sie die Nähe berühmter Männer suchen. guter Musikjournalist sollte diese Liebe einfach zur Familie gehörten. Wir sind wegen der Musik dabei. Wir sind niemals verlieren, denn auch er ist ein Band Aids, die Gehilfinnen der Band. Wir Groupie – nur ohne körperliche Absich- Was ist eigentlich der Unterschied zu inspirieren die Musik.“ So äußert sich je- ten, wie es der Popkultur-Autor Martin einer Muse? Von ihnen gibt es in der grie- denfalls die Protagonistin des Films, die Büsser passend formulierte. chischen Mythologie neun an der Zahl sich passend „Penny Lane“ nennt. Und – die Schutzgöttinnen der Künste. Wenn nicht ohne Grund gibt es ein ganzes Buch Dann findet das Interview eben das man den Begriff googelt, findet man von Michael Heatley, das sich „The Girl nächste Mal statt, und der Kerl vergnügt auch ganz schlicht „eine Frau, die einen in the Song“ widmet, von denen sicher sich jetzt mit dem Groupie. Der Musikjour- Künstler inspiriert“. Die kreativen Anla- auch einige Groupies waren. Ohne das nalist wischt sich derweil den Schweiß gen des Künstlers werden durch Musen Mädchen aus Ipanema, Angie, A-N-N-A, aus dem Gesicht und ordnet die Haare. stimuliert, das wusste der Dichter Hesiod die Femme Fatale, Layla, Lola, Lucy im Das nächste Konzert wartet. schon: „Glücklich ist der, den die Musen Himmel mit Diamanten, Negrita, Rikki lieben. Süß die Klänge, die seinen Lippen (die die Nummer nicht verlieren soll), Ro- Frederike Arns entweichen.“ Hinter der Genialität eines sanna, Roxanne und wie sie alle heißen Künstlers steht oft eine Frau, ohne die – ohne sie alle hätte es wohl niemals die der Erfolg wohl nicht denkbar wäre. Auch gleichnamigen Songs gegeben. Ein Grou- Lektüreempfehlungen: wenn behauptet wird, dass Yoko Ono der pie ist nichts anderes als das Alter Ego Pamela Des Barres: Im Bett mit den Grund für die Trennung der Beatles war, des Rockstars. Den einen würde es ohne Rockgöttern (Heyne), hielt John Lennon immer daran fest, dass den anderen nicht geben – und anders- Michael Heatley: Das Mädchen aus dem sie ihm alles beigebracht habe und er herum. Song (Schwarzkopf und Schwarzkopf), ohne sie seine Musik nicht hätte erschaf- Film: Cameron Crowe: Almost Famous fen können. Der Musikjournalist muss deswegen auch nicht neidisch sein oder das Grou- Genau. Letztlich geht es doch um die pie belächeln, denn eigentlich stehen sie Musik. Auch der Film „Almost Famous“ beide für die gleiche Sache hinter der

LA-LE-LU

Gute-Nacht-Lieder sind nur schon ziemlich“, sagt Mark und fügt hin- mit Stille. Sie haben Probleme, sich am etwas für Kinder? Von wegen. zu: „Wenn ich kein Hintergrundgeräusch Ende des Tages richtig zu entspannen Auch viele Erwachsene kriegen habe, brauche ich oft mehrere Stunden und runterzukommen“, sagt Altenmüller. zum Einschlafen.“ Oft seien das Menschen, die mit extre- ohne Einschlafmusik kaum ein men beruflichen Anforderungen zu tun Auge zu. Mark gehört zu etwa drei Millionen haben. Für manche sei Musik ein Mittel, Deutschen, die nach Angaben der Selbst- um sich zumindest zeitweise vom Pfei- Einschlafen ohne Musik – für Mark* hilfeorganisation „Deutsche Tinnitus- fen, Brummen, Zischen oder Rauschen aus Hannover ist das beinahe undenkbar. Liga“ von chronischen Ohrgeräuschen im Ohr abzulenken. Und sich schlafen zu Der 23 Jahre alte Student leidet an dau- betroffen sind. Eckart Altenmüller, Pro- legen. erhaften Ohrgeräuschen, auch Tinnitus fessor für Neurologie und Musikermedi- genannt. Angefangen hat alles nach ei- zin an der Hochschule für Musik, Theater „Einschlafmusik sollte vor allem an- nem Punkrock-Festival in Erfurt. Seitdem und Medien Hannover, schätzt, dass 20 regen, sich etwas vorzustellen, etwa eine begleitet ihn ein hohes, oft penetrantes Prozent der Bevölkerung unter zumindest Landschaft oder eine Geschichte“, sagt Piepen und manchmal auch ein Rau- vorübergehenden Ohrgeräuschen leiden. Mark. Ideal seien für ihn deshalb beson- schen durch den Alltag. „Es stört mich „Viele haben ganz große Schwierigkeiten ders Hörspiele. Zudem sei der Fernseher

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ein gutes Hilfsmittel. Oder spezielle Mu- ein bisschen auch an den Zustand im lebende Hermann Carl von Keyserlingk, sikgenres wie der Post- oder Progres-sive Mutterleib erinnern“, sagt Altenmüller, ein russischer Diplomat, litt unter starken Rock. „Aber auch hier gibt es oft ruhige „also an die Stimme der Mutter, die wir Depressionen. Weil er Probleme mit dem Passagen, und da merke ich manchmal schon im Mutterleib hören, und an das Einschlafen hatte, bat er seinen Kantor meine Geräusche wieder und ärgere Hin- und Herschwingen in der Fruchtbla- Johann Gottlieb Goldberg, ihm abends mich“, sagt Mark. se.“ Mütter spüren indes instinktiv, wel- etwas vorzuspielen. Goldberg leitete die Bitte an Johann Sebastian Bach weiter, seinen früheren Lehrmeister. Und so komponierte Bach für Keyserlingk explizit Schlafmusik. Im selben Jahrhundert war es der ebenfalls depressive spanische König Philipp V., dessen Leiden durch den Gesang des italienischen Kastraten- sängers Carlo Broschi, genannt Farinelli, gelindert wurde.

Heutzutage ist Musik als Therapie- form etwa im „Heidelberger Modell“ zu finden. Tinnitus-Patienten lernen -hier bei, ihre Ohrgeräusche besser zu kont- rollieren. Auch heilende Ansätze seien auf diesem Weg möglich, verspricht das Modell. Laut der Deutschen Musikthera- peutischen Gesellschaft belegen wissen- schaftliche Studien bei rund 80 Prozent der Patienten die Wirksamkeit der Thera- pie.

Die Universität Münster bietet ein innovatives Musiktraining an, bei dem Tinnitus-Betroffene maßgeschneiderte Generell sollte schlaffördernde Musik ches Tempo sie beim Singen anschlagen Musikstücke zu hören bekommen. Das nach Meinung von Eckart Altenmüller re- müssen, damit das Baby einschläft. So Besondere daran: Bei den Stücken fehlen lativ einfach gestrickt sein und „sich aus gibt es Babys, die eher ruhige Lieder be- genau jene Frequenzen, die den Ohrge- immer wiederkehrenden Mustern zusam- vorzugen, und andere, denen diese zu räuschen des Patienten entsprechen. Auf mensetzen, ohne abrupte Strukturwech- passiv sind. diese Weise werden zumindest die be- sel“. Entscheidend sei auch, dass sie schädigten Hörzellen nicht weiter gereizt nicht zu laut oder schrill ist und aus eher Zu den populärsten Wiegenliedern und die umliegenden Zellen stimuliert. tieferen Frequenzen besteht. „Minimal- hierzulande gehört das „Schlaf, Kindlein, musik zum Beispiel, mit ganz ähnlichen, schlaf“. Ein anderes Gute-Nacht-Lied Für Mark kommen solche Therapie- oft getragenen Akkorden, die eine Art stürmte Anfang der 1990er Jahre sogar verfahren möglicherweise auch infrage. hypnotische Macht entfaltet“, sagt Alten- die deutschen Single-Charts: „La-Le-Lu“. Sicher ist aber: Seiner Leidenschaft für müller. Der Song hatte zunächst durch den Film Konzerte wird er trotz Tinnitus auch wei- „Wenn der Vater mit dem Sohne“ im Jahr terhin nachgehen. Und Festivals besu- Die „Macht“, besser gesagt: die Wir- 1955 Bekanntheit erlangt. Schauspieler chen, denn ausgerechnet auf den dor- kung von Musik nutzen Eltern seit jeher, Heinz Rühmann, der das Lied im Film tigen Zeltplätzen kann Mark am besten um ihren Kindern das Einschlafen zu er- gesungen hatte, erhielt hierfür aber erst abschalten und einschlafen. „Weil irgend- leichtern. Neben der akustischen Ebene 1994 eine Goldene Schallplatte – ein wo immer jemand redet, Musik hört oder des Singens spielt dabei das Wiegen, Jahr, nachdem die modernisierte Version einfach Party macht.“ also die motorische Komponente, eine von „La-Le-Lu“ veröffentlicht worden war. entscheidende Rolle. Beides zusammen Paul Sklorz kann dem Kind ein Gefühl der Sicherheit Dass Schlaflieder nicht nur etwas für und Geborgenheit geben. „Es gibt Leute, Kinder sind, beweisen zwei Beispiele aus die behaupten, dass die Wiegenlieder so der Geschichte: Der im 18. Jahrhundert *Name von Redaktion geändert

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DAS SAITENSPRUNG-RÄTSEL

Idee & Konzeption: Stephan Kragl/Erik Klügling Finden Sie heraus, wer die Interpreten und Komponisten auf den Bildern sind, und tragen Sie jeweils Vor- und Zunamen ein. Aus den Buchstaben der grau markierten Felder ergibt sich das Lösungswort..

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Lösungswort

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