Sonntag, 18. Oktober 2020 15.04 – 17.00 Uhr

Ludwig van Beethoven Eine Sendereihe von Eleonore Büning

42. Folge: „Musik über Musik“

Willkommen, ich grüße Sie. „Musik über Musik“ – so heißt diese Folge. Das dürfen Sie wörtlich nehmen! Heute hören Sie hier nämlich nur erstklassige „Second- Hand“-Musik. „Musik über Musik“, das besagt: Ein Komponist schreibt ein Stück, indem er sich ein anderes, schon vorhandenes Stück ausborgt und es verändert, sich aneignet, es verdaut und etwas Neues daraus macht. Vergleichbares gibt es natürlich auch in der Literatur und der bildenden Kunst: Es gibt Romane über Romane, Bilder über Bilder. Doch das ist jeweils wohl eher die Ausnahme. „Musik über Musik“ dagegen umfasst eine Fülle von allen möglichen Formaten: Arrangements, Parodien, Improvisationen, Transkriptionen, Paraphrasen, Fantasien, Kontrafakturen und Variationen. Typisch für die flüchtige Luftkunst Musik, dass sie sich in diesem schöpferischen Zwischen-reich so stark hat verankern können! Hier, zum Auftakt, ein berühmtes Beispiel:

Opus 111 1) : Diabelli-Variationen op.120 0:45 OP 30384 Daraus: Variation Nr.22

Kein LC Grigori Sokolov (Klavier) Track <22> 1985/2000

„Notte e giorno faticar“/ „Keine Ruh bei Tag und Nacht…“. Grigori Sokolov spielte ein Klavierstück von Beethoven über eine Arie von Mozart UND über einen Walzer von Diabelli. Es handelt sich hier um eine Doppelvariation, einen verschärften Fall von „Second-Hand“-Musik. Erstens verarbeitet Beethoven hier die Auftrittsarie von Leporello aus „Don Giovanni“ (aus einer Oper, deren Sujet er angeblich unmoralisch fand). Zweitens verarbeitet Beethoven ein Walzerthema (das ihm, als ein billiges „Thema mit Schusterfleck“ angeblich ebenfalls nicht gefiel). Dieses Thema hatte der Wiener Musikverleger Anton Diabelli im Jahr 1819 an alle möglichen Komponisten verschickt, mit der Bitte, ihm dazu je eine Variation zu schreiben. Auch an Beethoven, was der zunächst verweigerte, sich aber doch noch anders überlegte. Und herausgekommen ist dabei etwas Unerhörtes, Neues, Wegweisendes, eine vielbewunderte Architektur aus 33 Variationen, wovon die 22.Variation, die wir eben hörten, ein vollendetes Kunstwerk in der Nussschale ist: „Musik über Musik über Musik“ in nur 18 Takten. Zeit seines Lebens komponierte Ludwig van Beethoven immer wieder Variations- zyklen, insgesamt 22 für Klavier, darüber hinaus gibt es 10 Zyklen für Kammermusikbesetzungen und 37 Variationssätze in Symphonien, Sonaten, Trios und Quartetten. Bereits das erste gedruckte Werk Beethovens war ein Variationenwerk gewesen: die sogenannten „Dressler“-Variationen, die er zwölfjährig in Bonn komponiert hatte. Nach der Übersiedelung nach Wien profilierte er sich dann mit virtuosen Klaviervariationen über Themen von angesagten Opernkomponisten: Gretry, Righini, Dittersdorf, Süßmayr, Winter, Paisiello, Wranitzky – was eben gerade so auf dem Spielplan stand. „Musik über Musik“ für

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Salon und Hausgebrauch - das war damals, als es noch keine Tonaufzeichnung gab, die probate Methode, Musik unter die Leute zu bringen. 1799 knöpfte sich Beethoven, um seinen Lehrer Antonio Salieri zu ehren, eines von dessen Opernduetten vor: „La stessa, la stessissima“:

Chandos 2.) Antonio Salieri: „Falstaff“ 1:13 Chan 9613 Daraus: „La stessa, la stessissima“, 1.Akt

LC 7038 Lee Myeoungeeh (Sopran) CD 1 Chiara Chialli (Sopran) Orchestra Guido Cantelli od Milan Track <14> Alberto Veronesi (Leitung) 1997/1998

Mrs.Ford und Mrs.Slender haben beide einen Liebesbrief bekommen von Falstaff. Die Frauen treffen sich, vergleichen die Briefe und stellen fest: Es steht wortgleich dasselbe drin: „La stessa! la stessissima!“ Dieses Duett aus der Oper „Falstaff“ von Antonio Salieri wurde auf Anhieb ein Hit, es wurde mehrfach zu Variationen verarbeitet, und auch Ludwig van Beethoven brachte dazu Klaviervariationen heraus, keine zwei Monate nach der Uraufführung, anno 1799:

Deutsche 3.) Ludwig van Beethoven: Zehn Variationen in B-Dur 4:18 Grammophon Über „La stessa, la stessissima“ aus Antonio Salieris DG 457 613 Oper „Falstaff“ WoO 73 LC 0173 Gianluca Cascioli (Klavier) Track <1> 1997/1999

Bis zur Mollvariation hat sich der Pianist Gianluca Cascioli vorgearbeitet in diesen B-Dur-Variationen. Beethoven verkomponierte hier ein Thema von Antonio Salieri, er stand damit direkt in Konkurrenz zu Joseph Wölfl und Josephine von Auernhammer, die ebenfalls „La stessa“-Variationen herausgebracht hatten, denn Salieris „Falstaff“-Oper war neu in Wien und sehr in Mode. Vergleichsweise schneidet Beethoven schlecht ab. In der Zeitungskritik heißt es, am 19.Juni 1799: „Mit diesen (Variationen) kann man nun gar nicht zufrieden seyn. Wie sind sie steif und gesucht und welche unangenehme Stellen darin, wo harte Tiraden in fortlaufenden halben Tönen gegen den Bass ein hässliches Verhältnis machen, und umgekehrt. Nein, es ist wahr: Hr.v.B. mag phantasieren können, aber gut zu variiren versteht er nicht.“ Soweit die Kritik. Kurz darauf reißt die Variationenproduktion Beethovens schlagartig ab. Ob er sich diese Kritik zu Herzen nahm? Eher unwahrscheinlich. Er bekam ja zu Beginn seiner Karriere laufend solche Kritiken, die seine avantgardistischen Lösungsvorschläge für konventionelle Tonsatzprobleme als „hässlich“ bezeichneten, und ließ sich davon in seinem Komponieren nicht irritieren. Eher ist es wohl so, dass Beethoven in Sachen „Musik über Musik“ einen neuen Weg gefunden hatte, der ihn mehr interessierte. Er propagierte nämlich, statt die Themen anderer, nunmehr eigene Themen. Und von diesem Zeitpunkt an, ab 1800, hat er nie wieder textgebundene Themen aus modischen Opern variiert.

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Zuerst verarbeitete Beethoven ein Thema aus einer seiner Klaviersonaten, der B- Dur-Sonate op.22. Auch den beiden nächsten Variationszyklen von 1802, den „Eroica“-Variationen und den „Prometheus“-Variationen legte er ein selbstkomponiertes Originalthema zugrunde. Er schreibt dazu an den Verleger Härtel: „beyde sind auf eine wircklich neue Manier bearbeitet (…) um so mehr, da auch die Themas von mir selbst sind.“ Der nächstfolgende Schritt ist noch radikaler. Beethoven schreibt fortan gar keine Klaviervariationen mehr: eine Enthaltsamkeit, die, von zwei Gelegenheitskompositionen abgesehen, 17 Jahre andauert. Erst 1819 findet er wieder zu dieser Sorte von „Musik über Musik“ zurück, er komponiert erneut einen Variationszyklus, seinen letzten: die „Diabelli“- Variationen. Diese partielle Schaffenspause, vor allem aber Beethovens Worte von der „ganz neuen Manier“ haben schon Hunderte von kritischen Federn in Bewegung gesetzt. Und dieser späte Zyklus der „Diabelli“-Variationen, entstanden zwischen 1819 und 1823, wird als eines der größten musikalischen Weltwunder bestaunt, entstanden gewissermaßen aus dem Nichts, wie eine Athene dem Haupte des Zeus entsprungen. Legenden ranken sich um die Entstehung. Legenden kursieren unter den Pianisten. Lange Zeit hielt man diese Musik für unspielbar schwer – erst 1856 wagte der Liszt-Schüler Hans von Bülow sich in Berlin an die Uraufführung. „Eine Pilgerfahrt“ nennt der australische Pianist Michael Leslie diese Variationen. Außerdem: „ein Testament“ und ein „Paradies“ und „eine Reise um die Welt“. Er schreibt: „Tatsächlich gibt es keinen vernünftigen Grund, sich physisch, intellektuell und emotional mit diesem gigan-tischen Werk auseinanderzusetzen. Genau so wenig, wie es einen Grund gibt, den Mount Everest zu bezwingen.“

Telos TLS 4.) Ludwig van Beethoven: Diabelli-Variationen op.120 0:55 110 Daraus: Thema LC 029666 CD 2 Michael Leslie (Klavier) Track <1> 2009

Michael Leslie spielte das Thema zu Beethovens „Diabelli“-Variationen, woraus wir eingangs schon die 22.Variation gehört haben. In ihrer Ehrfurcht vor den „Diabelli“-Variationen, die so abenteuerlich lang und so labyrinthisch sind, wie kein anderer Variationszyklus zuvor, gehen die meisten Autoren stillschweigend darüber hinweg, dass das Thema keineswegs ein Originalthema ist. Es ist wieder, wie bei den ersten Variationen des jungen Beethoven, ein Fremdthema, das genau so schlicht und dumm gebaut erscheint, wie es zum Beispiel „La stessa, la stessissima“ gewesen war. Wieder kommt es darauf an, was der Komponist daraus macht. Bereits in der ersten Variation, Viervierteltakt, Alla Marcia, ist das Thema nicht mehr wiederzuerkennen. Bewundernd schreibt August Halm, man höre förmlich, wie Beethoven auftrumpft und ruft: „‘Jetzt komme ich!‘

Arietta Music 5.) Ludwig van Beethoven: Diabelli-Variationen op.120 1:30 ART -001 Daraus: Var.1 „Alla marcia maestoso“ Kein LC CD 1 William Kinderman (Steinway) track <1> 2007

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William Kinderman spielte Beethovens erste Variation „Alla Marcia Maestoso“, aus den Diabelli-Variationen op.120. „Es ist mir kein anderes Beispiel bekannt, wo er (Beethoven) ein fremdes Thema, das er behandeln wollte, gleich mit so herrischer Gebärde von sich weggeschoben, ja, förmlich von sich fortgestoßen hätte“, sagt dazu August Halm Walter Riezler geht noch einen Schritt weiter, er schreibt: „Schon hier, mit diesem großartigen Beginn, wird das Thema in seiner eignen Gestalt sozusagen vernichtet.“ Rettung durch Vernichtung! So könnte man das Variationsprinzip der Beethovenschen Diabelli-Variationen umschreiben. Denn das Thema, das er variiert, glänzt von der ersten Variation an konsequent durch Abwesenheit. Es wird stets nur portionsweise zitiert und verändert, eine Variation variiert die nächste. Nie können wir das Thema klar erkennen, benennen, aber stets erahnen. Das eröffnet enorm viele Möglichkeiten. Zunächst aber noch ein paar Worte zu dem „Thema mit dem Schusterfleck“, und dazu, wie andere damit umgingen. Nach einem Bericht seines Sekretärs Anton Schindler soll Beethoven den Diabellischen Walzer abfällig so genannt haben (was auch von Czerny bestätigt wird). Das Thema ist nämlich in der zweiten Hälfte aus mehrfach um einen Ton höher sequenzierten kurzen Abschnitten zusammengetackert. So etwas Einfallsloses, Schematisches nannte man im Wiener Komponistenjargon einen Schusterfleck, die italienischen Komponisten nennen es, nach einem Volkslied, eine „Rosalie“. Hans von Bülow hat das „Diabelli“-Thema gegen seine Kritiker verteidigt, er meinte, Beethoven hätte es wohl kaum benutzt, wenn es nicht tauglich gewesen wäre: „Der Walzer ist, trotz seiner Rosalien an und für sich ein ganz hübsches, geschmackvolles Stückchen, in seiner melodischen – ich möchte sagen – Neutralität vor der Gefahr des Veraltetwerdens geschützt“. Soweit Bülow. Beethoven selbst hat, gleich in der achten Variation („Poco Vivace“), dieser vielgescholtenen Rosalie eine besondere Ehre angedeihen lassen. Er löst den Flickschusterflecken heraus aus dem Kontext des Themas und variiert ihn solo, für sich allein. Und diese Variation gemahnt, dank der plagal gefärbten Harmonik, dank der Legato-Arpeggien, an den irrealen Schwebezustand gegen Ende der Arietta aus der Sonate op. 111:

Arietta Music 6.) Ludwig van Beethoven: Diabelli-Variationen op.120 1:37 ART -001 Daraus: Var. 8 „Poco Vivace“ Kein LC CD 1 William Kinderman (Steinway) track <8> 2007

Die Variation Nr.8, „Poco Vivace“, aus den Diabelli-Variationen, wurde gespielt von William Kinderman. Kinderman ist ein musikwissenschaftlicher Pianist oder vielmehr ein klavierspielender Musikwissenschaftler, als solcher verbindet er die Theorie mit der Praxis. Und das ist kein Einzelfall. Gerade die Diabelli-Variationen, die so lange für unspielbar galten, haben die Forschernaturen unter den Pianisten stets angezogen – das reicht von Kinderman bis zu Alfred Brendel, und es hat viele wichtige Erkenntnisse gezeitigt. Brendel betrachtet die Diabelli-Variationen als eine große menschliche Komödie. Arnold Münster, ein Physiker und Naturwissenschaftler von

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Hause aus, hat sich seine bahnbrechende Analyse der Diabelli-Variationen direkt über das Üben, das Studium des Werkes am Klavier erschlossen. Kindermans Dissertation, die sechs Jahre nach der Arbeit Münsters herauskam, befasste sich erstmalig mit den Skizzen, und Kinderman räumte mit vielen Legenden auf. Man weiß heute, dass Beethoven keineswegs die Absicht hatte, mit seiner ersten Variation das Diabelli-Thema wegzuschieben oder zu vernichten. Das ist gar nicht möglich gewesen. Denn diese erste Variation taucht in Beethovens Skizzen erst sehr spät auf, sie ist eine der letzten, die er aufschreibt, erst 1823. Ursprünglich hatte er, ganz im Gegenteil, geplant, einen roten Teppich auszurollen für das Diabellische Thema, indem er eine präludierende „Introdutzion“ skizzierte, eine quasi-improvisierte Einleitung, die zu dem Thema hinführt. Wie sollte überhaupt ein ideales Thema zu Variationen aussehen? Dazu gibt es ziemlich klare Regeln, schließlich ist das Variieren schon seit der Renaissance eine beliebte Form. Erstens, so wird es verlangt, möge das Thema kurz sein, zweitens so simpel wie möglich, drittens leicht wiedererkennbar. Beethovens Schüler schrieb in seiner Kompositionslehre: „Zu Variationen eignen sich vorzugsweise jene Themen, welche schönen Gesang, wenig Modulation, gleiche zwei Theile und einen verständlichen Rhythmus haben.“ Das Diabellli-Thema erfüllt von diesen drei Regeln nur eine einzige – die aber hundertprozentig. Harmonisch handelt es sich um eine einfache Kadenz: Tonika, Subdominante, Dominante, Tonika – aufgepeppt durch ein paar Zwischendominanten. Aber melodisch ist dieses Thema nicht im Geringsten signifikant: Es tritt auf der Stelle, sequenziert, wiederholt, tritt wieder auf der Stelle – das ergibt „keine erkennbare Linie“, stattdessen, wie von Bülow so treffend bemerkte, „melodische Neutralität“. Und außerdem war dieses Diabellische Walzerthema mit 32 Takten und wiederholten Perioden viel zu lang zum Variieren. Trotzdem fanden sich immerhin fünfzig Komponisten, die Diabelli angeschrieben hatte, dazu bereit, es damit zu versuchen. Carl Czerny, Beethovens Schüler, lieferte als erster, er schrieb etwas charmant Figuratives, versuchte das Thema zu knacken, indem er es harmonisch interessant machte, setzte vor allem auf den wiedererkennbaren kurzen Vorschlag bei seinen virtuosen Passagen. Hören wir uns das an:

Harmonia 7.) „Vaterländischer Künstlerverein: „Fünfzig 3‘10 Mundi HMC Veränderungen über einen Walzer von Anton Diabelli. 902091 Var.IV (Czerny); Var.VI (Hummel); Var. VIII (Kalk- LC 7045 brenner); Tracks Andreas Staier (Graf-Hammerflügel) <2-4> 2012

Das war eine Handvoll der Visitenkarten, die von verschiedensten Komponisten beim „Vaterländischen Kunstverein“ des Wiener Verlegers Anton Diabelli abgeliefert wurden. Und zwar hörten wir der Reihe nach, die Variationen von Carl Czerny, Johann Nepomuk Hummel und Friedrich Kalkbrenner. Auch wenn das seinerzeit klangvolle Namen waren in Wien, so wirken diese Variationen letztlich etwas fade, sie tönen eine wie die andere, repetieren bewährte Figurationsformeln und kneten das Thema damit einmal durch. Auch Erzherzog Rudolf beteiligte sich an dem Wettbewerb, auch Abbé Stadler, Anselm Hüttenbrenner, Johann Baptist

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Gänßbacher, e tutti quanti. Nur wenige Variationen ragen heraus aus diesem Einerlei. Eine davon wurde komponiert von dem elfjährigen Wunderknaben , der gerade in Wien gastierte. Er schrieb eine tausendfingrige, dramatische Moll-Variation. Eine andere von einem Komponisten, dessen Handschrift so persönlich und unverkennbar ist, dass man ihn sofort identifizieren kann.

Harmonia 8.) „Vaterländischer Künstlerverein: „Fünfzig 2:35 Mundi HMC Veränderungen über einen Walzer von Anton Diabelli. 902091 LC 7045 Var. XXIV (Liszt); Var. XXXVI II (Schubert) tracks Andreas Staier (Graf-Hammerflügel) <7 & 11> 2012

Andreas Staier spielte, auf einem nachgebauten Graf-Hammerflügel der Beethoven- zeit, zwei Variationen über einen Walzer von Anton Diabelli – die erste komponierte der junge Franz Liszt. Die zweite . Der größte Hecht im Wiener Karpfenteich war, aus Sicht des ehrgeizigen Verlegers, aber selbstverständlich Ludwig van Beethoven. Anton Schindler berichtet, dass der anfangs gar nicht habe anbeißen wollen, dann aber, verführt von dem überaus hohen Honorar, das ihm Diabelli exklusiv anbot, seine Meinung änderte, erst sechs bis sieben Variationen habe beisteuern wollen, was sich schließlich dank der Eigendynamik des Genies wie von selbst ausgedehnt habe bis zu dreiunddreißig Variationen. Dafür bekam Beethoven von Diabelli 40 Dukaten. Und Diabelli wartete mit der Edition, bis Beethoven, nach vier Jahren Kompositionsprozess, endlich fertig war, damit er die beiden „Musik über Musik“-Sammlungen in einer Edition herausgeben konnte: 1.Teil Beethoven – 2.Teil alle anderen. Sollte Schindlers Geschichte über den organisch wuchernden Entstehungsprozess der Diabelli-Variationen so, wie sie immer wieder erzählt wird, zutreffen, dann würde das bedeuten: Es handelt sich um eine bunte, zufällige Abfolge von Variationen. Beethovens Skizzen beweisen das Gegenteil. Bereits 1819, vier Jahre vor Vollendung des Werks, hatte er die Anfangstakte unter anderem der Variationen Nr. 22 und Nr. 26 skizziert, auch plante er von Anfang an diverse Fugen ein. Es gibt also ganz zweifellos eine Dramaturgie, eine Architektur. Sie zu entschlüsseln und darzustellen, dazu sind seit Hans von Bülow bis heute immer wieder die Musiker und Musikwissenschaftler neu angetreten. Sie haben die Diabelli-Variationen in Gruppen aufgeteilt und Verwandtschaften festgestellt. Und immer wieder kommt es vor, dass Einer neue Wahrheiten, neue Zusammenhänge aufdeckt. Es gibt Gebirge von Sekundärliteratur über diese letzten Beethovenschen Variationen. Es gibt auch mehrere Regalmeter an CDs: Viele Pianisten von Rang haben diese Variationen eingespielt hat. Einige davon werden wir jetzt hören. Den Anfang macht jetzt Svjatoslav Richter. Er spielt die Variationen Nr. 1 bis Nr.8, aufgenommen 1988 im Pushkin-Museum in Moskau:

Regis RRC 9) Ludwig van Beethoven: Diabelli-Variationen op.120 8:02 1140 Daraus: Var.1 „Alla Marcia Maestoso“ bis Var.8 „Poco

Kein LC Vivace“ Svjatoslav Richter (Klavier) tracks <2-9> 1988/2002

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Svjatoslav Richter spielte die Variationen Nr.1 bis 8, zuletzt das „Poco Vivace“, die Variation über den Schusterfleck. Dazu ist zu sagen, dass Richter, einer der letzten großen Vertreter der russischen Virtuosenschule, die Variation Nr. 8 so viel schneller und auch pointierter spielte als vorhin der amerikanische Pianist und Musikwissenschaftler William Kinderman, dass die Verwandtschaft mit der Arietta sich buchstäblich in Luft auflöste. So geht es auch! Und es geht weiter mit den Variationen Nr.9 bis Nr.13 und einem berühmten Urenkelschüler von Beethoven: Artur Schnabel. Dessen Lehrer, Teodor Leszetycky, hatte noch bei Czerny studiert und ist neben dem Bülow-Schüler Rubinstein einer der Ahnherren der sogenannten russischen Klavierschule Diese Aufnahme hier mit Artur Schnabel ist 1937 in den Abbey Road Studios in London entstanden. Bei der Varia-tion Nr. 9 – dem „Allegro pesante e risoluto“ in c-Moll - die er zuerst spielt, handelt es sich um die erste Mollvariation in diesem Variationszyklus und insofern um einen strukturellen Einschnitt. Aber es ist dies zugleich eine der Variationen, die Beethoven ausschließlich nur aus den ersten drei Tönen des Diabelli-Walzers abstrahiert hat. Hier geht es um nichts als um diesen kurzen einprägsamen Auftakt, mit den Wechselnoten des kurzen Vorschlags, dieses Motiv macht sich selbständig und löst sich auf in durchbrochene Arbeit:

Naxos 10) Ludwig van Beethoven: Diabelli-Variationen op.120 5:43 8.110765 Daraus: Var.9 „Allegro pesante e risoluto” bis Var.13

LC 05537 “Vivace“ tracks Artur Schnabel (Klavier) <10-14> 1937/2005

Artur Schnabel spielte aus Beethovens Diabelli-Variationen die Variationen Nr. 9 bis 13. Die vierzehnte Variation, die nun folgt, ist die erste langsame Variation in diesem Zyklus. Der Rhythmus der Wechselnoten ist zu einer punktierten Figur erweitert worden. Wie im Stil einer Händelschen Ouvertüre schreitet diese „Grave e maestoso“-Variation voran. Und in denkbar größtem Kontrast dazu steht das folgende rasend punktierte, kurze Scherzo. Zum ersten Mal könnten Sie in diesem flüchtigen Presto das Thema des Walzers wieder komplett erkennen. Warum? Willliam Kinderman hat dazu eine interessante Theorie entworfen. Diese 15. Variation wurde nämlich erst 1823 komponiert, wie die Skizzen zeigen. Ebenso wie die 1. Variation oder die 23. oder die 29. Sie gehören alle zu jener kleinen Anzahl Variationen, die sich mit dem Originalthema in Gänze auseinandersetzen und nachträglich in die Abfolge hineinsortiert wurden, wie ein Ordnungsprinzip oder wie Korsettstangen, die das Ganze zusammenhalten sollen –eine Art Hörhilfe, allerdings nach Beethovenscher Art. Diese Händelouvertüren-Variation und die schnelle Korsettstangen-Variation, gefolgt von zwei altfränkischen Figuralvariationen, die nahtlos ineinander übergehen und zusammengehören wie Zwillinge, werden jetzt gespielt von Alfred Brendel. Eine Aufnahme aus dem Jahr 1961:

Brilliant 11) Ludwig van Beethoven: Diabelli-Variationen op.120 6:43 93183 Daraus: Var.14 „Grave e maestoso“ bis Var. 17 LC 09421 CD 4 (Ohne Vortragsbezeichnung) tracks Alfred Brendel (Klavier) <15-18> 1961/2002

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Alfred Brendel spielte die Variationen Nr. 14 bis Nr. 17 aus den Diabelli-Variationen von Ludwig van Beethoven. Aufgenommen wurde das 1961. Seither allerdings ist eine neue Aufführungspraxis entstanden, die aus der Alte-Musik-Bewegung herrührt. Selbst Beethoven wird nicht mehr auf einem modernen Steinway, sondern auch auf Instrumenten seiner Zeit gespielt. Und es ist die Frage, inwieweit diese 17. Variation, die soeben verklang, die keine Vortrags- und keine Tempobezeichnungen hat und im Stil einer Figuralvariation des 16. Jahrhunderts auftritt, nicht doch auf einem Hammerflügel interessanter zu inszenieren ist. Kompositorisch ist Beethoven in dieser Variation jedenfalls in der Musikgeschichte einige Schritte rückwärtsgegangen und bereitet damit auch dramaturgisch eine Wende vor. Unser nächster Pianist heißt Andras Schiff. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 2012, und er spielt auf einem Franz-Brodmann-Hammerflügel, Baujahr 1820, aus der Beethovenzeit, mit kürzerer Tondauer, obertonärmer, differenzierter, durchsichtiger. Das macht sich gut. Andras Schiff spielt die Variationen Nr. 18 „Poco moderato“, Nr.19 „Presto“ (sehr schnell, zweistimmig, mit kanonischem Beginn) sowie Nr.20, die berühmte Rätselvariation. Plötzlich steht da, mitten in den Diabelli-Variationen, ein Choral, der in der tiefsten Lage des Klaviers beginnt und in Pfundnoten fortschreitet, wie ein Kondukt bis zu einem plagalen Kirchentonschluss – im Pianissimo. Was soll das bedeuten?

ECM 12) Ludwig van Beethoven: Diabelli-Variationen op.120 4:28 2294/95 Daraus: Var.18 „Poco moderato“ bis Var.20

LC 02516 „Andante“ tracks Andras Schiff (Hammerflügel) <19-21> 2012/2013

Sie hören rbbKultur, mit Eleonore Büning. Heute die zweiundvierzigste Folge unserer Beethoven-Reihe – es geht um „Musik über Musik“. Und es verklang soeben im Pedal-Hall, im Pianissimo, die 20.Variation aus den 33 Veränderungen über einen Walzer von Anton Diabelli, gespielt von Andras Schiff auf einem historischen Hammerflügel der Beethovenzeit. Von einem Walzer ist dieses Musikstück, das wir eben hörten, allerdings Lichtjahre entfernt. Mit dieser zwanzigsten Variation hat Beethoven eine Zäsur komponiert, einen Schluss – mitten im Werk: Einen harmonisch vernebelten Choral, der ein Ende heraufbeschwört, vor dem auch die kühlsten Analytiker nur noch ins Schwärmen oder Stottern geraten. Arnold Münster zum Beispiel meinte, dass „das, was hier geschehen ist, unwiederholbar ist, eine Beschwörung, die neue Dimensionen erschließt, und alle Variationen, die folgen, in geheimnisvolle Beziehungen zur Vergangenheit und zur Zukunft bindet.“ Und Jürgen Uhde stellt fest: „Variation XX kann nicht erreicht, geschwiege denn überboten werden.“ Trotzdem geht es natürlich gleich weiter mit der 21. Variation. Bevor das geschieht, und weil sowieso gerade eine Zäsur erreicht ist, flanken wir kurz über den Zaun in eine andere Welt, aus der esoterischen Klavier- in die theatralische Opernmusik hinüber, und hören uns eine Arie an, die dann gleich in der 22. Diabelli- Variation eine bekannte Rolle spielen wird. Es singt Karl Kohn:

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DG 437 341 13) Wolfgang Amadeus Mozart: „Don Giovanni“ 1:37 LC 0173 Daraus: „Notte e giorno faticar“ 1.Akt, Szene 1

CD 1 Karl Kohn (Bariton) track <2> RSO Berlin Ferenc Fricsay (Leitung) 1958/1992

Das war die Leporello-Arie aus der ersten Szene von Mozarts „Don Giovanni“. Warum hat Beethoven diese Arie in der 22. Variation seiner Diabelli-Variationen op.120 zitiert und verarbeitet? Auch darüber streiten sich die Gelehrten. Fest steht, dass Beethoven das von Anfang an so geplant hatte: Bereits 1819, in den ersten Entwürfen des Skizzenbuchs taucht dieser Gedanke auf, mit der Bezeichnung: „Alla Don Giovanni“. Mozart war das Idol seiner Jugend. Gerahmt wird diese Hommage à Mozart von der 21.Variation, darin Beethoven aus einem seiner Jugendwerke, nämlich aus den Righini-Variationen zitiert, und von der 23.Variation, die in exzessiver Spielfreude an seine Glanzjahre als Klaviervirtuose erinnert. Diese drei Variationen gehören zusammen. Sie „beschwören die Geister der Vergangenheit aus Beethovens eigenem Leben“ (Münster). Andreas Staier spielt, auf einem original Conrad-Graf-Hammerflügel, so wie auch Beethoven einen besaß, mit großem Volumen und versehen mit Janitscharenzug und eingebautem Schlagzeug:

Harmonia 14) Ludwig van Beethoven: Diabelli-Variationen op.120 2:50 Mundi HMC Daraus: Var.21 „Allegro con brio“ bis Var.23 „Allegro 902091 LC 7045 assai“ tracks Andreas Staier (Hammerflügel) <34-36> 2012

Andreas Staier spielte aus den Beethovenschen Diabelli-Variationen op.120 die drei theatralischen Variationen Nr.21, 22 und 23. Und auf Mozart folgt Bach. Gleich, in der 24.Variation, steigt Beethoven noch tiefer zurück in das Dunkel seiner Ahnengalerie, er kommt zu Johann Sebastian Bach. Beethoven nennt diese Variation „Fughetta“, so wie die „Fughetta“ Nr. X aus Bachs Goldbergvariationen. Aber es handelt sich nicht um einen nur eingangs fugierten Satz, sondern um eine ganz ausgewachsene Fuge, die in den Takten 9 bis 17 tonwörtlich die Fundamentalnoten der Bachschen Aria aufgreift. Diese Fuge wird jetzt gespielt von Márta Kurtág. Sie gehört nicht zu den großen Tastenlöwen, die auf allen Podien der Welt zu Hause sind. Sie ist Pianistin, aber vor allem ist sie die Frau und Gefährtin des Komponisten György Kurtág. Sie betrachtet die Musik quasi unter kompositorischem Aspekt. Ich liebe diese Aufnahme besonders, weil Márta Kurtág die „Diabelli“-Variationen so klar und leicht und ohne Aufwand spielt, fast wie eine Hausmusik, die jeder spielen könnte. Sie hat diese Aufnahme mit 72 Jahren eingespielt, anno 2009. Es ist tatsächlich ihre erste Soloaufnahme. Aber sie ist mit dem Werk vertraut, seit sie ein junges Mädchen war und an der Budapester Musikakademie ihr Diplomkonzert vortrug. Damals, 1952, waren die Diabelli-Variationen in Ungarn so gut wie unbekannt. Sie und ihr Freund, der Musikstudent Kurtág, entdeckten diese Variationen für sich, analysierten sie,

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diskutierten sie. Sie entdeckten darin, so sagt es Márta Kurtág: „absolutes Neuland“. Seither spielte sie sie immer wieder, öffentlich und daheim: „Meine Geschichte mit den Diabelli-Variationen wurde ein wenig die Geschichte meines Lebens.“

Budapest 15) Ludwig van Beethoven: Diabelli-Variationen op.120 2:35 Music Center Daraus: Var.24 „Fughetta-Andante“ BMC CD 158 LC 07503 „Allegro“ tracks Márta Kurtág (Klavier) <24-28> 2009

Márta Kurtág spielte die 24. Variation aus dem Zyklus der 33 Diabelli-Variationen von Ludwig van Beethoven – eine friedensvolle Fuge nach dem Muster der Bachschen Goldbergvariationen. Sie schließt in schlichtem C-Dur, was zum Thema zurückführen könnte. Schon wieder könnte Schluss sein. Aber es ist dies nicht die letzte kontrapunktische Variation in diesem gigantischen Klavierzyklus, sie öffnet nur die Türen für das große Finale. Es folgen zunächst vier Harlekinaden, von ulkig bis bizarr. Die vier Variationen Nr. 25 bis 28 bilden zusammen so etwas wie einen Scherzo-Satz, mit zwei Trios. Das beginnt pointiert und hüpfend im Dreiachtel-Takt und läuft noch einmal den Kreis der Chromatik ab, bevor es dann heimgeht, zur Feier des „Schusterflecks“. Es spielt: Piotr Anderszewski:

Virgin/EMI 16) Ludwig van Beethoven: Diabelli-Variationen op.120 3:59 5034062 Daraus: Var.25 „Allegro“ bis Var.28 „Allegro“ LC 7873 tracks Piotr Anderszewski (Klavier) <26-29> 2000/2007

Auch für den polnischen Pianisten Piotr Anderszewski wurden die Diabelli- Variationen zu einem Lebensschlüsselwerk. Diese Aufnahme hier entstand im Jahr 2000, eigentlich fürs Fernsehen, im Rahmen von Filmaufnahmen mit Bruno Monsaingeon, was dann für Anderszewski der Schritt in die internationale Karriere wurde. Ich kenne keine Lesart der Diabelli-Variationen, weder unter den frühen, die noch in der Tradition von Bülows stehen, noch unter den jüngeren, heutigen, die so exzentrisch gestaltet ist, so extrem in den Tempi, so bekenntnishaft im Ausdruck. Wie Márta Kurtág ist auch Anderszewski ein Pianist, der diesem Klavierzyklus mit äußerster Identifikation begegnet: Ihn zu spielen, stellt kein normales Pianistenpensum dar, es ist eine Hypothek, ist Last und Lust zugleich. Es gibt auch Pianisten, die haben ihr Leben lang einen großen Bogen um dieses Stück „Musik über Musik“ gemacht. Martha Argerich zum Beispiel hat die Diabelli- Variationen niemals eingespielt. Für den Pianisten Stephen Bishop-Kovacevich dagegen, Argerichs dritten Ehemann, gehörten die Diabelli-Variationen zum täglich‘ Brot, seit er sie als Student erstmals mit Rudolf Serkin gehört hatte. Später wurde aus Kovacevich der subtilste und kenntnisreichste Diabelli-Pianist der Gegenwart. Er hat jetzt das letzte Wort. Er spielt die Variationen Nr.29 bis 33. Drei große Mollvariationen folgen unmittelbar aufeinander, sie bilden zusammen, so war es die Idee Hans von Bülows, nach der Fughetta und den Scherzo-Variationen den „Adagio“-Satz in einer imaginären Sonate. Die erste Mollvariation zitiert, das ist

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nicht zu überhören, Beethovens d-Moll-Sturmsonate. Die dritte, das große „Largo molto espressivo“ beschwört abermals Bachs Goldbergvariationen und leitet über zur Doppelfuge in Es-Dur. Mit dieser Tonart wird der Kreis des Diabelli-Themas endgültig verlassen. Und statt in einen Walzer münden die Diabelli-Variationen in ein Menuett, welches sich auflöst in einen Elfenspuk, wie wir ihn kennen aus der Arietta op.111:

Onyx 4035 17) Ludwig van Beethoven: Diabelli-Variationen op.120 15:15 Daraus: Var.29 „Adagio ma non troppo“ bis Var. 33 LC „Tempo di minuetto“ tracks Stephen Kovacevich (Klavier) <30-34> 2008

Und so enden die 33 Veränderungen über einen Walzer von Anton Diabelli von Ludwig van Beethoven. Es spielte Stephen Kovacevich. Der Pianist Hans von Bülow war nicht nur der erste, der dieses Variationenwerk öffentlich aufgeführt hat, 29 Jahre nach Beethovens Tod. Er hat auch die Notenausgabe betreut und kommentiert sowie die Idee in die Welt gesetzt, dass das Werk nicht im Ganzen angehört, nur in kleinen Portionen verzehrt werden dürfe. Es sei nicht zumutbar. Diese „Musik über Musik“ sei zu hoch für den einfachen Menschenverstand. Bülow schreibt: „Der Herausgeber erblickt in dieser riesigen Tonschöpfung gewissermaßen den Mikrokosmos des Beethovenschen Genius, ja, sogar ein Abbild der ganzen Tonwelt im Auszuge. Alle Evolutionen des musikalischen Denkens und der Klang-fantasie, vom erhabensten Tiefsinn bis zum verwegensten Humor, in unvergleichbar reichster Mannigfaltigkeit, gelangen in diesem Werk zur beredtesten Erscheinung. … Unaufzehrbar die in seinem Inhalte dem musikalischen Hirne ganzer Generationen gebothene Nahrung!“ Wir haben heute in dieser Radiosendung den Rat von Bülows beherzigt und die Diabelli-Variationen pflegeleicht portioniert. Was von Bülow freilich noch nicht ahnen konnte, ist, dass auch die Komponisten der nächstfolgenden Generationen von diesem Mikrokosmos des Komponierens angezogen wurden wie die Motten vom Licht. Neue Musiken sind entstanden über diese „Musik über Musik“, bis in die jüngste Gegenwart. 2010 brachte der Komponist Hans Zender eine sogenannte „komponierte Interpretation“ der Diabelli-Variationen heraus. Das klingt dann etwa so:

Ensemble 18) Hans Zender: „33 Veränderungen über 33 5:03 Modern Veränderungen“ Medien EMCD -020 Daraus: Variation 24, Variation 25, Variation 39 LC 14554 Ensemble Modern tracks Hans Zender (Leitung) <25, 26, 30> 2012/2013

Variationen aus den „33 Veränderungen über 33 Veränderungen“, komponiert von Hans Zender, wurden gespielt vom Ensemble Modern, unter der Leitung des Komponisten. Man muss das nicht „schön“ finden. Das verlangt ja nicht einmal der Komponist Hans Zender – und auch Beethoven hatte nicht die Absicht, uns mit der „Schönheit“

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seiner Musik zu betören. Es geht um etwas anderes: Um Erkenntnis, um Interesse. In diesem emphatischen Sinne gibt es noch etliche weitere Übermalungen und Interpretationen der Diabelli-Variationen, die anzeigen, dass Beethovens Mikrokosmos des Komponierens nicht nur die musikalische Vergangenheit aufrollt, sondern ebenso in die musikalische Zukunft weist. Mehr von der komischen Seite, wie sie auch Alfred Brendel bevorzugte, sieht das der Komponist Franz Hummel. Er hat den Diabelli-Walzer noch einmal ganz neu variiert, und zwar unter Berücksichtigung der Beethovenschen Diabelli-Variationen sowie unter Einbeziehung von kleinen Portionen aus Beethovens gesamtem Lebenswerk, hier u.a. der achten Symphonie.

Neos 19) Franz Hummel: „33 Veränderungen über einen 2‘20 208007/08 Walzer von Anton Diabelli“

LC 15673 Daraus: Variation 8 bis10 tracks Carmen Piazzini (Klavier) <8 und 10> (2007/2009)

Carmen Piazzini war das mit Variationen, die Franz Hummel komponiert hat über die Variationen, die Ludwig van Beethoven komponierte über einen Walzer von Anton Diabelli. Damit geht die 42. Sendung unserer Beethovenreihe zu Ende. Mein Name ist Eleonore Büning, ich verabschiede mich für heute, danke fürs Zuhören und freue mich aufs nächste Mal, hoffentlich sind Sie wieder dabei.

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