Wer heute die Lüge und Unwissenheit bekämpfen und die Wahrheit schreiben will, hat zumindest fünf Schwierigkeiten zu überwinden. Er muss den Mut haben, die Wahrheit zu schreiben, obwohl sie allenthalben unterdrückt wird, die Klugheit, sie zu erkennen, obwohl sie allenthalben verhüllt wird; die Kunst, sie handhabbar zu machen als eine Waffe; das Urteil, jene auszuwählen, in deren Händen sie wirksam wird; die List sie unter diesen zu verbreiten. Diese Schwierigkeiten sind gross für die unter dem Faschismus Schreibenden, sie bestehen aber auch für die, welche verjagt wurden oder geflohen sind, ja sogar für solche, die in den Ländern der bürgerlichen Freiheit schreiben. Der Mut, die Wahrheit zu schreiben.Es erscheint selbstverständlich, dass der Schreibende die Wahrheit schreiben soll in dem Sinn, dass er sie nicht unterdrückenBlindstellen oder verschweigen und indass der er nichts Unwahres schreiben soll. Er soll sich nicht den Mächtigen beugen, er soll die Schwachen nicht betrügen. Natürlich ist es sehr schwer, sich den Mächtigen nicht zu beugen und sehr vorteilhaft, die Schwachen zu betrügen. Den Besitzenden missfallen,literaturwissenschaftlichen heisst dem Besitz entsagen. Auf die Bezahlung für geleistete Arbeit verzichten, heisst unter Umständen, auf das Arbeiten verzichten und den Ruhm bei den Mächtigen ausschlagen,Aufarbeitung heisst oft, überhaupt undRuhm au sschlagen.Darstellung Dazu ist Mut nötig. Die Zeiten der äussersten Unterdrückung sind meist Zeiten, wo viel von grossen und hohen Dingen die Rede ist. Es istder Mut nötig, Literatur zu solchen Zeiten des von sodeutschen niedrigen und kleinen Dingen wie dem Essen und Wohnen der Arbeitenden zu sprechen, mitten in einem gewaltigen Geschrei, dass Opfersinn die HauptsacheExils 1933 sei. Wenn– die1945, Bauern mit Ehrungen überschüttet werden, ist es mutig, von Maschinen und billigen Futtermitteln zu sprechen, die ihre geehrte Arbeit erleichtern würden. Wenn über alle Sender geschrieen wird, dass der Mann ohne Wissen und Bildung besser sei als untersucht der Wissende, dann istanhand es mutig, zu fragen:einiger für wen besser? Wenn von vollkommenen und unvollkommenen Rassen die Rede ist, ist es mutig zu fragen, ob nicht der Hunger und die ausgesuchterUnwissenheit und der Krieg schlimme Beispiele Missbildungen aus hervorbringen. Ebenso ist Mut. nötig, um die Wahrheit über sich selber zu sagen, über sich, den Besiegten. Viele, die verfolgt werden,ihren verlieren die Themenfeldern Fähigkeit, ihre Fehler zu erkennen. Die Verfolgung scheint ihnen das grösste Unrecht. Die Verfolger sind, da sie ja verfolgen, die Bösartigen, sie, die Verfolgten, werden ihrer Güte wegen verfolgt. Aber diese Güte ist geschlagen worden, besiegt und verhindert worden und war also eine schwache Güte, eine schlechte, unhaltbare, unzuverlässige Güte; denn es geht nicht an, der Güte die Schwäche zuzubilligen, wie dem Regen seine Nässe. Zu sagen, dass die Guten nicht besiegt wurden, weil sie gut, sondern weil sie schwach waren, dazu ist Mut nötig. Natürlich muss die Wahrheit im Kampf mit der Unwahrheit geschrieben werden und sie darf nicht etwas Allgemeines, Hohes, Vieldeutiges sein. Von dieser allgemeinen, hohen, vieldeutigen Art ist ja gerade die Unwahrheit. Wenn von einem gesagt wird, er hat die Wahrheit gesagt, so haben zunächst einige oder viele oder einer etwas anderes gesagt, eine Lüge oder etwas Allgemeines, aber er hat die Wahrheit gesagt, etwas Praktisches, Tatsächliches, Unleugbares, das, um was es sich handelte. Wenig Mut ist dazu nötig, über die Schlechtigkeit der Welt und den Triumph der Roheit im allgemeinen zu klagen und mit dem Triumphe des Geistes zu drohen, in einem Teile der Welt, wo dies noch erlaubt ist. Da treten viele auf, als seienForschungsarbeit Kanonen auf sie gerichtet, zur Erlangung während nur des Operngläser auf sie gerichtet sind. Sie schreien ihre allgemeinen Forderungen in eine Welt von Freunden harmloser Leute. Sie verlangen eine allgemeineDiplôme d'études Gerechtigkeit, approfondies für die sie niemals(DEA) / etwas MA getan haben, und eine allgemeine Freiheit , einen Teil von der Beute zu bekommen, die lange mit ihnen geteilt wurde. Sie halten für Wahrheit nur, was schön klingt. Ist die Wahrheit etwas Zahlenmässiges, Trockenes, Faktisches,vorgelegt etwas, von: was zu finden Mühe macht und Studium verlangt, dann ist es keine Wahrheit fürJ. sie, A. nichtsEmmanuel was sie Doerrin Rausch versetzt. Sie haben nur das äussere Gehaben derer, die die Wahrheit sagen. Wer heute die Lüge und Unwissenheit bekämpfen und die Wahrheit schreiben will, hat zumindest fünf Schwierigkeiten zu überwinden. Er muss den Mut haben, die Wahrheitim zu Rahmen schreiben, des obwohl Postgraduiertenstudienganges sie allenthalben unterdrückt wird, die Klugheit, sie zu erkennen, obwohlM0x01 sie allenthalben Construcció verhüllt wird; i Representació die Kunst, sie handhabbar d’Intentitats zu machen Cultur alsals eine Waffe; das Urteil, jene auszuwählen, in deren Händen sie wirksam wird; die List sie unter diesen zu verbreiten. DieseMD0x26 Schwierigkeiten Treball sind de gross Recerca für die unter dem Faschismus Schreibenden, sie bestehen aber auchLínea für die, de welche investigació verjagt wurden 3: Relacions oder geflohen interculturals sind, ja sogar i in fürtertextuals: solche, die in den Ländern der bürgerlichen Freiheit schreiben. Der Mut, die Wahrheit zu schreiben.Es erscheint selbstverständlich,Traducció, dass reescriptura der Schreibende i recepció die Wahrheit del text schreiben literari soll in dem Sinn, dass er sie nicht unterdrücken oder verschweigen und dass er nichts Unwahres schreiben soll. Er soll sich nicht den Mächtigen beugen, er soll die Schwachen nicht betrügen. Natürlich ist es sehr schwer, sichbei den Prof. Mächtigen Dr. Marisa nicht Siguán zu beugen Boehmer und sehr vorteilhaft, die Schwachen zu betrügen. Den Besitzenden missfallen, heisst dem Besitz entsagen. Auf die Bezahlung fürhaben, die Wahrheit zu schreiben, obwohl sie allenthalben unterdrückt wird, die Klugheit, sie zu erkennen, obwohl sie allenthalben verhüllt wird; die Kunst, sie handhabbar zu machen als eine Waffe; das Urteil, jene auszuwählen, in deren Händen sie wirksam wird; die List sie unter diesen zu verbreiten. Diese Schwierigkeiten sind gross für die unter dem Faschismus Schreibenden, sieUniversitat bestehen aber de auchBarcelona für die, • welch Septembere verjagt 2008 wurden oder geflohen sind, ja sogar für solche, die in den Ländern der bürgerlichen Freiheit schreiben. Der Mut, die Wahrheit zu schreiben.Es erscheint selbstverständlich, dass der Schreibende die Wahrheit schreiben soll in dem Sinn, dass er sie nicht unterdrücken oder verschweigen und dass er nichts Unwahres schreiben soll. Er soll sich nicht den Mächtigen beugen, er soll die Schwachen nicht betrügen. Natürlich ist es sehr schwer, sich den Mächtigen nicht zu beugen und sehr vorteilhaft, die Schwachen zu betrügen. Den Besitzenden missfallen, heisst dem Besitz entsagen. Auf die Bezahlung für J. A. Emmanuel Doerr Blindstellen in der literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung und Darstellung der Literatur des deutschen Exils 1933–1945 anhand einiger ausgesuchter Beispiele aus ihren Themenfeldern
Màster: MOX01 Construcció i Representació d’Identitats Culturals, 2007 2008 Línea de investigació 3: Relacions interculturals i intertextuals: Traducció, reescriptu ra i recepció del text literari Postgrau: Diplôme d'études approfondies (DEA) / MA
MDOX26 Treball de Recerca / Minor Thesis Research Paper: »Blindstellen in der literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung und Darstellung der Li teratur des deutschen Exils 1933 – 1945, untersucht anhand einiger ausgesuchter Bei spiele aus ihren Themenfeldern« Estudiant de màster: J. A. Emmanuel Doerr , NIUB 2716184868, amb NIE Xo965244A
Presentació: 15 o9 2008 Defensa: 10 10 2008 Lloc: Universitat de Barcelona, Facultat de Filologia
Directora del treball: Profa. Dra. Marisa Siguán Boehmer Dept. de Filologia Anglesa i Alemanya Filologia Alemanya
Tribunal 2 (Sala de Juntes) Membres: Dra. Siguán, Dr. Monforte, Dra. Catelli, Dr. Caner per als treballs d’alemany Avaluació: 10, Matrícula d'Honor (MH)
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Abstract
Sobald in literaturhistorischen Darstellungen nicht mehr ersichtlich, d. h. dem Leser nicht mehr bewusst wird, welcher Begriffs und Vorstellungswelt Maßstäbe entlehnt werden und welche historische Legitimation diese infolgedessen zur Grundlage neh men, ist nur noch begrenzt erkennbar, ob es sich um ungeprüfte Missverständnisse oder vielmehr um mehr oder weniger komplexe Camouflagen im ideologischen Dis kurs handelt. Camouflagen, die sich den Anschein bereits wissenschaftlicher Überein kunft geben, um sich selber oder den Leser über mögliche Widersprüche im eigenen oder im fremden, oder gar in beiden Systemen der Erklärung hinwegzutäuschen. In Anlehnung an Isers Konzept der ›Leerstelle‹ (1975) könnte man diese Camouflagen als diskursive ›Blindstellen‹ bezeichnen. Nach einem Überblick zum Stand der Exilrezeption und Exilforschung ist es Ziel die ser Arbeit, in üblichen Darstellungen und primären Handapparaten der Literaturge schichtsschreibung unterschiedlicher Herkunft, Ausrichtung und Methodologie dem Vorhandensein und der Funktion solcher Blindstellen in der literaturhistorischen Darstellung des Exils anhand einiger zentraler Themenkomplexe und ausgesuchter Beispiele der Darstellung nachzugehen und auf ihre eigenen theoretischen bzw. histo rischen Kontextbedingungen hin zu untersuchen. In einer späteren Arbeit wird, nach einer Überprüfung der bisherigen Ergebnisse, festzustellen sein, welche dieser Blindstellen im jeweiligen Gesamttext eine systemati sche, makropropositionale Funktion der Abstützung haben oder bloß akzidentelle Einzelfälle darstellen.
Schlüsselwörter Exilliteratur und Exilforschung, Literaturgeschichtsschreibung, Blindstellen, Partei lichkeit, Volksfront, marxistisch leninistische Kunstdoktrin und sozialistischer Rea lismus.
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Inhalt
1 Einleitung ______6 1.1 Begründung des Themas ______7 1.2 Ziele der vorliegenden Arbeit ______11 1.2.1 Zugängigkeit der Forschungsliteratur ______12 1.2.2 Einschränkungen dieser Arbeit______12 2 Rezeptionsbedingungen der Exilliteratur nach 1945 und allgemeiner Forschungsstand ______13 2.1 Leere Stellen der Literaturrezeption ______13 2.1.1 Die Rezeption des Exils im Westen ______14 2.1.2 Die Rezeption des Exils im Osten ______15 2.1.3 Die Rezeption des Exils seit der Wiedervereinigung ______17 2.2 Exil und Literaturwissenschaft ______18 2.2.1 Wissenschaftliche Rezeption und politischer Kontext wissenschaftlicher Forschungsperspektiven _ 19 2.2.1.1 Unterschiedliche Begriffsbestimmungen ______19 2.2.1.2 Uniforme Intentionen______22 2.2.1.3 Kongruente Divergenzen ______23 2.2.1.4 Limitierte Zielgruppenauswahl der Forschung______28 2.3 Die Deutsche Exilliteratur als Epochenbegriff: Zwischen Identitätssuche und ideologischem Programm ______28 2.3.1 Exilliteratur als Kunstepoche? ______28 2.3.2 Literaturgeschichtliches Exilverständnis – von der Einheitlichkeit und vom Antifaschismus______30 2.3.3 Von der Gefahr überhistorisch interpretierter Vorstellungen und Postulate und ihrer literaturwissenschaftlichen Applizierung ______35 3 Blindstellen im Umgang mit Konzepten marxistischer Literaturauffassungen und sozialistischer Literaturpolitik ______38 3.1 Blindstellen sogenannter marxistischer Literaturtheorie: Exegese und Rezeption ______39 3.1.1 Literatur als deterministische Widerspiegelung im Überbau ______39 3.1.2 Engels, der Realismus, und ein Brief______42 3.1.3 Ein Blindgestellter der marxistischen Literaturtheorie______45 3.1.4 Die Frage der parteilichen Bindung ______52 3.2 Von der proletarisch revolutionären Dichtung zur sozialistisch realistischen Literatur ______56 3.2.1 Parteilichkeit und antifaschistischer Humanismus______58 3.2.2 ›Einheitsfront‹, ›Volksfront‹, ›Antifaschismus‹ in der stalinistischen Auffassung von den Aufgaben der Literatur______61 3.2.3 Der 1. Allunionskongress der sowjetischen Schriftsteller: Festschreibung der Doktrin vom sozialistischen Realismus und Erweiterung der Bündnispolitik der Komintern ______64 3.2.4 Vom Scheitern der Volksfront ______68 3.2.5 Literaturpolitik und Bündnispolitik in der Expressionismus Debatte. ______70 3.2.6 Literatur und Bündnispolitik in der Debatte um den Historischen Roman______77 4 Weitere Blindstellen in der Darstellung des Exils für eine spätere Behandlung 79 4.1 Die Ausweitung der Volksfronttaktik in eine Strategie der freiheitlich nationalen Fronten und das Problem der »nationalistischen Übertrumpfung« ______79
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4.2 Ausgrenzung von Anarchisten, Trotzkisten und ideologischen Abweichlern in den Geschichtsschreibungen der Exilliteratur ______81 4.3 Die Haltung der Emigranten zu den Stalinistischen Schauprozessen und Säuberungen und ihre Darstellung in der Geschichtsschreibung des Exils______82 4.4 Nationalistische Übersteigerung und Ausgrenzung nicht zionistischer Exilanten in Palästina – Der Fall der Exilzeitschrift ORIENT ______83 5 Ergebnisse der vorliegenden Arbeit ______85 6 Bibliographie ______89 6.1 Verzeichnis der Abkürzungen ______110
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111 Einleitung
Seit der sogenannten ›kulturalistischen Wende‹ in den Sozial und Geisteswissen schaften zu Beginn der 90er Jahre ist neben alle älteren Ansätze verstärkt die Frage der sogenannten ›kulturellen Identität‹ in den Blickpunkt der Literaturwissenschaf ten geraten, wie allein die Bezeichnung entsprechender Studiengänge und Postgradu iertenstudien zum Thema es ausreichend anzudeuten scheint. In weitgefasster Verbindung mit den im Rahmen des Masters »Construcció i Representació d’Intentitats Culturals« umrissenen Aspekten wollen an dieser Stelle jedoch nur be stimmte gesellschaftlich oder geschichtlich erworbene Aspekte der diskursiven, ideo logischen Konstruktion des Eigenen und Fremden untersucht werden, wie sie im ›Diskurs‹ der Literaturgeschichtsschreibung mithilfe der Literaturwissenschaft selbst zustandekommen; ist doch diese sowohl an der wissenschaftlichen Erfassung und Un tersuchung als auch durch Selektion und Gewichtung an der Absicherung, der Dar stellung und Vermittlung kultureller Identität(en) notwendig beteiligt und interessiert, ist selbst Beteiligte und Interessierte. Literaturgeschichte etabliert nicht nur Wert und Kritik potenzieller kultureller Identitätsmerkmale, sondern gleichwohl auch deren Kanon und Zensur, sie verfügt, proklamiert Eigenes und Fremdartiges nach innen und außen. Mal wählt sie dazu die Dekonstruktion mutmaßlicher histo risch selbstwidersprüchlicher hermeneutischer Zirkel und proklamiert das Fehlen jeg lichen substantialisierten Geschichtsbegriffs, mal fügt sie die Dichtung in den Kontext allgemeiner Kulturkreis und Mentalitätsgeschichte(n) oder verortet sie im Kampf der Kulturen, mal verkündet sie ideologiekritisch beobachtete Widerspiegelungen von ge sellschaftlichen Kausalabfolgen, mal pflegt sie rezeptionstheoretische oder sozialge schichtliche Zusammenhänge, mal werkimmanente Erklärungsparadigmen, in jedem Fall schreibt sie Literaturgeschichte. In der Epoche, die für diese Arbeit von Interesse ist, die der literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung und Darstellung der Literatur des deutschen Exils 1933 1945, dominierten im sukzessiven Krebsgang die letzten der drei aufgeführten Diskurse oder Methoden, zum heutigen Tage ist es ein literaturge schichtlicher Pluralismus, der vermeintlich alles erlaubt, nur keinen Alleinverstre tungsanspruch und „ein erhebliches Misstrauen gegenüber allen universalistischen und insofern [sic!] ideologischen Konzepten“ beobachten lässt (Meier 2002). 1 Auch die auf das Exil folgende Forschung erwog Identitätsfragen, nannte sie damals noch altmodischer und vorsichtiger ›Fragen nach dem Selbstverständnis‹ oder der ›Einheitlichkeit‹ des Exils und seiner Literatur (s.2.3.2). Wo Identität objektiv gege bene abstrakte Sich selbst Gleichheit und völlige Übereinstimmung in allen Merkma len zwischen materiellen oder ideellen Objekten, zwischen Dingen, Begriffen und Aussagen verlangt, gestattet die Einheitlichkeit noch die Einheit der Gegensätze und reserviert die Identität für das konkrete Sein, fragt das Selbstverständnis des Exils
1 Meier, Albert: „ Literaturgeschichtsschreibung. 4. Status quo “. In: Arnold 2002:583
M0x01 Construcció i Representació d’Intentitats Culturals MD0x26 Treball de Recerca Universitat de Barcelona 09’2008 6 J. A. Emmanuel Doerr Blindstellen in der literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung und Darstellung der Literatur des deutschen Exils 1933–1945 anhand einiger ausgesuchter Beispiele aus ihren Themenfeldern
nach der Verständigung über die eigene Funktion und Aufgabe, eine Aufgabe, die ihm von außen kam. Im Kontext des Exils bildeten Unterdrückung, Ausgrenzung, Vertrei bung und Diskriminierung den Anlass für mögliche und notwendige Fragen des Selbstverständnisses oder – wenn man so will – seiner historisch konkreten Identität; hier konnte eine – falls vorhandene – kollektive Identität ein Potenzial zur Selbstbe hauptung verschaffen, aber sie musste es allen ideellen Wunschträumen zum Trotz nicht notwendigerweise, wie viele Beispiele aus der Exilzeit zu zeigen scheinen. Dass die Exilzeit an sich bereits in diesem Sinne einen Problemfall kultureller Identi tät oder vielmehr… des kulturellen Bewusstseins markiert, zeigt – in Anlehnung zu Brechts Exilanten Vers von den ›Gerüchten der Untaten‹– die Einschätzung eines deutschen Literaturkritikers aus dem siebenunddreißigsten Jahr nach dem Ende jener erzwungenen Emigration:
Immer aufs neue fassungslos steht man vor dem Phänomen, wie die zwölf kurzen Jahre des Nationalsozialismus mit Prankenhieben Löcher geschlagen haben in un- sere literarische Tradition: Die Kenntnis von Autoren, Büchern, Zusammenhängen ist zerfetzt; Schriftsteller und ihr Werk, zu deren Lebzeiten bekannt, gar beliebt, existieren als Gerücht – mal als freundliches, mal als abschätziges. Nur als leben- diges Zeugnis einer Epoche, als Teil unseres kulturellen Bewusstseins, existieren sie nicht (Raddatz 1982).
Im Kontext seiner Rezeption (s. Kap.2) und in dem seiner Erforschung in der Nach kriegszeit (2.2) stellt sich die Frage der kulturellen Identität nur als die nach dem je weilig konkreten Sein, als eine mindest verzwei bis verdreifachte kultureller und politischer Identitäten ebenso vieler Gesellschafts und Wissenschaftssysteme (Drittes Reich, BRD, DDR), eines jedes vermeintlich inkompatibel gegen das andere; und in jedem spielte die Hoffnung mit, dass sich die kulturelle Identität in einer unhinter fragten Identifikation mit der bestehenden Ordnung befrieden möge. Es bleibt die noch ungelöste Aufgabe der Geschichts und Literaturgeschichtsschreibung des wie dervereinten Deutschlands festzustellen, wie viele Folgeidentitäten es nach 1945 gab und wie viel wiedervereinigte kulturelle Identität sich daraus für Diskurs oder Sein er gibt. Für diese Arbeit jedoch stellt sich die Frage nach der Konstruktion und Repräsentati on der kulturellen Identität(en) – bei aller Vorsicht gegenüber dem idealistischen Begriff – allein als Problem, nämlich der literaturwissenschaftlichen Geschichts schreibung(en) zu einer bestimmten Epoche, und es ist im Wesentlichen eine Frage nach der mehr oder weniger explizit ausgewiesenen Darstellung des Anderen oder Fremden, des Befremdlichen im Eigenen, welches oft erst im Prozess der Identitäts bildung als solches erhoben und definiert, oder aber verschwiegen und kaschiert wird, mal als einfache oder mal komplexe Blindstelle (s. 1.1. A/B).
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1.11.11.1 Begründung des Themas
Der forschende Student, der sich völlig unvoreingenommen in das erst seit kaum 60 Jahren umbrochene und beackerte Themenfeld der Exilliteratur begibt, tut gut daran, sich vor Überraschungen nicht zu fürchten. Zwischen verschiedensten Ansätzen der Darstellung wird er in plausibler Form entweder die distanzierte und ideologiefreie Neutralität der Wissenschaft oder doch ideologiekritische Darstellungshaltung, ihre stets lückenlosen Begründungen, ein plausibles und widerspruchsfreies Gerüst von Darlegungen mit intersubjektiver Überprüfbarkeit der Aussagen und Auslassungen finden, vor allem Auslassungen. Er wird in Literaturtheorie und Historisierung des Exils jenem Reiz der Wirkungsästhetik begegnen, den Iser (1975:234 236) eigentlich für literarische Texte systematisierte, dem Reiz der Leerstellen . Nun handelt sich bei den Auslassungen der Literaturwissenschaft fast durchgängig ebenfalls um klassifi zierte oder »schematisierte Ansichten«, gelegentlich vielleicht um beabsichtigte »Un bestimmtheiten der dargestellten Objekte«, öfter noch um unformulierte Beziehungen auf der Basis stillschweigender Prämissen. Aber auch im vermeintlich entideologisier ten System, in der Methodenvielfalt oder im wissenschaftlichen Bedeutungsgeflecht der Nachkriegsforschung über die Exilzeit wird er nach »Komplettierungsnotwendig keiten« suchen, sie einer verwirrenden Vielfalt diverser wissenschaftlicher Textstrate gien zuordnen wollen und dazu mehr »Kombinationsnotwendigkeiten« angedient bekommen, als ihm lieb sein wird. Er wird der »Appellstruktur« wissenschaftlicher Standpunkte begegnen, Bekanntschaften anknüpfen mit den Strategien literaturtheo retischer oder literaturhistorischer Camouflage, 2 er wird – wie ich sie in Abgrenzung zu Isers Begriff der Leerstelle bezeichnen möchte – mit Blindstellen vertraut werden, mit motivierten Auslassungen, deren Beziehung zueinander oftmals kaum mehr durch Hypothesenbildung geklärt werden kann – oder will. Diese als Blindstellen bezeichneten Aussagen und Konstrukte können, nach der hier vorläufigen Beschreibung, im Wesentlichen zweierlei Ursachen und Folgen aufweisen: A. In dem Maße wie sie stillschweigende Prämissen auf der Grundlage eigener ideologischer Auffassungen oder Systeme wiedergeben, ohne dass dieselben explizit benannt bleiben, zielt ihre Absicht auf die nicht näher nachgewiesene Anerkennung scheinbar plausibeler Zusammenhänge als gegebene und wahre solche, die wiederum das Gesamtsystem der Überzeugungen zu verfestigen helfen: Sie sind dann nicht mehr als einfache Camouflagen im ideologischen Diskurs, die sich den Anschein wissenschaftlicher Erkenntnis und Wahrheit
2 Bezieht sich der Begriff u. a. bei Iser „auf literarische Strategien, mittels derer ein Text eine verborge ne, nicht von allen Lesern wahrnehmbare zweite Bedeutungsebene etabliert und Redeverbote, Tabus, Zensurvorschriften usw. unterläuft; eine „intentionale Differenz zwischen Oberflächentext und Sub text“ markiert (Arnold 2002:648), so gilt für die literaturhistorische Camouflage davon alles außer der unterlaufenden oder subversiven Intention, da hier die ›intentionale Differenz‹ den Versuch bezeich net, im Subtext eine stillschweigende Übereinkunft über ideologisch motivierte und als wissenschaftlich sanktionierte Bedeutungen zu erzielen und festzuschreiben.
M0x01 Construcció i Representació d’Intentitats Culturals MD0x26 Treball de Recerca Universitat de Barcelona 09’2008 8 J. A. Emmanuel Doerr Blindstellen in der literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung und Darstellung der Literatur des deutschen Exils 1933–1945 anhand einiger ausgesuchter Beispiele aus ihren Themenfeldern
geben, um den Leser über mögliche Widersprüche im System der Erklärun gen hinwegzutäuschen, Kausalursachen anzubieten, wo keine sind, usw. usf. B. In dem Maße wie sie dagegen stillschweigende Prämissen auf der Grundlage anderer ideologischer Auffassungen oder Systeme wiedergeben, die den eige nen als Widerspruch gelten, ohne dass deren Prämissen ausdrücklich über prüft werden müssen oder dieses wollen, zielt ihre Absicht auf die nicht näher nachgewiesene Anerkennung scheinbar plausibeler Vor und Fehlurteile als bereits bekannte und günstige, die unter Vorteilsnahme das eigene Gesamt system der Überzeugungen zu bestätigen helfen: Sie sind dann vielmehr kom plexe Camouflagen im ideologischen Diskurs, die sich den Anschein bereits wissenschaftlicher Übereinkunft geben, um den Leser über mögliche Wider sprüche in einem oder in beiden Systemen der Erklärung hinwegzutäuschen.
Die Konditionen der Literatur des Exils, die seiner Rezeption sowie die seiner litera turwissenschaftlichen Verhandlung sind in Nachkriegszeit und kaltem Krieg, selbst auch nach dem Auseinanderfallen des sowjetischen Blocks erst einmal fremd und von außen bestimmt, sie ergeben sich nicht aufgrund offen daliegender und eindeuti ger Merkmale, entfalten sich teilweise aufgrund theoretischer und strategischer Dis kussionen, die nicht frei von blockpolitischen Führungsansprüchen bleiben können. Das Exil wird auch nach dem Ende des Faschismus meist aus politischen Perspektiven untersucht und bewertet. In den beiden auf das Dritte Reich folgenden deutschen Staaten ist die Einstellung zum Naziregime und seinen Verfolgungen und Verbrechen m. E. von durchaus kon gruenter Haltung gezeichnet: Bezeichnet im Westen die Rede von der ›Stunde Null‹ den vermeintlich absoluten Neubeginn deutscher Geschichte, die Abnabelung vom al ten Schoße und den Kopfsprung in das politische Erbe der Demokratie, demonstriert die Verstaatlichung des Antifaschismus und die Einführung des Sozialismus im Osten den Abbruch jeglicher gesellschaftlicher Verbindung zu einem System, dessen ›höchs te Ausdrucksform der Krisenbewältigung‹ der Faschismus war. Beide Entlastungs strategien dienten gesellschaftlich und politisch relevanten Gruppen in den neuen Staaten dazu, ihrer (Mit ) Verantwortung an der Zulassung des Nationalsozialismus auf kongruente und einander komplementäre Weise auszuweichen. 3 Die Exilanten gelten der Exil Forschung der DDR als ›Vorkämpfer einer zukunftswei senden humanistischen, volkstümlichen und (verhalten) revolutionären Kunst, wer den als ›Weggefährten‹ und Begründer der DDR Kunst gesehen, als Kommunisten oder Humanisten und künstlerisch als Realisten gewürdigt, die eine neue Tradition begründet hatten oder fortsetzten und bestätigten, wobei es nur zweitrangig um die Erforschung ihrer spezifischen Exilerfahrungen ging. Anders als in der DDR, wo das Exil als antifaschistisches und literarisches Modell und auch der Literaturwissenschaft als elementarer Bestanteil der wieder zusammenzuführenden Ströme deutscher Lite ratur galt, vermutete man aufgrund des Forschungspersonals im Westen hinter der
3 Eine dritte Variante, die darin besteht, sich im Falle Österreichs trotz des Austrofaschismus während längerer Zeit lediglich als Anschluss Opfer einzustufen, bleibt hier vorläufig noch unbeachtet.
M0x01 Construcció i Representació d’Intentitats Culturals MD0x26 Treball de Recerca Universitat de Barcelona 09’2008 9 J. A. Emmanuel Doerr Blindstellen in der literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung und Darstellung der Literatur des deutschen Exils 1933–1945 anhand einiger ausgesuchter Beispiele aus ihren Themenfeldern
Forschungsaktivität um das Exil zuerst einen parteiischen Versuch der literaturhisto rischen Selbstausrufung von Emigranten, für den der Westen zumindest bis in die 70er Jahre keinen ideologischen ‚Bedarf’ hatte. Westlichkeit, Antikommunismus, und die darunter subsummierten identitätsstiften den soziopolitischen Gemeinschaftswerte wie etwa ›Freiheit und Sicherheit‹, sowie die Auslegung der NS Ideologie als Spielart des eines metahistorischen Totalitarismus erlaubten der BRD nicht nur eine selektive Vergangenheitsbewältigung und Erinne rung an die Opfer von Massenmord und Vertreibung, sondern ebenfalls eine vorder gründig antitotalitäre und demokratisch begründete Entideologisierung, die zumindest bis 1967/68 ohne großen Widerspruch Konsens bildend war und sich laut Berghan (1979) in der Literaturwissenschaft in einer positivistisch formalen Litera turbetrachtung geäußert habe, bis das Fach Germanistik, das selber seine faschisti sche Vergangenheit so erfolgreich verdrängt und sich so forciert politischer Zurückhaltung befleißigt habe, aufs intensivste politisiert wurde worden sei (s. 2.2.1.3). Nach dem Mauerfall wurde das westliche Prinzip von Schuldfrage und Vergangen heitsbewältigung noch einmal rückholend auf die Verantwortlichkeit der ehemaligen DDR angewandt, von der faschistischen auf die ›kommunistische‹ Diktatur kopiert und verstärkte wiederum als Eckpfeiler der Mehrheits oder Leitkultur, und nun unter dem Vorzeichen vom Ende der Ideologien, die immer noch oder wieder stillschwei gende Annahme eines überhistorischen Totalitarismus, der eine antitotalitäre und formal demokratisch begründete Entideologisierung der aktuellen Gesellschaft als Notwendigkeit voraussetzt. Wo westdeutsche Literaturwissenschaftler die Aussonderung des Ideologischen me thodisch mittels der methodisch spezialisierten und übergreifenden – da möglicher weise solchermaßen distanzierten und objektivierten – Forschungshaltung als Ausweg aus der Einseitigkeit sehen, vernachlässigen sie bisweilen die Frage, ob denn angeführte historische Traditionen des antifaschistischen Selbstverständnisses, politi sche Begrifflichkeiten oder Konzepte aus dem Bereich der Volksfrontstrategie, des Humanismus, der sogenannten marxistischen Literaturtheorie usw. mit der histori schen Vorlage noch übereinstimmen oder vielmehr in ihrer taktischen oder strategi schen Adaptation an den ›orthodoxen‹ Antifaschismus oder Marxismus Leninismus in seiner DDR Variante nicht bereits semantisch verschoben wurden, um erst im Ge wande eines neuen Inhalts und neurer Bezüge ideologisch und – wie es gelegentlich heißt – apologetisch wirksam zu werden (s. 2.3.2). Schon der Versuch, die Exillitera tur als einheitlich zu erfassen und das literarische Werk der Exilanten auf dem Hin tergrund seiner Entstehungsbedingungen zu interpretieren, gilt in den 80er Jahren mit Blick auf den Osten als wissenschaftlich fragwürdiger Versuch, sich in eine ›histo rische Tradition‹ der Identitätssuche und des Selbstverständnisses zu begeben Dies kann einerseits zu einer Verstrickung in rechtfertigungsdialektische ‚Theoriebil dungen’ führen, sobald mehr oder weniger überhistorisch interpretierte Vorstellungen und Postulate literaturwissenschaftlich pars pro toto appliziert werden und nicht aus dem Zusammenhang der tatsächlichen Debatten und Konstellationen des Exils heraus entwickelt und verstanden werden. Sobald nicht mehr ersichtlich oder nicht mehr bewusst wird, welcher Begriffs und Vorstellungswelt Maßstäbe entlehnt werden und
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welche historische Legitimation diese infolgedessen zur Grundlage nehmen, bleibt nur sehr schwer noch zu entscheiden, ob es sich dann bloß um ungeprüfte Missver ständnisse oder vielmehr um mehr oder weniger komplexe Camouflagen im ideologi schen Diskurs handelt. Camouflagen, die sich den Anschein bereits wissenschaftlicher Übereinkunft geben, um sich selber oder den Leser… über mögliche Widersprüche im eigenen oder im fremden, oder gar in beiden Systemen der Erklärung hinwegzutäu schen.
1.21.21.2 Ziele der vorliegenden Arbeit
Nach einem Überblick zum Stand der Exilrezeption und Exilforschung (Kap. 2) ist es Ziel dieser Arbeit, in üblichen Darstellungen und primären Handapparaten der Lite raturgeschichtsschreibung unterschiedlicher Herkunft, Ausrichtung und Methodolo gie dem Vorhandensein der beiden oben beschriebenen Typen von Blindstellen nachzugehen und auf ihre eigenen theoretischen Bedingungen hin zu untersuchen. Erst in einem zweiten, erweiterten und vertieften Anlauf wird es gelingen, diese dann annähernd genau zu klassifizieren und gegenüberzustellen. Für diese Arbeit sollte es, aufgrund ihrer praktischen Beschränkung in Umfang und Tiefe der Analyse, darum gehen zu überprüfen, inwiefern die sogenannten ›marxistischen‹ Begriffe wie ›Ein heitsfront‹, ›Volksfront‹ und›Antifaschismus‹ oder ›Parteilichkeit‹, die Theorie vom ›sozialistischen Realismus‹ sich im Rahmen der Praxis des Exils in das Gerüst Marx scher Theorie oder marxistischer Theorie und Praxis einreihen, und damit zugleich darum, die Gefahren und literaturhistorischen Abseitsfallen zu untersuchen, welche nach Trapp (1983) darin bestehen, literarische Theorien und Debatten allzu sehr von ihrem konkreten, d.h. historischen Kontext zu abstrahieren. Zentrales Moment bildet dabei die Untersuchung dessen, was man besonders in Hinblick auf die antifaschisti sche Volksfront mit Literaturtheorie als Strategie der Bündnispolitik bezeichnen könnte, die Untersuchung der durch KPD und III. Kommunistische Internationale (Komintern) vermittelten sowjetischen Literaturpolitik und ihre Wirkung auf bzw. ih re Ablehnung durch das Exil. Dabei handelt es sich im Kontext der 30er und 40er Jahre einerseits immer auch um die Frage der dahinter zutage tretenden Strategie, worin sich das kunstpolitische Argument einbettet, in Hinblick auf die Zeit nach 1945 dagegen um den ideologischen und wissenschaftlichen Nachweis strategischer Adä quatheit von literaturpolitischen Strategien, oder aber um die Infragestellung dersel ben. So geht es im zweiten vor allem um einfache oder komplexe Blindstellen im Umgang mit Konzepten marxistischer Literaturauffassungen und sozialistischer Lite raturpolitik seitens sei es westlicher, sei es vermeintlich blockunabhängiger oder aber DDR naher Literaturwissenschaft.
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1.2.1 Zugängigkeit der Forschungsliteratur
Die Literatur zur Exilforschung dürfte nach eigenen Schätzungen derzeit immerhin mehr als 2000 Aufsatz und Werktitel umfassen. Von den etwas über tausend Werkti teln der referenzierten Bibliographie befinden sich rund 60 Buchttitel und Aufsätze im Besitz des Autors dieser Arbeit, nur knapp 50 konnten in den Funden der katalani schen Bibliotheken konsultiert werden. Rund ein Drittel der Forschungsliteratur da gegen musste bei Aufenthalten in Deutschland, Österreich, Frankreich und den Niederlanden eingesehen werden oder wurde, besonders im Fall der Exilzeitschriften, mittels elektronischen Zugriffen auf den Fundus der Deutschen Bibliothek oder ande rer Exilarchive 4 gesichtet oder überprüft, im Hinblick auf die Erhebung von Fachlite ratur mittels elektronischer Zeitschriftenbibliotheken im In und Ausland. Eine eingehendere Bearbeitung der übrigen und notwendigerweise im Laufe anschließen der Forschungen noch hinzukommenden steht aus. Auf die Inanspruchnahme von Fernleihen wurde für diese Arbeit aus finanziellen und zeitlichen Gründen weitgehend verzichtet.
1.2.2 Einschränkungen dieser Arbeit
In Voraussicht einer abzusehenden Einbindung des Autors dieser Arbeit in derzeit stattfindende universitäre Umstrukturierungen (Studienjahr 2007 8) sollte die nun vorliegende Arbeit ursprünglich erst im Studienjahr 2008/2009 vorgelegt werden. Dies war aufgrund formaler Beschränkungen bei den Einschreibungsmodalitäten nicht möglich, weshalb das gegenwärtige Ergebnis in nur knapp 5 Monaten erzielt werden musste, ein Zeitvolumen, welches einer Forschungsarbeit dieses Typus nicht angemessen sein kann. Dem Autor der Arbeit sind die daraus resultierenden Ein schränkungen in Bezug auf Vollständigkeit und Stringenz der Ausführung bewusst.
4 Hilfreich sind hier besonders der Exil Zeitschriften Text Abruf der Deutschen Nationalbibliothek http://deposit.ddb.de/online/exil/exil.htm ; sowie die Datenbank der Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur: http://www1.uni hamburg.de/exillit/neueversion/datenbanken/datenbankenstart.htm .
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222 RezeptionsbRezeptionsbedingungenedingungen der Exilliteratur nach 1945 und allgemallgemeinereiner Forschungsstand
2.12.12.1 LeerLeeree Se StellenS tellen der Literaturrezeption
Die Nachkriegsrezeption deutscher Literatur, und insbesondere jener des Exils, ist vom Geist gerade erst zerbombter Unzeiten geprägt. Die nicht verbrannten Bestände nationalsozialistischer Literatur, Philologie und Literaturkritik sind zwar in die Kel lergeschosse und in den Giftschränken der Universitätsbibliotheken und Verlagsma gazine verschwunden, ein Resthauch vom strengen Afterdunst hängt noch in Hörsälen und zwischen den Regalen. Was von nun an dort Platz nehmen soll, sei es aus der Vorkriegsliteratur, sei es aus internationaler oder deutschsprachiger Produk tion, wird zuerst durch Kontrollorgane der vier Alliierten Militärgouvernements ( in- formation control divisions ) gefiltert und lizenziert, 5 und schon bald, spätestens jedoch ab 1949 durch den Kalten Krieg redefiniert und polarisiert. Nicht immer war es nach Ende des Dritten Reiches selbstverständlich, der Literatur der 1933 vertriebenen Schriftsteller auf Büchermarkt und im Klassenzimmer deut scher Schulen hüben und drüben gleichermaßen gewahr zu werden oder sie gar unter der Einordnung ›deutschsprachiger Flüchtlingsliteratur‹, deutscher ›Emigranten‹ oder ›Exil‹ Literatur in der Literaturgeschichtsschreibung aufzufinden. Hier wie bei anderen Anlässen der Historisierung geht die Literaturrezeption ihrer Geschichts schreibung voraus, bedingt deren erste Ansätze. Wo es hüben und drüben Ansätze für eine Befassung mit der Literatur des Exils (oder auch mit der Literatur von vor 1933) gab, könnte man beinahe ohne Einschränkung mit Schwarz zusammenfassend mei nen, es „schließen sich die auf kurze Zeit auseinanderfließenden Ströme der deut schen Literatur wieder zusammen, um sich bald auf andere Weise zu zerteilen“ (1983:317); ein Fragezeichen wäre allerdings hier hinter die Bedeutung seines »kurz« zu setzen und dort hinter die effektive Realisierung des angenommenen Zusammen schlusses.
5 Die Mehrzahl der Verleger, die im Westen Lizenzen beantragten, hatten zudem wenig oder gar keine Kenntnis von der Exilliteratur. Die Haus Verleger des literarischen Exils konnten ihren diesbezügli chen Vorteil jedoch aufgrund bürokratischer Hindernisse bei Druckschrifteinfuhr und Verlagsrückfüh rung nach Deutschland nicht nutzen. Während im Ostberliner Aufbau Verlag unmittelbar nach seiner Gründung im Jahre 1945 mit der Herausgabe von Werken des Exils begonnen wurde, mussten Exil verleger wie Bermann Fischer aufgrund von Einreise und Lizenzbeschränkungen teilweise bis zu 5 Jahren ›Wartezeit‹ auf sich nehmen. Mit nicht remigrierten Autoren anfangs also die meisten konn ten keine Verträge abgeschlossen werden, Überweisungen von Honoraren ins Ausland waren verboten. Viele linksorientierte Autoren standen zudem immer häufiger auf dem Index nicht genehmer Autoren; vgl. Fischer 2005:73 78, Bermann 1967: passim.
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2.1.1 Die Rezeption des Exils im Westen
In westdeutschen Schulbüchern der 60er Jahre sind Innere Emigration, aber auch von Nazis hofierte (Benn, Hauptmann, Jünger), geduldete (Carossa) oder teilweise sogar ihnen nahestehende Schriftsteller (Blunck, Grimm, Kolbenheyer, Salomon) vielfach so oft vertreten wie die Exilanten aus der langen Liste von Günther Anders bis Stefan Zweig; deren Verhältnis zu anderer in Westdeutschland erschienener Literatur beträgt im Jahre 1965 circa 1:6. 6 Gilt das Hauptaugenmerk der schulischen Literatur rezeption und des Literaturbetriebes einmal nicht der Inneren Emigration oder den neuen Literaturen des vermeintlichen Nullpunkts,7 werden die ideologischen Raster der Epoche bedient, werden sogenannte Liberale (Th. Mann) bei Rezensionen eher noch ‘wahrgenommen’ denn erklärte Linksintellektuelle (H. Mann); Marxisten (Ben jamin) oder Kommunisten (Brecht) vermeidet man: „Dem Westen waren im Grunde bloß politische unengagierte Schriftsteller genehm“ (Schwarz 1989:316). In der Hoch zeit des Kalten Krieges (Cuba Krise) werden Kommunismus bzw. Stalinismus und Fa schismus unter dem Sammelbegriff des Totalitarismus gleichgesetzt. 8 Kommunisten und vermeintliche solche unter ehemaligen Exilanten werden politisch unter einem bereits zuvor wohlbedienten Etikett als ›Kulturbolschewisten‹ verfolgt. Das restaura tive Klima der 50er, der Antikommunismus der Adenauerzeit, waren der Rezeption der Exilliteratur nicht förderlich,9 weniger noch der Eingliederung ihrer Autoren. Weder in die BRD oder Österreich noch in die DDR kehren zurück Améry, Broch, Ca netti, Feuchtwanger, Fried, Habe, Hochwälder, Huelsenbeck, Kesten, Maas, Th. Mann, Mehring, R. Neumann, Graf, Remarque, N. Sachs, Sperber, Weiss, Zuckmayer, da sie weder in den stalinistischen Osten noch in den sie misstrauisch beobachtenden und von ihnen selbst skeptisch observierten Westen wollen. Alfred Döblin, Paul Celan,
6 vgl. Lühe 2005:13, Jay 1997:327, Müller 1994:405, Stephan 1994:431; Dem Verfasser dieser Arbeit begegnete während seiner ganzen Schulzeit in den 60er und frühen 70er Jahren der Begriff der Exil oder Emigrantenliteratur nicht. In der üblichen Handfibel des gymnasialen Deutschunterrichts, Kunze (1969): Grundwissen Deutsche Literatur , finden sich zwar einige Autoren des Exils (Seghers, Celan, Brecht, Nelly Sachs, die Gebrüder Mann) jedoch lediglich unter den Stichworten
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Ivan Goll und Klaus Mann ziehen sich desillusioniert wieder nach Frankreich zurück. Nachkriegsdeutschland bleibt ihnen fremd und suspekt, und sie ihm:
Der Exilierte, in sein Heimatland zurückgekehrt, nun, er tat gut daran, stille zu sein, und seine Erlebnisse »draußen«, ja selbst die Tatsache für sich zu behalten, dass er ‘draußen’ gewesen ist. Fast zwei Jahrzehnte war das so, und auch der Großteil der im Exil entstandenen Literatur blieb draußen vor der Tür (Walter 1985:278f).
Der Wandel in der Wahrnehmung der Exilliteratur nähert sich dem westlichen Litera turbetrieb von außen. Mit der Gesellschaftskritik der Studentenbewegung, besonders aber mit ihrer Kritik an einer verdrängten Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit sowie durch die Übernahme der Kanzlerschaft durch den ehemaligen Emigranten Willy Brandt 10 wird die Rezeption – zuerst widerwillig – auch auf die Werke und Au toren der Exilliteratur aufmerksam 11 , wobei es jedoch hauptsächlich um die Oppositi on zum Dritten Reich und den Antifaschismus der Werke und Autoren, um ihre Mentorenfunktion für die alte oder Neue Linke geht.12 Die Jahre von 1968 bis 1977 bezeichnen die Wiederentdeckung der der Autoren der Exilliteratur im Zeichen der Gesellschaftskritik, nicht jedoch der Exilliteratur an und für sich. Erst sehr langsam entwickelt sich ein Publikums und Wissenschaftsinteresse an der Literatur des Exils und der Weimarer Republik. 13 Viele Verlage, die bisher kein Interesse an der ›Ostdo mäne Exil‹ hatten, drucken und verkaufen ab Ende der 70er Jahre und in der großen Neudruckwelle (1977 bis Ende 80er) Exilliteratur, wobei es ihnen in den meisten Fäl len eher um das Werk einzelner bereits bekannter oder wiederentdeckter Autoren als um die Präsentation der Exilliteratur an sich, mehr um den Umsatz denn um eine ver legerische Aufgabe geht. 14
2.1.2 Die Rezeption des Exils im Osten
In Ostdeutschland (SBZ, DDR) dagegen wird das Exil während der ersten Zeit des Nachkriegs als repräsentatives Kernstück und Aushängeschild des ›Antifaschismus‹,
10 Bezeichnender Weise wurde gegen Brand noch Anfang der 60er seitens der CDU in Wahlkämpfen der Vorwurf erhoben, als Emigrant und Landesverräter gegen Deutschland gearbeitet zu haben, vgl. Münkel, Daniela (2002): „» Alias Frahm« – Die Diffamierungskampagnen in der rechtsgerichteten Presse “. In: Krohn 2002:397 418. 11 s. Exilliteratur 1933-1945. Eine Ausstellung aus den Beständen der Deutschen Bibliothek . Ausstellung der Deutschen Bibliothek Frankfurt, Mai bis August 1965, vgl. Berthold 1965, Köster 1965. Wie widerwil lig man der Existenz der Emigranten und ihrem Blick auf die unmittelbare Vergangenheit noch entge gentrat, lässt sich u. a. am wiederholt bestätigten Verbot von K. Manns Roman Mephisto (1936) in den Jahren 1965, 1968 und 1971 ersehen, dessen Publikation der BGH 1968 mit der Begründung untersagt, die Allgemeinheit sei nicht daran interessiert, ein falsches Bild über die Theaterverhältnisse nach 1937 aus der Sicht eines Emigranten zu erhalten; vgl. KLL 1986:6234. 12 vgl. Jay 1997:328. 13 s. Jürgen Serkes Serie Die verbrannten Dichter im stern Magazin, Herbst 1976, vgl. Serke 1977. 14 In deutlich deklarierten Buchreihen oder Programmschienen mit zeitweilig recht hohen Auflagen setzt die Rezeption der Emigration als Exilliteratur ein. Es geht dabei jedoch auch hier meist um den Umsatz und die Wiederholung von Bucherfolgen wie bei Klaus Manns Bestseller Roman Mephisto in den Jahren 1981ff.
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z. B. im Rahmen des Kulturbundes zur Erneuerung Deutschlands (1945) 15 und ab 1949 als integraler Bestandteil der der DDR eigenen nationalen ›Aufbauliteratur‹ an gesehen. Schon stellt man zu deren Gelingen mehr oder weniger linientreue Autoren heraus (Becher, Seghers), 16 mal hofiert man im Sinne der ›Humanistischen Front‹ oder ›Volksfront‹ eine Zeit lang noch die sogenannten ‘bürgerlich fortschrittlichen’ (Feuchtwanger, Th. Mann), bald streicht man aus den Listen abtrünnige Kommunis ten (Koestler, Kantorowicz, Münzenberg, Regler, Sperber, Wittvogel, Leonhard) und unaussprechliche Namen von Proletkultlern (Günther, Ottwald). Die sogenannten »Renegaten« werden im Sinne des nationalen Kanons und verordneter nationalisti scher Übertrumpfung von der Literaturrezeption ignoriert oder ausradiert.17 Als ab 1952 der Aufbau des Sozialismus proklamiert wird, greift eine nach dem Stalinschen Abklatsch der Kaderpartei organisierte SED in epigonenhafter Nachahmungssucht wieder nach dem Leninschen Prinzip der ›Parteiliteratur‹,18 und erhebt in der ihr ei genen Kohärenz den Lukácsschen Aufguss des ›sozialistischen Realismus‹ erneut zur Kunstdoktrin. 19 ›Linksbürgerliche‹ und ›revisionistische Abweichler‹ von der angebli chen Orthodoxie, insbesondere solche aus der engeren oder weiteren Umgebung der Frankfurter Schule (Benjamin, Adorno, Korsch, Kracauer, Marcuse), werden ideolo gisch verworfen, unabhängige Marxisten und Intellektuelle (Bloch, Mayer, Plievier) – sie gelten von neuem als linksliberale Kleinbürger – noch einmal zur Emigration jen seits der kleindeutschen Grenze gebeten, solange diese noch offen ist. Exilschriftstel ler oder Werke mit zu avantgardistischen Literaturkonzeptionen (Arendt, Hermlin, Lasker Schüler, N. Sachs) werden in die hinterste Regalreihe verwiesen oder ihrer Funktionen enthoben, wie ferner jene, die sich nicht lammfromm der eklektischen Mischung aus mechanistischem ›Histomat‹ und konservativem Formenkanon des 18. oder 19. Jahrhunderts zu unterwerfen bereit waren, wegen ihrer »volksfremden und formalistischen« Haltung zur Standardübung der Selbstzensur und Selbstkritik einge laden waren (Brecht, Eisler, Dessau). Auch Werke von Bürgerlichen wie Broch, Musil, Werfel oder St. Zweig wird man im real dekretierten Sozialismus nicht mehr verlegen. Vom Bitterfelder Bürstenabzug des Proletkults und Traktorenlyrismus’ (1959) über die ›sozialistische Nationalliteratur‹ (1961) bis hin zu den diversen Spielarten der so zialistischen Aufbau , Stoßtrupp oder Produktionsliteratur des ›Neuen Ökonomi schen Systems‹ (1963) und aller sonstiger Wenden wird die DDR etliche historische
15 Ursprünglich nominell gesamtdeutsche Organisation mit 1947 ungefähr 120 000 Mitgliedern. Dazu gehören u.a. R. Huch (verlässt 1947 die SBZ), E. Spranger, G. Hauptmann u. J. R. Becher, späterer DDR Kulturminister. Zentrale Aufgaben des Kulturbundes sind: „Vernichtung der Naziideologie auf allen Lebens und Wissensgebieten. Kampf gegen die geistigen Urheber der Naziverbrechen und der Kriegsverbrechen. Kampf gegen alle reaktionären, militaristischen Auffassungen. Säuberung und Rein haltung des öffentlichen Lebens von deren Einfluss. [...] Wiederentdeckung und Förderung der frei heitlichen, humanistischen, wahrhaft nationalen Tradition unseres Volkes“ (Leitsätze des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. In: Aufbau, Jg. 1 1945, H. 2; 200). 16 vgl. Schmidt 2002; zu Seghers ›Linientreue‹ in der lit. Praxis der DDR vgl. Vilar 2003. 17 vgl. Schnell 1994:434, Emmerich 1994:462, 465; Koebner 1990. 18 vgl. Lenin 1905, in Werke, Bd. 10; 29 34. 19 vgl. Lukács 1948, 1971. Auch Lukács indes wurde gegen Ende der Revionismus Kampagne in der DDR selber zum Opfer des von ihm vehement vertretenen Kunstdiktats, als seine Begründung der Kunstdoktrin als zu ›idealistisch‹ eingeordnet wurde.; vgl. Lukács 1981: 139 143, Heeg 1977: passim.
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Schwenks des Vorbilds Sowjetunion parodieren,20 die hier nicht im Einzelnen nach gehalten werden können, ohne den Rahmen dieser Arbeit gänzlich zu sprengen. Eines muss hier jedoch angemerkt werden: Trotz aller Tauwetter, Chruschtowiaden und Glastnost, die zahlreichen Opfer der stalinistischen Säuberungen unter den Exilanten (z. B. Neher, Becker, Held, Walden, Ottwald) bleiben verschwiegen, lange noch, nach dem die Mauer bereits gefallen ist.21
2.1.3 Die Rezeption des Exils seit der Wiedervereinigung
Dass seit der Wiedervereinigung das Thema an Reizstoff verloren hat, mag daran lie gen, dass trotz Zugang zu Fundus und Buchmarkt der ehemaligen DDR kaum noch verlegerische Entdeckungen im Bereich der Exilliteratur gemacht werden, anderer seits das Spezifikum der Exilliteratur als Literatur des Exils zumindest verlegerisch in den Hintergrund getreten ist und andere Spezialbereiche wie die verschwiegene Bib liothek der ehemaligen DDR oder die Migrantenliteratur an ihre Stelle getreten sind. Andererseits widmet sich heutzutage eine relativ stabile Reihe von Verlagen in Deutschland und Österreich den Autoren und Werken der Emigration, 22 meist in Zu sammenarbeit mit den seit den 60er Jahren entstandenen Exilarchiven von Universi tätsinstituten und Sammlungen in Deutschland und Österreich. 23 Die deutschen und die österreichischen Nationalbibliotheken verfügen inzwischen über einen extra aus gewiesenen Exil Fundus (Primär und Sekundärliteratur).24 Die meisten Verlage pub
20 vgl. Wegmüller 1972. 21 vgl. Trapp 1993b; zu Einzelheiten später in dieser Arbeit, s. 4.3. 22 z. B. bei Büchergilde Gutenberg, Wallstein, S. Fischer und Suhrkamp, Spangenberg, Aufbau, Pi per/Neuer Malik Verlag, Kiepenheuer & Witsch, Arco, Unrast, Hanser, Luchterhand u. a. m. Eine Reihe dieser Verlage sind traditionell der Exilliteratur verpflichtet, wie z.B. der ehemalige Gewerk schaftsverlag der Buchdrucker Die Büchergilde (im Exil bei Oprecht, Zürich), S. Fischer (Bermann Fischer), Kiepenheuer (b. Allert de Lange/Querido, Amsterdam), Aufbau (Aufbau u. Aurora, New Y ork), Piper/Neuer Malik Verlag (Malik, Prag/London, Aurora, New York); andere wie Edition Span genberg bei Ellermann, Wallstein u. der inzwischen erloschene Szczesny Verlag gehörten mit zu den ersten Verlagen, die nach 1945/46 Exilliteratur veröffentlichten. Eine formal eigenständige Reihe ›Exil literatur‹ besteht heute jedoch nur noch bei der Büchergilde Gutenberg und der ›Bibliothek der ver brannten Bücher‹ bei Fischer Tb, hier mit Neuauflagen zum 75. Jahrestag der Bücherverbrennung (26.04.2008) in Form fotomechanischer Originaleditionen Reprints damals verbrannter Werke. 23 Die wichtigsten Forschungseinrichtungen sind (ohne spez. Autoren und Gruppenforschung): Exil Club Projekt der Else Lasker Schüler Stiftung, Wuppertal; Forschungsprojekt Österreichische Litera tur im Exil des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstands, Wien und Österreichische Gesellschaft für Exilforschung, Wien; Gesellschaft für Exilforschung beim Zentrum für Antisemitis musforschung der TU Berlin; Guernica Gesellschaft zur Erforschung der antifaschistischen Kunst und Antikriegskunst, Karlsruhe; Hamburger Arbeitsstelle für deutsche Exilliteratur und Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur, Hamburg; Research Centre for German and Austrian Exile Studies, University of London; in Übersee: The Varian Fry Foundation Project of the International Rescue Committee, New York; außerdem zahlreiche Forschungsprojekte zu jüdischer Vertreibung und Holocaust, die hier aufgrund ihrer stetig steigenden Zahl nicht einzeln aufgeführt werden können. 24 Bibliographische Sammlungen (ohne spez. Autorensammlungen): Carl von Ossietzky Bibliothek und Paul Walter Jacob Archiv, Uni Hamburg; Deutsches Exilarchiv 1933 – 1945 der Deutschen National bibliothek, Frankfurt am Main; Exil Archiv.de bei der Else Lasker Schüler Stiftung für verbrannte und verbannte Dichter / KünstlerInnen, Zentrum der verfolgten Künste, Wuppertal: Österreichische Exil
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lizieren aktuell Werke und Autoren des Exils, meist jedoch unter Vermeidung des Eti ketts ›Exil‹, unter Aspekten wie ›moderner Klassik‹ oder literarischer Tendenzen mit Vorreiterrolle für Aktuelles. Wenn man mittlerweile man davon ausgehen könnte, dass die Werke und Autoren der Exilliteratur wieder Eingang in den sogenannten Kanon der deutschen Literatur (s. 2.2.1.4) gefunden haben, dann stimmt dies nur unter der Vorraussetzung, dass der Anschluss an die Weimarer Literatur überwiegend, aber nicht ausschließlich, im Exil zu suchen ist, die Nachkriegsliteratur nicht einfach einen Nullpunkt darstellt, sondern ein oft widersprüchliches Wiederanknüpfen. Die meisten Autoren der Exilliteratur gelten heute selbst vielen Konservativen als Zeitikonen der deutschen Literatur, auch wenn die spezifische Tatsache des Exils außer als special interest den meisten Lesern kaum mehr bewusst sein wird; ist dies dennoch der Fall handelt es sich, um mit Schwarz zu sprechen, „doch nur mehr um eine historische Angelegenheit“ (1983:317). Damit ist zumindest bei oberflächlicher Betrachtung eine gewissermaßen ‘normale’ Rezeption eingekehrt, so wie sie mit den gemeinhin üblichen Einschränkungen auch für andere Epochen der deutschen Literatur gilt. Dahinter verbirgt sich jedoch das in den Verhältnissen des Literaturbetriebs begründete Paradoxon, dass die Integration der Exilliteratur umso besser von statten ging, als ihr spezifischer Exilcharakter in den Hintergrund trat. 25 Für Literaturbetrieb und allgemeine literarische Rezeption scheint sich also nolens volens das praktisch durchgesetzt zu haben, was Loewy Ende der 70er für die Fachforschung noch als theoretische Maxime formulierte:
Wohlverstandene Exilliteraturforschung kann […] nicht den Sinn haben, einen ausgeklammerten Strang der deutschen Literaturentwicklung auf Dauer Sonder- rechte zu erwirken als vielmehr seiner habhaft zu werden und ihn in die deutsche Literaturgeschichte zu integrieren (Loewy 1979:23).
2.22.22.2 Exil und Literaturwissenschaft
Die Exilliteratur wieder in die Literaturgeschichte zu integrieren ist aufgrund der Nachkriegsbedingungen auch in der Literaturwissenschaft ein von Widersprüchen ge zeichnetes Unterfangen. Dies liegt zum einen im Gegenstand selbst begründet, zum anderen an den polarisierten Wissenschaftsstandpunkten der Nachkriegszeit. Wie das Exil an sich, sind auch die Konditionen der Literatur des Exils, die seiner Rezeption und literaturwissenschaftlichen Verhandlung erst einmal fremd und von außen be stimmt, sie ergeben sich nicht aufgrund offen darliegender und eindeutiger Merkma le. Formal fußt die Einordnung als Literaturepoche auf einer historisch politischen Periodisierung, nicht jedoch auf einer stilistischen oder von vornherein ästhetisch de
bibliothek, Literaturhaus Wien und das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien; Sammlung Exil Literatur 1933 – 1945 der Deutschen Nationalbibliothek, Leipzig; Wiener Libra ry, London; in Übersee: The German Emigre Collection, Albany; German Exile Library, Los Angeles; außerdem auch hier zahlreiche Bibliotheken und Archive zu jüdischer Vertreibung und Holocaust. 25 vgl. Fischer 2005:91f.
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finierten Epoche. 26 Auch ist die Masse der Autoren weder weltanschaulich noch in ih rer künstlerischen oder ästhetischen Haltung homogen. Ihre typischen Ausdrucks und Gattungsformen wie Exiltagebuch, Deutschland , Exil und historischer Roman, ihre Pendants in Lyrik und Drama entwickeln sich erst allmählich und je nach Exilort und historischem Abschnitt in anderer Ausprägung, 27 entfalten sich teilweise auf grund theoretischer und strategischer Diskussionen, die nicht frei von parteipoliti schen Führungsansprüchen sind (s. Expressionismusdebatte und Kunstdoktrin des ›sozialistischen Realismus‹). 28 Nicht direkt literarische Prosa nimmt einen höheren Stellenwert ein als in vielen anderen Literaturepochen, vorausgesetzt, man nähme die Streitschriften der Aufklärung und Reformation, die der deutschen Jakobiner, die vergleichbarer Zeiten wie die des Exils des Jungen Deutschlands einmal aus… Breite Vergleichsforschungen mit letzterem oder mit der Emigration während der Bismarck schen Sozialistengesetze oder etwa mit anderen, zeitnäheren Exilliteraturen (z. B. Ita lien, Spanien) sind (noch) nicht vorhanden, gleiches gilt für den Vergleich mit späteren, z. B. dem ungarischen, tschechischen oder chilenischen Exil.
2.2.1 Wissenschaftliche Rezeption und politischer Kontext wis- senschaftlicher Forschungsperspektiven
War das Exil politisch verursacht und zumindest beim erfassten Gros seiner Mitglie der überwiegend politisch orientiert, so wird es auch nach dem Ende des Faschismus meist aus politischen Perspektiven untersucht und bewertet. Dies liegt bereits im For schungsgegenstand begründet, ist doch ein Großteil der vorliegenden Exilliteratur von der Sphäre des Politischen merkbar durchdrungen. Die politischen und die von ihnen geprägten ästhetischen Auseinandersetzungen der Weimarer Zeit 29 bestanden im Exil weiterhin und teilweise noch danach. Neue Auseinandersetzungen um das eigene Selbstverständnis traten hinzu, die nicht selten von der Realpolitik während und nach der Zeit der NS Diktatur gezeichnet waren. Auch die Forschungsliteratur gibt mehr oder weniger politische Lesarten des Exils wi der, auch wenn diese häufig – wie später zu sehen sein wird – ihre Herkunft oder Mo tivation nicht offen ausweisen.
2.2.1.1 Unterschiedliche Begriffsbestimmungen Schon die Polysemie der zu verschiedenen Zeiten und Gelegenheiten angewandten Begriffe ›Auswanderung‹, ›Emigration‹ und ›Exil‹ bezeichnet nicht nur damit ver
26 vgl. zu den Problemen der Epochenbestimmung Koepke 1984, Teesing 1948. 27 Siehe hierzu besonders Trapp 1983, Kap. 3 5; eine Übersicht bietet Feilchenfeld 1986:112 116; zu einzelnen Gattungen jeweils Gallmeister 1991, Bock 1981, Hans 1975, Arnold 1973; Beiträge der De batten im Exil, vor allem zum ›Historischen Roman‹: Feuchtwanger 1961, Lukács 1955, Lukács 1938, Döblin 1936. 28 Zusammenfassend Trapp: » Literaturtheorie als Form von Bündnispolitik: Einwirkungen der sowjetischen Lite- raturpolitik auf das Exil «. In: Trapp 1983b:201 210. 29 vgl. Walter 2003a, Walter 2003b, Koch 1996, Bier 1983a.
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bundene Interpretationen und Haltungen juristischer und politischer Couleur, desig niert nicht nur gegeneinander abgesetzte Versuche der Selbstdefinierung der aus Deutschland Vertriebenen 30 , sondern auch teilweise divergierende Forschungsansät ze. ›Auswanderung‹ und ›Emigration‹ werden von NS Beamten synonym als aktive – und zynischerweise – als freiwillige Entscheidung angesehen, sein Heimatland aus politischen, wirtschaftlichen oder religiösen Gründen zu verlassen, um sich woanders dauerhaft niederzulassen, sehr bald auch in der propagandistisch abschätzigen Be zeichnung des ›Emigrantenschrifttums‹ verwendet.31 Im späteren Sprachgebrauch der BRD umfasst ›Auswanderung‹ eher die wirtschaftliche Motivation,32 ›Emigrati on‹ wird z. T. synonym verwendet, bezeichnet jedoch öfter auch den politischen und religiösen Aspekt 33 . Der Begriff ›Exil‹ wird von den Nazis vermieden, da hier der akti ve Teil vom Staat übernommen wird: Ausbürgerung, Verbannung und Verfolgung zwingen den Betroffenen zum Verlassen der Heimat 34 . Unter den Verfolgten wird die Bezeichnung ›Exilant‹ entweder als politische, wenn nicht gar antideutsche Haltung verschiedentlich abgelehnt (z. B. René Schickele, Walter Gropius) oder als aktives En gagement gegen den Nationalsozialismus ausdrücklich beansprucht (z. B. Balder Ol den, Oskar Kokoschka). 35 Gleich den Exilautoren unterscheiden die Behörden der Exilländer und später auch die Forschung mehr oder weniger scharf zwischen Emigration und Exil, wobei für die Bewertung der Behörden entscheidend ist, ob es sich im eigenen Selbstverständnis um ein traditionelles Einwanderungsland (z. B. USA) oder Exilland (z. B. Frankreich) handelt. Die amerikanischen Dienststellen zum Beispiel unterscheiden für die eigent liche Zeit des amerikanischen Exils zwischen Einwanderern und Exilanten. Sich selbst als Exilanten verstehende Flüchtlinge werden während des Exils von Regierungsstel
30 Man erinnere sich an dieser Stelle an Brechts Ende 1937 explizit vorgenommene terminologische ly rische Kritik » Über die Bezeichnung Emigranten « (1967; 718) und die wenig später in der Exilpresse statt findende Debatte zwischen Hermann Kesten, Thomas Mann, Walter A. Berendsohn u.a.; zusammenfassend bei Feilchenfeld 1986:15 19. 31 vgl. Feilchenfeld 1986:15. 32 aus|wan|dern
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len in den USA, dem größten Exilland (ca. 104.000 Flüchtlinge), mit Vorsicht oder so gar mit Misstrauen behandelt, ein Großteil wird vom FBI überwacht, 36 sogar als be reits zahlreiche Exilanten in der amerikanischen Armee gegen Hitlerdeutschland kämpfen. Während der scoundrel time der späten 40er und der 50er Jahre, der He xenjagd der McCarthy Ära schlägt das Misstrauen gegen sich immer noch als Exilan ten verstehende Flüchtlinge in Verfolgung um. Zahlreiche Exilanten verlassen daraufhin die USA.37 Dass das Verhältnis der Vertriebenen zu ihren Fluchtländern nicht von Konflikten frei war, bedingt in Teilen auch die Emigrations bzw. Immigra tionsforschung. Die amerikanische Exilforschung ab den 60ern (Hughes, Heilbut, Jacoby, Davis, Jay) betrachtet sodann Emigration bzw. Exil als „Quelle von potentiellen oder tatsächli chen Widerständen gegen die in Amerika herrschenden intellektuellen und kulturel len Anschauungen“ (Jay 1997:333), bewertet sie als Anpassung oder Ablehnung des american way of life and democracy , beobachtet ihren Einfluss auf den Kultur und Wissenschaftsbetrieb und den erfolgreichen oder bedenklichen Kulturtransfer. 38 Die Forschung scheidet die Flüchtlinge aus Deutschland in auswandernde Emigranten (=Immigranten in die USA) oder politisch gegen die Nazidiktatur gerichtete Exilan ten. 39 Dieses Prinzip gilt jedoch nicht allein für die amerikanische Forschung, auch deutsche Literaturwissenschaftler werden noch in den 80er Jahren zumindest für das jüdische Exil von ähnlichen Ansätzen ausgehen:
Die Fluchtbewegung, die wir mit Exilierung bezeichnen, ist zu unterscheiden von der „Emigration“ (Auswanderung), die vor allem die in Deutschland lebenden Ju- den betraf. Die jüdische Massenemigration setzte erst um 1938 ein und steigerte sich mit der Verschärfung des antijüdischen Terrors. Die sich retten konnten, ver- ließen Deutschland mit der Absicht, im Ausland für immer eine neue Heimat zu finden (Franke 1988:117).40
Nach 1945 meint man in Westdeutschland, die Exilanten wieder in Emigranten um wandeln zu können, da diese nun angeblich die Freiheit haben, in die BRD zurückzu
36 vgl. Stephan 1995. 37 Solche Vorgänge wiederholen sich in anderen Exilländern, meist zuerst unter dem Druck der Au ßenpolitik des Deutschen Reiches (Schweiz, Österreich) oder unter den Bedingungen des Krieges (Frankreich, England); vgl. Mehringer 1998, Schwarz 1989, Walter 1984, Tutas 1973, Walter 1972a, Be rendsohn 1946. Besonders gilt dies aber auch für die UdSSR, wo viele Exilanten vom NKWD obser viert, ein Teil von ihnen während des Krieges zum tatsächlichen oder nur vermeintlichem ›Schutz‹ nach Kasachstan deportiert werden, manche bei den verschiedenen stalinistischen Säuberungswellen verschwinden; vgl. Trapp 1993b, Diezel 1992, Müller 1991, Lorenz 1990, 1986. 38 vgl. Jay 1997, Winckler 1995, Bendix 1990. 39 vgl. Bendix 1990, Rietzschel 1981, Spalek 1976, Radkau 1971. 40 vgl. ebenfalls Schwarz 1989:304. Auch in der spanischen Auslandsgermanistik sind für die 80er ver gleichbare Unterscheidungen nachzuweisen, vgl. Jané 1983:92. In der DDR wird bei der Unterschei dung von Emigrant und Exilant ein um 180° gewendetes Prinzip angewendet. Jüdische Remigranten werden dort, da sie ins antifaschistische Deutschland zurückkehren, als aufgrund ihrer Weltanschauung Vertriebene und somit vom Grundsatz her zumeist als Exilanten eingestuft, vgl. Domansky 1993:182, Anm. 10.
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kehren. 41 Die westdeutsche – man ist versucht zu sagen: die westliche – Exilforschung schlechthin orientiert sich unter dem Aspekt der Emigrationsforschung an geographi schen Zentren ihrer Herkunft und an Rückzugsorten des Exils 42 und seiner dort ange legten Institutionen der literarischen und öffentlichen Repräsentation. 43 Eine politisch literarische Komparation mit anderen teilweise zeit und ortsgleichen Exilen anderer Literaturen ist darin nicht vorgesehen. 44
2.2.1.2 Uniforme Intentionen Steht im Westen anfänglich die Emigrationsforschung i. e. S. im Mittelpunkt, so rückt dorthin in der DDR programmatisch die ›Kunst und Literatur des antifaschistischen Exils‹.45 Dabei ist der Aspekt des ›Antifaschismus‹ im Osten positiv, im Westen bis in die 70er negativ besetzt. Das Exil findet in der DDR, wie man an den umfangreichen Projekten ersehen kann, zwar größere wissenschaftliche Aufmerksamkeit als im Wes ten, es wurde jedoch weniger unter dem ausdrücklichen Aspekt der Exilierung be trachtet und untersucht. Die Künstler und Schriftsteller des Exils gelten hier vielmehr als ›besondere Etappe im Entwicklungsgang der fortschrittlichen Kunst und Litera tur‹ seit 1918, die 1949 ihren staatlichen Ausdruck erhält. Neben Widerstand und In nerer Emigration gelten die Exilanten auch der Forschung als ›Vorkämpfer einer zukunftsweisenden humanistischen, volkstümlichen und revolutionären Kunst‹, wer
41 Auch die ›Remigrationsforschung‹ der 90er arbeitet konzeptuell unter dieser Prämisse und wird da durch gezwungen sein, zwischen Remigranten, im Exil verbleibenden Exilanten oder Nicht Remigranten und Fällen der Re Remigration, also der Rückkehr ins Exil zu unterscheiden. vgl. Lühe 2005: passim. 42 Fast 40 Beiträge aus dem Zeitraum von 1971 bis 2005 wurden für diese Forschungsarbeit allein zu diesem Themenschwerpunkt erhoben. Diese widmen sich zumeist der Verteilung des Exils bzw. der Emigrationsforschung zu den einzelnen Exilländern bzw. Herkunftsländern; vgl. Hammes 2005, Lürb ke 2001, Bolbecher 2000, Patka 1999, Barron 1997, Weschler 1997, Flügge 1996, Mittag 1996, Stephan 1995, DÖW 1995, Laharie 1993, Flügge 1992, Spalek 1992, DÖW 1992, Bendix 1990, Walter 1988, DÖW 1986, Walter 1984, DÖW 1984, Klein 1982a, Lingner 1982, Rönisch 1981ff, Hermsdorf 1981, Pech 1981, Pike 1981, Rietzschel 1981, Wenzel 1981, Kießling 1980, Maas 1978, Spalek 1976, Walter 1974a, Pech 1974, Durzak 1973, Radkau 1971. Dem in der literaturwissenschaftlichen Diskussion viel beachteten kalifornischen Exil bemühte sich zudem unlängst ein deutscher Romanautor als Stoff und Gattung anzunehmen, vgl. Lentz 2007. 43 Besonders stehen hierbei die Exilpresse im Vordergrund (auf die auch in fast allen literaturgeschicht lichen Darstellungen breitest eingegangen wird),; vgl. Shin 2007, Roussel 1989, Walter 1978, Maas 1978, Walter 1974b, Kunoff 1973, Bermann 1967, Walter 1965. In den Periodika der Exilforschung wurden etliche Arbeiten ebenfalls dem Thema gewidmet; vgl. Jahrbuch für antifaschistische Literatur und Kunst, Leipzig, passim; Sinn und Form (1978 1984). Bde. 19, 29, 36; Weimarer Beiträge (1981 82). Bde. 27, 28; Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. München: text + kritik; 1983ff (Gesellschaft für Exilforschung e.V. am Institut für Neuere deutsche Literatur der Universität Marburg; 1984), ebf. Nachrichtenbrief, Frankfurt/M., 1984 ff. 44 Erst in den letzten Jahren widmen sich vor allem in Spanien Auslandsgermanisten und Überset zungswissenschaftler dem interexilischen Kontakt und Literaturtransfer, vgl. Marín 2008, Rosell 1999, Ott 1999. Auch in der Forschung des spanischen und katalanischen Exils, die erst knapp ein viertel Jahrhundert nach dem Ende des Franquismus einsetzte (1. Kongress Tarragona, 09.12.1999), spielt dieses Thema keinerlei zentrale Rolle. 45 Dem Thema ›Exilländer‹ widmet sich im Osten vor allem die Zs. Weimarer Beiträge (Rönisch et al. Hgg., 1981ff.): Bde. 27, 28; vgl. Klein 1982a, Rietzschel 1981, Wenzel 1981, sowie die siebenbändige Leipziger Ausgabe von Kunst und Literatur im Exil , Hoffmann 1987ff.
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den als ›Weggefährten‹ und Begründer der DDR Kunst gesehen. „Sie wurden als Kommunisten oder Humanisten und künstlerisch als Realisten gewürdigt, die eine neue Tradition begründet hatten oder fortsetzten und bestätigten. Um die Erfor schung ihrer spezifischen Exilerfahrungen ging es in der Regel höchstens in zweiter Linie“ (Held 1999:77). Im Westen dominiert die Ausgewanderten oder Emigranten Forschung, teilweise unter dem Aspekt der gleichzeitigen Rehabilitierung von Exilant und Wissenschaft. Bei aller Gegensätzlichkeit muss man jedoch das gemeinsame Grundprinzip der vordergründig so verschiedenen Forschungshaltungen herausstel len: „In beiden Fällen diente die Beschäftigung mit dem Exil als eine Legitimations wissenschaft für die jeweiligen politischen Systeme mit ihrer deutschen NS Vergangenheit“ (Eckmann 1997:31). Eine Möglichkeit zur Auflösung dieser legiti mistischen – wenigstens aber den eigenen Ansatz legitimierenden – Frontstellung und vom Bewegmotiv gleichgelagerten Forschungsdivergenz, so könnte man anneh men, ergebe sich mit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten 1990. Wenn dies der Fall sein sollte, liegt der Grund dafür jedoch keineswegs in der quasi automatischen Zusammenführung und einer vielleicht anzunehmenden selbstläufigen Aufhebung bisher unterschiedlicher Grundeinstellungen in den ideologischen und wissenschaftlichen Kriterien. Denn in den beiden auf das Dritte Reich folgenden deut schen Staaten ist die Einstellung zum Naziregime und seinen Verfolgungen und Verbrechen von durchaus kongruenter Haltung gezeichnet: Bezeichnet im Westen die ›Stunde Null‹ den vermeintlich absoluten Neubeginn deutscher Geschichte, die Ab nabelung vom alten Schoße und den Kopfsprung in das politische ‚Erbe’ der Demo kratie, demonstriert die Verstaatlichung des Antifaschismus und die Einführung des Sozialismus im Osten den Abbruch jeglicher gesellschaftlicher Verbindung zu einem System, dessen ›höchste Ausdrucksform der Krisenbewältigung‹ eben der Faschismus war, der ›Nationalsozialismus als Diktatur des Monopolkapitals‹.46 Die DDR erklärte sich zum Staat der gesellschaftshistorischen Opfer. Beide Entlastungsstrategien dien ten gesellschaftlich und politisch relevanten Gruppen in den neuen Staaten dazu, ih rer (Mit ) Verantwortung an der Zulassung des Nationalsozialismus auszuweichen.
2.2.1.3 Kongruente Divergenzen Westlichkeit, Antikommunismus und die Auslegung der NS Ideologie als Spielart des eines metahistorischen Totalitarismus 47 erlaubten der BRD nicht nur eine selektive Vergangenheitsbewältigung und Erinnerung an die Opfer von Massenmord und Ver
46 Die grundsätzliche Definition lieferte Georgi Dimitrow auf dem VII. und letzten Weltkongress der Kommunistischen Internationale (Komintern), 2. August 1935, vor dem Plenum; Faschismus sei „die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen E lemente des Finanzkapitals“ (Dimitrow 1960; 94). 47 Intellektueller Urheber der Totalitarismus Theorie (1953) ist der polnische Emigrant und Havard Wissenschaftler Zbigniew Brzeziński, ab 1961 Leitung des Institute on Communist Affairs der Columbia University, Ost Europa und Sicherheitsberater der amerikanischen Demokraten, der Präsidenten Kennedy, Johnson und Carter. Der heutige Professor für Amerikanische Außenpolitik an der Johns Hopkins Universität in Baltimore und Berater für mehrere große amerikanische und internationale Un ternehmen gilt neben Henry Kissinger und Samuel P. Huntington als graue Eminenz unter den US amerikanischen Globalstrategen.
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treibung, sondern ebenfalls eine vordergründig antitotalitäre und demokratisch be gründete Entideologisierung, die zumindest bis 1967/68 ohne großen Widerspruch Konsens bildend war 48 und sich in der Literaturwissenschaft in einer positivistisch formalen Literaturbetrachtung wie z.B. Kaysers ›formaler‹ Interpretationskunde und Staigers ›Kunstempfinden‹ äußerte, die der Befassung mit einem Gegenstand wie der Exilliteratur oder gar der literarischen Zeugnisse des Holocaust, etwa Amérys, 49 nur mit vorsichtiger Befremdung entgegentreten konnte. Die allgemeine Lage der deut schen Germanistik vor der Studentenrevolte charakterisiert Berghan (1979) anhand der Auseinandersetzungen, welche der Germanistik zum Zeitpunkt des sogenannten ›Zürcher Literaturstreit‹ von 1966 von außen und intern erwachsen:
Nachdem die Literaturwissenschaft zwanzig Jahre einer Diskussion ihrer Methode ausgewichen war, erwachte sie nun aus ihrem dogmatischen Schlummer und be- schäftigte sich endlich mit der Geschichte ihrer Theoriebildung. Die auslösenden Momente dieser Wende lassen sich ziemlich genau bestimmen: 1964/65 begann eine zaghafte und viel zu späte Diskussion über die Funktion der Germanistik im Dritten Reich, die auf dem Münchner Germanistentag 1966 ihren vorläufigen Ab- schluss fand, ohne dass jene Selbstreinigung zu einem befriedigenden Ergebnis führte. Dazu war die Diskussion zu verständnisvoll, und die Kritik beschränkte sich auf die Vergangenheit als abgeschlossenes Kapitel der Wissenschaftsge- schichte, ohne die Folgen für die Gegenwart zu berücksichtigen .50 Dennoch riss jene Auseinandersetzung die Germanistik aus ihrer wissenschaftlichen Beschau- lichkeit, löste Diskussionen um ihre gesellschaftliche Funktion aus und politisierte das Fach. […] Ja, es ist geradezu eine Ironie der Geschichte, dass jenes Fach, das seine faschistische Vergangenheit so erfolgreich verdrängte und sich so forciert politischer Zurückhaltung befleißigte, nun aufs intensivste politisiert wurde. Von dieser Krise ihres Selbstverständnisses, die zugleich eine Krise ihrer vorherr- schenden Methode war, erholte sich die Germanistik nur mühsam und mit Hilfe neuer methodischer Ansätze. Jetzt erst konnte ›Literaturgeschichte als Provokati- on der Literaturwissenschaft‹ verstanden und eine historische Sensibilität entwi- ckelt werden, welche der Germanistik seit dem Positivismus abhanden gekommen war (Berghahn 1979:396f).51
Ob jedoch die »historische Sensibilität« wirklich sich entwickelte oder bloßes Ritual blieb, erscheint mir zweifelhaft, zumindest aber unentschieden. Die von der Studen tenbewegung erzwungene Erinnerung bewirkte m. E. in der Breite der Gesellschaft und der vorherrschenden Meinung nur, dass zwar eine Erinnerung aller Opfer auf Dauer nicht mehr zu verhindern war und ein Ausschließen historischer Täter und Erbschaft relevanter gesellschaftlicher Gruppen und auch weiterer Teile der Bevölke rung nicht mehr grundsätzlich aufrecht erhalten werden konnte, zugleich die Erinne
48 Maßgebend wurde diese Grundhaltung für große Bereiche der Politik indirekt auch durch die die sozialdemokratische Ostpolitik unterstützende Konvergenztheorie, nach der wirtschaftliche und tech nologische Modernisierungen zwangsläufig zur Aushöhlung und Entideologisierung der Systeme und schließlich zu ihrer durch Effizienzdruck bedingten Annäherung führen sollte, eine Überzeugung die sich nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes verständlicherweise noch verstärkte, wenn auch nur im Sinne einer prowestlichen Systemannäherung. 49 vgl. Améry 1966. 50 Berghan verweist dazu auf die Kritik von W.F. Haug, Der hilflose Antifaschismus (Frankfurt, 1970). 51 Kursiva von mir – E.D; die im Text hervorgehobene Stelle ‚Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft’ bezieht sich explizit auf Hans Robert Jauß’ gleichnamiges Werk von 1967.
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rungs und Trauerarbeit aber allein zum obligatorischen Fegefeuer und Ritual der bundesdeutschen Demokratie geriet. Diesen Prozess holte die DDR leicht versetzt e benfalls nach, in Bezug auf die jüdische Verfolgung, die zuvor nur eine Verantwort lichkeit des potentiell faschistischen kapitalistischen Systems gewesen war. 52 Für manchen 53 wird der einsetzende aber leider nicht zu Ende geführte Ausweg aus der Sackgasse der kleindeutschen Frontstellung mit der Internationalisierung der E xilforschung eingeläutet, hie die Einbeziehung der amerikanischen (Spalek, Hardin, Strelka, Bell, Dobson u.a.), dort die Zusammenführung mit der skandinavischen For schung (Berglund, Müssener, Sandqvist) zu Kopenhagen und in der Stockholmer Ko ordinationsstelle zur Erforschung der deutschsprachigen Exilliteratur (1970 1975); für andere war selbiges lediglich eine erweiterte Fortführung und Verkärrnerung des Me thodenstreits 54 . Als ihre Entuferung wird jedoch von manchem Autor das »linkslasti ge« Wiener Symposium (1975) empfunden, 55 ohne jedoch näher zu bezeichnen, wodurch die ‚Linkslastigkeit’ der anscheinend zwischen allen Stühlen sitzenden öster reichischen Exilforschung sich im Charakter auszeichne, wenn gleichzeitig als Grund lediglich angegeben wird, es habe „dem Exil der österreichischen Literatur mehr Platz [eingeräumt], als ihr gebührte“ (Bier 1983:348).
Nach dem Mauerfall wurde das neue ›Aufarbeitungsprinzip‹ noch einmal rückholend auf die Verantwortlichkeit der ehemaligen DDR angewandt, zugleich jedoch in glei cher Verfahrensweise auf die Schuldfrage und Vergangenheitsbewältigung der ›kom munistischen‹ Diktatur kopiert. Und es verstärkte wiederum die immer noch stillschweigende Annahme eines überhistorischen Totalitarismus, der eine antitotali täre und demokratisch begründete Entideologisierung der aktuellen Gesellschaft als Notwendigkeit voraussetzt und solchermaßen in der aktuellen Geschichtsbetrachtung als Folie weiterhin fortwirkt.56 Unter Beachtung dieser Prämisse wäre auch zu verste
52 s. z. B. die Gedenkveranstaltung des DDR Staatsrates mit Heinz Galinski aus Anlass des 50. Jah restages der Reichskristallnacht. An der anschließenden zentralen Gedenkfeier des Bundestages durfte der Repräsentant der jüdischen Opfer, Heinz Galinski, nicht sprechen, da er auch in der Volkskammer der DDR eine Rede gehalten hatte. Zum Ausgleich geriet die umstrittene Rede des Bundestagspräsi denten Philipp Jenninger in großen Stücken zum Entlastungsplädoyer der NS Mitläufer. | Zum Thema der ›kongruenten Divergenz‹ gespaltener Erinnerung vgl. Domansky 1993:178 196. 53 vgl. Bier 1983:348. 54 vgl. Trapp 1983:36 43. 55 vgl. als Überblick zum Streit um das Wiener Symposium und seine Hintergründe Seeber Weyrer, Ursula (1999): „ Die Österreichische Exilbibliothek im Kontext der österreichischen Exilforschung. Eine Material- sammlung “. In: Trans, Internet Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 7. September 1999; Maimann, He lene / Lunzer, Heinz (1977): Österreicher im Exil 1934 bis 1945. Protokoll des internationalen Symposiums zur Erforschung des österreichischen Exils von 1934-1945 . Abgehalten vom 3. bis 6. Juni 1975 in Wien. Hrsg. vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW)und der Dokumentationsstelle für neuere Österreichische Literatur, Wien. 56 Parallelen in der gegenseitigen Systemkritik sind vielleicht allein deshalb kaum besonders verwunder lich: Die konservative bürgerliche Auffassung von der zwangsläufigen Entgleisung jedweden sozialisti schen Gesellschaftsprojektes in einer totalitären Diktatur stalinistischer Prägung steht der Dimitrowschen Faschismusanalyse, in der der Faschismus notwendigerweise die höchste Ausdrucksform der Krisenbewältigung des imperialistischen kapitalistischen System sei, wie deren gewendete Schreck gestalt zur Seite.
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hen, dass bei aller methodologischer Begründung, das Thema der politischen Position des Literaten und Künstlers von vielen Wissenschaftlern in Deutschland teilweise bis heute, wenn auch nicht mehr als Tabu oder Meidungsgebot, so doch oft mit Unbeha gen behandelt wird.57 Es gilt dieses gleichermaßen, ob es sich nun um Exilanten und Überlebende des Holocaust, opportunistische Ehrgeizlinge (Rohe 58 ), zeitweilige NS Mitläufer (Nolde, Benn) oder Kompromisslose (Kollwitz, Huch) und Widerständler im Untergrund (Petersen, Weisenborn) handelt. Die meisten Arbeiten der westdeut schen Exilforschung – soweit sie sich nicht dem Methodenstreit der fachübergreifen den Verbundforschung von politologischen, soziologischen, sprach und literaturwissenschaftlichen Ansätzen in der Exilforschung widmen – lassen die politi sche oder rassische Kondition der Exilanten im Hintergrund und diskutieren künstle rische Unversöhnlichkeiten oder Migrationsprobleme. Dies rührt zum Teil daher, dass in der westdeutschen Wissenschaft – und besonders den der Ästhetik verpflichteten Bereichen – die Tendenz vorherrscht(e), den rein kunstimmanent denkenden Künst ler und Literaten zu favorisieren und ihm eine gleichermaßen rezipierende Wissen schaft beizugesellen. 59 War unpolitische Kunst der DDR Wissenschaft grundsätzlich suspekt, galt und gilt im demokratischen Rechtsstaat das unpolitische Praktizieren von Kunst per se bereits als freiheitlich demokratische Aktivität. Im Rahmen der zeit weisen Ausweitung und vorgeblichen Entdogmatisierung des Lukács’schen Realis musbegriffs nach 1956, wie sie vor allem von Garaudy (1963) eingefordert wurde, kommt es vereinzelt über den Umweg der weniger kategorischen kunsthistorischen
57 Dies gilt besonders für die Verantwortung des Schriftstellers zur Stellungnahme gegenüber den aktu ellen, selbst politischen Fragen seiner Zeit ein heute noch keineswegs selbstverständliches, und im konkreten Fall nicht immer unumstrittenes Prinzip. Streitfälle der neueren Vergangenheit wie die Po lemiken z. B. um Stellungnahmen von Martin Walser, Wolfgang Biermann, Christa Wolf, Peter Hand ke, Hans Magnus Enzensberger, Elfriede Jelinek und Günther Grass und die ungehaltene Reaktion von allgemeiner und fachwissenschaftlicher Presse mögen hierzu als Anschauung dienen. Die prinzi pielle Infragestellung der Glaubwürdigkeit ›moralischer Instanzen‹ aus Kunst und Literatur kann bei nahe als aktueller gesellschaftlicher Topos der Berliner Republik angesehen werden. Die üblich gewordene Implikation wissenschaftlicher Institute in den bundesdeutschen Meinungsstreit ruft dage gen keine diesbezüglichen Bedenken auf den Plan (s. Arbeitsmarktreform u. Rentendiskussion, Bewer tung krimineller Implikationen migrationstypischer Randgruppen, staatliche Maßnahmen zur Bekämpfung des islamitischen Terrorismus, etc.). 58 Da der Architekt Mies van der Rohe am Erscheinungsort dieser Arbeit ein bestimmtes Ansehen ge nießt, sei folgende Anmerkung erlaubt: Der oft als Emigrant bezeichnete Architekt Mies von der Rohe geht erst 1938 in die USA, nachdem die Nationalsozialisten sein Projekt für den deutschen Pavillon der Brüsseler Weltausstellung 1934 abgelehnt hatten und ab dem Folgejahr aufgrund der klassizistisch monumentalen Wende seine Bauprojekte als „undeutsch“ zu bezeichnen beginnen. Bereits seit 1931 zeigte er wenig Skrupel, sich gegenüber nationalsozialistischen Stellen als unauffällig, wenn nicht ko operationsbereit zu zeigen (Eintritt in die Reichskulturkammer 1934, Unterzeichnung eines Unterstüt zungsaufrufs für Adolf Hitler im Völkischen Beobachter am 18. August 1934, Eintritt in die NS Wohlfahrt 1934, Teilnahme an der Ausstellung „Deutsches Volk – Deutsche Arbeit“ 1934, etc.); vgl. Schulze » Bauhaus-Architekten und -Designer zwischen Alter und Neuer Welt «, bes. Anm. 6. In: Barron 1997:227. 59 vgl. dazu aus aktueller Sicht Schmidt, Thomas E.(2004): „ Die erschöpften Germanisten . Ein Krisenbericht “, 09.09.2004. In: Die Zeit 38, 2004, wo es zusammenfassend zum Münchner Germanistentag (12.09.2004) und im Rückblick auf die Entwicklung seit den 60er Jahren heißt: „Erst warfen sie sich dem Zeitgeist an den Hals, jetzt verkriechen sie sich. Die Literaturwissenschaftler haben die Ideologie abgeschüttelt, aber auch die Literatur aus den Augen verloren“ (http://www.zeit.de/2004/38/Germanistik?page=1).
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Exilforschung auch in der DDR zu einer sich der westlichen Auffassung annähernden Haltung, wenn wie bei Niekisch (1968) künstlerische Gegnerschaft zum Faschismus nicht mehr primär als i. e. S. politisch antifaschistisch motiviert gesehen wird, son dern aus einem der Entfaltungsfreiheit bedürfenden spontanen Gegensatz der Kunst zum faschistischen System. 60 Während die kunstgeschichtliche Exilforschung der letzten Jahrzehnte sich überwie gend der Emigration besonders deutscher und französischer bildender Künstler und dem Einfluss der deutschen und französischen Moderne auf die Kunst der Exilländer, also dem Kulturtransfer zu widmen scheint, 61 beschäftigt sich die literaturgeschichtli che wenig mit der literarischen Wechselwirkung. 62 Man nähert sich ansatzweise den Weimarer Wurzeln des Exils,63 unter Einsatz besonders der spanischen Auslandsger manistik in erheblicher Breite der Bedeutung des Spanischen Bürgerkrieges in der deutschen Exilliteratur,64 sowie einer verhaltenen Revision der Exilforschung. 65 Der größte Teil der Exilgermanistik schiebt die ›leidige Debatte‹ der 7oer um das exilische Selbstverständnis heutzutage meist beiseite, nur gelegentlich kommt man bei Sonder themen darauf zurück. 66 Rückt auch das in früheren Zeiten vernachlässigte Theater des Exils in den Blickpunkt, 67 so scheint doch ein neues Schwerpunktthema der deut schen Literaturforschung vor allem in den Nachkriegsbedingungen der sogenannten ›Remigration‹ zu liegen.68
60 vgl. Kuhirt 1969:610ff. 61 vgl. Held 1999; Barron, Eckmann, Holz und Jay 1997; Guilbaut 1997. 62 vgl. als Ausnahme Marín 2008. Leider ist die Diss. noch nicht im Buchhandel verfügbar. 63 vgl. Walter 2003a, Walter 2003b, Koch 1996, Trapp 1993d, Schütz 1977. 64 vgl. Marín 2008, Rosell 2006, Bannasch 2005, Schoeller 2004, Bannasch 2003, Ott 1999, Rosell 1999, Costa 1992, Pichler 1991; i. e. S. deutsche Beiträge erschienen dazu hauptsächlich in den 80er Jahren Held 1989, Christink 1986, Hackl 1986, Lentzen 1985, Mack 1984, Bleier 1983, Mühlen 1983, Bern ecker 1982, Geißler 1979, Walter 1967. Die eher politische denn literarische Rezeption in der DDR behandelt das Spanien Thema weniger als dies zu vermuten wäre; vgl. Schlenstedt 1981, Roy 1983, Herting 1966, Benndorff 1961, Kirsch 1961. Für Blindstellen in der Rezeption, besonders in Bezug auf Abweichler und Abtrünnige der KPD (SED) unter den Exilautoren und Interbrigadisten s. bes. Pichler 1991:42 62 und die zahlreichen Arbeiten von Kantorowicz, z. B. 1978b, ibid. in Durzak 1973:90 100. 65 vgl. Held 1999, Eckmann 1997, Jay 1997, Berthold 1996, Winckler 1995. Meine bisherige Durchsicht ergab jedoch keine spezifischen Ergebnisse gerade in Hinsicht auf die explizite Aufarbeitung der ehe maligen ‚Fontstellungen’ in der Exilforschung bis 1990. 66 So z. B. der Referenzfigur aus anderer Exilzeit Heinrich Heine; vgl. Pérez 2007, Steinecke 2007, Schiller 1999. 67 vgl. Jakobi 2005, Philipp 1996, Schubert 1996, Drewniak 1994, Schneider 1994, Freeden 1993, Nel son 1993, Diezel 1992; vor den 90ern dazu nur Wächter 1973. 68 Überwiegend als Beiträge in in Sammelbänden wie Lühe 2005, vgl. dort Fischer 2005, Spies 2005, Bollenberg 2005, Briegleb 2005, Haarmann 2005, Krenzlin 2005; Krohn 2002, Braese 2001, Krauss 2001, Peitsch 1991, Koebner 1990; in den 70er und 80er Jahren unter dem Aspekt der Wiederentde ckung der Exilautoren Mertz 1985, Koepke 1984, Broder 1979, Zeller 1973, Hay 1972; in den 60ern unter dem Aspekt der überwiegenden Abwesenheit des Exils und der Schwierigkeiten des Wideran knüpfens Bermann 1967, Kesten 1964, Kesten 1960.
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2.2.1.4 Limitierte Zielgruppenauswahl der Forschung Der Großteil der Grundlagenforschung oder Exilforschung i. w. S. widmet sich fast ausschließlich der intellektuellen Elite. Die historische Forschung betrachtet überwie gend einzelne akademische oder künstlerische Disziplinen wie Soziologen, Naturwis senschaftler, bildende Künstler, Architekten, Literaten, Verleger, Schauspieler, Musiker usw., das Interesse gilt dabei vor allem den großen Namen.69 Die wenigsten Untersuchungen legen es darauf an, ein Bild des Ganzen zu gewinnen, verbleiben auch dann meist jedoch in der biographischen Erfassung.70 Vereinzelte Ansätze, das Exil über die bekannten Namen hinaus darzustellen, bieten sich in Arbeiten zur Sozi algeschichte der Exilliteratur 71 oder der teilweise übergreifenden Exilforschung ande rer Bereiche wie z. B. der Kunstgeschichte.72 Die Orientierung an den großen Namen und/oder großen Werken der Exilliteratur er leichtert der Exilforschung zwar einerseits, zumindest auf einer oberen Beschrei bungsebene, die Erstellung einer Literaturgeschichte des Exils und bildet damit sicherlich „eine wichtige Grundlage zur akademischen Verständigung und nicht zu letzt auch zur Selbstverständigung“ (Winko 2002).73 Ob sie mithilfe eines solchen Deutungskanon aber zur umfassenden »Rekonstruktion literarischer Problemsituati onen« beitragen kann, ist einerseits aufgrund der Reduktion auf exponierte Vertreter, andererseits undank des im Falle der Exilliteratur gegebenen, verschärften ideologi schen Charakters zumindest ebenfalls fraglich, insbesondere dann, wenn jeder Kanon bereits die Tendenz in sich trägt, die Menge der Werke in kanonische und nichtkano nische zu scheiden, oder gar mit Hilfe der Zensur zum »Negativkanon verbotener Tex te« umzuprägen, sei es durch direkte Eingriffe oder ideologisch motivierte political correctnes .74
2.32.32.3 Die Deutsche Exilliteratur als EpochenbegriffEpochenbegriff:: Zwischen IIIdentitätssucheIdentitätssuche und ideologischem Pr Pro-o-o-o- gramm
2.3.1 Exilliteratur als Kunstepoche?
Die ersten Ansätze zu einer literaturwissenschaftlichen mit dem Exil stritten um die Einordnung der Exilliteratur als eigenständige literarische Epoche 75 und eigenständi
69 vgl. Jay 1997:326. 70 vgl. Röder 1983, Spalek 1976 (Bd.4), Sternfeld 1970. 71 vgl. Krohn 1999, Bormann 1983, Franzbach 1978, Wächter 1973. 72 vgl. Held 1999, Eckmann 1997. 73 vgl. Simone Winko: » Literarische Wertung und Kanonbildung «. In: Arnold 2002:599f. 74 vgl. Rainer Grübel: » Wert, Kanon und Zensur « In: ebd., 601 622. 75 vgl. Weiskopf 1948, Berendsohn 1946a.
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ger Begriff, 76 geführt überwiegend von Exilanten wie Weiskopf und Berendsohn, die bereits zur Zeit des Exils versucht hatten, die Identität der Exilliteratur zu bestimmen. Bemühen sich in der Nachkriegszeit auch Nicht Emigranten wie Lüth, den umstritte nen Begriff der Exilliteratur als integrales Element deutscher Literaturgeschichte ein zuführen, 77 wurde das Gros der ersten Exilforschung bis in die zweite Hälfte der 60er in der Regel von ehemaligen Flüchtlingen und Verbindungen des Exils bestritten. Al lein die Tatsache, dass es sich bei den implizierten Literaturwissenschaftlern meist um ehemalige Emigranten handelte, bewirkte bei einem Teil der westdeutschen Lite raturwissenschaft ein gewisses Misstrauen wegen des vermeintlich fehlenden Abstan des und Distanzgebotes jener Exilforscher, das hier als Voraussetzung adäquater Forschung angesehen wurde. Anders als in der DDR, wo das Exil als antifaschistisches und literarisches Modell und auch der Literaturwissenschaft als elementarer Bestan teil der wieder zusammenzuführenden Ströme deutscher Literatur galt, vermutete man im Westen hinter der Forschungsaktivität wohl einen parteiischen Versuch der literaturhistorischen Selbstausrufung. Eine allgemeine Akzeptanz des Exils als litera rischer Abschnitt der deutschen Literaturgeschichte kann erst gegen Anfang der 80er Jahre als relativ unbestritten konstatiert werden. Anders als zu den Anfangszeiten der Exilforschung scheinen sich in der Aktualität ei ne Vielzahl recht unterschiedlicher Ansätze und Institutionen der Erfassung und Ein gliederung der Exilliteratur in den gewöhnlichen Fortgang der deutschen Literaturgeschichte zu widmen, sei es in Form von Spezialsammlungen deutscher und österreichischer Bibliotheken, Forschungseinrichtungen und Stiftungen der Exilfor schung, unter denen sich in den letzten Jahren immer mehr auch solche befinden, die sich der fälligen Eingliederung des jüdischen Exils und seiner Autoren verwenden.78 Eine Fülle von Werken der In und Auslandsgermanistik zum Studium der deutschen Literaturgeschichte beinhalten heutzutage (manchmal leider vergriffene) Einzeldar stellungen oder Kapitel zur Literatur des Exils,79 und finden sich vielfach ergänzt durch generelle Online Publikationen zum Thema.80
76 Als Exempel aus der Literaturgeschichte gilt Berendsohn, insbesondere aber auch Lüth die Etablie rung des Terminus ›Emigrantenliteratur‹ durch Brandes (1872), dessen Verwendung indes insofern problematisch erschien, als er sich auf die Literatur der französischen Flüchtlinge in Deutschland aus Anlass der Französischen Revolution und des Thermidor bezog und somit nicht im eigentlichen Sinn einen Vorbildcharakter bot, sei es für die deutsche Literatur, sei es aus weltanschaulicher Nähe. Der li teraturhistorische Streit um den Begriff ›Emigrantenliteratur‹ oder ›Exilliteratur‹ erscheint mir jedoch als einer um des Kaisers Bart, oder besser, um kleindeutsche, literarische Gartenzäune, besonders da der Begriff in Bezug auf diverse europäische Literaturen schon im 19. Jh. gebräuchlich war, wie zahl reiche Anwendungen u. a. bei Heine, Marx, Kropotkin, Herzen und Mehring, belegen. 77 vgl. Lüth 1947. 78 vgl. Krohn 2001; s. hierzu auch Anmerkung 23 unter 2.1.3. 79 Die Exilliteratur im Gesamtzusammenhang der deutschen Literaturgeschichte behandeln Hernández 2003, Frenzel 1998, Maldonado 1997, Rötzer 1992, Martini 1992, Schoeps 1992, Bark 1988, Franke 1988, Stephan in Beutin 1985/1994, Rotermund in Žmegač 1984/1994, Grimminger 1983, Jané 1983, Schwarz 1983, Schlosser 1983, Rothe 1974, Mayer 1957, Lüth 1947; in spezifischer literaturgeschichtli cher Abhandlung der Exilliteratur Feilchenfeldt 1986, Trapp 1983a, Durzak 1973, Wegner 1968, Be rendsohn 1966, Weiskopf 1948, Berendsohn 1946. In den letzten zwei Jahrzehnten erschienen keine neuen Gesamtdarstellungen. In einigen Darstellungen, die deutsche Literatur unter dem Gesichtspunkt literarischer Tendenzen verhandeln, fehlt jedoch entweder jeder Hinweis auf die Literatur des Exils, auf
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2.3.2 Literaturgeschichtliches Exilverständnis – von der Einheit- lichkeit und vom Antifaschismus
Auf den ersten Blick, zumindest bis Mitte der 60er Jahre, muss der Versuch einer ers ten literaturwissenschaftlichen Charakterisierung der Exilliteratur als eigenständige literarische Einheit wie eine wissenschaftlich verlängerte Wiederholung der diesbe züglichen Exildebatten der Jahre 1933 1937 zwischen Toller, Franck, H. Mann, ter Braak, Sahl, Korrodi, Schwarzschild, Brecht, Kantorowicz und Th. Mann anmuten. 81 Besonders wenn nach fast zwanzig Jahren Literaturwissenschaft zum Thema, anläss lich der Frankfurter Ausstellung »Deutsche Exilliteratur 1933 1945« im Jahre 1965,82 Marcuses Sentenz aus den Anfangszeiten jener alten Debatte um die Situierung der Literatur des Exils
Das Gebilde, das man ›Emigrantenliteratur‹ nennt, ist […] nichts weiter als die Summe aller Bücher deutschschreibender Autoren, die seit Hitlers Krönung nicht mehr erscheinen können (Marcuse 1934). 83
in alter Frische erneut postuliert wird:
Der Begriff ›Exil-Literatur‹ täuscht [...] eine Einheitlichkeit und Gemeinsamkeit vor, die in Wirklichkeit gar nicht besteht (Berthold 1965:11).
So scheint es auf den ersten Blick kaum verwunderlich, wenn einer der Klassiker der der deutschen Literaturgeschichte im Jahre 1965 – und noch 1972 in unveränderter Form – in Bezug auf das Konzept der Einheitlichkeit eine strukturelle Analogie zwi schen der Literatur in und unter dem Dritten Reich und der Literatur in der Emigrati on herzustellen vermag:
[…] das literarische Leben in Deutschland bewahrte nach 1933 eine Vielfalt, die es so wenig auf eine einheitliche Formel bringen lässt wie die Literatur im Exil nicht als eine in sich geschlossene Einheit betrachtet werden kann. Nicht der Rang der dichterischen Begabung entschied 1933 über das Schicksal des Schriftstellers, sondern seine »Verfemung« im rassischen oder politischen Sinne; sei es als
ihren spezifischen Zusammenhang, bzw. auf die Realienbezüge bestimmter literarischer Tendenzen; vgl. Aust 2000, Glaser 1997. 80 vgl. hier besonders die verhältnismäßig sehr umfangreiche spanische Version der Wikipedia (18 S.) zu