Plenarprotokoll 12/222

Deutscher

Stenographischer Bericht

222. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abge Dr. Hans de With SPD 19128B ordneten Ortrun Schätzle 19113A Detlef Kleinert (Hannover) F.D.P. . . . 19129B Erweiterung und Abwicklung der Tages Dr. Ulrich Briefs fraktionslos ordnung 19113A 19130D

Absetzung der Punkte 6 und 18 von der Tagesordnungspunkt 3: Tagesordnung 19113 C Zweite und dritte Beratung des von den - Nachträgliche Ausschußüberweisungen 19113 C Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Begrüßung des Oberbürgermeisters der zur Änderung des Haushaltsgrund- Stadt Tuzla, Herrn Selim Beslagic, und sätzegesetzes und der Bundeshaus- seiner Begleitung 19191D haltsordnung (Drucksachen 12/6720, 12/7292) Tagesordnungspunkt 2: CDU/CSU 19132D a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Dr. Nils Diederich (Berlin) SPD 19135A wurfs einer Insolvenzordnung (Drucksa- Carl-Ludwig Thiele F.D.P. . . . . . 19135 D chen 12/2443, 12/7302) Die b) Zweite und dritte Beratung des von trich Austermann CDU/CSU 19136C, 19137A der Bundesregierung eingebrachten Carl-Ludwig Thiele F D P 19139A Entwurfs eines Einführungsgesetzes zur Insolvenzordnung (Drucksachen Dr. Nils Diederich (Berlin) SPD . . . 19139D 12/3803, 12/7303) Dr. PDS/Linke Liste . . 19141A Joachim Gres CDU/CSU 19114 B Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär Dr. Eckhart Pick SPD 19117 D BMF 19141 D

Rainer Funke F D P 19120A Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste . 19121A, Tagesordnungspunkt 4: 19131D Zweite und dritte Beratung des von der Dr. BÜNDNIS 90/DIE Bundesregierung eingebrachten Ent- GRÜNEN 19122C wurfs eines Gesetzes zur Durchführung der Richtlinie Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bun- des Rates vom 13. Juni 1990 desministerin BMJ 19123 B über Pauschalreisen (Drucksachen 12/5354, 12/7334) Hermann Bachmaier SPD 19124 D Klaus-Heiner Lehne CDU/CSU 19143 B Dr. Freiherr Wolfgang von Stetten CDU/ CSU 19126C Dr. Eckhart Pick SPD 19144 A II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Detlef Kleinert (Hannover) F.D.P. . . . 19144D — Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Hermann Bachmaier, Dr. Hans de With SPD 19145 B Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiteren Angela Stachowa PDS/Linke Liste . . 19146A Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Dr. Rolf Olderog CDU/CSU 19146 C Straf- rechtsänderungsgesetzes — Zweites Carl Ewen SPD 19147 D Gesetz zur Bekämpfung der Umwelt- , Parl. Staatssekretär BMJ 19148D kriminalität (Drucksachen 12/376, 12/7300) Carl-Ludwig Thiele F.D.P. . . . . . 19149A, C Andreas Schmidt (Mülheim) CDU/CSU 19167A Dr. Rolf Olderog CDU/CSU 19149D, 19150A, C Hermann Bachmaier SPD 19171A Dr. F.D.P. 19150B Jörg van Essen F.D.P. 19172 C CDU/CSU 19151 C Ingeborg Philipp PDS/Linke Liste . . . 19173B Marita Sehn F.D.P. (Erklärung nach § 31 Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) fraktions- GO) 19152A los 19174A Rainer Funke, Parl. Staatssekretär BMJ 19174 C Zusatztagesordnungspunkt 1: Dr. Axel Wernitz SPD 19175 C — Zweite und dritte Beratung des von der Dr. Karl-Heinz Klejdzinski SPD . . . 19177A Bundesregierung eingebrachten Ent- 19177B wurfs eines Gesetzes zur Durchsetzung Horst Eylmann CDU/CSU der Gleichberechtigung von Frauen Hermann Bachmaier SPD 19178B und Männern (Zweites Gleichberechti- gungsgesetz) (Drucksache 12/5468) Tagesordnungspunkt 19: — Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ilse Janz, Hanna Wolf, Überweisungen im vereinfachten Verfah- weiteren Abgeordneten und der Frak- ren tion der SPD eingebrachten Entwurfs a) Erste Beratung des von der Bundesre- eines Gesetzes zur Gleichstellung von gierung eingebrachten Entwurfs eines Frau und Mann (Gleichstellungsgesetz) Gesetzes zu dem Übereinkommen vom (Drucksachen 12/5717, 12/7333) 7. November 1991 zum Schutz der CDU/CSU 19152D Alpen (Drucksache 12/7268) Dr. Edith Niehuis SPD . . . . 19153D, 19158D b) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink F.D.P. . 19156A Gesetzes zur Aufhebung des Rabattge- Petra Bläss PDS/Linke Liste 19157 D setzes und der Verordnung zur Durch- führung des Rabattgesetzes (Drucksa- Jürgen Koppelin F.D.P. 19158 D che 12/7271) Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast SPD . . . 19159A c) Erste Beratung des von der Bundesre- Dr. Maria Böhmer CDU/CSU 19159B gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Errichtung einer Hanna Wolf SPD 19161 A Bundesanstalt für Landwirtschaft und Dr. , Bundesministerin Ernährung und zur Änderung von Vor- BMFJ 19163B, 19166A schriften auf den Gebieten der Land- und Ernährungswirtschaft (Drucksache Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/ 12/7133) CSU 19164C d) Erste Beratung des von der Bundesre- Jürgen Koppelin F.D.P. 19164 D gierung eingebrachten Entwurfs eines Antje-Marie Steen SPD 19166A Gesetzes zu dem Abkommen vom 5. April 1993 zwischen der Bundesrepu- Namentliche Abstimmung 19166 C blik Deutschland und der Republik Lett- land über den Luftverkehr (Drucksache Ergebnis 19169A 12/7189) e) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Tagesordnungspunkt 5: Gesetzes zu dem Übereinkommen vom — Zweite und dritte Beratung des von der 17. März 1992 zum Schutz und zur Bundesregierung eingebrachten Ent- Nutzung grenzüberschreitender Was- wurfs eines ... Strafrechtsänderungs- serläufe und internationaler Seen (Ge- gesetzes — Zweites Gesetz zur Bekämp- setz zu dem Übereinkommen zum fung der Umweltkriminalität — (Druck- Schutz grenzüberschreitender Wasser- sache 12/192) läufe) (Drucksache 12/7190) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 III f) Beratung des Antrags der Gruppe der d) Beratung der Beschlußempfehlung PDS/Linke Liste Änderung des Bundes- des Petititonsausschusses: Sammel- entschädigungsgesetzes (Drucksache übersicht 147 zu Petitionen (Druck 12/7256) sache 12/7254) 19180C

g) Beratung des Antrags der Abgeordne- Tagesordnungspunkt 1 ten Ulrike Mehl, Michael Müller (Düs- seldorf), weiterer Abgeordneter und der Fragestunde (Fortsetzung) Fraktion der SPD: Erhaltung der biolo- — Drucksachen 12/7295 vom 15. April gischen Vielfalt und Schutz gefährdeter 1994 und 12/7327 vom 21. April 1994 — Tropenholzarten (Drucksache 12/6420) Leistungen der Bundesregierung für Hoch- h) Beratung des Antrags der Abgeordne- wasserschäden in Thüringen und Sachsen ten Herbert Werner (Ulm), Monika -Anhalt Brudlewsky und weiterer Abgeordne- ter: Ausbau der sozialpolitischen Maß- DringlAnfr 21.04.94 Drs 12/7327 nahmen zur Förderung der Bereitschaft Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/DIE zur Annahme ungeborener Kinder in GRÜNEN Konfliktlagen und zur Förderung der Antw BMin BK 19181B Familie (Drucksache 12/7098) ZusFr Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 19181 D in Verbindung mit ZusFr Dr. SPD 19182A Zusatztagesordnungspunkt 2: ZusFr Fritz Rudolf Körper SPD 19182 B Weitere Überweisungen im vereinfachten ZusFr SPD 19182 D Verfahren ZusFr Hartmut Büttner (Schönebeck) CDU/ Beratung des Antrags des Bundesmini- CSU 19183A steriums der Finanzen: Einwilligung ZusFr Manfred Hampel SPD 19183 B gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushalts- ordnung zur Veräußerung des bundes- ZusFr Clemens Schwalbe CDU/CSU . 19183 C eigenen Grundstückes in München an ZusFr Gudrun Weyel SPD 19183D- der Heidemannstraße (Drucksache 12/7146) 19179C ZusFr Heinz-Jürgen Kronberg CDU/CSU 19184 B ZusFr Horst Kubatschka SPD 19184 C Tagesordnungspunkt 20: ZusFr Dr. Sigrid Hoth F.D.P. . . . . . 19184 D Abschließende Beratungen ohne Aus- sprache ZusFr Uwe Lambinus SPD 19185A a) Zweite und dritte Beratung des von der ZusFr Dr. Karl-Heinz Klejdzinski SPD . 19185B Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Milderung der Auswirkungen städtebauli- Gesetzes zur Übernahme der Beamten cher Entwicklungsmaßnahmen auf Land- und Arbeitnehmer der Bundesan- und Forstwirte stalt für Flugsicherung (Drucksachen MdlAnfr 41 12/6372, 12/7085, 12/7200) Dr. Walter Hitschler F.D.P. b) Zweite Beratung und Schlußabstim- Antw BMin'in Dr. mung des von der Bundesregierung ein- BMBau 19185C gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu ZusFr Dr. Walter Hitschler F.D.P. . . . 19186A dem Übereinkommen vom 21. Dezem- ber 1979 über die Anerkennung von ZusFr Lisa Peters F.D.P 19186 B Studien, Diplomen und Graden im Hochschulbereich in den Staaten der Anwendung der §§ 165 ff Baugesetzbuch; europäischen Region (Drucksachen Auswirkungen auf landwirtschaftliche 12/4077, 12/7217) Grundstücke c) Beratung der Beschlußempfehlung und MdlAnfr 42, 43 des Berichts des Ausschusses für Frauen Peter Götz CDU/CSU und Jugend zu der Unterrichtung Antw BMin'in Dr. Irmgard Schwaetzer durch die Bundesregierung: Zweiter BMBau 19186C, 19187B Bericht der Bundesregierung an den Deutschen Bundestag über die Gleich- ZusFr Peter Götz CDU/CSU 19186D, 19187 C stellungsstellen in Bund, Ländern und ZusFr Lisa Peters F.D.P Kommunen (Drucksachen 12/5588, 19188 A 12/7066) ZusFr Dr. Walter Hitschler F.D.P. . . . 19188B IV Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Erleichterung des Dachgeschoßausbaus b) zu dem Antrag der Abgeordneten MdlAnfr 48, 49 Heide Mattischeck, Robe rt Antretter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Hans Raidel CDU/CSU der SPD: Förderung des Fahrradver- Antw BMin'in Dr. Irmgard Schwaetzer kehrs (Drucksachen 12/4816, 12/2493, BMBau 19188C, D 12/5725) ZusFr Dr. Walter Hitschler F.D.P. . . . . 19189A Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU 19202A ZusFr Dr. Karl-Heinz Klejdzinski SPD . . 19189B Norbert Otto (Erfurt) CDU/CSU . . . 19203B Heide Mattischeck SPD 19204 B Umsetzung des Investitionserleichterungs- F D P. 19206 C und Wohnbaulandgesetzes durch die Län-- der Dr. Klaus-Dieter Feige BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 19207 B MdlAnfr 50, 51 Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) frak Werner Dörflinger CDU/CSU tionslos 19207 D Antw BMin'in Dr. Irmgard Schwaetzer BMBau 19189C, 19190C Tagesordnungspunkt 8: ZusFr Werner Dörflinger CDU/CSU . . 19189D, Beratung des Antrags der Abgeordne- 19190 C ten Antje-Marie Steen, Karl Hermann ZusFr Horst Kubatschka SPD 19190B Haack (Extertal), weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der SPD: Eindäm- ZusFr Peter Götz CDU/CSU 19190D mung der mit der Tierseuche Rinder- ZusFr Dr. Walter Hitschler F.D.P. . . . 19191 A wahnsinn verbundenen Gesundheits- ZusFr Eckart Kuhlwein SPD 19191 B gefahren für den Menschen (Bovine Spongiforme Enzephalopathie) (Druck- sache 12/7154) Zusatztagesordnungspunkt 3: in Verbindung mit Aktuelle Stunde Zusatztagesordnungspunkt 4: Lage in Gorazde und Hilfe der Bundes- regierung für die bedrohten Men- Beratung des Antrags der Fraktionen schen der CDU/CSU und F.D.P.: Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/DIE Vorbeugende Maßnahmen gegen das GRÜNEN 19191D Risiko der Übertragung der Rinderseu- che BSE (Bovine Spongiforme Enze- CDU/CSU 19192D phalopathie) auf den Menschen (Druck- Dr. Eberhard Brecht SPD 19193D sache 12/7322) Dr. F.D.P. 19194 C Antje-Marie Steen SPD 19208D Angela Stachowa PDS/Linke Liste . . 19195B Editha Limbach CDU/CSU 19211B Dr. Dieter Thomae F.D.P. 19212D Ursula Seiler-Albring, Staatsminister AA 19196B Bartholomäus Kalb CDU/CSU 19213B SPD 19197 B Dr. PDS/Linke Liste . . . 19213D Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . 19198B Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) fraktions Ulrich Irmer F.D.P. 19199 A los 19214D Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD . . . 19199D Meinolf Michels CDU/CSU 19215A Dr. Hans-Hinrich Knaape SPD 19216A Andreas Schmidt (Mülheim) CDU/CSU 19200D , Bundesminister BMG . . 19217A Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Erklärung nach § 30 GO) . . 19201 C Tagesordnungspunkt 9: Beratung des Berichts des Ausschusses Tagesordnungspunkt 7: für Frauen und Jugend gemäß § 62 Beratung der Beschlußempfehlung und Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem des Berichts des Ausschusses für Ver- Antrag der Abgeordneten Dr. Marliese kehr Dobberthien, Hanna Wolf, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der SPD: a) zu dem Antrag der Abgeordneten Kündigungsschutz und Lohnfortzah- Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk lung für Hausangestellte im Rahmen Fischer (Hamburg), weiterer Abge- des Mutterschutzgesetzes (Drucksa- ordneter und der Fraktion der CDU/ chen 12/3625, 12/7316) CSU sowie der Abgeordneten Ekke- Maria Eichhorn CDU/CSU 19219D hard Gries, Horst Friedrich, Roland Dr. Marliese Dobberthien SPD 19221B Kohn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Höhere Dr. Sigrid Semper F D P 19222 C Attraktivität des Fahrradverkehrs Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . 19223 C Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 V

Tagesordnungspunkt 10: c) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines a) Erste Beratung des von dem Abgeordne- Ausführungsgesetzes zu dem Überein- ten Dr. Ilja Seifert und der Gruppe der kommen vom 13. Januar 1993 über das PDS/Linke Liste eingebrachten Ent- Verbot der Entwicklung, Herstellung, wurfs eines Ersten Gesetzes zur Ände- Lagerung und des Einsatzes chemischer rung des Altschuldenhilfe-Gesetzes (Er- Waffen und über die Vernichtung sol- stes Altschuldenhilfe - Änderungsge- cher Waffen (Ausführungsgesetz zum setz) (Drucksache 12/7054) Chemiewaffenübereinkommen) b) Beratung des Antrags der Abgeordne- (Drucksache 12/7207) ten Achim Großmann, Iris Gleicke, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der Peter Kurt Würzbach CDU/CSU 19240D SPD: Novellierung des Altschuldenhil- SPD 19242 C fegesetzes (Drucksache 12/6746) Dr. Olaf Feldmann F.D.P. 19244 A Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 19224 C Rolf Rau CDU/CSU 19225D Helmut Schäfer, Staatsminister AA . . 19245A Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 19226B, 19230D Andrea Lederer PDS/Linke Liste . . . 19246 D Dr. Ulrich Janzen SPD 19227 D Dr. Christian Ruck CDU/CSU 19247 C Lisa Peters F.D.P. 19229 D Freimut Duve SPD 19249A Dr. Walter Hitschler F.D.P. . . . . . 19231 A Joachim Günther, Parl. Staatssekretär Tagesordnungspunkt 13: BMBau 19231C Achim Großmann SPD 19232 C a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Änderung von Tagesordnungspunkt 11: Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Beratung des Antrags der Abgeordne- Seeschiffahrt (Drucksachen 12/6153, ten Vera Wollenberger, Dr. Klaus-Dieter 12/6859) Feige, Ingrid Köppe, weiterer Abgeord- b) Beratung der Beschlußempfehlung und neter und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE des Berichts des Ausschusses für Ver- GRÜNEN: Gleichstellung von Men- kehr zu dem Antrag der Abgeordneten schen mit Behinderungen (Drucksache Dietmar Schütz, Dr. , 12/6981) weiterer Abgeordneter und der Fraktion Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE der SPD: Notwendige Maßnahmen zur GRÜNEN 19233A Vermeidung von Öltankerunfällen und CDU/CSU 19234 D deren katastrophalen Folgen für Mensch und Natur Regina Kolbe SPD 19235 C zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Dr. Eva Pohl F.D.P. 19236D Maria Böhmer, , weite- Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 19237 D rer Abgeordneter und der Fraktion der Roswitha Verhülsdonk, Parl. Staatssekretä- CDU/CSU sowie der Abgeordneten rin BMFuS 19238 C Manfred Richter (Bremerhaven), Horst Friedrich, weiterer Abgeordneter und Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste . . . . 19239A der Fraktion der F.D.P.: Prävention und Bekämpfung von Öltankerunfällen Tagesordnungspunkt 12: zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. a) Erste Beratung des von der Bundesre- , Dr. Barbara Höll und der gierung eingebrachten Entwurfs eines Gruppe der PDS/Linke Liste: Verbesse- Gesetzes zu dem Übereinkommen vom rung der Sicherheit von Tankschif- 15. Dezember 1992 über Vergleichs- fen zum Schutz von Menschen und und Schiedsverfahren innerhalb der der Umwelt (Drucksachen 12/4267, KSZE (Drucksache 12/7137) 12/4307, 12/5265, 12/6736) 19249D b) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Tagesordnungspunkt 14: Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 13. Januar 1993 über das Verbot der a) Erste Beratung des von der Bundesre- Entwicklung, Herstellung, Lagerung gierung eingebrachten Entwurfs eines und des Einsatzes chemischer Waffen Gesetzes zur Änderung schuldrechtli- und über die Vernichtung solcher Waf- cher Bestimmungen im Beitrittsgebiet fen (Gesetz zum Chemiewaffenüberein- (Schuldrechtsänderungsgesetz) kommen) (Drucksache 12/7206) (Drucksache 12/7135) VI Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 b) Erste Beratung des von dem Abgeordne- Anlage 5 ten Dr. Wolfg ang Ullmann und der Zu Protokoll gegebene Reden zum Tages- Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ordnungspunkt 13 a und b (a — Gesetzent- eingebrachten Entwurfs eines Geset- wurf zur Änderung von Rechtsvorschriften zes zum Schutz der vertraglichen Nut- auf dem Gebiet der Seeschiffahrt, b — zungen von Erholungsgrundstücken Beschlußempfehlung zu den Anträgen: (Drucksache 12/7229) 19250 C Notwendige Maßnahmen zur Vermeidung von Öltankerunfällen und deren katastro- Nächste Sitzung 19250 D phalen Folgen für Mensch und Natur, Prä- vention und Bekämpfung von Öltankerun- fällen, Verbesserung der Sicherheit von Berichtigung 19250 Tankschiffen zum Schutz von Menschen und der Umwelt)

Anlage 1 Heinz-Günter Bargfrede CDU/CSU . . . 19254* B

Liste der entschuldigten Abgeordneten . 19251* A Dr. Margrit Wetzel SPD 19255* B Dr. Maria Böhmer CDU/CSU 19257* A Anlage 2 Manfred Richter (Bremerhaven) F.D.P. 19258* D Zu Protokoll gegebene Rede zum Zusatzta- Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . 19260* A gesordnungspunkt i (Entwurf eines Gleich- berechtigungsgesetzes und Entwurf eines , Parl. Staatssekretär Gleichstellungsgesetzes) BMV 19260* B Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 19251* C Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord- Anlage 3 nungspunkt 14 (Entwurf Schuldrechtsände- Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten rungsgesetz und Gesetzentwurf zum , Ma ria Eichhorn, Ilse Schutz der vertraglichen Nutzungen von Falk, (Unna), Dr. Sissy Geiger Erholungsgrundstücken) (Darmstadt), Elisabeth Grochtmann, , Ma ria Anna Hiebing, Susanne Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bun- Jaffke, Karin Jeltsch, Eva-Maria Kors, Dr. desministerin BMJ 19261* D , Sigrun Löwisch, Dr. Michael Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/DIE Luther, Ursula Männle, Claire Marienfeld, GRÜNEN 19262* C , Claudia Nolte, Rosemarie Priebus, Erika Reinhardt, Dr. Michael Luther CDU/CSU 19263* A (Quickborn), Ortrun Schätzle, Dr. (Leipzig), Trudi Schmidt (Spiesen), Hans-Joachim Hacker SPD 19264* C Bärbel Sothmann, Dr. Rita Süssmuth, Dr. Roswitha Wisniewski, Dr. Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste 19265* A (alle CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf des Zweiten Gleichberechtigungs- gesetzes und über den Entwurf des Gleich- Anlage 7 stellungsgesetzes (Zusatztagesordnungs- Einführung einer europaweiten Anschnall- punkt 1) 19252' C pflicht in Schulbussen MdlAnfr 17 — Drs 12/7295 — Anlage 4 Verena Wohlleben SPD Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung SchrAntw StSekr Dr. Wilhelm Knittel über den Entwurf des Zweiten Gleichbe- BMV 19266* B rechtigungsgesetzes und über den Entwurf des Gleichstellungsgesetzes (Zusatztages- ordnungspunkt 1) Anlage 8 Dr. Michaela Blunk (Lübeck) F.D.P. . . 19253* A Bergung der in der Ostsee lagernden Altla- sten, z. B. chemischer Kampfstoffe Claus Jäger CDU/CSU 19253* B MdlAnfr 18, 19 — Drs 12/7295 — Jürgen Koppelin F.D.P. 19253* B Dr. Karl-Heinz Klejdzinski SPD Dieter Julius Cronenberg (Arnsberg) und SchrAntw StSekr Dr. Wilhelm Knittel Josef Grünbeck F D P 19254* A BMV 19266* C Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 VII

Anlage 9 Anlage 15 Stand des geplanten Verkaufs der Regio- Finanzierung von Pressediensten; Verbrei- nalbus Oberbayern GmbH; Markttest und tung von Themen aus dem Ferenczy- Angebote zur geplanten Veräußerung der Feature Bundesanteile an der Rhein-Main-Donau MdlAnfr 56, 57 — Drs 12/7295 — AG Hans Wallow SPD MdlAnfr 20, 21 — Drs 12/7295 — Horst Kubatschka SPD SchrAntw StSekr Dieter Vogel BK . . . . 19269* D SchrAntw StSekr Dr. Wilhelm Knittel BMV 19266* D Anlage 16 Widersprüchliche Aussagen von Staatsmi- Anlage 10 nister zum Fall „Myko- Entsorgungsmöglichkeiten und -praxis der nos" Chemietanker auf dem Rhein und anderen MdlAnfr 58 — Drs 12/7295 — Bundeswasserstraßen Ingrid Köppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

MdlAnfr 22, 23 — Drs 12/7295 — SchrAntw StSekr Dieter Vogel BK . . . . 19270* B Dietmar Schütz SPD SchrAntw StSekr Dr. Wilhelm Knittel BMV 19267* B Anlage 17 Hilfe für die verfolgten Christen in der Anlage 11 Türkei

Auswirkungen der Deregulierung bei der MdlAnfr 59, 60 — Drs 12/7295 — Bauaufsicht F.D.P.

MdlAnfr 44, 45 — Drs 12/7295 — SchrAntw StMin'in Ursula Seiler-Albring Thomas Mollnar CDU/CSU AA 19270* C SchrAntw BMin'in Dr. Irmgard Schwaetzer BMBau 19267* C Anlage 18 Beteiligung an der Finanzierung Anlage 12 Deutsche des ukrainischen Energiebedarfs durch die Überarbeitung von Landesbauordnungen Weltbank im Zusammenhang mit der Durchführung des Investitionserleichterungs- und Wohn- MdlAnfr 61 — Drs 12/7295 — baulandgesetzes Siegrun Klemmer SPD

MdlAnfr 46, 47 — Drs 12/7295 — SchrAntw StMin'in Ursula Seiler-Albring Jürgen Sikora CDU/CSU AA 19271* B SchrAntw BMin'in Dr. Irmgard Schwaetzer BMBau 19268* A Anlage 19 Unterstützung der EU-Beitrittsanträge von Anlage 13 Ungarn und Polen Erarbeitung und Veröffentlichung von Mu- MdlAnfr 62, 63 — Drs 12/7295 — stereinführungserlassen zur Erleichterung SPD und Beschleunigung von Investitionen ge- Gernot Erler mäß Investitionserleichterungs- und Wohn- SchrAntw StMin'in Ursula Seiler-Albring baulandgesetz AA 19271* C

MdlAnfr 52, 53 — Drs 12/7295 —

Dr. - Ing. Dietmar Kansy CDU/CSU Anlage 20 SchrAntw BMin'in Dr. Irmgard Schwaetzer Unterstützung der in Rumänien lebenden BMBau 19268* C Deutschen in den Jahren 1990 bis 1993; Entwicklung der Beziehungen mit der Anlage 14 Republik Moldawien seit deren Unabhän- Finanzierung des Dienstes „Medien-Kri- gigkeit in den Bereichen Wissenschaft, Kul- tik"; Verbreitung des Kommentardienstes tur und Wirtschaft der Agentur „Presse-Plan" MdlAnfr 64, 65 — Drs 12/7295 —

MdlAnfr 54, 55 — Drs 12/7295 — Dr. Egon Jüttner CDU/CSU Ludwig Eich SPD SchrAntw StMin'in Ursula Seiler-Albring SchrAntw StSekr Dieter Vogel BK . . . . 19269* B AA 19272* B VIII Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Anlage 21 Anlage 26 Mißbräuchliche Verwendung von an die Einstufung der PDS als linksextremistische Türkei geliefertem Militärmaterial zur Be- Partei kämpfung der Kurden MdlAnfr 74 — Drs 12/7295 — MdlAnfr 66, 67 — Drs 12/7295 — Jürgen Augustinowitz CDU/CSU SPD SchrAntw PStSekr Dr. Horst Waffenschmidt SchrAntw StMin'in Ursula Seiler-Albring BMI 19274* A AA 19273* A

Anlage 27 Anlage 22 Mögliche Formen einer grenzüberschrei- Vertragswidriger Einsatz von an die Türkei tenden Zusammenarbeit zwischen Gebiets- gelieferten Waffen; Erkenntnisse des Bun- körperschaften Deutschlands und Frank- desnachrichtendienstes reichs, insbesondere in Hinblick auf eine koordinierte Raumplanung MdlAnfr 68 — Drs 12/7295 — MdlAnfr 75, 76 — Drs 12/7295 — Norbert Gansel SPD Marion Caspers-Merk SPD SchrAntw StMin'in Ursula Seiler-Albring SchrAntw PStSekr Dr. Horst Waffenschmidt AA 19273* C BMI 19275* B

Anlage 23 Anlage 28 Weitergabe der Berichte des Auswärtigen Veröffentlichung des Sicherheitsüberprü- Amtes über die Lage in einzelnen Ländern fungsgesetzes im Bundesgesetzblatt; Erlaß an Bundestagsabgeordnete der vorgesehenen Allgemeinen Verwal- tungsvorschriften MdlAnfr 69, 70 — Drs 12/7295 — Detlev von Larcher SPD MdlAnfr 77, 78 — Drs 12/7295 — Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD SchrAntw StMin'in Ursula Seiler-Albring AA 19273* D SchrAntw PStSekr Dr. Horst Waffenschmidt BMI 19275* D

Anlage 24 Anlage 29 Kostenforderungen an ausländische Dele- gationen beim Gipfeltreffen in Detroit Ratifizierung der neuen Seerechtsverein- barungen; Festlegung von Hamburg als MdlAnfr 71, 72 — Drs 12/7295 — Standort des Internationalen Seegerichts- Josef Hollerith CDU/CSU hofes SchrAntw StMin'in Ursula Seiler-Albring MdlAnfr 79, 80 — Drs 12/7295 — AA 19274* B Klaus Harries CDU/CSU SchrAntw PStSekr Rainer Funke BMJ . . 19276 * B

Anlage 25 Umsetzung des Ausstattungshilfe-Pro- Anlage 30 gramms für Entwicklungsländer 1991 bis Haftentschädigungsanträge von ehemali- 1994 gen politischen Häftlingen in der früheren DDR; Anzahl der unerledigten Anträge MdlAnfr 73 — Drs 12/7295 — Ingrid Köppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN MdlAnfr 81 — Drs 12/7295 — Claus Jager CDU/CSU SchrAntw StMin'in Ursula Seiler-Albring AA 19274*C SchrAntw PStSekr Rainer Funke BMJ . . 19277 * A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19113

222. Sitzung

Bonn, den 21. April 1994

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und Weiterhin ist vereinbart worden, den Tagesord- Herren! Ich eröffne die Sitzung und gratuliere — wenn nungspunkt 6 — Beratung der Gesetzentwürfe zur sie auch nicht anwesend ist --nachträglich ganz Doppelstaatsangehörigkeit — und den Tagesord- herzlich unserer Kollegin Ortrun Schätzle. Sie hat nungspunkt 18 — Großforschungseinrichtungen — gestern ihren 60. Geburtstag gefeiert. Im Namen abzusetzen. Außerdem weise ich darauf hin, daß zu unseres Hauses herzliche Glückwünsche und Dank Tagesordnungspunkt 15 — Unterzeichnung der für die Arbeit! GATT-Schlußakte — eine Regierungserklärung ab- gegeben wird. (Beifall) Des weiteren mache ich auf nachträgliche Aus- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die schußüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktli- verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die ste aufmerksam: Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktli- ste aufgeführt: Der in der 214. Sitzung des Deutschen Bundestages am 4. 3. 1994 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem 1. — Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung Ausschuß für Wirtschaft zur Mitberatung überwiesen werden: eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchsetzung Gesetzentwurf der Bundesregierung zur abschließenden der Gleichberechtigung von Frauen und Männern (Zwei- Erfüllung der verbliebenen Aufgaben der Treuhandanstalt tes Gleichberechtigungsgesetz — 2. G1eiBG) — Drucksa- — Drucksache 12/6910 — chen 12/5468, 12/7333 — Der in der 208. Sitzung des Deutschen Bundestages am 3. 2. 1994 — Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ilse überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Janz, Hanna Wolf, Dr. Marliese Doberthien, weiteren Haushaltsausschuß gem. § 96 GO überwiesen werden: Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gleichstellung von Frau und Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P.

Mann (Gleichstellungsgesetz) — Drucksachen 12/5717, zur Neuordnung des Postwesens und der Telekommunika- 12/7333 — tion (Postneuordnungsgesetz) — Drucksache 12/6718 —

2. Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren (Ergän- Der in der 206. Sitzung des Deutschen Bundestages am 21. 1. zung zu TOP 19): 1994 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträg- lich dem Haushaltsausschuß gem. § 96 GO überwiesen wer- Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen: den: Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsord- Gesetzentwurf der Abgeordneten Dr.-Ing. Dietmar Kansy, nung zur Veräußerung des bundeseigenen Grundstückes in Jürgen Sikora, Werner Dörflinger, weiteren Abgeordneten München an der Heidemannstraße — Drucksache 12/7146 — und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Walter Hitschler, Jörg Ganschow, Lisa Peters, Hans 3. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE Schuster und der Fraktion der F.D.P. zur Förderung des GRÜNEN: Lage in Gorazde und Hilfe der Bundesregierung Wohnungsbaues (Wohnungsbauförderungesetz 1994 — Wo- für die bedrohten Menschen BauFördG 1994) — Drucksache 12/6616 —

4. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und Der in der 196. Sitzung des Deutschen Bundestages am 2. 12. F.D.P.: Vorbeugende Maßnahmen gegen das Risiko der 1993 überwiesene nachfolgende Antrag soll nachträglich dem Übertragung der Rinderseuche BSE (Bovine Spongiforme Verteidigungsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden: Enzephalopathie) auf den Menschen — Drucksache Antrag der Abgeordneten Uwe Lambinus, Siegfried Vergin, 12/7322 — Siegrun Klemmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Unrechtsurteile wegen „Fahnenflucht/Desertion", Zugleich soll von der Frist für den Beginn der „Wehrkraftzersetzung" oder „Wehrdienstverweigerung" Beratung, soweit dies bei einzelnen Punkten der während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Tagesordnung und der Zusatzpunktliste erforderlich — Drucksache 12/6220 — ist, abgewichen werden. Der in der 216. Sitzung des Deutschen Bundestages am 10. 3. 1994 überwiesene nachfolgende Antrag soll nachträglich dem Die heutige Fragestunde wird nach Tagesord- Verteidigungsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden: nungspunkt 5 — Umweltkriminalität — aufgerufen. Daran anschließend findet die von der Gruppe BÜND- Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann, Konrad Weiß (Berlin) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: NIS 90/DIE GRÜNEN verlangte Aktuelle Stunde Rehabilitierung, Entschädigung und Versorgung für die statt. Opfer der NS-Militärjustiz — Drucksache 12/6418 — 19114 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Der in der 216. Sitzung des Deutschen Bundestages am 10. 3. vorhaben — daran sei heute erinnert — gehen auf das 1994 überwiesene nachfolgende Antrag soll nachträglich dem Jahr 1978 zurück, als der damalige Justizminister Ausschuß für Gesundheit zur Mitberatung überwiesen wer- den: Vogel eine Insolvenzrechtskommission einsetzte. Die vielen Entwürfe und Konzepte, die Fülle der Beiträge Antrag der Abgeordneten Wolf-Michael Catenhusen, Dr. Helga Otto, , weiterer Abgeordneter und aus Wissenschaft und Wirtschaft, die seitdem zu dem der Fraktion der SPD: Förderung der Industrieforschung in Thema Insolvenzrechtsreform entstanden sind, sind den neuen Ländern — Drucksache 12/6745 — auch für Experten nicht mehr zu überblicken. Der in der 202. Sitzung des Deutschen Bundestages am 13. 1. 1994 überwiesene nachfolgende Entschließungsantrag soll Nach einem ersten Anlauf in der vergangenen nachträglich dem Ausschuß für Gesundheit zur Mitberatung Legislaturperiode hat die Bundesregierung im Jahr überwiesen werden: 1992 den heute hier zur Schlußberatung anstehenden Entschließungsantrag der Abgeordneten Josef Vosen,- Ange- Gesetzentwurf vorgelegt. Dieser Gesetzentwurf soll lika Barbe, Holger Bartsch, weiterer Abgeordneter und der die Konkursordnung, die Vergleichsordnung und die Fraktion der SPD zu der Unterrichtung durch die Bundesre- Gesamtvollstreckungsordnung in den neuen Bundes- gierung Bundesbericht Forschung 1993 — Drucksache 12/6564 — ländern durch eine neue einheitliche Insolvenz- Sind Sie mit den Änderungen der Tagesordnung rechtsregelung mit modernen und ausgewogenen und den nachträglichen Ausschußüberweisungen Bestimmungen ersetzen, die insbesondere folgende einverstanden? — Das ist der Fall. Dann verfahren wir Ziele verfolgt: so. erstens, bei der Liquidation von insolventen Unter- nehmen die gleichmäßige Gläubigerbefriedigung Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: besser zu ordnen, a) Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs einer zweitens, sanierungsfähigen Unternehmen die Insolvenzordnung (InsG) Möglichkeit zur Verhinderung von volkswirtschaft- — Drucksache 12/2443 — lich sinnlosen Zerschlagungsabläufen zu geben und damit die Chance zur Erhaltung von Arbeitsplätzen (Erste Beratung 94. Sitzung) einzuräumen, Beschlußempfehlung und Be richt des Rechts- ausschusses (6. Ausschuß) drittens schließlich, den Menschen, die sich in hoffnungslosen persönlichen Überschuldungssitua- — Drucksache 12/7302 — tionen befinden, angemessene Auswege aus dieser Berichterstattung: Sackgasse anzubieten. Abgeordnete Hermann Bachmaier Joachim Gres Der ursprüngliche Gesetzentwurf wurde zum Zeit- Detlef Kleinert (Hannover) punkt der Einbringung allgemein wegen seiner Dr. Eckhart Pick Gesetzestechnik und der Kohärenz seiner ineinander Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten greifenden Bestimmungen in der Wissenschaft als b) Zweite und dritte Beratung des von der Bun- gelungene Kodifikation anerkannt und deshalb in der desregierung eingebrachten Entwurfs eines ersten Lesung fraktionsübergreifend im Grundsatz Einführungsgesetzes zur Insolvenzordnung begrüßt. Wie das aber bei Gesetzgebungsvorhaben oft (EGInsO) so ist, die eine längere Vorbereitungs- und Anlaufzeit haben, haben sich zwischenzeitlich die Rahmenbe- — Drucksache 12/3803 — dingungen für dieses Gesetz ein wenig verschoben. (Erste Beratung 128. Sitzung) Bei allgemein knapp gewordenen staatlichen Res- Beschlußempfehlung und Bericht des Rechts- sourcen ist auch die Ressource Recht oder — besser ausschusses (6. Ausschuß) gesagt — sind die praktischen Möglichkeiten zur — Drucksache 12/7303 — justitiellen Bewältigung von Insolvenzrechtsfällen Berichterstattung: knapp geworden. Bei aller Berechtigung der oben Abgeordnete Hermann Bachmeier genannten drei generellen Ziele des Gesetzentwurfes Joachim Gres der Bundesregierung ist in der Folgediskussion die Detlef Kleinert (Hannover) Frage der praktischen Bewältigung von Insolvenz- Dr. Eckhart Pick verfahren in den Vordergrund gerückt. Nicht nur die Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Justizverwaltungen fürchteten eine Überlastung durch zusätzliche Aufgaben, auch die Praktiker zwei- Dazu liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion felten, ob der ursprüngliche Gesetzentwurf nicht teil- der SPD vor. weise überkompliziert und zu rechtsmittelanfällig sei. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Kurz: Es zeigte sich, daß ein schlankeres und weniger gemeinsame Aussprache anderthalb Stunden vorge- perfektionistisches Gesetz besser in die Zeit des sehen. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Jahres 1994 und wohl auch der nächsten Jahre Wir verfahren so, und ich eröffne die Aussprache. Als paßt. erster nimmt das Wort der Kollege Joachim Gres. Um diese Kritik und Anregungen aufzugreifen, war Joachim Gres (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine das Parlament gefordert, und das Parlament hat sehr geehrten Damen und Herren! Mit der heutigen gehandelt. Unter Beibehaltung der grundsätzlichen Verabschiedung der Insolvenzordnung und des Ein- Ziele des Gesetzentwurfes der Bundesregierung ist in führungsgesetzes zur Insolvenzordnung sind wir am den letzten anderthalb Jahren in zahllosen Gesprä- Ende eines langen parlamentarischen Weges. Die chen, Diskussionen und Beratungen im Rechtsaus- Vorbereitungen für dieses komplexe Gesetzgebungs schuß bzw. zwischen den Berichterstattern der Frak- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19115

Joachim Gres tionen der Gesetzentwurf in vielen Bereichen ganz Erstens. Wie ich schon sagte, ist das Gesetz zunächst erheblich geändert worden, umgestellt worden und einmal erheblich verschlankt worden. Überflüssiges teilweise drastisch vereinfacht worden. ist gestrichen und sprachlich komprimiert worden, rechtsmittelanfällige Regelungen sind beseitigt wor- Meine Damen und Herren, aus aktuellem Anlaß den. Unter Verstärkung der Autonomierechte der füge ich allerdings hinzu: Insolvenzen — also in der Gläubiger ist ein jetzt insgesamt praktikables gesetz- Regel falsche unternehmerische Entscheidungen — liches Instrumentarium geschaffen worden, um kann die neue Insolvenzordnung auch nicht verhin- sowohl Unternehmensinsolvenzen wie auch Insolven- dern. Insbesondere dann, wenn Banken und Gläubi- zen von natürlichen Personen in kurzen, knappen und ger über die Vermögenslage eines Unternehmens praktischen Verfahren bewältigen zu können. getäuscht werden, wenn gar in betrügerischer Absicht Lieferanten und sonstige Vertragspartner von- einem Zweitens. Die Regelungen für eine gleichmäßige Unternehmen hinters Licht geführt werden, wenn Gläubigerbefriedigung im Rahmen der Liquidation andererseits die Gläubiger selbst — also z. B. Banken, eines insolventen Unternehmens sind verbessert wor- aber auch mittelständische Baubetriebe, Mieter und den. Hierzu nur einige Beispiele. sonstige Kunden — die vorhandenen Warnzeichen Es bleibt das Ziel des Gesetzes, die Zahl der nicht wahrnehmen oder nicht ernst nehmen oder eröffneten Insolvenzverfahren nachhaltig zu erhö- beiseite schieben, oder wenn z. B. Bauhandwerker hen, damit die Ordnungsfunktion von Insolvenzver- von den Sicherungsmöglichkeiten, die das Gesetz fahren überhaupt erst einmal entfaltet werden kann. jetzt schon bietet, keinen Gebrauch machen, kann Zu diesem Zweck müssen die Insolvenzmassen so auch die neue Insolvenzordnung bei der nächsten angereichert werden, daß zunächst einmal die Kosten Insolvenzgelegenheit nur beschränkt helfen. der Insolvenzverfahren gedeckt sind. Dies wird durch Ein wenig helfen wird sie allerdings schon, den Wegfall der allgemeinen Konkursvorrechte, auch durch den Wegfall des Vorrangs von Steuerforderun- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gen, auch durch Veränderung der Reihenfolge der z. B. durch die Verschärfung der persönlichen Haf- Masseverbindlichkeiten, durch verbesserte Anfech- tungsmöglichkeiten zur Bekämpfung gläubigerschä- tung der Unternehmensführung für die Folgen eines digender Vermögensverschiebungen und schließlich verspätet gestellten Insolvenzantrages, z. B. durch die Verschärfung der Anfechtungsmöglichkeiten von durch Beiträge der Immobiliar- und Mobiliarsicher- heitsgläubiger aus dem Verwertungserlös ihrer Vermögensverschiebungen im Vorfeld der Insolvenz- krise eines Unternehmens, z. B. durch die Aufbesse- Sicherheiten erreicht. rung der freien Insolvenzmasse durch Abführen von Der Aufwand für die Eröffnung von Insolvenzver- Teilen des Verwertungserlöses von Immobiliarsicher- fahren macht aber nur Sinn, wenn die Verfahren nicht heiten und von Mobiliarsicherheiten und z. B. durch alsbald nach Eröffnung dann doch wieder mangels Verzicht auf vorrangige Befriedigungsprivilegien, Masse eingestellt werden müssen. Wir sehen daher in wie z. B. der Finanzämter für rückständige Steuern der heute vorliegenden Gesetzesfassung vor, daß usw., so daß am Ende die ungesicherten Gläubiger, einerseits Insolvenzverfahren zukünftig nur eröffnet also z. B. typischerweise Handwerksbetriebe, Dienst- werden sollen, wenn die gesamten Kosten des Verfah- leistungsunternehmen, beratende Berufe, wie Bausta- rens gedeckt sind — was wegen der erhöhten Insol- tiker usw., auf ihre Forderungen dann doch noch eine venzmassen zukünftig in verstärktem Maße der Fall gewisse Abschlagszahlung erhalten werden. Das wird sein wird —, und daß andererseits der Insolvenzver- den Schaden dieser Gläubiger trotz allem in der Regel walter zukünftig in der Zeit zwischen dem Insolvenz- nicht voll ausgleichen, so daß es meiner Meinung nach antrag und der tatsächlichen Insolvenzeröffnung die gerechtfertigt ist, jenseits aller rechtlichen Verpflich- Chancen für eine Sanierung des insolventen Unter- tungen und juristischen Konstruktionen in einer Bau- nehmens prüfen und praktisch unmittelbar mit der pleite der aktuellen Dimension die finanzierenden Eröffnung des Verfahrens einen entsprechenden Banken nachhaltig zu bitten, für den be troffenen Sanierungsvorschlag auf den Tisch legen kann, über mittelständischen Betrieb die Überbrückung von den dann bereits die erste Gläubigerversammlung zu finanziellen Engpässen sicherzustellen und gegebe- entscheiden hat. nenfalls die einzelnen Objekte auch mit neuen Mitteln zu Ende bauen zu lassen, damit sich die Insolvenz Meine Damen und Herren, in diesem Zusammen- pleite eines Immobilienkonzerns nicht auf beteiligte hang bleibt es dabei, daß die Inhaber der sogenann- mittelständische Strukturen ausbreitet. ten besitzlosen Mobiliarpfandrechte, also insbeson- dere die Vertragspartner des insolventen Unterneh- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge mens, die sich Vermögenswerte zur Sicherheit haben ordneten der F.D.P.) übereignen oder abtreten lassen, diese Vermögens- werte der Verwertung durch den Verwalter überlas- Ich hielte eine solche Bereitschaftserklärung der sen und an den Verwalter gewisse Pauschalen aus beteiligten Banken für einen Akt der Fairneß, aber dem Verwertungserlös an die Masse abführen müs- auch für einen Akt der Klugheit. sen. Wir haben diese Pauschalen aber ein wenig (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. gekürzt und teilweise ganz gestrichen, weil die über- sowie bei Abgeordneten der SPD) mäßige Belastung gerade der mittelständischen Wirt- schaft vermieden werden muß. Viele gerade mittel- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu den ständische Betriebe verfügen in der Regel zur Besi- Grundzügen der neuen Insolvenzordnung zurück- cherung ihrer Lieferantenkredite nur über Mobiliarsi- kehren. cherheiten. Würde die Werthaltigkeit dieser Mobiliar- 19116 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Joachim Gres sicherheiten drastisch beschnitten, würden die Kredit- richtlich zu einer fairen Vergleichsregelung zu kom- versorgungsmöglichkeiten gerade im mittelständi- men. Diesem Ziel dient z. B. die Abschaffung der schen Bereich möglicherweise eingeschränkt werden. Übemehmerhaftung gemäß § 419 BGB — ein juristi- Dies wollen wir nicht. sches Problem, das schon Generationen von Rechts- Die jetzt vorgeschlagenen Abführungspauschalen gelehrten beschäftigt hat. sind in der Summe aber auch akzeptabel und gerecht- Diesem Ziel dient aber auch die Tatsache, daß die fertigt und nehmen hinreichend Rücksicht auf die Gläubiger zukünftig mit dem formalen Restschuldbe- individuellen Fallgestaltungen. In der Summe führen freiungsverfahren rechnen müssen, an dessen Ende alle diese Maßnahmen dazu, daß die zu verteilende die Gläubiger trotz hoher Rechtsverfolgungskosten in freie Masse erhöht wird, P rivilegien abgebaut werden der Regel auch keine höheren Zahlungen von den und damit auch ungesicherte Gläubiger die Chance Schuldnern erhalten werden als über einen außerge- bekommen, auf ihre Forderungen im Rahmen der richtlichen Vergleich in einem frühen Stadium der Liquidation eine angemessene Zahlung zu erhalten. Insolvenz, so daß erfahrene Gläubiger in vielen Fällen Dies ist eine entscheidende und richtige gesetzgebe- den Fall mittels einer akzeptablen außergerichtlichen rische Zielrichtung. Einigung abschließen werden. Drittens. Das weitere Ziel der Insolvenzordnung ist Kommt es nicht zu einem außergerichtlichen Ver- die Sanierung von sanierungsfähigen Unternehmen. gleich und wird durch eine Bestätigung z. B. eines Sie bleibt ebenfalls im Mittelpunkt der jetzt vorge- Anwalts, einer Schuldnerberatungsstelle oder eines schlagenen Gesetzesfassung. Die Erarbeitung eines Steuerberaters nachgewiesen, daß der Versuch einer entsprechenden Insolvenzplans durch den Insolvenz- außergerichtlichen Einigung mit den Gläubigern des verwalter oder den Gemeinschuldner wird durch die Schuldners erfolglos geblieben ist, dann kann der jetzt vorgeschlagenen Regularien erheblich erleich- Schuldner das gerichtliche Verfahren zunächst in tert. Das Schreckgespenst eines Insolvenzplanwirr- Form eines Schuldenbereinigungsplanverfahrens warrs, wie wir es als schlechtes Beispiel aus den USA einleiten. Mein Kollege von Stetten wird nachher kennen, wird durch die Konzentration des Planinitia- darauf im einzelnen eingehen. Bei allem kann und soll tivrechts vermieden. Im Rahmen der Gläubigerauto- nicht übersehen werden, daß das neue Gesetz trotz nomie kann zukünftig ein Unternehmen mit einem aller Straffungen und Verschlankungen, die wir vor- Minimum an richterlichen Genehmigungs- und Kon- gesehen haben, eine gewisse Mehrbelastung für die trollvorbehalten — die aber in der jetzt vorgesehenen Justiz bedeutet. Ziel der Reform ist es gerade, daß Form doch wohl nötig sind, um Mißbräuche zu verhin- wieder mehr Insolvenzverfahren eröffnet werden und dern — im Rahmen eines ausgewogenen Insolvenz- daß die verhängnisvolle Regel der Abweisung von plans saniert werden, was derzeit unter dem Regime Konkursanträgen mangels Masse wieder zur Aus- der Konkursordnung und der Vergleichsordnung so nahme wird. Dies bedeutet mehr Arbeit für Richter nicht oder nur sehr erschwert möglich ist. und Rechtspfleger. Wir haben in diesem Zusammenhang die Regelung Ein weiteres Ziel des Gesetzes ist es schließlich, von § 613 a BGB, also den zwingenden Übergang von dazu beizutragen, daß sich redliche Schuldner aus Arbeitsverhältnissen bei Betriebsveräußerungen einer privaten Überschuldungssituation befreien z. B. im Rahmen von Sanierungsübertragungen, im können und daß sie die Chance zu einem Neuanfang Gesetz unangetastet gelassen, obwohl viele Sachver- bekommen. ständige in der Anhörung deutlich erklärt haben, daß Trotz aller Bemühungen, den Ausgleich zwischen diese Regelung ein erhebliches Sanierungshindernis Gläubigern und Schuldnern in die außer- und vorge- sei. richtliche Phase zu verlagern, wird dieses Gesetz am Wir haben allerdings für den Insolvenzverwalter Ende dennoch einen personellen Mehraufwand für Möglichkeiten geschaffen, zur Rettung des sanie- die Justiz bedeuten. rungsfähigen Kernbereichs und der damit verbunde- Ich appelliere daher mit Nachdruck von dieser nen Arbeitsplätze auch Kündigungen aussprechen zu Stelle an die Bundesländer, diese mit dem neuen können und hierzu notfalls von den Arbeitsgerichten Gesetz verbundenen Aufgaben anzunehmen und sich mittels Eilbeschluß eine entsprechende Zustim- in den vor uns liegenden Monaten hierauf personell mungsgrundlage einholen zu können. vorzubereiten. Um dies den Ländern zu erleichtern, In diesem Zusammenhang sollten wir uns immer sehen wir schweren Herzens auf Drängen der Bundes- wieder bewußtmachen, daß die Sanierung von insol- länder vor, daß das Gesetz in wesentlichen Teilen erst venten Unternehmen in der Regel ein Wettlauf mit der zum 1. Januar 1997 in Kraft treten soll. Zeit ist und daß der Insolvenzverwalter Handlungs- Die Länderjustizminister haben in den letzten Jah- möglichkeiten haben muß, um sein Konzept gegebe- ren quer über alle Parteigrenzen hinweg immer wie- nenfalls auch rasch durchsetzen zu können. Dem muß der betont, wie wichtig auch ihnen die Reform des der gesetzliche Handlungsrahmen angemessen Rech- Insolvenzrechts ist. Dann müssen die Bundesländer nung tragen. hierzu jetzt aber auch stehen. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Natürlich wäre es hinsichtlich der personellen Kon- Richtig!) sequenzen für die Justizverwaltungen in den einzel- Viertens. Meine Damen und Herren, das Verbrau- nen Bundesländern einfacher, sich mit dem „Konkurs cherinsolvenzverfahren haben wir in seiner Grund- des Konkurses " im Gefolge der alten Konkursordnung struktur erheblich geändert. Das Hauptziel der jetzt weiterhin bequem einzurichten; denn für mangels vorgeschlagenen Regelung ist es, zunächst außerge- Masse abgewiesene Konkursanträge braucht m an Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19117

Joachim Gres wenige Richter und Rechtspfleger. Einfach wäre es, Ich danke aber auch den Damen und Herren aus dem auch für die Bewältigung von Verbraucherinsolvenz Bundesministerium der Justiz, an ihrer Spitze Herrn verfahren keine personelle Vorsorge treffen zu müs- Parlamentarischen Staatssekretär Funke, dem Herrn sen, wenn es auf absehbare Zeit hierfür keine gesetz- Professor Rieß, Herrn Dr. Hilger, Herrn Dr. Landfer- liche Regelung gibt. Dies ist für uns aus den genann- mann und, last, but not least, Frau Dr. Schmidt- ten Gründen nicht akzeptabel. Räntsch, die sich in einer ganz außergewöhnlichen Zudem können wir alle die tatsächlichen Auswir- Weise, oftmals bis weit nach Mitternacht, kungen der heute zu verabschiedenden Insolvenzord- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der nung für die Justiz der Länder nicht klar prognostizie- F.D.P., der SPD und des BÜNDNISSES 90/ ren. Vieles, was die Länder hierzu vortragen, ist DIE GRÜNEN) spekulativ. Den Äußerungen der Landesjustizminister- mit uns über die Grundzüge und Feinheiten dieses entnehme ich, daß die Bedenken jedenfalls sehr Gesetzes ausgetauscht haben. justizverwaltungsspezifisch sind und eine Gesamtbe- Meine Damen und Herren, die derzeit noch gel- trachtung fehlt. Denn natürlich bedeutet ein Insol- tende Konkursordnung stammt aus dem Jahr 1877. Sie venzverfahren — z. B. mit dem Ziel der Sanierung wird nach 120 Jahren, im Jahr 1997, von der Insol- eines Unternehmens — zunächst einmal personellen venzordnung abgelöst. Ich bin nun nicht so vermessen Mehraufwand an Richtern und Rechtspflegern; aber zu erwarten, daß auch die heute hier zu verabschie- andererseits bedeutet es eben auch die Rettung eines dende Insolvenzordnung 120 Jahre halten wird. Aber Unternehmens oder eines Betriebes und die Rettung daß wir so gut gearbeitet haben, daß das Gesetz für die der damit verbundenen Arbeitsplätze. Dies wiederum Gerichte und für die Praktiker einen verläßlichen bedeutet Einsparung an Sozialhilfekosten, Sozialin- Rahmen für die nächsten Jahrzehnte bieten wird, das frastrukturkosten usw. Das gleiche gilt in noch ver- hoffe ich doch. schärfterer Form für die Verbraucherinsolvenzrechts- regelung. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Der ohne das neue Gesetz entstehende personelle Aufwand wäre höher oder jedenfalls im wesentlichen SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der gleiche; nur würde er möglicherweise aus anderen Etats, z. B. aus den Etats der Sozialminister und nicht Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht aus den Etats der Justizminister, zu begleichen sein. der Kollege Professor Dr. Eckhart Pick. Ich danke ganz ausdrücklich an dieser Stelle dem Vertreter des Freistaates Bayern, Dr. Eckhart Pick (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundestag verabschiedet (Zuruf von der CDU/CSU: Wen wundert es? heute eines der großen Reformwerke der letzten — [CDU/CSU]: Aber Baden Jahre, eine neue Insolvenzordnung. Das wird nicht Württemberg müssen wir auch loben!) allein schon durch den Umfang — über 330 Paragra- der in der Schlußphase der Beratungen des Rechtsaus- phen — deutlich. Darüber hinaus wird es ein Einfüh- schusses signalisiert hat, daß Bayern der jetzt gefun- rungsgesetz mit einem ebenfalls gewichtigen Umfang denen Kompromißlösung zustimmen kann. Ich hoffe geben. Ich bin in den letzten Monaten — das knüpft an sehr, daß sich die Vertreter der anderen Bundesländer die Bemerkungen von Herrn Kollegen Gres an —, seit diesem Votum anschließen. Beginn der Beratungen im Bundestag und im Rechts- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der ausschuß, häufig gefragt worden, ob ein solches Werk F.D.P., der SPD und des BÜNDNISSES 90/ in dieser Zeit überhaupt verabschiedet werden sollte. DIE GRÜNEN) Es wurde die Skepsis geäußert, ob denn der Bundes- tag die Kraft habe, angesichts der sonst zu beobach- Meine Damen und Herren, alles in allem können wir tenden Kurzatmigkeit politischer Entscheidungen heute mit gutem Gewissen und in der Erwartung, daß und auch vielberufener Entscheidungsunfähigkeit sich das Gesetz in der Praxis bewähren wird, der eine solche Reform zu verwirklichen. vorgeschlagenen Insolvenzordnung und dem Einfüh- Man hat sich etwas an die Kontroverse des Jahres rungsgesetz zur Insolvenzordnung zustimmen. Quer 1815 erinnert gefühlt, als es den berühmten Streit über die Fraktionsgrenzen danke ich bei dieser Gele- zwischen Savigny und Thibaut über die Frage gege- genheit meinen Mitberichterstattern für die gute und ben hat, ob für Deutschland ein neues Zivilgesetzbuch sachbezogene Arbeit. Ich nenne hier insbesondere in Kraft gesetzt werden sollte oder nicht. meine Kollegen Kleinert und von Stetten von den Koalitionsfraktionen (Norbert Geis [CDU/CSU]: 1814!) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Ich habe diese Frage immer ohne Einschränkung Sehr gut! Hinter Kleinert!) bejaht. Ein neues Insolvenzrecht ist überfällig. Zum anderen kann es auch als Entkräftung des Vorurteils und von der SPD-Bundestagsfraktion die Herren Pro- gelten, daß unsere Zeit nicht mehr zu großen Justiz- fessor Pick und Bachmaier. Es war eine gute und an reformwerken befähigt sei. der Sache orientierte Arbeit auf hohem juristischen Wir wissen, daß wir uns an hohen Maßstäben Niveau, die Freude gemacht hat und von der ich messen lassen müssen. Die Konkursordnung — es ist glaube, daß sie für die Akzeptanz des neuen Gesetzes darauf hingewiesen worden — hat schon über einiges bewirkt hat. 100 Jahre auf dem Buckel. Sie entstand im Zusam- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der menhang mit den damals erlassenen Reichsjustizge- SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) setzen. Ob das neue Insolvenzrecht ähnlich lange 19118 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Dr. Eckhart Pick Bestand haben wird, das können wir nicht wissen. wird froh sein, daß er heute die Früchte seiner Aber wir wissen, daß allein die Tatsache seiner damaligen Initiative sozusagen ernten kann. Geltung Maßstäbe auch für außergerichtliche Lösun- gen bei Insolvenzfällen setzen wird. Wir haben fest- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der gestellt, daß das Konkurs- und Vergleichsrecht eine F.D.P. — Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: der schwierigsten Materien unserer Rechtsordnung Das ist großartig!) überhaupt darstellt, und zwar einfach deswegen, weil Die Insolvenzrechtskommission hat dann in den sich hier höchst unterschiedliche Interessen, der Jahren 1984 und 1985 Grundsätze einer Insolvenz- Öffentlichkeit, der Wirtschaft, von Arbeitnehmern, rechtsreform entwickelt, und auf dieser Grundlage von Verwaltern und Gläubigern — die wiederum sind schließlich Referentenentwurf und Regierungs- unterschiedlich —, im Raum stoßen. Es ist- deshalb entwurf zustande gekommen. unmöglich, einen einigermaßen gerechten Ausgleich zustande zu bringen, der alle bef riedigen würde. Herr Kollege Gres hat schon gesagt, wie dieser Deshalb wird es auch immer Kritik am gesetzgeberi- Entwurf aufgenommen worden ist. Die Anhörung schen Entscheidungsvorgang geben. hierzu war äußerst eindrucksvoll. Insbesondere ist natürlich bei uns der Vorwurf haftengeblieben, daß Das geltende Recht der Konkursordnung bzw. der dieser Entwurf äußerst bürokratisch sei, viele Rechts- Vergleichsordnung genügt den Anforderungen an ein behelfe beinhalte und für die Praxis äußerst schwer zeitgemäßes Insolvenzrecht nicht mehr. Die Gründe handhabbar sei. sind: Erstens. Drei Viertel a ller Konkursverfahren Es wurde zweitens der Vorwurf gemacht, daß man werden mangels Masse abgewiesen. das Problem des modernen Schuldturms, also die Zweitens. In den übrigbleibenden Verfahren kön- Verbraucherinsolvenz, nicht angemessen behandelt nen die normalen Gläubiger mit einer lächerlichen habe, und das ist sicher auch richtig. Quote von 4 bis 6 % rechnen. In der Folgezeit wurde der Entwurf der Bundesre- gierung durch die Berichterstatter in einer Form Drittens. Auch bei den bevorrechtigten Gläubigern überarbeitet, die zu einer wesentlichen Kürzung bedeutet eine Durchschnittsquote von 18 % ebenfalls geführt hat. Das ist aber nur die formale Seite der nur eine Bruchteilsbefriedigung. Medaille. Wichtiger ist, daß der gesamte Entwurf von Viertens. Über 17 000 Konkursverfahren im letzten vorne bis hinten durchforstet worden ist. Es wurde der Jahr gegenüber mehr als 6,5 Millionen Einzelzwangs- Versuch gemacht, Wesentliches vom Unwesentlichen vollstreckungen zeigen, daß der Konkurs zu einer zu scheiden, es wurde gestrichen, umgestellt, auch Restgröße verkommen ist; die geordnete Gesamtab- ergänzt, präzisiert und vereinfacht. In vielen Sitzun- wicklung ist die Ausnahme geworden. gen haben die Berichterstatter diskutiert, gestritten, abgewogen und letztlich auch entschieden im Sinne Fünftens. Mit einer Zahl von unter 40 pro Jahr ist das von Vorschlägen an den Rechtsausschuß; der Aus- Vergleichsverfahren praktisch nicht mehr vorhan- schußbericht legt davon Zeugnis ab. den. Ich darf hinzufügen, daß damit überhaupt noch nicht unsere zahlreichen Gespräche mit Banken, dem Sechstens. Das Ziel der Sanierung von Unterneh- Mittelstand, Richtern, Konkursverwaltern, Gewerk- men, abgesehen von den spektakulären Fällen wie z. B. AEG oder Metallgesellschaft, ist die große Aus- schaften und Schuldnerberatern aufgeführt worden nahme, weil das derzeitige Insolvenzrecht in erster sind. Ich kann aber sagen, daß eine Vielzahl von Linie auf Liquidation und Gläubigerbefriedigung aus- Anregungen und Vorschlägen aufgenommen worden gerichtet ist. ist. Ich persönlich lege großen Wert darauf, festzustel- len, daß die Anhörung und die Diskussionen keine Siebtens. Die Schäden für Gläubiger und öffentli- Alibiveranstaltungen gewesen sind, sondern daß wir che Hände durch Insolvenzen sind immens. Nach sehr viele Anregungen aufgenommen haben, die den Schätzungen betragen die Verluste von Privatgläubi- Entwurf wesentlich beeinflußt haben. gern ca. 18 Milliarden DM, für die öffentlichen Hände Ich sage: Das, was heute vorliegt, ist nicht mehr der 12 Milliarden im Jahr. Entwurf der Bundesregierung, sondern ein Projekt des Parlaments. Ich finde, das ist ein ganz wichtiger Achtens. Schließlich haben wir noch eine gespal- Gesichtspunkt. tene Rechtslage in der Bundesrepublik: Im Westen Deutschlands gelten die Konkursordnung bzw. die (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen Vergleichsordnung und im Osten die Gesamtvoll- und Gruppen) streckungsordnung. Insgesamt war dieses Ergebnis nur möglich, weil die Diese Gründe — der letzte Grund natürlich noch Regierungsfraktionen mit uns in einer Form koope- nicht — haben dazu geführt, daß der damalige Justiz- riert haben, die zielorientiert auf einen möglichst minister Hans-Jochen Vogel 1978 den Auftrag breiten Konsens war. erteilte, ein modernes, sanierungsfreundliches Insol- (Dr. [CDU/CSU]: Das ma venzrecht zu entwickeln. Ich möchte gleichzeitig auch chen wir immer so!) den Namen unseres Kollegen H ans de With in diesem Zusammenhang erwähnen, der damals mit dazu bei- Es bleiben Unterschiede bestehen; die wollen wir getragen hat, daß es überhaupt einmal zu einer auch nicht verwischen. Wir wollen auch nicht bestrei solchen Reforminitiative gekommen ist. Ich glaube, er ten, daß unsere Vorstellungen hier nicht alle verwirk- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19119

Dr. Eckhart Pick licht worden sind. Aber das Ergebnis ist so, daß wir Insolvenzverfahren enthalten sind: Sozialplan, Inter- dem Gesetzentwurf insgesamt zustimmen können. essenausgleich, Insolvenzausfallgeld — auch im Falle des Vergleichs — und andere Regelungen, die hier Auch ich möchte mich dem Dank des Kollegen Gres jetzt getroffen worden sind. an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ministe- riums anschließen, die hier in einer äußerst kenntnis- Der zweite Schwerpunkt unserer Vorschläge war reichen und sehr zügigen Weise den Entwurf auf den die Verbraucherinsolvenz. Ich muß positiv darstellen, jeweils neuesten Stand gebracht haben. Das war daß es überhaupt gelungen ist, erstmals ein Verbrau- schon eine ausgesprochen großartige Leistung. cherinsolvenzverfahren als eigenständiges Verfah- ren gegenüber dem allgemeinen Insolvenzverfahren (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen in den Gesetzentwurf einzufügen. und Gruppen — Norbert Geis [CDU/CSU]:- Wenn das ein Professor sagt, ist das schon Dies wird bei aller Kritik, meine Damen und Herren, was!) auch von den betroffenen Verbänden anerkannt. Wir haben unsere Änderungsanträge in die zweite Entgegen der Konzeption des Gesetzentwurfs der Lesung eingebracht. Sie werden — unabhängig vom Bundesregierung mißt der jetzige Vorschlag der Ergebnis der Abstimmung — an unserer Zustimmung außergerichtlichen Einigung zwischen Gläubiger nichts ändern. und Schuldner höchste Priorität bei. Wir haben erreicht, daß dieses Ziel der Entlastung der Justiz in Im einzelnen waren für uns, ohne auf Details dem Gesetzentwurf ausdrücklich verankert wird. eingehen zu wollen, zwei Punkte besonders wichtig. Dazu gehört auch der Druck auf die Gläubiger zu Das war einmal die Erhaltung von Arbeitsplätzen einer außergerichtlichen Einigung durch entspre- unter Wahrung der Arbeitnehmerrechte. Dazu zähle chende Maßnahmen wie Kostenbeiträge usw. Wir ich: Das Gesetz muß die Sanierung und Erhaltung von erwarten, daß dieses Verfahren künftig als Muster und Unternehmen soweit wie möglich fördern. Dazu gehö- Anleitung für außergerichtliche Einigungsbemühun- ren zahlreiche Vorschriften, die zu einer Anreiche- gen dient. rung der Masse führen sollen, damit ein Verfahren überhaupt eröffnet und die Sanierungschance geprüft Wir haben auch festzustellen, daß einige unserer werden kann. Dies geschieht mittels Beiträgen der Forderungen hier nicht erfüllt worden sind. Für uns ist Gläubiger, die durch Sicherheiten begünstigt sind, die starre Wohlverhaltensperiode von sieben Jahren z. B. durch Pfandrechte, aber auch durch Grundpfand- ein Manko. Wir wollten eine eher flexible Regelung rechte. — Mein Kollege, Herr Bachmaier, wird zur mit Verkürzung, gegebenenfalls mit einer Verlänge- aktuellen Situation insbesondere der durch Grund- rung auf sieben Jahre, aber im Regelfalle fünf Jahre pfandrechte gesicherten Banken in diesem spektaku- haben. Auch das Problem der Vorausabtretungen ist lären Verfahren, das wir heute leider beklagen müs- unbefriedigend gelöst. Drei Jahre sind nach unserer sen, noch einiges sagen. Auffassung zuviel. Wir haben das auch mittels einer Verschärfung des Insgesamt ist es aber ein wesentlicher sozialer Anfechtungsrechts getan, das den Verwalter in die Fortschritt, daß man sich endlich des Problems der Lage versetzt, auch längere Zeit zurückliegende über 1 Million überschuldeter Haushalte angenom- Manipulationen des Schuldners zu verfolgen und men hat. Die SPD hat sich diesem Thema ja bereits seit Vermögenswerte zur Masse zu ziehen. Der Massean- einigen Jahren gewidmet. reicherung dient letztlich auch der Wegfall aller Vorzugsrechte der bisherigen §§, 59 und 51 Konkurs- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: ordnung. Diese betreffen z. B. Lohnrückstände der Nicht nur die SPD!) Arbeitnehmer, aber auch Steuerforderungen. — Nicht nur die SPD, aber wir besonders, mit entspre Dem Prinzip „Sanierung vor Liquidation" dient das chenden parlamentarischen Initiativen. Insofern, neue Institut des Insolvenzplans. Es tritt an die Stelle denke ich, haben wir hier unseren Beitrag geleistet. des bisherigen Vergleichs, sieht jedoch keine festen hat Herr Gres einiges Quoten wie bisher von 35 % bzw. 40 % vor. Vereinba- Zu den Bedenken der Länder gesagt. Ich denke, diese Reform ist nicht zum Nulltarif rungen sind also künftig einfacher, auch gegen ein- zu haben, und wer sozialen Fortschritt will, wer ein zelne Gläubiger durchzusetzen. zeitgemäßes Insolvenzrecht haben will, kann nicht so Der zweite Punkt ist die Wahrung der Arbeitneh- tun, als sei das ohne finanzielle Mehrbelastungen zu merrechte auch im Insolvenzfall. Wenn künftig mehr erreichen. Sanierungen vor allem auch im mittelständischen Bereich durchgeführt werden können und mehr (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Arbeitsplätze erhalten bleiben, dann ist das schon ein DIE GRÜNEN) Erfolg des Projekts. Ich sage das auch vor dem Meine Damen und Herren, mit dem Prinzip „Vor- der Konkurs- Hintergrund, daß die Gewerkschaften rang der Sanierung vor Zerschlagung", der Möglich- ordnung sehr skeptisch gegenüberstehen. keit der Restschuldbefreiung und der Verbraucher- Kritisiert wird der Wegfall der jetzigen Vorzugs- entschuldung sind wesentliche Forderungen erfüllt rechte. Aber dazu ist zu sagen, daß sie in der Praxis worden, die wir seit langem gestellt haben. Wir zumindest in dreiviertel der Fälle nur auf dem Papier begrüßen dieses Gesetz und werden ihm zustimmen, stehen und bei dem restlichen Viertel nur zu einem und wir hoffen, daß es ab 1. Januar 1997 greift und geringen Teil erfüllt werden. Wirksamer sind andere endlich entsprechende Regelungen für die Praxis zur Instrumente, die in der Konkursordnung jetzt im Verfügung stellt. 19120 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Dr. Eckhart Pick Schönen Dank. Ich glaube, daß es ganz wichtig ist, daß wir sozusa- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen ein Sanierungsverfahren vor dem eigentlichen DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Insolvenzverfahren bekommen. Dazu tragen eine CDU/CSU und der F.D.P.) Reihe von rechtlichen Bestimmungen bei. Ich wi ll nur einige wenige nennen, die die außergerichtliche Sanierung unterstützen. Dazu gehört der Wegfall des Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht § 419 BGB, aber auch der Umstand, daß die neue der Abgeordnete Rainer Funke. Insolvenzordnung die Chancen der Befriedigung der Gläubiger dadurch erhöht, daß auch die Eröffnung Rainer Funke (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine des Verfahrens erleichtert wird. Damen und Herren! Als jemand, der die Insolvenz-- rechtsreform während dieser Legislaturperiode inten- Hinzu kommt, daß wir das sogenannte „Netting"- in die Insolvenzordnung eingestellt haben siv begleitet hat, freut mich natürlich die Einmütig- Verfahren keit, mit der die Reform jetzt von allen Parteien — ein Verfahren, das insbesondere im internationalen getragen wird. Diese Einmütigkeit ist sicherlich auch Insolvenzrecht eine große Rolle spielen wird; denn wir das Resultat intensiver Vorarbeit und intensiver Vor- haben schon bei dem damaligen Konkursverfahren bereitungen durch die Kollegen im Bundesjustizmini- der Herstatt-Bank gesehen, wie wichtig die gegensei- sterium, aber auch durch die Berichterstatter. Das ist tige Aufrechnung von verschiedenen Devisenpositio- schon erwähnt worden. All diesen Mitarbeitern im nen ist. Dies ist nunmehr in die Insolvenzordnung Bundesjustizministerium und den Kollegen aus dem eingestellt worden. Bundestag möchte ich meinen aufrichtigen D ank für Aber von ganz besonderer Bedeutung ist die Rest- die kooperative Zusammenarbeit sagen. schuldbefreiung. Wir müssen derzeit von ungefähr (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der 1,7 Millionen überschuldeten Haushalten ausgehen, SPD) so daß Millionen von Menschen im modernen Schuld- turm gefangen sind, und diese Zahl ist leider weiter im Man soll ja mit großen Worten sparsam umgehen, Steigen begriffen. Mit der Restschuldbefreiung wird gleichwohl meine ich sagen zu können: Die Verab- diesen Menschen, und zwar Einzelkaufleuten ge- schiedung der Insolvenzrechtsreform ist ein Meilen- nauso wie Verbrauchern, die Chance für einen wirt- stein der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik. Es schaftlichen Neubeginn gegeben. Sie sollen die Mög- wird ein modernes, praxisgerechtes Insolvenzrecht lichkeit erhalten, sich auch gegen den Willen ihrer geschaffen, das endlich auch den Anforderungen des Gläubiger von ihren restlichen Verbindlichkeiten zu internationalen Wirtschaftslebens gerecht wird. befreien. Nach der Durchführung eines Insolvenzver- Im künftigen Insolvenzverfahren — und darauf hat fahrens und einer siebenjährigen Wohlverhaltenspe- Herr Pick besonders hingewiesen — tritt die Sanie- riode sind diese Schuldner frei von ihren Verbindlich- rung gleichberechtigt neben die Liquidation. Die keiten. Ich glaube, daß das eine ganz wesentliche Gläubiger entscheiden, welche Art der Insolvenzab- gesellschaftspolitische Komponente dieser Insolvenz- wicklung ihren Interessen am besten entspricht. Es ordnung ist. war ja auch immer der Wunsch des Kollegen Kleinert, mit dieser Insolvenzrechtsreform die Gläubigerauto- Für das Verbraucherinsolvenzverfahren sind im nomie zu stärken. Dieses ist hier umgesetzt worden. übrigen noch eine Reihe von Sonderregelungen vor- Für die Beschlußfassung in der Gläubigerversamm- gesehen, damit die Gerichte so wenig wie möglich lung ist die Summenmehrheit vorgesehen, um die belastet werden. Die Berichterstatter haben hier ein Abstimmung einfach und das Verfahren effizient zu ganz besonderes Vorschaltverfahren vorgesehen. gestalten. Marktwirtschaftlich sinnvolle Sanierungen Dieses ist im gegenseitigen Einvernehmen akzeptiert werden auf diese Weise begünstigt, Sanierungen auf worden. Dieses Vorschaltverfahren wird dazu führen, Kosten der Gläubiger vermieden. daß die Länder mit ihrer Befürchtung, daß sie eine große Zahl von Richterstellen und Rechtspflegerstel- Ein weiteres wichtiges Ziel der Reform ist es, len einwerben müssen, wahrscheinlich doch nicht Einzelkaufleuten und Verbrauchern die Restschuld- recht haben. Sicherlich wird es den einen oder ande- befreiung und damit einen wirtschaftlichen Neube- ren Richter und auch den einen oder anderen Rechts- ginn zu ermöglichen. Die marktgerechte Verbesse- pfleger mehr geben müssen, aber insgesamt wird sich rung der Sanierungschancen für insolvente Unter- dieses Insolvenzverfahren, diese Restschuldbefreiung nehmen ist in der heutigen wirtschaftlichen Situation auch für den Staat rechnen; dadurch nämlich, daß der besonders wichtig. Das neue Insolvenzrecht sieht Verbraucher nicht mehr in die Schwarzarbeit abge- deshalb eine Reihe von Maßnahmen vor, die von der drängt, sondern wieder motiviert wird, ordentliche Zerschlagungsautomatik des alten Konkursrechts Arbeit anzunehmen, Krankenkassenbeiträge und wegkommen und nunmehr zu der Sanierungsautoma- Rentenversicherungsbeiträge zu zahlen, so daß er tik — so möchte man es fast nennen — des neuen später der Sozialhilfe nicht zur Last fällt. Insolvenzrechts führen. Der Schuldner kann den Antrag auf Eröffnung des (Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Steu Insolvenzverfahrens schon bei drohender Zahlungs- ern!) unfähigkeit stellen, um frühzeitig verfahrensrechtli- — Steuern wird er auch zahlen, che Gegenmaßnahmen einleiten und damit die Liqui- dation verhindern zu können. Schon vor der Eröff- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: nung des Verfahrens können die Chancen für eine Und Abgaben!) Sanierung des insolventen Unternehmens geprüft häufig allerdings nicht in einer Größenordnung, die werden. sehr ins Gewicht fällt, aber sicherlich wird er in die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19121

Rainer Funke wirtschaftliche Gesellschaft zurückkehren. Auf diese Die von mir genannten drei Gruppen müssen auch Weise hat jedermann die Chance, einen Neubeginn in der Insolvenz unterschiedlich behandelt werden. zu starten. Ich meine, daß das vorliegende Gesetz insofern einen Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Schritt in die richtige Richtung darstellt, als es erstma- lig die Möglichkeit der Sanierung von Unternehmen (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der in der Insolvenz und die Entschuldung der Privaten SPD und dem Bündnis 90/DIE GRÜNEN) vorsieht. Unbestreitbar ist hier eine sehr große Arbeit geleistet worden; darauf wurde schon hingewiesen. Als nächster spricht Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Kritik betrifft zunächst den im Gesetzentwurf der Abgeordnete Professor Dr. Uwe-Jens Heuer. erweiterten Grundsatz der Gläubigerautonomie, der letztlich nicht zu einer größeren Autonomie von Gläu- Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Frau Präsi- bigern, soweit sie natürliche Personen sind, führen dentin! Meine Damen und Herren! Die Insolvenz, die wird, sondern — im Gegenteil — zu einer beherr- Zahlungsunfähigkeit, ist notwendiger Bestandteil schenden Rolle der Banken über Gläubiger, Schuld- jedes marktwirtschaftlichen Systems. Die Frage ist ner und Verfahrensablauf. Meines Erachtens ist mit nur: Wie geht man damit um? Mir scheint ein tiefgrei- diesem zugunsten der Banken wirkenden Grundsatz fender Widerspruch dieser Gesellschaft darin zu der Gläubigerautonomie eng der Vorrang der Liqui- bestehen, daß auf der einen Seite jedermann ermun- dation von Unternehmen und Betrieben verbunden. tert wird, Schulden zu machen — wir haben bei Alternativkonzepte zur Sanierung von Unternehmen, unserem USA-Besuch festgestellt, wie weit dies dort Betrieben und Schuldnern können nur im Rahmen der ist; dieses Vorbild wirkt auch bei uns —, und anderer- Gläubigerautonomie eingebracht werden, sind also seits muß der Markt gesetzmäßig diejenigen bestra- von Konzeptionen der Banken und deren Wirtschafts- fen, die dann zahlungsunfähig sind. Der Schneider- politik abhängig, die solche Sanierungen ablehnen, Skandal, der die Republik in diesen Tagen bewegt, wenn sie an Kapitalvernichtung interessiert sind. Die macht die durch dieses Gesetz geregelte Problematik Liquidierung und eventuell auch die Sanierung zah- ganz deutlich. lungsunfähiger Wirtschaftsunternehmen kann nicht Es geht jetzt darum: Wie gehen wir denn mit der Maßstab für die Entschuldung natürlicher Personen Insolvenz, der Zahlungsunfähigkeit, um? Wir haben sein. Dieser Weg — mit erheblicher Konsequenz — ist es in meinen Augen mit drei ganz unterschiedlichen jetzt eingeschlagen worden. Gruppen von Gläubigern und Schuldnern zu tun: Nach meiner Meinung verlangt ein an dem Gedan- erstens mit den Großgläubigern, den Banken, die die ken der sozialen Rehabilitation orientiertes Verfahren ausgereichten Kredite in aller Regel ausreichend zur Entschuldung privater Personen und Haushalte sichern und die selbst bei Großpleiten wie der von aber auch ein Beratungskonzept, das sich auf eine Schneider natürlich nicht in Existenznot geraten und gesicherte Vertrauensgrundlage beziehen kann. Die vielleicht auch deshalb mit ihren Großschuldnern so notwendige Durchführung eines Insolvenzverfah- großzügig umgehen; zweitens mit den mittleren und rens, wie es der Gesetzentwurf vorsieht, kann sich hier kleinen Unternehmen, die immer mehr oder weniger kontraproduktiv auswirken, insbesondere auch des- am Rande der Zahlungsunfähigkeit operieren und halb, weil durch einen fremden, unter Gläubigerkon- massenhaft in die Insolvenz getrieben werden, wenn trolle stehenden Insolvenzverwalter über die Privat- ein Großkunde wie Schneider zahlungsunfähig wird, person und deren Interessen verfügt wird. Für Alter- mit allen Konsequenzen auch für die Arbeitsplätze. — nativen, vermittelt durch Personen des Vertrauens Herr Gres hat erklärt, die Bauhandwerker sollten und staatliche Einflußnahme gegen einseitige Interes- mehr von ihren gesetzlichen Möglichkeiten Gebrauch senwahrnehmung der Gläubigerausschüsse, bleibt machen. Man müßte sich dann darüber verständigen, kein Platz, insbesondere auch deshalb nicht, weil wir warum sie das nicht tun. — Drittens nenne ich die keine Beiordnung von Beiständen und keine dem Verbraucher, die dem Konsumdruck und dem Zeit- Prozeßkostenhilferecht gleichwertige Regelung ken- geist dieser Gesellschaft erliegen und sich über ihre nen. Verhältnisse verschulden. Herr Staatssekretär Funke hat hier soeben die Zahl von 1,7 Millionen Einzelkauf- Ich sehe die Gefahr, daß die hier geregelte Verfah- leuten und Verbrauchern genannt. rensweise trotz allem von der Mehrheit der Betroffe- Eine Nebenbemerkung in diesem Zusammenhang: nen als bedrohlich empfunden wird, so daß sie auch Bei einer Befragung von 1 000 ostdeutschen Unter- weiterhin nur sehr zögerlich Beratungsstellen aufsu- nehmen durch den Bundesverband der Deutschen chen werden. Wegen der erheblichen psychischen Industrie stellte sich heraus, daß die Banken ihr Geld Belastung der Schuldner erscheint mir eine solche im Osten am liebsten nur an Tochterunternehmen Beteiligung von vertrauten Beratern unabdingbar, westdeutscher Konzerne oder Treuhandunternehmen und dies auch langfristig, etwa bei der Motivierung zu geben, echte Neugründungen bleiben auf der erneuter Arbeitssuche. Ein Treuhänder, der sich für Strecke. Im Be richt über diese Umfrage heißt es nach die Betroffenen ebenso als ein Fremdkörper darstellt der heute erschienenen „ Wochenpost" : wie der Insolvenzverwalter, wird eine solche Bezie- hung nicht gewährleisten. Generell gilt: Je größer ein Unternehmen, um so unkomplizierter gestaltet sich die Antragstel- Ich unterstütze den SPD-Antrag auf Fristverkür- lung. zung für das Wohlverhalten. Bei über 6 Milliarden DM Bankschulden genügt dann Eine Motivierung des Schuldners muß auch seine offenbar schon Charisma des Antragstellers, wie man weitere Existenzsicherung und die seiner Angehöri- der Presse entnehmen darf. gen betreffen. Die Befugnisse der Gläubigeraus- 19122 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Dr. Uwe-Jens Heuer schüsse nach § 114 des Entwurfs wirken nach meiner nicht vorhanden ist, ein von der Arbeitnehmerschaft Ansicht hier negativ. bestimmter Vertreter, etwa der Gewerkschaften. Das Existenzminimum der Be troffenen und der Ich denke, daß das Inkrafttreten des Gesetzes erst unterhaltsberechtigten Personen muß vorab voll am 1. Januar 1997 jedenfalls die gute Seite hat, daß abgesichert werden, bei gleichzeitiger Unterstützung man vorher noch über eine Novellierung nachdenken bei der Arbeitsplatzsuche. Mir scheint es nicht angän- kann. gig zu sein, daß die Unterhaltsinteressen zur Disposi- Ich danke für die Aufmerksamkeit. tion der Gläubigerausschüsse gestellt werden, wo sie (Beifall bei der PDS/Linke Liste) untergehen werden. Außerdem erscheint es mir not- wendig, sicherzustellen, daß sich der Selbstbehalt gegenüber den Gläubigeransprüchen bei Arbeitsauf- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster der nahme erhöhen kann, damit der Schuldner zur Kollege Dr. Wolfgang Ullmann. Arbeitsaufnahme motiviert wird. Pfändungen sollten nach meiner Auffassung im Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bereich des Hausrates begrenzt werden, wenn ein NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Entschuldungsplan vorliegt, der eine Restschuldbe- Der Rechtsausschuß des Bundestages hat meines freiung rechtfertigt. Es muß eine resozialisierende, Erachtens gut getan, in seinem Bericht über den sanierende und weitere präventive Hilfe geben, nicht Gesetzentwurf und dessen Beratungen die Wieder- eine Zerstörung der Lebensverhältnisse und Perspek- herstellung der Rechtseinheit im ganzen Bundesge- tiven des Schuldners. biet voranzustellen, wenn er Inhalt und Bedeutung der neuen Insolvenzordnung würdigt. Die Entschuldungsregelungen sollten so ausgestal- Der unlängst erschienene Schuldenreport 1993, der tet sein, daß sie Mitverschulden von Politik und von der Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherver- Gläubiger, insbesondere der Banken, an den sozialen bände zusammen mit dem Roten Kreuz herausgege- Problemen des Schuldners berücksichtigen und Rest- ben wird, dokumentiert, in welchem Ausmaß mittler- schuldbefreiung entsprechend hoch ansetzen und weile auch das Thema Schulden und Überschuldung dabei nicht in das Belieben der beteiligten Instanzen ein gesamtdeutsches Problem geworden ist. Dazu stellen, die über den Schuldner zu richten haben. Hier kommt aber ein zweiter positiver Effekt. Die Verein- fehlen entsprechende Regelungen. heitlichung der deutschen Rechtsprechung vollzieht Bei der Entschuldung hätte die Erfahrung berück- sich in diesem Falle so, daß es auch innerhalb des sichtigt werden sollen, daß außergerichtliche Einzel- betroffenen Rechtsgebietes zur Vereinheitlichung vergleiche den Vorzug vor einem Gesamtvollstrek- bisher getrennter Regelungen kommt, in dem das kungsverfahren verdienen, weil hier die Entschul- bisherige Nebeneinander von Konkurs und Vergleich dung für alle Beteiligten nachvollziehbarer, übersicht- im Insolvenzverfahren zusammengefaßt wird. Das ist licher und für einen großen Teil der Schuldner schnel- ein Vorgang, der leider sehr vereinzelt in der Recht- ler erreichbar ist, mit positiven Folgen für eine neue sprechung seit der Vereinigung der beiden deutschen Perspektive für den Schuldner. Staaten dasteht. Ein besonders grelles, zusätzliches Schlaglicht wird Weiterhin hätte nach unserer Meinung der Grund- durch den Konkursfall Schneider auf unsere Beratun- satz der Einzelzwangsvollstreckung beibehalten wer- gen geworfen. Es ist vom Institut für Finanzdienstlei- den sollen, und zwar mit der Begrenzung eines stungen sogar der Vorschlag geäußert worden, die gesetzlich geforderten Sanierungskonzepts, auf das Beschlußfassung auszusetzen, um eine Überprüfung sich die Gläubiger einlassen müssen mit der Folge, durchzuführen, wie der Fall Schneider auf der Basis daß Vollstreckungsmaßnahmen rechtsmißbräuchlich der neuen Insolvenzordnung zu behandeln wäre. werden, soweit ein Sanierungskonzept sinnvoll und Denn im Moment muß er ja nach der alten Konkurs- möglich erscheint. Entsprechende Überlegungen lie- ordnung abgewickelt werden. gen schon von den Gerichten vor. Ich stimme dem insoweit zu, als diese Äußerung die Das jetzige Verfahren scheint uns auch für die Bedeutung unseres Gesetzgebungsvorhabens unter- private Entschuldung viel zu kostenträchtig zu sein, streicht. Den Vorschlag, den Verbraucherkonkurs was eine weitgehende, zügige Entschuldung eben- und die Restschuldbefreiung gesondert zu verab- falls behindert. schieden, lehne ich jedoch ab. Denn das würde die mühsam errungene Einheitlichkeit der gesetzlichen Ein Punkt der Kritik — auch das wird in den Regelung erneut mit Zersplitterung bedrohen. Das SPD-Anträgen aufgenommen — betrifft die unzurei- muß um so mehr betont werden, als Anhörung und chende Beachtung von Arbeitnehmerinteressen im Beratung im Rechtsausschuß gerade im Bereich des Gesetzentwurf. Während den Gläubigern — zumeist Verbraucherkonkurses und der Restschuldbefreiung Banken — unter Erweiterung ihrer Verfahrensrechte zu erheblichen und höchst erfreulichen Verbesserun- die üblichen Absonderungs- und Aussonderungs- gen geführt haben. rechte erhalten bleiben, werden die bisherigen Vor- rechte der Arbeitnehmer weitgehend beseitigt. Wenn aus den Reihen der Schuldnerberatung die Kritik geäußert wird, die Wohlverhaltensfrist von Nicht angemessen ist nach unserer Ansicht auch die sieben Jahren sei zu lang, so ist darauf hinzuweisen, Begrenzung der Vertretung der Arbeitnehmerschaft daß der Gesetzentwurf selbst schon die Möglichkeit im Gläubigerausschuß. Vertreten sein muß auf jeden einer Verkürzung auf fünf Jahre vorsieht. Ob das Fall der Betriebsrat des Unternehmens; wenn dieser ausreicht, wird die Praxis lehren — ein zusätzliches Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19123

Dr. Wolfgang Ullmann Argument für eine schnelle Verabschiedung, wie ich Ich freue mich, daß die Koalition und die SPD in meine. Das sage ich auch im Blick auf den vorgese- dieser Frage einer Meinung sind. Wir brauchen eine henen späten Zeitpunkt des Inkrafttretens: im Jahre Reform unseres geltenden Konkurs- und Vergleichs- 1997. rechts. Wir brauchen genau das Insolvenzrecht, das Daß im ganzen mit diesem Entwurf unserer Recht- hier in der vom Rechtsausschuß entscheidend mitge- sprechung ein erheblicher Fortschritt ermöglicht wird, stalteten Fassung der Regierungsentwürfe vorliegt. kann schon jetzt als ausgemacht gelten. Ebenso Wir sind uns alle einig, daß wir es in absehbarer Zeit unstreitig ist, daß damit nur eine Seite dieser für brauchen. Vermögens-, Arbeits- und Wirtschaftsrecht zentralen Frage geregelt ist. Das gilt ganz besonders unter dem Schon seit längerem wissen wir, daß unser gelten- - Gesichtspunkt der Gläubigerautonomie, die im des Konkurs- und Vergleichsrecht nicht nur Mängel Gesetzentwurf so stark betont wird. Der Kollege aufweist, sondern den sich ständig weiterentwickeln- Heuer hat auf die Problematik dieser Sache soeben den modernen Wirtschaftsverhältnissen einfach nicht hingewiesen. mehr gewachsen ist. Zu Recht ist ja auch von Ihnen, Die Rolle der Kreditgeber im Falle Schneider zwingt Herr Gres, das Schlagwort vom Konkurs des Konkurs- meines Erachtens zu gesetzgeberischen Überlegun- rechts erwähnt worden. Nur selten kommt es über- gen, wie — nachdem wir mit der neuen Insolvenzord- haupt noch zu echten Konkursverfahren, weil in der nung einen wichtigen Schritt get an haben — durch Regel die Masse nicht einmal mehr ausreicht, um die eine Erweiterung der Transparenz und der öffentli- Verfahrenskosten zu decken und das Verfahren zu eröffnen. chen Kontrolle der Mißbrauch des Bankgeheimnisses noch deutlicher erschwert wird, als das in den bishe- rigen Gesetzen be treffend den Umkreis der organi- Ich erinnere auch daran, daß es erhebliche sierten Kriminalität geschehen ist. Die Möglichkeiten Ungleichheiten zwischen den Gläubigern und ihren des betrügerischen Konkurses müssen gesetzgebe- Befriedigungsmöglichkeiten in der Praxis gibt und risch noch sehr viel drastischer beschnitten werden. nach dem geltenden Konkursrecht der einfache Kon- Ich glaube, daß das auch im Blick auf die angestrebte kursgläubiger häufig auf der Strecke bleibt. Ver- europäische Währungsunion eine unaufschiebbare gleichsverfahren — das ist schon gesagt worden — Aufgabe ist. kommen in der Praxis fast überhaupt nicht mehr vor. Was am schwersten wiegt und in einer modernen Meine Damen und Herren, ich meine, das Parla- Wirtschaftsordnung nicht länger hingenommen wer- ment sollte durch eine eindrucksvolle Mehrheit — so- den kann, ist, daß das geltende Konkursrecht nicht weit das bei der jetzt absehbaren Anwesenheit mög- sanierungsfreundlich ausgestaltet ist. lich ist — all denen danken, durch deren Mitwirkung dieses wichtige Gesetzeswerk zustande gekommen Was wir in Deutschland zur Sicherung des Wirt- ist. Ich hoffe wie der Herr Kollege Pick, daß dieser schaftsstandorts, zur Erhaltung von Unternehmen, Gesetzentwurf den Behuf unserer Zeit zur Gesetzge- Arbeitskraft und Arbeitsplätzen brauchen, ist ein bung so eindrucksvoll unter Beweis stellt, daß alle modernes, praxisgerechtes Recht, das im internatio- schon geäußerten Zweifel, aber auch alle künftigen nalen Vergleich bestehen kann und auch vertrauens- niedergeschlagen werden. bildend bei Investoren wirkt, ein Insolvenzrecht, das (Beifall des Abg. Dr. Hans de With [SPD]) Sanierungshemmnisse abbaut und damit den wirt- schaftlichen Interessen aller Beteiligten einschließlich Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste spricht der Arbeitnehmer entspricht. die Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarren- berger. All dies hat dazu geführt, daß die Konkursordnung von 1877 und die Vergleichsordnung von 1935 nicht nur an einzelnen Stellen ergänzt oder geändert, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- sondern insgesamt durch ein neues Insolvenzrecht nisterin der Justiz: Frau Präsidentin! Meine Damen ersetzt werden mußten. und Herren! Wir erleben heute eine seltene, eine historische Stunde der Gesetzgebung. Nach über Die schon vor längerer Zeit für dieses Frühjahr zehn Jahre dauernden Reformarbeiten stehen wir vor beabsichtigte Verabschiedung unseres neuen Insol- dem Abschluß einer umfassenden, schwierigen venzrechts gewinnt vor dem Hintergrund aktueller Gesamtreform, nicht einfach vor der parlamentari- Ereignisse besondere Bedeutung. Mit Blick auf den schen Verabschiedung eines einzelnen Änderungs- Konkurs der gesetzes, sondern vor der vollständigen Ersetzung Immobiliengruppe Schneider möchte ich nachdrücklich klarstellen: Weder die neue Insol- eines Reichsjustizgesetzes, das über hundert Jahre venzordnung noch andere staatliche Maßnahmen gegolten hat, durch eine grundlegende Neukodifika- tion. hätten einen solchen Konkurs verhindern können. Mögliche Versäumnisse auf seiten der Großgläubiger, Diese Neukodifikation ist eine politisch und wirt- der Banken, können nicht durch das Insolvenzrecht schaftlich dringend erforderliche Anpassung an das ausgeglichen werden. moderne internationale Wirtschaftsleben und gleich- zeitig ein wichtiger Beitrag zur weiteren Vereinheit- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne lichung des Rechts in den alten und in den neuen ten der CDU/CSU) Bundesländern. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Aber ich appelliere wegen ihrer großen Verantwor CDU/CSU) tung an die Banken, alles zur Schadensbegrenzung 19124 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Mögliche zu tun, insbesondere zugunsten der Hand- sich von ihren Verbindlichkeiten zu befreien und werker und der Lieferanten. damit die Chance für einen wirtschaftlichen Neube- ginn zu erhalten. Dies ist ein Ausweg aus dem (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne bisherigen lebenslänglichen Schuldturm. ten der CDU/CSU — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Dringend notwendig!) Die Forderungen der Verbraucherverbände nach noch weiter gehenden Lösungen lassen die berechtig- Gegen die unredliche Inanspruchnahme von Kredi- ten Interessen der Gläubiger außer Betracht. Die ten und dadurch bedingtes Pleitemachen hilft keine Restschuldbefreiung hilft jedoch nicht nur den Betrof- noch so gute Insolvenzordnung. Aufgabe des Staates fenen aus ihrer oft lebenslangen wirtschaftlichen Not, in einer freien Marktwirtschaft ist es, gesetzliche - sondern ist auch gesamtwirtschaftlich sinnvoll und Regelungen bereitzustellen, die die Bewältigung sol- erstrebenswert. Gescheiterten Unternehmen wird cher Krisensituationen in einem geordneten Verfah- eine weitere Startchance gegeben, die Verbraucher ren ermöglichen und zu einer bestmöglichen Befrie- erhalten einen Anreiz, sich durch eigene Arbeit zu digung der Gläubiger und gerade immer der soge- ernähren und nicht weiterhin von der Sozialhilfe und nannten kleinen Gläubiger führen. damit auf Kosten der Allgemeinheit zu leben. Ich Genau dies hat sich die Insolvenzrechtsreform zum denke, daß sich das — jedenfalls nach einer Anlauf- Ziel gesetzt, wenn sie neben der Verbesserung von phase — auf dem Arbeitsmarkt und im Sozialbereich Sanierungschancen für insolvente Unternehmen die bemerkbar machen wird. Befriedigungschancen insbesondere der kleinen (Beifall bei der F.D.P.) Gläubiger erhöht. Die Insolvenzrechtsreform hat im Rahmen der par- Künftig wird die an die ungesicherten Gläubiger zu lamentarischen Beratungen — auch ich möchte darauf verteilende Vermögensmasse größer. Die Privilegie- hinweisen — nicht nur Zustimmung erfahren. Kriti- rung bestimmter Gläubigergruppen, auch des Staa- sche Stimmen haben sich aus mehreren Ländern tes, für Steuerforderungen entfällt. Zusätzlich wird geäußert; nicht — das möchte ich deutlich betonen —, durch Kostenbeiträge der gesicherten Gläubiger und weil sie die Ziele und den Inhalt des Reformpakets durch die erweiterte Anfechtung gläubigerschädli- kritisieren, sondern die Bedenken sind vor allem — ich cher Handlungen mehr Masse als bisher zur Vertei- möchte sagen: ausschließlich — von der Befürchtung lung an die ungesicherten Gläubiger zur Verfügung getragen, mit der Reform könne auf die Justiz eine stehen. Gerade mittelständische Lieferanten und Belastung zukommen, der diese nicht gewachsen Bauhandwerker können dann damit rechnen, mit sei. größeren Be trägen als bisher befriedigt zu werden. Diese Bedenken sind von allen Berichterstattern bei Erlauben Sie mir aber in diesem Zusammenhang den täglichen und den nächtlichen Beratungen — da- auch einen Hinweis auf die geltende Rechtslage. Zur für möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich danken, besseren Sicherung der Handwerker ermöglicht es weil wir sonst heute nicht die zweite und die dritte schon jetzt das vor einem Jahr auf Initiative der Beratung im Rahmen dieses Gesetzgebungsvorha- Bundesregierung beschlossene Bauhandwerker- bens durchführen könnten — berücksichtigt worden. sicherungsgesetz Handwerkern, sich durch beson- Deshalb ist ja der Entwurf entscheidend verschlankt dere Sicherheiten des Bauherrn bzw. des Bauunter- und vereinfacht worden, so daß die Gerichte nicht nehmers zusätzlich gegen Risiken, besonders Kon- mehr als unbedingt notwendig belastet werden. Wir kursrisiken, abzusichern. Bauhandwerker sind da- kommen den Ländern mit dem Zeitpunkt des Inkraft- nach berechtigt, für ihre vertraglichen Bauforderun- tretens, nämlich erst zum Januar 1997, ganz entschei- gen nicht nur die Einräumung einer Sicherungshypo- dend entgegen, und zwar nicht, Herr Heuer, um eine thek am Baugrundstück, sondern auch die Sicherung Novellierung ins Auge zu fassen, sondern um den am Baugeld des Auftraggebers zu verlangen. Der Ländern damit die ausreichende Möglichkeit zu Bauhandwerker kann die Leistung verweigern, wenn geben, sich auf die Umstellung auf das neue Recht der Bauherr oder der Bauunternehmer die verlangte einzurichten. Sicherung verweigern. Vielen Dank. Die Möglichkeit, eine Bankbürgschaft der bau- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. finanzierenden B anken zu verlangen, ist aber offen- sowie bei Abgeordneten der SPD) sichtlich noch zuwenig bekannt und wird leider auch noch zuwenig genutzt. Diese Art der Sicherung sollte bei größeren Vorhaben und Risiken zur Selbstver- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht ständlichkeit werden, und zwar auch dann, wenn der der Kollege Hermann Bachmaier. Auftraggeber einen großen Namen hat. Bei der aktuellen Diskussion über die Notwendig- Hermann Bachmaier (SPD): Frau Präsidentin! keit und Dringlichkeit eines neuen Insolvenzrechts Meine Damen und Herren! Der Finanz - und Bauskan- besteht die Gefahr — in dieser Debatte nicht; denn dal Schneider hat dazu geführt, daß die höchst unter- diesen Punkt haben alle Redner betont —, daß ein schiedliche Absicherung von Gläubigern im Konkurs- Komplex in den Hintergrund treten könnte, dem fall zur Zeit in aller Munde ist. Wir werden wohl — die meines Erachtens hohe, in ihrem Wert heute kaum Frau Ministerin hat ja darauf hingewiesen — der abschätzbare wirtschaftliche Bedeutung, vor allem Frage nachgehen müssen, warum im konkreten Fall aber soziale Bedeutung zukommt, nämlich die Rest- insbesondere das erst vor einem Jahr beschlossene schuldbefreiung. Über dieses Institut wird in Zukunft Bauhandwerkersicherungsgesetz so wenig Vorsorge den Insolvenzschuldnern die Möglichkeit gegeben, getroffen hat und welche Dinge dafür ursächlich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19125

Hermann Bachmaier waren, daß es so wenig zur Anwendung und zur ein modernes Insolvenzrecht auf den Weg zu brin- Absicherung von Handwerkern gekommen ist. gen. (Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Cha Wie mein Kollege Professor Pick bereits ausgeführt risma!) hat, sind dabei natürlich — wie das bei einem Kom- promiß geradezu zwangsläufig der Fall ist — viele Ich werde zur allgemeinen Problematik gleich noch unserer Wünsche und Forderungen offen geblieben. mehr sagen. Lassen Sie mich zunächst zur generellen Dennoch glauben wir, daß es nicht vertretbar wäre, Problematik einer Insolvenzrechtsreform einiges aus- dem heute nach langen und eingehenden Berichter- führen. stattergesprächen vorgelegten Entwurf letztlich die Die Verabschiedung der Insolvenzrechtsreform Zustimmung zu versagen. Schon ein oberflächlicher - — darauf haben alle Vorrednerinnen und Vorredner Vergleich mit dem ursprünglichen Regierungsent- hingewiesen — ist überfällig. Seit Jahrzehnten wird wurf zeigt, daß der heute zur Abstimmung gestellte beklagt, daß die über 110 Jahre alte Konkursordnung Gesetzentwurf nicht nur kräftig entschlackt wurde, und die aus dem Jahre 1935 stammende Vergleichs- sondern auch substantielle Verbesserungen in den ordnung den gegenwärtigen Anforderungen an ein sehr offenen und fair geführten Verhandlungen modernes Insolvenzrecht nicht mehr genügen. Wenn erreicht werden konnten. es überhaupt noch zur Eröffnung eines Verfahrens Meine Damen und Herren, das für uns zentrale kommt, ist die Liquidation die Regel und die Sanie- Anliegen der Sanierung von notleidend gewordenen rung die Ausnahme. Nur dann, wenn talentierte Betrieben und damit der Erhaltung von Arbeitsplät- Konkurs- und Vergleichsverwalter mit unternehmeri- zen im Insolvenzverfahren kraft Gesetzes einen hohen schem Geschick und mit Unterstützung der Gläubiger Stellenwert einzuräumen, kommt nicht nur bereits in ein notleidendes Unternehmen in den Bereichen reor- § 1 der Insolvenzordnung als gesetzlich vorgegebenes ganisieren, die überlebensfähig sind, können Arbeits- Ziel zum Ausdruck. Die Realisierung dieses Zieles plätze gerettet, Betriebe und Produktionsstätten zieht sich buchstäblich wie ein roter Faden durch alle erhalten werden. Vorschriften, die die Unternehmensinsolvenz betref- fen. Vor allem schafft das neue Recht gesetzliche Unser bestehendes Insolvenzrecht, also Konkurs- Möglichkeiten, das Betriebsvermögen vor dem und Vergleichsordnung, ist bei diesen wünschens- schnellen Zugriff der Sicherungsgläubiger zu bewah- werten Sanierungsverfahren eher hinderlich, weil es ren, so daß der Betrieb als Ganzes noch einer Sanie- eben der wertevernichtenden und Arbeitsplätze zer- rung bzw. einer arbeitsplatzerhaltenden Weiterveräu- störenden Liquidation den Vorrang gibt, das auch in ßerung zugeführt werden kann. Sicherlich wäre es aller Regel den nicht abgesicherten Gläubigern keine meines Erachtens im Sanierungsinteresse von großer Vorteile gebracht hat. Bedeutung, wenn die Sicherungsgläubiger, also vor Erst recht war das geltende Insolvenzrecht völlig allem die Banken, in größerem Umfange, als dies im ungeeignet, den unverschuldet in Not geratenen Gesetz vorgesehen ist, ihren Beitrag zur arbeitsplatz- Verbrauchern bei entsprechender Anstrengung wie- erhaltenden Sanierung leisten müßten. der auf die Beine zu helfen und einen Neuanfang zu Die abgesicherte Sonderstellung insbesondere der ermöglichen. Mit Recht wurde — mehrere Vorredne- Banken ist auch, wie der Frankfurter Konkursfall rinnen und Vorredner haben dies erwähnt - vom Schneider zeigt, eine der ganz entscheidenden Ursa- Konkurs des Konkurses gesprochen und immer nach- chen skandalöser Pleiten. Die gesicherten Banken drücklicher vom Gesetzgeber Abhilfe verlangt. sehen leider allzu häufig keinen Anlaß, rechtzeitig Insbesondere die USA, aber auch Österreich und dem unverantwortlichen Treiben großspuriger Ge andere europäische Staaten haben längst ein moder- schäftemacher Einhalt zu gebieten. Arbeitnehmer, nes Insolvenzrecht, das der Sanierung und Reorgani- ungesicherte Handwerker und Zulieferer, die darauf sation Vorrang vor der Vernichtung und Zerschla- vertrauen, daß die Banken ihre vielfältigen Kontroll- gung von Betrieben einräumt und auch überschulde- möglichkeiten wahrnehmen, haben am Ende dann ten Verbrauchern bei entsprechender Anstrengung das für sie existenzvernichtende Nachsehen. eine Überlebensperspektive auf dem Weg der Rest- Würde den abgesicherten Gläubigern — hiermit schuldbefreiung bietet. Nur in der Bundesrepublik meine ich vor allem die Banken — im Insolvenzfall ein wollte es trotz gründlicher Vorarbeiten und vielfälti- höheres Insolvenzopfer aufgebürdet, dann würden sie ger Versprechungen auch der Koalitionsmehrheit auch ihren Kontrollpflichten gegenüber ihren Groß- zunächst nicht gelingen, den völlig antiquierten kreditnehmern gründlicher nachkommen als bisher. Rechtszustand zu beseitigen und ein zeitgerechtes Die Folge wäre, daß die Sanierung nicht nur leichter Insolvenzrecht zu schaffen. und aussichtsreicher wäre; Arbeitnehmer, Handwer- ker und ungesicherte Lieferanten wären dann letztlich Für uns war es daher, meine Damen und Herren, besser geschützt, als dies auch nach dem neuen Recht eine geradezu selbstverständliche Verpflichtung, uns leider immer noch der Fall ist. Lassen Sie uns, auch im nach der Vorlage des Regierungsentwurfes zum Insol- Lichte der riesigen Frankfurter Immobilienpleite, venzrecht mit den Berichterstattern von der CDU/ nochmals über eine stärkere Beteiligung der Banken CSU und der F.D.P. und den Damen und Herren des im Insolvenzfall reden! Ein größeres Engagement der Justizministeriums auf die Suche nach einem von Sicherungsgläubiger würde manchen Sanierungsver- allen Fraktionen getragenen Kompromiß zu machen, um noch in dieser Legislaturperiode dem Gesetzge- such aussichtsreicher gestalten. bungsnotstand — und um einen solchen handelt es Meine Damen und Herren, auch wenn wir im Detail sich — im Insolvenzbereich ein Ende zu bereiten und noch viele Verbesserungswünsche haben, so bleibt 19126 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Hermann Bachmaier doch die Tatsache, daß wir in diesem Gesetz erstmals ligte Dritte, die auf die Liquidität dieser Firmen ein eigenständiges Verbraucherinsolvenzverfahren vertrauen, ins Unglück stürzen. schaffen, an dessen Ende den unverschuldet in Not (Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Das ist Geratenen durch die Restschuldbefreiung eine neue ein weltfremdes Feindbild! Völlig welt Lebensperspektive geboten wird. Diesen schon heute fremd!) mehr als eine Million Privathaushalten, deren Zahl in der gegenwärtigen Wirtschaftsk rise immer dramati- — Aber Herr Kleinert, Sie wissen doch, daß ich zu scher steigt, bliebe nach heutigem Recht kaum eine einem Feindbild völlig unfähig bin. Chance, dem modernen Schuldturm mit seinem ver- (Lachen bei der SPD — Dr. Wolfgang Weng hängnisvollen Kreislauf aus Zinsen und Kosten jemals [Gerlingen] [F.D.P.]: Aber weltfremd sind zu entrinnen. - Siel) Herzlichen Dank. Den für diese Menschen so aufopferungsvoll tätigen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Schuldnerberaterinnen und Schuldnerberatern bietet DIE GRÜNEN) das neue Recht eine, wie ich meine, gute Hilfe an, nicht zuletzt dadurch, daß der außergerichtliche Ver- gleichsversuch dem gerichtlichen Verfahren obligato- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort nimmt risch vorgeschaltet ist. Die Möglichkeiten des Ver- jetzt der Kollege Wolfgang von Stetten. braucherinsolvenzverfahrens mit der späteren Rest- schuldbefreiung werden schon auf das außergericht- Frau Präsidentin! liche Schuldenbereinigungsverfahren einen heilsa- Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten: Meine Damen und Herren! Wir stehen, wie schon men Druck ausüben und damit die Arbeit der Schuld- gesagt, vor der Verabschiedung eines Jahrhundertge- nerberatungsstellen wesentlich erleichtern. setzes — Kollege Geis nannte es so —, und Frau Justizministerin sprach von historischer Stunde", Meine Damen und Herren, das Insolvenzrecht wenn die über hundert Jahre alte Konkursordnung alleine wird auch in Zukunft Leid und wirtschaftliche und die fast 60 Jahre alte Vergleichsordnung durch Not nicht verhindern. Darauf ist schon mehrfach ein einheitliches Insolvenzsystem abgelöst werden. hingewiesen worden. Ein auf Sanierung und Rest- Ich will vorweg sagen: Es ist ein gutes Gesetz, bei schuldbefreiung ausgerichtetes Insolvenzrecht kann aller Kritik an dem einen oder anderen Detail, in sich aber mithelfen, um wieder Wege aus dem wirtschaft- schlüssig, durchdacht und, wie man heute so schön lichen Zusammenbruch von Unternehmen zu finden sagt, „händelbar". Dennoch verhehle ich nicht, daß und verschuldeten Privatpersonen eine neue Lebens- ich lange Zeit ein Befürworter einer einfacheren perspektive zu geben. Letztlich wird das neue Recht Lösung gewesen wäre, nämlich der Modernisierung allen Beteiligten, einschließlich der Gläubiger, von der Konkursordnung z. B. durch Streichung der Vor- Nutzen sein. rechte, Einführung eines Sequesters und insbeson- dere Einführung der Vergleichsordnung in diese Kon- Ein sanierungsorientiertes Insolvenzrecht leistet im kursordnung. Dadurch wäre eine überschaubare übrigen auch einen Beitrag dazu, wirtschaftliche Insolvenzordnung geschaffen worden, für die bereits Zusammenbrüche zu verhindern, wenn auch einzelne in vielen Teilen die Rechtsprechung vorläge. Die Gläubigergruppen — darauf habe ich schon hinge- Restschuldbefreiung und die Verbraucherinsolvenz wiesen —, die sich heute durch alle erdenklichen hätte ich gern in ein neues, eigenes Gesetz Sicherungssysteme völlig konkursfest absichern, in gebracht. Zukunft ihren leider sehr bescheidenen Beitrag im Manchmal ist aber ein Gesetzeswerk schon so weit Insolvenzfall zu erbringen haben. Geld- und Waren- fortgeschritten, und die 15 oder gar 20 Jahre alten kreditgeber werden, wenn sie sich nicht gänzlich Vorarbeiten sind nicht ohne Spuren geblieben; und es risikofrei absichern können, auch bei guten Kunden ist letztlich so imponierend in seiner Perfektion, in etwas behutsamer sein. seinen Details, daß die Maschinerie nicht mehr aufge- halten werden kann. Noch eines: Nach der Verabschiedung des Insol- Ziel war es — und das ist im wesentlichen ja venzrechtes sollten wir darangehen, die Möglichkei- erreicht —, ein einheitliches Insolvenzverfahren ten, die unser Gesellschaftsrecht bietet, Haftungsrisi- durchzuführen mit der Zielvorgabe, möglichst viele ken zu Lasten von ungesicherten Gläubigern einzu- Unternehmen zu erhalten, insbesondere kleine Gläu- schränken, einmal sehr gründlich zu durchforsten. Ich biger dadurch zu schützen, daß wenigstens, wenn denke dabei an die haftungsrechtlich nach wie vor auch oft nur bei kleinen Quoten, etwas ausgeschüttet attraktiven Betriebsaufspaltungen. Auch sollte der wird. uns durch die Insolverzstatistik belegte entschieden zu hohe Anteil der Gesellschaftsformen der GmbH Das neue Insolvenzrecht kann naturgemäß betrüge- und der GmbH & Co KG zu denken geben. Diese rische Konkurse — wie den aktuellen Fall des Baulö- Gesellschaftsformen bieten noch immer eine große wen Schneider — nicht verhindern; aber dadurch, daß Chance, das Haftungs- und Insolvenzrisiko auf ein mobile Werte und Zubehör in Zukunft mit ca. 9 % zur Minimum zu reduzieren. Sie wirken nicht selten Masse beitragen und Vorrechte aufgehoben werden, einladend auf diejenigen, die sich einen Teufel um kann es wenigstens bewirken, daß ein Teil der unge- ihre unternehmerische Verantwortung und um ein sicherten Forderungen ersetzt wird. ausgewogenes Verhältnis von Chance und Risiko im In diesem Zusammenhang darf ich darauf hinwei- Geschäftsleben scheren und damit häufig unbetei sen — es wurde von mehreren Vorrednern bereits Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19127

Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten erwähnt —, daß eigentlich keiner der Handwerker dungen, daß dies den Immobiliarkredit verteuere, und der Lieferanten auch nur einen Pfennig hätte wurde durch einfache Berechnungen der Boden ent- verlieren müssen, wenn er die von uns im letzten Jahr zogen. Die Verteuerungen hätten im Promillebereich verabschiedeten Bausicherungsmöglichkeiten ge- gelegen, da nur wenige Prozent der Kredite durch nutzt hätte. Insolvenzverfahren berührt sind und die Verteuerung Wir haben bewußt den alten § 648 BGB, die Siche- sich vielleicht auf 0,01 % beliefe. Die verfassungs- rungshypothek des Bauunternehmers, ergänzt, weil rechtlichen Bedenken teile ich im übrigen nicht. das eine schlechte Möglichkeit war. Wir haben nun Richtigerweise wurde eine Vorphase eingeführt, die Möglichkeit des Unternehmers und des Handwer- der dann das Insolvenzverfahren folgt, mit der Maß- kers nach der Auftragserteilung — das ist ganz wich- gabe, zu erhalten oder gegebenenfalls zu liquidieren. tig —, daß er vor Beginn von seinem Bauherrn eine Neu wurde die Eigenverwaltung des Schuldners ein- Sicherung verlangen kann. Leider ist dies teilweise geführt. Sie wurde teilweise stark kritisiert, aber sie ist nicht bekannt. Die Handwerkskammern und die Indu- doch sehr sinnvoll, wenn z. B. ein Schuldner unver- strie- und Handelskamme rn sollten aktuell auf diese schuldet in eine Liquiditätskrise gerät und dadurch Sicherungsmöglichkeit hinweisen und sie ihren Mit- nicht mehr weitermachen kann. Hier können unter gliedern näherbringen. Aufsicht eines Sachwalters die Geschäfte durch den (Beifall des Abg. Dr. Hans de With [SPD]) Schuldner fortgeführt werden und kann er selber sein Unternehmen retten. Ich glaube, das ist ganz wichtig. Ein völlig neues, aber richtiges und den Lebensver- Nicht ganz glauben kann ich in diesem Zusammen- hältnissen angepaßtes Ins trument ist die Restschuld- hang eine Äußerung des Konkursverwalters Grub, der befreiung. Danach kann der Schuldner, der bisher den § 648a als uneffektiv bezeichnet, weil er vorher 30 Jahre lang oder sein ganzes Leben für nicht abbedungen werde. Es gibt dort einen Absatz 7, der befriedigte Forderungen haftete und damit letztlich besagt, daß abbedungene Sicherungen unwirksam aus dem Geschäftsverkehr gezogen wurde, es sei sind. Das heißt, selbst wenn in einem Auftragsvertrag denn, er hat über Ehefrau, Kinder oder Bekannte so etwas steht, kann eine Sicherung verlangt werden. Geschäfte getätigt, nach einer Übergangszeit von fünf Und das sollten die Handwerker tun. oder sieben Jahren ins normale Geschäftsleben Meine Damen und Herren, es ist überhaupt keine zurückkehren. Auf Einzelheiten will ich nicht einge- Frage, daß es auch Mängel gibt. Ein Großteil der hen. Richtig ist jedoch, daß eine solche Restschuldbe- CDU/CSU-Fraktion und auch der Freien Demokraten freiung dann nicht stattfinden kann, wenn der Schuld- hätte gern gesehen, wenn wir im Rahmen des Insol- ner einer Konkursstraftat überführt ist oder bereits ein venzrechts auch die Bestimmungen des § 613 a Abs. 4 Insolvenzverfahren hinter sich hat, seinen Mitwir- BGB hätten ändern können, damit sie im Konkursfall kungspflichten nicht nachkommt oder unwahre nicht gelten. Manche Betriebe wären in der Vergan- Angaben macht. Dabei hat der Schuldner das über der genheit leichter zu retten gewesen und in der Zukunft Pfändungsgrenze liegende Einkommen über einen leichter zu retten, wenn nicht im Konkurs- bzw. im gewissen Zeitraum abzutreten und möglichst eine späteren Insolvenzfall die bestehenden Arbeitsver- Erwerbstätigkeit aufzunehmen. hältnisse zwangsweise übergingen. Dadurch wird manches Unternehmen nicht gerettet, sondern quasi Folgerichtig wurde für Privatschuldner eine soge- zur Liquidation getrieben, weil ein Übernehmer sich nannte Verbraucherinsolvenz eingeführt, damit auch nicht mit den Altlasten belasten will. Kleinschuldner nicht ihr Leben lang von Gerichtsvoll- ziehern verfolgt werden. Diese kleine Insolvenz ist (Beifall des Abg. Detlef Kleinert [Hannover] entsprechend ausgestaltet und kann nur beantragt [F.D.P.]) werden, wenn im vorhinein eine private Schuldenbe- Die Bestimmungen des § 613 a Abs. 4 sind sicher gut reinigung versucht wurde. Ich glaube — und wir gemeint gewesen, aber sie sind eher ein Arbeitsplatz- werden es nach drei Jahren sicher wissen —, daß von killer als ein Arbeitsplatzerhalter. Lösungen ohne diesen privaten Schuldenbereinigungsverfahren, finanzielle Beeinträchtigung der Arbeitnehmer hätte dem Vorverfahren, viele Gebrauch machen, weil es es gegeben; aber — lassen Sie mich das so grob schneller und kostengünstiger ist als ein offizielles sagen — ideologische Scheuklappen haben eine Verfahren. Die Gläubiger werden zu einem solchen Reform in diesem Punkt verhindert. Verfahren angehalten, weil sie nun wissen, daß es auch von Amts wegen durchgeführt werden kann, (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. wenn sie sich nicht im Vorfeld mit dem Schuldner Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]) einigen. Die neuen Regelungen, die jetzt in die §§ 127 ff. Auch hier sind Schranken eingebaut, daß nicht aufgenommen wurden, sind noch vertretbar, machen ohne Sinn und Verstand oder — wie man landläufig aber die Fortführung einer Firma nach wie vor schwie- sagt — auf Teufel komm raus Schulden gemacht rig. werden, die man dann in einem Verbraucherinsol- Richtig ist der Ansatz, die Gläubiger an den Kosten venzverfahren erlassen bekommt. Das soll und darf des Insolvenzverfahrens zu beteiligen, wie es bei den kein Freibrief zum Schuldenmachen sein, sondern ist mobilen Sicherheiten durchgeführt wurde. Ich hätte ein Instrument, aus dem modernen Schuldturm her- mich aber nicht gescheut, lieber Kollege Gres, die auszukommen. Ich rate übrigens allen Schuldnern, zu

Sicherheiten der Grundpfandrechte — meistens von versuchen, schon nach Verabschiedung dieses Geset- Banken — z. B. auch mit einem Prozent ihres Wertes zes ein Vorverfahren durchzuführen und gegebenen- hinzuzuziehen. Den dagegen vorgebrachten Einwen- falls bereits vorher vernünftige Vereinbarungen zu 19128 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten treffen, um den Versuch bei Inkrafttreten dieses einmal ein Zahlenwerk: Schon 101 Jahre alt war das Gesetzes nachweisen zu können. geltende Konkursrecht, als der damalige Bundesmi- Ich teile die Bedenken der Länder, daß es am nister der Justiz, Hans-Jochen Vogel — Herr Kollege Anfang zu einem Boom von Verfahren kommt. Dies Gres hat dankenswerterweise darauf hingewiesen —, wird aber im Laufe der ersten Jahre nachlassen, weil schon 1978 den Start zur Reform gab. Dasselbe Jahr, wir derzeit einen Rückstau aufweisen. Dabei wird 1978, war es auch, in dem die Amerikaner durch ihren nicht verkannt, daß es zu einer Stellenvermehrung Bankruptcy Reform Act ihr Insolvenzrecht erneuerten, führen wird, die letztlich auch zu Kostenbelastungen von dem wir ein kleines Stück, um es zuzugeben, führt. Dennoch muß es ein Anliegen des Staates sein, abgeschaut haben. den redlichen Bürgern zu ermöglichen, nach einer Wenn 1997 das hier zu verabschiedende Werk in - Verschuldung ins normale Erwerbsleben zurückzu- Kraft tritt, wird die alte Konkursordnung 120 Jahre alt kehren, wenn er dies will und eine entsprechende Zeit sein. Das belegt ganz klar: Die Zeit für eine Reform ist Wohlverhalten zeigt. Dies kann nur im Interesse eines überreif. Schon 1978 war offenkundig: Erstens. Das sozialen Friedens sein und ist auch Anreiz, zu arbeiten geltende Recht war allein auf die Verteilung der noch und Geld zu verdienen, anstatt sich mit dem Lebens- übriggebliebenen Masse angelegt und nicht etwa auf minimum zu beschränken oder mit der Sozialhilfe die Sicherung von Arbeitsplätzen. zufriedenzugeben oder auf krummen Wegen Ge- schäfte zu tätigen. Gerade junge Leute, die sich aus Zweitens. Der Anspruch auf Verteilung der Masse Unerfahrenheit oder Leichtsinn überschuldet haben, stand im Grunde — sagen wir es so, wie es ist — auf wird dadurch eine Zukunftsperspektive gegeben. dem Papier; denn zu 75 % wurden die Konkurse schon Insoweit darf ich mich auch bei den beiden Justizmi- damals mangels Masse abgewiesen. nistern von Baden-Württemberg, Dr. Schäuble, und Drittens. Selbst die eröffneten Konkurse brachten von Bayern, Herrn Leeb, bedanken, die, durch Ver- nichts, weil im Schnitt die Zuteilungsquote um die 5 % mittlung von Herrn Geis, hier ihren Beitrag geleistet herum pendelte und damit das Wort vom Konkurs als und ihre Bedenken zurückgestellt haben. Ich glaube, Wertvernichter schlimmster Art — es stammt aus der das ist gut. Zeit von vor dem Ersten Weltkrieg — mehr als belegt Durch dieses neue Gesetz mußten auch in weit über ist. hundert anderen Gesetzen Vorschriften geändert werden, um das Gesetz mit den bestehenden Geset- Viertens. Allenfalls wurden die Gläubiger ge- zen in Einklang zu bringen. So wurde u. a. die schützt, die sich durch Grundstücke oder Eigentums- Anfechtungsmöglichkeit beim unredlichen Schuldner vorbehalt am beweglichen Vermögen sichern konn- verbessert, z. B. die Durchgriffshaftung gegebenen- ten, und diese Sicherungsrechte tragen mit zum falls auch auf Schneiders Privatvermögen. Auch die Konkurs des Konkurses bei. ersatzlose Streichung des § 419 BGB will ich hervor- Fünftens. Es fehlte ein System für den redlichen heben. Diese Bestimmungen, von Anfang an umstrit- Kleinschuldner mit einer Restschuldbefreiung, um ten, hinderten oft die Verwertung von Vermögen auch den — ich sage es so, wie es ist — überschuldeten im Insolvenzfall, weil die Sorge bestand, daß es sich im Häuslebauer, die arbeitslos gewordene Alleinerzie- wesentlichen um das letzte Vermögen eines Schuld- hende oder den übervorteilten Ratenzahler aus dem ners handelte und dadurch eine Art Durchgriffshaf- modernen Schuldturm herauszuholen. tung drohte. Es war daher oft ein Kredithemmschuh, der nun beseitigt ist. In all diesen Bereichen schafft das heute zu verab- schiedende Gesetz klar Abhilfe. Es stellt erstens auf Lassen Sie mich auch den D ank an alle Kollegen der die Rettung der Arbeitsplätze ab. Zweitens wird die Berichterstattergruppe sagen, aber auch des Rechts- Masse, also das an alle gleichermaßen zu verteilende ausschusses, den Mitarbeitern des Ministeriums. Es Vermögen, vergrößert und damit auch den Arbeitneh- war eine sehr angenehme, kollegiale Zusammenar- mern geholfen. Drittens wird das Mobiliarpfandrecht beit, in der wir in vielen Stunden zusammensaßen, um zu 24 % bei der Masse herangezogen, d. h. das Abho- dieses Jahrhundertwerk mit zu beraten und auch zu len des unter Eigentumsvorbehalt stehenden Rohma- verabschieden. terials und der daraus gewonnenen Produkte ohne Dieses Gesetz wird, auch wenn es jetzt noch stark jede Beteiligung an der Masse ist damit nicht mehr kritisiert wird — ich teile teilweise die Kritik — von der möglich. Wirtschaft und den Konkursverwaltern angenommen und in wenigen Jahren nicht mehr wegzudenken sein. Viertens. Es schafft zum ersten Mal ein besonderes, Es ist ein gutes Gesetz, und es zeigt, daß dieser dreistufiges Verfahren für die schuldlos in Not gera- Bundestag handlungsfähig ist. tene Einzelperson mit der Möglichkeit der Restschuld- befreiung nach sieben Jahren. Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., dem Natürlich — das sei wiederholt — hätten wir Sozial- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge demokraten einiges anders gemacht. Unsere Ände- ordneten der SPD) rungsanträge belegen das. Das gilt für die Arbeitneh- merrechte genauso wie für Verbraucherbestimmun- gen. Aber ich sage auch: Es ist nicht zu leugnen, daß es Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht seit Hans-Jochen Vogels Auftragserteilung eine kon- der Kollege Dr. Hans de With. tinuierliche Linie, die nachgezeichnet werden kann, bis zu diesem Gesetzesvorhaben gibt. Ich erwähne Dr. Hans de With (SPD): Frau Präsidentin! Meine auch,. daß es dem hartnäckigen Verhandeln unserer sehr verehrten Damen und Herren! Am Anfang noch Berichterstatter Hermann Bachmaier und Eckhart Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19129

Dr. Hans de With Pick zu verdanken ist, daß es hier im Sinne der den Schluß ab, daß das Gesetz so l ange — bei allen sozialen Gerechtigkeit deutliche Fortschritte gab. immer mehr zutage tretenden Mängeln im Vergleich Hinzugefügt werden muß aber auch: Es ist gut, zu den Anforderungen der modernen Zeit — tauglich wenn ein derart wesentliches Gesetz letztlich gemein- geblieben ist, während wir in unserer Zeit dank der sam erarbeitet worden ist und von einer breiten Erfindung des Telefons, des Automobils Mehrheit getragen wird. Es ist gut der Sache wegen, (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: es ist gut für das Parlament. Des Radioweckers!) Ich nehme diese Gelegenheit zum Anlaß, meinem

Nachnachnachfolger — wenn ich das so sagen darf — , und einer viel schnelleren Eisenbahn leider eine Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Funke, sehr etwas andere Art, Gesetze zu machen, entwickeln herzlich zu danken; denn es ist wesentlich ihm zu mußten. Immerhin ist das Frankfurter Zimmer im verdanken, daß es hier parteiübergreifend zu dem Bundesministerium der Justiz, in dem die Berichter- Werk kam, das wir eigentlich alle gelobt haben. Herr stattergespräche stattgefunden haben, mit dem Kollege Funke, vielen Dank; Sie haben es wirklich Frankfurter Schrank, der dort steht und eine gewisse verdient. zeitlose Behaglichkeit ausstrahlt, eine Erinnerung an (Beifall im ganzen Hause) die Zeiten, in denen unsere Vorfahren das Vorgänger- gesetz geschaffen haben. Mit diesem Gesetz werden wir im internationalen Vergleich wieder eine Spitzenstellung erreichen; Darum können wir uns zum wiederholten Male nicht nur mit der Hervorhebung der Sanierung des darüber freuen, daß hier interfraktionell sachlich, bankrotten Be triebes gegenüber — ich sage es etwas ordentlich und ruhig gearbeitet worden ist, um ein salopp — der „Versilberung" des restlichen Vermö- Gesetz zustande zu bringen, das hier zu Recht von gens und nicht nur mit der spezifischen Verbraucher- allen gelobt worden ist, das aber, wie ich eben schon insolvenz; nein, wir bieten im Einzelfall ein Stück angedeutet habe, in unserer Zeit einmal mehr den mehr Gerechtigkeit. Kompromißvorstellungen zwischen vermuteten und Dazu kommt: Unsere gesamte Volkswirtschaft kann tatsächlichen Interessen dienen mußte — anders, als nur profitieren, wenn durch ausgeklügelte Verfahren das früher bei einem Streben nach Vollkommenheit versucht wird, Bet riebe zu retten und Menschen vor sowie letzter Konsequenz und Eleganz möglich war. dem lebenslang bestehenden Schuldenturm zu Darum habe ich ähnlich wie der Kollege von Stetten bewahren. Daß das für die Justiz keine leichte Auf- auch für mich persönlich zu beklagen, daß einige der gabe sein wird, ist schon erwähnt worden: Es kostet Blütenträume — das ist nun einmal bei Kompromissen Geld; neue Planstellen für Rechtspfleger und für so — nicht reifen konnten. Richter sind einzurichten. Aber es kommt für den Staat Natürlich ist das Verfahren im ganzen effizienter auch zu Entlastungen, wenn auch in anderen Töp- fen. geworden; natürlich ist zutreffend ausgeführt worden, wer alles vernünftigerweise in Zukunft Opfer zu Ich sage deswegen mit vielen meiner Vorredner: bringen hat, um in erster Linie die Erhaltung von Wir haben an die Länder zu appellieren, nicht nur die Unternehmen und damit von wirtschaftlicher Sub- auf die Justiz zukommenden Beschwernisse zu beach- stanz sicherzustellen, die sich nicht nur in Warenwer- ten, sondern auch die für alle unübersehbaren Vor- ten oder Konten — in diesem Falle übrigens auf teile in Betracht zu ziehen. Die Gesetze sind ja nicht verhältnismäßig negativen Konten — äußert, sondern zustimmungsbedürftig. Eine Blockade im Bundesrat auch im Know-how, in Arbeitsplätzen, in der Tradi- wäre deshalb entweder ein Pyrrhussieg oder aber tion, in der Bedeutung einer Marke und anderen — bei einem endgültigen Scheitern — ein Verlust Werten, die im Konkurs- oder Vergleichsfall eben nicht nur für die Betroffenen, sondern letztlich — las- verlorengehen, und zwar ersatzlos. Gerade das soll in sen Sie mich das so formulieren — ein Bankrott für die möglichst vielen Fällen vermieden werden. Wir hof- Gesetzgebung. fen, daß es gelingt. Vielen Dank. Ganz leise ist schon angesprochen worden: Viele (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und haben Opfer gebracht. Es gibt einige, die hier verhält- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei nismäßig wenig Opfer gebracht haben, selbst im Abgeordneten der CDU/CSU und der Verhältnis zu dem als besonders hartleibig bekannten F.D.P.) Fiskus, der nach langen und harten Kämpfen auf sein Vorrecht verzichtet hat. Dafür gebührt, neben vielem Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster nimmt anderen, Herrn Parlamentarischen Staatssekretär der Abgeordnete Detlef Kleinert das Wort. Funke besonderer Dank. Nach vielen hartnäckigen Kämpfen hat der Bundesminister der Finanzen einen Verzicht erklärt. Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Frau Präsiden- tin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der Deutsche Gewerkschaftsbund und seine parla- 1877 — die Zahl ist mehrfach genannt worden — ist mentarische Vertretung in diesem Hause, nämlich die das Vorgängergesetz — jedenfalls die eine Hälfte der Kollegen von der Sozialdemokratie, haben so weit beiden Vorgängergesetze — in Kraft getreten. Ich nicht gehen mögen, gehen können, gehen dürfen möchte darauf hinweisen, daß es damals kein Telefon — was weiß ich, wie das intern abläuft —, gab und daß die Anreise aus den Wahlkreisen nach Berlin erheblich beschwerlicher war als heute der (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Weg aus den Wahlkreisen nach Bonn. Daraus leite ich Herr de With wird es uns erklären!) 19130 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Detlef Kleinert (Hannover) und deshalb haben wir in § 613a BGB und im Erbschaftsteuer, Vermögensteuer, Zinsbesteuerung, Sozialplan immer noch erhebliche Hindernisse für Gewerbekapitalsteuer einen Teil der Konkurse über- eine vernünftige Rettung von Unternehmen behalten, haupt erst verursacht. was wir natürlich bei dem gemeinsam angestrebten (Zurufe von der SPD: Na! Na!) Ziel für höchst bedauerlich halten. Wir sind der Meinung, daß wir, da das Kapital in (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: So ist es!) privaten Händen nun einmal besser aufgehoben ist als in öffentlichen Händen, Wir hoffen, daß das noch bei passender Gelegenheit, wie einiges andere, nachgebessert wird. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) in diesem Bereich ohne Rücksicht auf Neidkomplexe Auch die Vergleichsbereitschaft einer Berufs- zum Handeln kommen müssen, damit im Vorfeld gruppe, die zwar klein, aber edel ist und -in diesem Konkurse vermieden werden, statt daß man in die Zusammenhang eine besondere Rolle spielt, die sich Lage kommt — das muß man sich mal überle- bezeichnenderweise im Gravenbrucher Kreis zusam- gen —, mengeschlossen hat — aus einem Grund, der Kennern der Hotelszene bekannt ist —, (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Ist der Schneider durch Steuern in Konkurs getrie (Heiterkeit) ben worden?) ist nicht groß. Diese Berufsgruppe hat verhältnismäßig Erbschaftsteuer als Familienfremder frühestens in wenig Opferbereitschaft an den Tag gelegt. Meine zehn Jahren aus üppigen Erträgnissen eines Unter- Idee, das Honorar für so außergewöhnliche Leistun- nehmens abbezahlen zu können und ab dem elften gen wie die Verwaltung einer großen Vermögens- Jahr Rückflüsse zu bekommen. In Hongkong rechnet masse in diesen Fällen frei zu vereinbaren, ist leider man mit einem kompletten Kapitalrückfluß nach nicht aufgegriffen worden. Man hält es lieber beque- sechs Jahren. merweise mit einer Gebührenordnung, die bei den hier in Rede stehenden Streitwerten schlechthin un- Herr Kleinert, den- realistisch ist und fast diskussionslos dazu führt, daß Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: um die Geldfrage vornehmerweise gegenüber dem ken Sie an die vielen Leuchten! Verwalter nicht gestritten wird. Daß der Gläubiger- (Heiterkeit) ausschuß hier gewisse zusätzliche Möglichkeiten hat, doch etwas zu unternehmen, ist eine Kleinigkeit am (Hannover) (F.D.P.): Diese Punkte, Rande, die nicht so sehr ins Gewicht fällt, wie wir das Detlef Kleinert meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, gerne gehabt hätten. sollten Sie fairerweise bei der Insolvenzordnung Ich möchte gerne auf die aktuelle Lage hinweisen. beachten. Die Kollegen, die sich bei den Zeitungen mit den Ganz zum Schluß kann ich Ihnen das besonders besonders dicken Schlagzeilen in den letzten Tagen plastisch machen am Beispiel des Kollegen Heuer: — weil sie immer bei gegebenem Anlaß wach wer- Hier Belehrungen über Konkurse im Individualbe- den — mit interessanten Vorschlägen geäußert haben, reich von denjenigen zu empfangen, die am einzigen wie die armen Handwerker in dem Schneider-Kon- gesamtvolkswirtschaftlichen Konkurs der Weltge- kurs zu retten seien, sind heute hier alle nicht anwe- schichte maßgeblich beteiligt waren, das geht zu send. weit. (Dr. Hans de With [SPD]: Im Kanzleramt (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der sitzen die!) CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Zugabe!) — Macht auch nichts; richtig. — Sie haben auch nicht gewußt, daß wir vor Jahresfrist eine gewisse Verbes- serung bei der Handwerkersicherungshypothek, die Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Abschließend in ich nicht so optimistisch beurteile wie die Frau Bun- dieser Debatte der Kollege Briefs. desjustizministerin, verabschiedet haben. Ich habe damals Bedenken geäußert, ob das Instrument ange- nommen werden wird. Meine Bedenken sind leider Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Frau Präsidentin! berechtigt. Es hat sich fast nichts verändert. Der Meine Damen und Herren! Bis Anfang der 70er Jahre Handwerker ist zu schwach, um vom Unternehmer betrug in der Bundesrepublik die Zahl der jährlichen eine entsprechende Sicherstellung zu verlangen, Firmenpleiten etwa 3 000. Heute liegt diese Zahl weit solange er noch um den Auftrag kämpft. Deshalb muß über 10 000. Konkurse und Vergleiche, die heute nach man sich die Geschichte neu überlegen. Angaben des Vereins Creditreform jährlich über 300 000 Arbeitsplätze kosten, sind im wesentlichen Ganz zum Schluß — Frau Präsidentin, ich bitte wie die Massenarbeitslosigkeit ein Ergebnis der vielmals um Vergebung; ich sehe hier allerlei Licht- Überkapazitäten, die in allen wesentlichen Wirt- zeichen, die mich völlig verwirren — schaftszweigen seit dem großen Boom Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre entstanden sind. Überakkumu- (Heiterkeit) lation, so schrieb damals einer der alternativen Wirt- möchte ich insbesondere die verehrten Kollegen von schaftsprofessoren, ist der Kern der strukturellen Wirt der Sozialdemokratie, die sich zur Zeit mit dem schaftsprobleme, zu denen auch Unternehmenszu- Gedanken einer 1,5 %igen Vermögensteuer trägt, sammenbrüche mit Vergleichs- und Konkursverfah- darauf hinweisen, daß die Zusammenballung von ren zählen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19131

Dr. Ulrich Briefs Die hohe Zahl der Insolvenzen ist eine ganz übliche Insolvenzschuldner jedoch gestärkt wird. Damit wer- Form der Kapazitätsbereinigung in einer Marktwirt- den Inhaber, die oft erst durch ihre Managementfehler schaft, die nicht durch Mangel, sondern durch Über- den Insolvenzfall herbeigeführt haben, in wesentli- fluß an Produktion und Produktionsmöglichkeiten chen Aspekten zu bestimmten Faktoren im Insolvenz gekennzeichnet ist. Nicht zwangsläufiges Ergebnis abwicklungsverfahren. des marktwirtschaftlichen Prozesses ist es dagegen, Der ganz große Wurf, das Jahrhundertwerk, wie es wie die Folgen verteilt werden, wer mit wieviel für die soeben genannt wurde, ist meines Erachtens diese Folgen aufzukommen hat. Die Verteilung der Lasten Insolvenzordnung nun doch nicht. und der Folgen von Insolvenzen ist vielmehr gerade Ich möchte abschließend auf erhebliche Mißstände auch eine Frage und eine Aufgabe der rechtlichen im Vorfeld der Entstehung von Insolvenzfällen hin- Ausgestaltung der relevanten Vorschriften und auch - weisen. Nicht selten erscheint es so, als ob sich der Vorschriften im Vorfeld, z. B. bei den Rechnungs- Insolvenzfälle überhaupt erst im Schatten der völlig legungsvorschriften. Ich möchte hinzufügen, daß ich unzureichenden Rechnungslegungsvorschriften in mich zu diesem Redebeitrag gemeldet habe, um Deutschland entwickeln können. Deutsche Unterneh- eigentlich darauf einmal hinzuweisen. men rechnen sich bekanntlich, wenn es ihnen gut- Die derzeitig gültigen Vorschriften und die altein- geht, systematisch arm. Wenn es ihnen schlechtgeht, gefahrene Praxis — das ist vielleicht das größere haben sie vielfältige legale, manipulative Möglichkei- Problem — begünstigen eindeutig die Banken und ten, z. B. durch Schaffung von Bucherträgen das diejenigen, die sich irgendwie dinglich sichern kön- Ergebnis zu schönen. Das Ergebnis ist, daß im Vorfeld nen. Dienstliefernde Lieferanten oder auch kleine eines solchen Prozesses ein Bild entsteht, aus dem die Handwerker am Bau sind dagegen schon wesentlich wesentlichen Informationen über die wirtschaftliche schlechter dran. Das ist nicht erst seit dem jüngsten Lage und Entwicklung des Unternehmens gar nicht großen Bauträgerkonkurs bekannt. richtig ersichtlich sind. Noch schlechter sind die Beschäftigten dran. Erst Das hat auch von einer anderen Seite her Konse- seit der relativ späten Schaffung des Konkursausfall- quenzen. Deshalb möchte ich darauf noch einmal geldes haben auch sie in Insolvenzfällen eine gewisse deutlich hinweisen. Als die Daimler-Benz AG an die Sicherung. New Yorker Börse gehen wollte, hat ihr der Vorstand der New Yorker Börse gesagt: Mit euren deutschen (Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie kommen Rechnungslegungspraktiken kommt ihr uns hier nicht bevorrechtigt dran!) rein, werdet ihr nicht auf die amerikanischen Kapital- Ganz schlecht sind — wenn auch nicht unverschul- anleger losgelassen. det — diejenigen dran, die als kleine Gewerbetrei- So mußte die Daimler-Benz AG zunächst einmal bende oder als abhängig Beschäftigte ihr Leben lang 4,5 Milliarden DM an stillen Reserven in Rückstellun- unter einem Schuldenberg ächzen müssen und ihr gen auflösen. Das legt schlaglichtartig offen, welche Leben lang nicht mehr aus dem Würgegriff der oft gewaltigen Mißstände es gerade bei den laufenden anonymen Gläubiger herauskommen. Berichterstattungs- und Rechnungslegungsvorschrif- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Am besten, wir ten in der Wirtschaft gibt. machen wieder Staatswirtschaft!) Ich denke, gerade hier müssen wir ansetzen. Ich Leichtsinn oder auch die Not und Unerfahrenheit glaube, das ist ein ganz wichtiger Beitrag, der dazu führen könnte, daß Insolvenzverfahren, deren Zahl dieser Betroffenen, häufig aber auch — das wird zu oft vergessen — wucherische und ausbeuterische Prakti- ich ja genannt habe, mit den bekannten unsozialen ken der Gläubiger haben in solchen Fällen oft zum Folgen in dieser Größenordnung und mit den Folgen, Insolvenzfall, der lebenslang nachhängt, beigetra- wie wir sie gerade im Fall Schneider erleben, einfach gen. nicht mehr entstehen. Wenn wir so weit sind, daß wir das deutsche In diesen letzteren Fällen und auch bei den Lohn- Rechnungslegungsrecht und auch das deutsche Steu- forderungen bringt die vorgesehene neugefaßte Insol- errecht — ich glaube, die Insider wissen, was damit venzordnung teilweise Verbesserungen. Das ist gemeint ist — grundlegend reformieren, dann haben durchaus anzuerkennen. Andererseits — da ist die wir wirklich ein Jahrhundertwerk vollbracht. Kritik des bereits genannten Gravenbrucher Kreises, so denke ich, berechtigt — wird der Zugriff der Frau Präsidentin, ich danke Ihnen. Banken durch Aufgabe des Kopfprinzips in der Gläu- bigerversammlung noch erhöht. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Zu einer Kurzinter- Insgesamt sind die Verbesserungen, die diese Insol- vention hat der Kollege Heuer das Wort. venzordnung bringt, unzureichend. Unzureichend sind z. B. nach wie vor die Mitbestimmungsmöglich- keiten der betroffenen Beschäftigten und der betrieb- Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Ich bitte, mir lichen Interessenvertretungen. Unzureichend gere- zu gestatten, mit zwei Bemerkungen auf die Ausfüh- gelt sind nach wie vor die Bestimmungen des Ver- rungen von Herrn Kleinert zu antworten. braucherinsolvenzverfahrens. Unzureichend sind die Ich möchte erstens sagen: Er hat noch einmal Bestimmungen, die die Sanierungsverfahren unter- erwähnt, daß ich aus den bekannten Gründen, näm- stützen können. lich meiner Herkunft aus der DDR, kein Recht hätte, Problematisch ist auch, daß die Stellung des unab- hier zu reden. hängigen Insolvenzverwalters geschwächt, die der (Joachim Gres [CDU/CSU]: Richtig!) 19132 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Dr. Uwe-Jens Heuer Ich hoffe, daß er das in der nächsten Wahlperiode Wir kommen zur unterläßt. dritten Beratung Zum zweiten möchte ich sagen: Ich bin Herrn und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Kleinert in gewisser Weise dankbar, daß er das Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Konkursrecht auf die DDR anwenden will, weil das Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Damit ist der den Bürgern Ostdeutschlands ihre Lage klarmacht. Es Gesetzentwurf bei Enthaltung der PDS/Linke Liste macht deutlich, was von ihnen an Unterhaltsverzicht angenommen. und Wohlverhaltensforderungen für die nächsten sie- ben Jahre erwartet wird. Ich hoffe, sie werden Ihnen bei den Wahlen die entsprechende Quittung ertei- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: len. Zweite und dritte Beratung des von den Frak- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: tionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Das ist eine freche Lüge, die Sie da Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des machen!) Haushaltsgrundsätzegesetzes und der Bundes- Ich danke schön. haushaltsordnung (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ — Drucksache 12/6720 — CSU]: Frechheit!) (Erste Beratung 208. Sitzung) Beschlußempfehlung und Bericht des Haus- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Wollen Sie antwor- haltsausschusses (8. Ausschuß) ten, Herr Kleinert? — Drucksache 12/7292 — Berichterstattung: Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Nein. Abgeordnete Helmut Wieczorek (Duisburg) (Zuruf von der CDU/CSU: Das lohnt nicht!) Adolf Roth (Gießen) Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Damit schließe ich Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Aussprache eine dreiviertel Stunde vorgesehen. — die Aussprache. Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann verfahren Wir kommen zur Abstimmung über den von der wir so. Bundesregierung eingebrachten Entwurf einer Insol- venzordnung, Drucksache 12/2443 und Drucksache Als erster spricht der Kollege Dietrich Auster- 12/7302. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion mann. 1 der SPD auf Drucksache 12/7329 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsan- trag? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Ände- Dietrich Austermann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! rungsantrag der SPD ist mit Mehrheit abgelehnt. Meine Damen und Herren! Kommentatoren auch größerer Zeitungen gefallen sich zur Zeit, ein halbes Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in Jahr vor der Bundestagswahl, mit der Bemerkung, die der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das beiden größten Parteien im Bundestag würden immer Handzeichen. — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — ähnlicher, die SPD sei gewissermaßen eine CDU mit Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei rotem Schal. Wenn man die Abstimmung zum Insol- Enthaltung der PDS/Linke Liste angenommen. venzrecht gesehen hat, möchte man diesen Eindruck Ich komme jetzt zur bestätigen. dritten Beratung In der Tat nähert sich die SPD mit der Verzögerung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem von zwei Jahren in vielen Bereichen allmählich den Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — CDU-Vorstellungen an. Was monatelang blockiert Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Damit ist wurde, wird auf Druck der Bürger dann schließlich der Gesetzentwurf bei Enthaltung der PDS/Linke abgekupfert. Liste angenommen. (Vorsitz: Vizepräsident Hans Klein) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Angesichts vieler politischer Positionen muß m an Wir kommen zur Abstimmung über den von der allerdings eher davon reden, daß es ein paar schwarze Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ein- Federn an der roten Ballonmütze gibt. Auch wenn wir führungsgesetzes zur Insolvenzordnung, Drucksa- vor jeder Entscheidung zwei Jahre Zeit hätten zu chen 12/3803 und 12/7303. Dazu liegt ein Änderungs- warten, bis die SPD-Nachhut eingetroffen ist, gäbe es antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/7330 gleichwohl immer noch eklatante Unterschiede: auf vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für der einen Seite politische Alternative, auf der anderen den Änderungsantrag? — Gegenprobe! — Enthaltun- Seite ideologische Vergangenheitsbewältigung. Wir gen? — Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der stehen für Aufschwung, die SPD sitzt im Bremserhäus- CDU/CSU und der F.D.P. abgelehnt. chen. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in Bestes Beispiel dafür ist der Privatisierungskurs in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das der Opposition. Wir, die Koalitionsfraktionen, wollen Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltun- durch die vorliegenden Gesetzesänderungen zur gen? — Damit ist der Gesetzentwurf bei Enthaltung Bundeshaushaltsordnung und zum Haushaltsgrund- der PDS/Linke Liste angenommen. sätzegesetz die Initiative zur Privatisierung ö ffentli- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19133

Dietrich Austermann cher Unternehmen und Aufgaben deutlich bestär- 13 500 Privatisierungen — 1994 wohl ihre operative ken. Arbeit beenden. Eine Verringerung bestehender Beteiligungen zum Teil noch in dieser Periode ist nach (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und dem Stand der Vorbereitung bei weiteren 15 großen der F.D.P.) Unternehmen von der Lufthansa über die Staatsbank Wir meinen: Privatisierung bietet die Möglichkeit, der DDR bis zu Wohnungsbaubeteiligungen möglich. Aufgaben, die von der öffentlichen Hand wahrgenom- Auch aus diesen Privatisierungen wird es alleine bei men werden, von p rivaten Unternehmen und freien der Staatsbank etwa fünf Milliarden DM als Erlös für Berufen rascher und wirtschaftlicher erfüllen zu las- den Haushalt des Bundes im nächsten Jahr geben. sen. Diese Politik wird übrigens von allen, die etwas von Die SPD hält Privatisierung für Teufelszeug. Ihre Wirtschaft verstehen, unterstützt und begrüßt: Sach- gewerkschaftlichen Mitstreiter von der ÖTV fürchten verständigenrat, Monopolkommission und Bundes- den Abschied vom Sozialstaat, so Frau Wulf -Mathies, bank. eine Erosion des öffentlichen Sektors und den Ver- zicht auf eminent wichtige Vorleistungs- und Unter- Die Bundesbank sagt dazu in ihrem letzten Monats- stützungsfaktoren. — Jeder, der einmal eine Bauge- bericht: Besonders wird es darauf ankommen, die nehmigung beantragt hat, lasse sich auf der Zunge Verwaltung zu rationalisieren und mehr Aufgaben auf zergehen, was aus dem Grundsatz der Baufreiheit Private zu übertragen, sofern hiermit Kostensenkun- geworden ist. gen erzielbar sind. Die Herrin der staatlichen Müllmänner erklärt, daß (Dr. Wolfg ang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: durch Privatisierung öffentlicher Einrichtungen der Sehr klug von der Bundesbank!) Staat sich seiner gesellschaftlichen Steuerungsmög- lichkeiten beraube. — Eher geht es hier wohl um — Ich finde auch. gewerkschaftliche Kampfinstrumente. Die finanzielle Größenordnung künftiger Privatisie- Immerhin gesteht die ÖTV zu, daß auch im öffent- rungen auf Bundesebene liegt angesichts des Fort- lichen Dienst Strukturveränderungen nötig sind. Sie schritts, den wir inzwischen erreicht haben, eher in schlägt gleichzeitig vor, die hergebrachten Grund- einstelliger Milliardenhöhe, bezieht man die Sonder- sätze des Beamtentums zu überwinden. Dem wollen vermögen ein, vielleicht in zweistelliger Milliarden- wir allerdings nicht zustimmen. Uns geht es nicht höhe. darum, den Staat abzuschaffen oder die Parlamente Höhere Privatisierungserfolge — und das ist das Ziel aufzulösen. Uns geht es darum, den Staat auf seine unserer Gesetzesveränderungen — sind bei Ländern eigentlichen Kernaufgaben zu beschränken und pri- und Gemeinden zu erzielen. Sie haben das größte vate Initiative dort zu ermöglichen, wo sie mindestens Privatisierungspotential. Wir wollen, daß dort mehr genausogut oder besser Daseinsvorsorge im Interesse privatisiert wird. Dabei nehme ich das Thema der der Allgemeinheit bewältigen kann. Wir haben zuviel Sparkassen auf, das ja für manch einen der Knack- Staat und nicht zuwenig Staat. punkt in diesem Bereich geworden ist. Es ist die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Entscheidung der Kommunen, ob sie das wollen oder der F.D.P.) nicht. Es gibt keine verfassungsrechtliche Rechtfertigung (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: für die öffentliche Bereitstellung von Gütern und Die Landesbanken bitte dazu!) Dienstleistungen — ausgenommen hoheitliche Auf- gaben —, wenn Private dies ebensogut oder sogar — Ja, die Landesbanken, die zum Teil, wie in Schles- — wie in vielen Beispielen inzwischen sichtbar — wig-Holstein, zumindest teilweise privatisiert worden besser machen können. sind. Diese Entscheidungen können und sollen Län- der und Gemeinden in eigener Regelung treffen. Der Bund ist bei der Privatisierung in der Vergan- genheit mit gutem Beispiel vorangegangen und Wir wollen die öffentliche Hand von eigener Wirt- erfolgreich gewesen. Der Bericht der Bundesregie- schaftstätigkeit auf allen Ebenen — vom Bund über rung zur Verringerung von Beteiligungen und Lie- die Länder bis zu den Gemeinden — entlasten. genschaften des Bundes macht folgendes deutlich: In Diesem Ziel dienen die vorgelegten zwei Gesetzent- der laufenden Legislaturperiode, also seit 1990, wur- würfe. den bislang sieben Beteiligungen vollständig, zwei Die Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes weitere teilweise abgegeben. Privatisierungserlös: zieht Konsequenzen aus der schon jetzt bestehenden 1,7 Milliarden DM. Verpflichtung der öffentlichen Hand, Wirtschaftlich- Seit 1982, seit dem Regierungswechsel zu dieser keit und Sparsamkeit als oberstes Prinzip anzuerken- von geführten Bundesregierung, sind die nen und Nutzen-Kosten-Untersuchungen wirtschaft- Beteiligungen des Bundes von knapp 1 000 auf 400 licher Betätigung zugrunde zu legen. Manchmal hat zurückgeführt worden. Privatisierungserlös: 11,6 Mil- man den Eindruck, dieses Gesetz gilt nicht. Wir liarden DM. wollen, daß es durch die jetzt vorgesehenen Verände- rungen bestärkt und bestätigt wird. Mit den bisher größten Reformvorhaben — Bundes- post und Bundesbahn — gibt es wegweisende Auf ga- Da ist es nur logisch, daß wir jetzt alle Ebenen der ben, die über die Legislaturperiode hinaus wirken. öffentlichen Hand, alle Ebenen des Staates zur Prü- Wir setzen diese Aktionen fort. Die Treuhandanstalt fung verpflichten, inwieweit staatliche Aufgaben oder wird mit anerkannten Privatisierungserfolgen — über öffentlichen Zwecken dienende wirtschaftliche Tätig- 19134 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Dietrich Austermann keiten durch Ausgliederung und Entstaatlichung oder licht. Wettbewerb schafft darüber hinaus eine breitere Privatisierung erfüllt werden können. Palette des Angebots. Darüber hinaus soll die Verpflichtung festgelegt Warum soll es in der heutigen Zeit eigentlich falsch werden, in geeigneten Fällen privaten Anbietern die sein, wenn wir die Landesregierung in Schleswig- Möglichkeit zu geben, darzulegen, ob und inwieweit Holstein auffordern, die Planung einer wichtigen sie staatliche Aufgaben oder öffentlichen Zwecken neuen Bundesautobahn, der Ost - West - Autobahn, dienende wirtschaftliche Tätigkeiten nicht ebenso gut eine notwendige Lebensader für das nördlichste Bun- erbringen. Sie haben als privates Unternehmen desland, durch private Planungsbüros vorbereiten zu gewissermaßen die Möglichkeit zu sagen: Lieber lassen, wenn die staatliche Kapazität aus falsch ver- Bürgermeister, lieber Ministerpräsident oder- liebe standener Politik zurückgefahren wurde? Wir sind Ministerpräsidentin, wir sind bereit und in der Lage, inzwischen davon überzeugt, daß der Wiederaufbau für diesen Sektor öffentlicher wirtschaftlicher Tätig- in den 50er Jahren in der alten Bundesrepublik mit keit ein kostengünstigeres Angebot zu machen. — den heute gültigen Gesetzen nicht möglich gewesen Dieses Angebot muß dann von der öffentlichen Hand wäre. Die gleiche Gesetzesfülle 1950, und wir hätten geprüft werden. Außerdem soll den privaten Anbie- das Wirtschaftswunder sicherlich nie erlebt. Es wäre tern auch auf Bundesebene in einem sogenannten erst recht nicht möglich gewesen, wenn die staatliche Interessenbekundungsverfahren das gleiche Recht Regelungspraxis den heutigen Aufgabenkatalog um- eingeräumt werden. faßt hätte. Meine Damen und Herren, im kommunalen Wir meinen, das beste und zugleich kostengünstig- Bereich bietet sich ein breites Spektrum für Privati- ste ist eine zügige Privatisie- Mittelstandsprogramm sierung an, z. B. bei öffentlichen Planungen für Lei- rung in West und Ost. stungen, beim öffentlichen Personennahverkehr, bei (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wasser und Abwasser, Elektrizitäts-, Gas- und Abfall- der F.D.P.) wirtschaft; sie sind in vielen Kommunen übrigens bereits privatisiert. Wir wollen die Prüfung, ob das Dieses Stichwort fehlt wie das der „Deregulierung" richtig ist, zu einer Pflichtaufgabe machen. Auch der übrigens im sogenannten Regierungsprogramm der umfangreiche Beteiligungsbesitz von Ländern und SPD, das bald abgeheftet werden wird, weil es nie- Gemeinden bietet Privatisierungsmöglichkeiten. mand braucht. Das von der ÖTV kritisierte Interessenbekundungs- Privatisierung ist der erfolgversprechende Versuch, verfahren, in dem die Wirtschaft ihre Vorstellungen wirtschaftliche Tätigkeiten von den Grundsätzen und Pläne vorlegen kann, räumt privaten Anbietern „Das war schon immer so" und „Wo kämen wir da die Möglichkeit ein, Konzepte vorzulegen, wie sie es hin" zu befreien. Entbürokratisierung ist Teil unseres selber besser oder mindestens genauso gut wie die Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung, Verwaltung machen können. dessen erste Erfolge, wie die Schlagzeilen in der Lassen Sie mich mit einem Zitat unterstreichen, Presse jeden Tag zeigen, sichtbar sind. Es ist jetzt nicht welche Politik wir wollen: die Zeit, immer neue Steuern für immer mehr Staats- ausgaben zu erfinden: Energiesteuer, Vermögen- Angesichts der angespannten Haushaltssituation steuer, Erbschaftsteuer, Arbeitsmarktabgabe, Ergän- der Kommunen, insbesondere in den neuen Bun- zungsabgabe und wie dergleichen Strangulierungs- desländern, sind Überlegungen verständlich, pläne der SPD für die Wirtschaft lauten. Diese Pläne Aufgaben, deren Vollzug für die kommunalen sind nach Meinung renommierter Wissenschaftler vor Haushalte defizitmehrend wirken, P rivaten zur allem dazu geeignet, die Investitionslust zu min- Erledigung zu übertragen. Die Rückgabe von dern. Dienstleistungen der Gemeinden in die Verant- wortung der Bürger ist die Konsequenz des für die Wir wollen neben einer leistungsfähigen Verwal- Gemeinden gleichermaßen geltenden Subsidia- tung mit tüchtigen flexiblen Mitarbeitern mehr fri- ritätsgedankens. Die Zuweisung von mehr Eigen- schen Wind für private Initiative. Im internationalen verantwortlichkeit des Bürgers fordert Initiative Standortwettbewerb hat dabei die Entlastung des und Kostenbewußtsein. Staates von eigener Wirtschaftstätigkeit große Bedeu- Dies ist ein Zitat aus einem Programmpapier der tung. Der erste Schritt unserer Bemühungen war das Sozialdemokratischen Gemeinschaft für Kommunal- Beschäftigungsförderungsgesetz 1994; er ist getan. politik, unterschrieben von einem gewissen Klaus Wer heute noch gegen Privatisierung anrennt, ver- Wedemeier, der in dem Vorwort fordert: kennt, daß seit vielen Jahren große Erfolge erzielt worden sind, und dies nicht nur auf Bundesebene. Schließlich geht es sicherlich auch um einen nicht Manchmal hat man den Eindruck, viele Kollegen auf unerheblichen allgemeinen Wertewandel, der der linken Seite wollen nicht erkennen, daß es inzwi- auch in der Kommunalpolitik stattfinden muß. schen private Schulen, private Kindergärten, private Der Mann hat hier ausnahmsweise recht. Krankenhäuser, p rivate Gebäudereinigung und der- gleichen mehr gibt. Entbürokratisierung, Effizienz- (Dr. Nils Diederich (Berlin] [SPD]: Er hat nicht steigerung, Entlastung der öffentlichen Haushalte nur ausnahmsweise, sondern grundsätzlich und Reduzierung des öffentlichen Korridors haben recht!) marktwirtschaftliche Wege ermöglicht und neue mit- Er bestätigt damit einen Grundsatz, der übrigens seit telständische Existenzen geschaffen. P rivate Ge- Jahrzehnten in der Gemeindeordnung des Landes winne und damit neue Investitionen werden ermög Schleswig-Holstein verankert ist. Dort heißt es in § 2, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19135

Dietrich Austermann daß „Gemeinden zu öffentlichen Aufgaben, zu denen die eine Möglichkeit ist, zu einem dogmatischen sie nicht gesetzlich verpflichtet sind, nicht selbst Lehrsatz. erfüllen sollen, wenn sie ebensogut auf andere Weise Wir meinen hingegen, daß die Antwort auf die durch Private erfüllt werden können" . Frage, wer gesellschaftlich notwendige Dienstleistun- Wir fordern alle Kolleginnen und Kollegen auf, den gen erbringt, eine Aufgabe sorgfältiger — auch regel- Vorschlägen der Koalition zu folgen, damit die positi- mäßiger — Prüfung ist. Ob Aufgaben dem Wettbe- ven Nachrichten über die wirtschaftliche Entwick- werb überlassen werden, im staatlichen Auftrag von lung, die jeden Tag in der Zeitung stehen, immer Unternehmen der Wirtschaft erfüllt werden, ob neue zahlreicher werden. gesellschaftliche Initiativen und Gruppen bzw. andere Formen der Leistungserbringung gefunden (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: So ist es!- — Dr. Dietmar Keller [PDS/Linke Liste]: Welche werden oder ob sich der Staat die Leistungserbrin- Zeitung lesen Sie denn?) gung selber vorbehält — wie bisher die Kommune, das Land —, das ist eben eine Frage, die im Einzelfall Wer privatem Wirtschaften freien Raum gibt, entlastet entschieden werden muß. den Staat, schafft private Arbeitsplätze und gibt den Menschen in unserem Land Hoffnung. Stimmen Sie Sie enthüllen in Ihrer Begründung, was gemeint ist dem Aufschwung zu. Stimmen Sie gegen die Vor- — Sie haben das ja auch sehr deutlich gesagt —: Sie schläge der SPD! wollen die Infrastruktureinrichtungen der Länder und Gemeinden im Personennahverkehr, öffentliche Pla- Herzlichen Dank. nungsleistungen, die Versorgung mit Wasser, Elektri- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zität und Gas sowie die Entsorgung von Abwasser und Abfall dem privaten Profit ausliefern. Das ist Ihr oberstes gedankliches Prinzip. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Prof. Dr. Nils Diederich, Sie haben das Wort. (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Nein!) Dabei handelt es sich genau um jene Bereiche, lieber Herr Kollege Thiele, die insbesondere den Kommu- Dr. Nils Diederich (Berlin)(SPD): Herr Präsident! nen zum Teil beträchtliche Erträge bringen, die sie zur Meine Damen und Herren! In unserer Zeit haben Erfüllung anderer gesellschaftlicher, sozialer und kul- arbeitsplatzschaffende Investitionen und Belebung tureller Aufgaben, die immer defizitär bleiben wer- der Wirtschaft oberste Priorität. Soweit dabei unter- den, einbringen können. nehmerisches Handeln gefragt ist, sind wir alle gesell- (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Aber dann wei schaftspolitisch verpflichtet, die notwendigen Voraus- sen sie es doch aus!) setzungen zu schaffen — Bund, Länder und Gemein- den. Denken Sie nur daran, daß viele Kommunen versu- chen, die Kosten für den öffentlichen Personennah- (Beifall bei der F.D.P.) verkehr durch Einnahmen aus anderen Bereichen Wir Sozialdemokraten wollen einen modernen wirtschaftlicher Betätigung zu erbringen. Das ist Staat, der sich als Dienstleistungseinrichtung für die durchaus legitim und hat gute Tradition in Deutsch- Bürger begreift. Länder und Gemeinden sowie die land. übrigen öffentlichen Körperschaften haben die Ver- (Zustimmung bei der SPD) pflichtung, Überregulierung, überflüssige Zentralisie- rung und Bürokratismus abzubauen und sich auf die Sie wollen auch an die großen überregionalen Kernaufgaben zu konzentrieren. Industrieunternehmen mit staatlicher Beteiligung herangehen, an Stromversorgungsunternehmen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Banken und Versicherungsunternehmen. Das hat den Sie haben das in ähnlicher Form formuliert, Kollege Deutschen Sparkassen- und Giroverband bereits auf- Austermann. geschreckt. Ich denke aber, es gibt einen kleinen Unter- schied: Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Diederich, (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wir sagen das nicht nur!) Thiele? Wir sind der Auffassung, daß öffentliche Dienstlei- stungen effizient, kostengünstig, aber auch unter Dr. Nils Diederich (Berlin) (SPD): Aber gerne, wenn Berücksichtigung sozialer Auswirkungen erbracht sie mir wie üblich nicht auf meine Redezeit angerech- werden sollten. Ich füge hinzu: Dies hat für uns net wird. Vorrang vor der Frage, wer diese Dienstleistung erbringt. Also noch einmal: Effizient und kostengün- Vizepräsident Hans Klein: Selbstverständlich stig — das kann in vielen Fällen für Privatisierung nicht. sprechen —, aber auch unter Berücksichtigung sozia- ler Auswirkungen. Hier wird man abwägen müssen. Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Herr Kollege Diede- Die Koalition meint nun, die Privatisierung öffent- rich, ich möchte Sie fragen, ob Sie es für richtig halten licher Unternehmen und Aufgaben müsse deutlich — das Beispiel hatten Sie ja gerade erwähnt —, daß in verstärkt werden, da sich hierdurch, wie es bei Ihnen den Stadtwerken gleichzeitig der öffentliche Perso- heißt, die Möglichkeit bietet, derartige Aufgaben nennahverkehr und die Gasversorgung angesiedelt effektiver und effizienter von p rivaten Unternehmen sind. Zum Beispiel in Osnabrück macht der öffentliche erfüllen zu lassen. Bei Ihnen wird die Privatisierung, Personennahverkehr einen Verlust von etwa 15 Mil- 19136 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Carl-Ludwig Thiele lionen DM und der Gasbereich etwa ein Plus von — Herr Thiele wird dazu vielleicht etwas sagen —, 15 Millionen DM. Das wird dann alles auf einen was die Koalition denn nun eigentlich will. Haufen geschüttet. Dadurch wird indirekt der öffent- (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Das steht im liche Personennahverkehr gefördert, ohne daß das Gesetzentwurf ! ) überhaupt jemand sieht. Wäre es nicht sinnvoll, daß der Bürger zumindest sieht, welche Kosten auf der Meine Damen und Herren, der vorliegende Geset- einen Seite verursacht werden und von woher auf der zesvorschlag soll sowohl das Haushaltsgrundsätzege- anderen Seite der Staat die Deckung für den öffentli- setz als auch die Bundeshaushaltsordnung ändern. chen Personennahverkehr bezieht, nämlich bei den Ein Blick in das Haushaltsgrundsätzegesetz zeigt Gaspreisen, die deshalb vermutlich zu hoch sind? aber: Bereits jetzt ist der Grundsatz der Sparksamkeit - und der Wirtschaftlichkeit im Haushaltsrecht fest (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: verankert. Ferner besteht die Auflage, für geeignete Das Geld kommt nicht aus der Steckdose!) Maßnahmen von erheblicher finanzieller Bedeutung Sie sagen, das ist so, und das muß alles gleich bleiben. Kosten-Nutzen-Untersuchungen anzustellen. Das ist Aber dazu kann ich nur erwidern: Ein bißchen mehr übrigens seit 1969 so, damals von der Großen Koali- Klarheit müßte doch auch im Interesse der Sozialde- tion beschlossen. mokratie sein. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Diederich, der Kollege Austermann würde Sie gern etwas fra- Dr. Nils Diederich (Berlin) (SPD): Lieber Kollege gen. Thiele, ich habe darauf hingewiesen, daß das im Einzelfall durchaus geprüft werden muß. Die Stadt Dr. Nils Diederich (Berlin) (SPD): Aber sehr gern. Berlin beispielsweise hat jetzt bei den Gaswerken etwas, was man eine Public Private Partnership nen- Dietrich Austermann (CDU/CSU): Herr Kollege nen kann. Sie überlegt das auch für den öffentlichen Diederich, können Sie bestätigen, daß im Haushalts- Personennahverkehr. ausschuß des Bundestages durch den Staatssekretär (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Vernünftig!) Klarheit insoweit geschaffen wurde, als er auf Fragen von Ihrer Seite ausdrücklich gesagt hat, daß die In anderen Städten mag die Lage anders sein. Was wir Sparkassen in dieser Gesetzesveränderung nicht wollen, ist, daß es den einzelnen Vertretungskörper- angesprochen werden, schaften jeweils überlassen wird, zu prüfen, was zu tun ist. (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Das ist bedau erlich!) (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Richtig!) daß der Bund nicht beabsichtigt, die Autonomie der Lassen Sie mich zum Thema zurückkehren. Sie Länder und Kommunen in dieser Weise zu beein- haben den Deutschen Sparkassen - und Giroverband trächtigen, sondern daß er sie respektiert? Ist es nicht bereits aufgeschreckt. Der Sparkassen- und Girover- in der Tat so, daß Sie hier den Eindruck erwecken, band ist ja auch nicht gegen Privatisierung. Er weist durch diese Gesetzesregelung werde ein neuer aber gleichzeitig darauf hin, daß es im Bankensystem Rechtszustand geschaffen, der gar nicht vorgesehen eine durchaus bewährte Aufteilung zwischen Priva- ist? ten, Öffentlichen und Genossenschaftlichen gibt. Es heißt weiter: Dr. Nils Diederich (Berlin) (SPD): Lieber Kollege Es ist nicht zu erkennen, wie durch eine Privati- Austermann, dann hätte man es bei den bestehenden sierung der Sparkassen Effizienzgewinne entste- Formulierungen belassen können und belassen sol- hen sollen. Vielmehr führt eine Privatisierung der len. Ich führe ja gerade aus, daß im Haushaltsgrund- Sparkassenorganisationen mittelfristig zu ihrem sätzegesetz in klassischer Kürze festgehalten ist, was Zerfall als eigenständiger Kreditinstitutgruppe, für rationale Entscheidungen bei den Vertretungskör- zu einer Auflösung des bewährten dreigliedrigen perschaften, also Kommunalparlamenten oder Lan- Systems in der Kreditwirtschaft und damit zu desparlamenten, notwendig ist. Es steht Gesetzge- einem Verlust auf dem Finanzdienstleistungs bern oder Vertretungskörperschaften frei, auf der markt. Grundlage von rationalen Prüfungen zu entscheiden, Später heißt es dann: wie politischer Wille umgesetzt werden soll. Wir sind uns einig, daß die Privatisierung ein Weg ist, um Es ist gerade auch aus ökonomischen Gesichts- wirtschaftlicher und sparsamer zu verfahren, aber punkten unverständlich, daß nunmehr über eine eben nicht der einzige. Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes und Jetzt komme ich zu den Sparkassen. Das Land der Bundeshaushaltsordnung die Privatisierung Berlin hat sich z. B. für einen anderen Weg entschie- der Sparkassen angestoßen werden soll. den. Dort wurde die Sparkasse in eine Bankenholding Lieber Kollege Austermann, Sie haben im Bericht eingebracht, die schrittweise teilprivatisiert werden des Haushaltsausschusses — den kann jeder nachle- soll. Der Unterschied zur Koalition ist, lieber Kollege sen — etwas kleinlaut zurückgesteckt. Sie haben in Austermann, daß wir das als Entscheidung unter einem Nebensatz gesagt, die Sparkassen seien mit der Alternativen nach rationaler Prüfung durchführen Gesetzesformulierung nicht gemeint. Aber für die wollen, während Sie mit einer dogmatischen Vor- Praktizierung des Gesetzes, in dem Sie imperativ zur schrift im Gesetz die Privatisierung de facto als Privatisierung auffordern, hat diese Einschränkung zwangsläufige Folge eines verpflichtenden Prüfungs- nur appellativen Charakter. Ich möchte gerne wissen auftrags festschreiben wollen. 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Dr. Nils Diederich (Berlin) An diesem Punkt können wir Ihnen nicht folgen, man tun kann, um die Kommune aus finanzieller Enge (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Sie können, herauszuholen. aber Sie wollen nicht!) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: zumal Sie seit über zehn Jahren regieren. Sie haben Leider ein Einzelfall! — Carl-Ludwig Thiele darauf hingewiesen, daß allerlei Bemühungen unter- [F.D.P.]: Ein weißes Schaf!) nommen werden. Daß Sie das jetzt in der Bundeshaus- Der Kollege Türk hat in der ersten Lesung darauf haltsordnung festschreiben wollen, zeigt nur, wie aufmerksam gemacht, daß das Land Brandenburg unsicher Sie in dieser ganzen Frage sind. nach dem Grundsatz verfährt: Prüfung, ob Privatisie- rung möglich ist. Das ist in den neuen Ländern übrigens sehr viel stärker der Fall als in den alten Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, der- Kollege Ländern, weil man hier die Chance für einen Neube- Austermann möchte noch eine Frage stellen. ginn hat. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Die wol Dr. Nils Diederich (Berlin) (SPD): Aber gern. len auch weg vom Sozialismus!) Es ist schon viel geschehen — auch in Berlin, wie Dietrich Austermann (CDU/CSU): Ich möchte noch gesagt —, ohne daß es diese Gesetzesänderung gege- einmal nachfragen, Herr Kollege: Können Sie erstens ben hat. bestätigen, daß das Berliner Abgeordnetenhaus die (Zuruf von der F.D.P.: Aber lange nicht Entscheidung, die Sie eben erwähnt haben, getroffen genug!) hat, bevor dieses Gesetz galt, daß das also vorher schon möglich war, und zweitens, daß die Entschei- Ich denke, es ist überflüssig, den Ländern dies zu dung darüber, ob privatisiert werden soll, nach wie vor oktroyieren. Es gibt übrigens Leitlinien des Deutschen z. B. beim Berliner Abgeordnetenhaus bleibt? Städtetags zur Privatisierung, die in Form und Inhalt von Sachkompetenz und Verantwortungsbewußtsein getragen sind. Dr. Nils Diederich (Berlin) (SPD): Was Sie feststellen, Nach unserer Auffassung führt diese Gesetzesände- ist beides richtig. Nur, Sie wollen eben mit der rung, die in einen Prozeß eingreift, der unter dem Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes politi- Druck der Ökonomie sowieso passiert, zu einer Über- schen Druck ausüben. Da staune ich insbesondere regulierung und zu politischer Entmündigung. Die über die Liberalen; denn die Bezeichnung „liberal" in Pflicht zur Suche nach ausschließlich privatwirt- Deutschland ist in der Geschichte des 19. Jahrhun- schaftlichen Lösungen wird von Ihnen zum Selbst- derts gerade mit der Erringung der Selbstverwal- zweck gemacht. Dem folgen wir nicht. tungsfähigkeit der Gemeinden verbunden. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Nein, kein Genau, das soll auch so bleiben!) Selbstzweck!) Wenn also die Liberalen in unserer Geschichte jemals — Doch. einen Sinn gehabt haben, dann war das ihre Rolle im Mit der Änderung des Haushaltsgrundsätzegeset- 19. Jahrhundert, zes sollen nämlich — das versuchen Sie ja — eine (Beifall bei der SPD — Carl-Ludwig Thiele verbindliche Prüfungspflicht und das sogenannte [F.D.P.]: Auch damals schon! Heute um so Interessenbekundungsverfahren eingeführt werden. mehr!) Sie haben sich mit der Definition dieser Interessenbe- kundung sehr schwer getan. den autoritären Obrigkeitsstaat zugunsten der bür- gerschaftlichen Autonomie aufzubrechen. Sie haben übrigens bei der Gesetzgebung einen Aber was Sie jetzt machen, ist im Grunde genom- Rekord gebrochen; das ist Ihnen wahrscheinlich gar men ein Abrücken vom kooperativen Föderalismus. nicht aufgefallen. Im Dezember haben wir darüber Sie wollen Ideologien auf Kosten der Länder und der diskutiert. Am Anfang des Jahres ist Ihre Gesetzesän- Kommunen durchsetzen. derung für die Bundeshaushaltsordnung, in der das alles schon steht, in Kraft ge treten. In diesem Gesetz (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Nein! — — das kann jeder nachlesen — haben wir nun schon Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: „Li die erste Änderung. Das Gesetz ist, glaube ich, am berale Ideologien" ist ein Widerspruch in 3. Februar eingebracht worden. 33 Tage also haben sich, Herr Kollege!) Sie gebraucht, um ein Gesetz, das Sie selber formuliert Genau dies lehnen wir ab. Wir lehnen es ab, ideolo- haben, schon wieder zu ändern. gische Formeln in ein Verfahrensgesetz wie das (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Zu ver Haushaltsgrundsätzegesetz hineinzuschreiben. Wir bessern!) betonen ausdrücklich — das möchte ich hier noch einmal unterstreichen — die Eigenstaatlichkeit und Ich muß sagen, auch das ist ein Rekord. Hektik, damit auch die politische Eigenverantwortung und die Schlamperei, Aktionismus, aber sachlich wenig politische Gestaltungsaufgabe der Länder und Ge- dahinter. meinden. Wie gesagt, Sie wollen eine verbindliche Prüfungs- Da ist einiges passiert. Ich habe in der ersten Lesung pflicht und das Interessenbekundungsverfahren ein- den Offenbacher Oberbürgermeister Grandke, So- führen. Sie haben sich mit der Definition sehr schwer zialdemokrat übrigens, zitiert, der gezeigt hat, was getan. Aber im Grunde genommen tragen Sie Eulen 19138 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Dr. Nils Diederich (Berlin) nach Athen. Die Anwendung der Haushaltsgrund- aber es gibt manchmal Punkte, bei denen man so sätze, also auch Sparsamkeit, Wi rtschaftlichkeit — ich reden muß. Was Sie da tun, ist illiberal und selbstver- beziehe mich da auf Ihren Zwischenruf, Herr Kollege waltungsfeindlich. Der Weg, daß man alles privati- Weng —, ist ständige Aufgabe jeder Verwaltung. Eine siert, was Gewinne bringt, und alles beim Staat behält, Verwaltung, die dies nicht tut, kommt ihren Pflichten was Verluste bringt, führt zu einer armen öffentlichen nicht nach. Hand im Rahmen einer sehr reichen Gesellschaft.

(Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Und das (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: wollen wir festlegen!) Wenn das keine Ideologie ist, was Sie da Da gibt es Prüfungsorganisationen, die Rechnungs- erzählen!) prüfung, die das zu tun hat, und die parlamentari- Ich denke, das sollen wir nicht wollen dürfen. Wir schen Körperschaften, in deren Verantwortung das müssen darauf achten, daß die Kommunen in der Lage liegt. Dann müssen wir diese eben einmal auf Trab sind, ihre Aufgaben weiter zu erfüllen. bringen. Wir können das nicht von oben oktroyieren, wie Sie das wollen. Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen. Das Interessenbekundungsverfahren wird — das sage Ich denke auch, daß eine Prüfung, die sozusagen ich voraus — kostspielig sein. Es wird auch nicht so routinemäßig von Amts wegen, etwa bei jeder Haus- sein, daß hier letztlich der kleine örtliche Dienstleister haltsaufstellung oder wann auch immer, zu folgen hat, eintritt, sondern es wird so sein — das haben wir ja gewissermaßen eine Überbürokratisierung zur Folge auch jetzt schon —, daß spezialisierte Großeinrichtun- hat, einen neuen Apparat in Gang bringt, der zu nichts gen auf Bundesebene, anonyme Apparate, auftau- führt. chen. Diese haben ihre Akquisitionsabteilungen. Sol- Ich denke, daß die für die Kommunal- und Länder- che Einrichtungen werden überall in die Kommunen politik Verantwortlichen immer prüfen müssen — das gehen und fragen: Wo können wir bei einer weiteren werden sie in der Regel auch tun; da, wo die F.D.P. kommunalen Aufgabe absahnen? noch vertreten ist, Herr Kollege Weng, werden auch die Vertreter der F.D.P. sicherlich daran mitwirken, Wir haben diesbezüglich zahlreiche Erfahrungen in daß das geschieht —, ob die Aufgabenerfüllung aus den neuen Ländern. Den dortigen Kommunen wurde politischen, gesellschaftlichen oder anderen Erwä- von zugereisten Westdeutschen aufgeschwatzt, der- gungen heraus nicht doch besser in kommunaler oder artige Unternehmen einzuschalten. Solche Unterneh- staatlicher Hand bleibt. Nicht nur die Privatisierung, men sind letztlich sehr viel teurer. Ich denke in diesem sondern auch das Umgekehrte ist wichtig. Bestimmte Zusammenhang beispielsweise an die Abwasserent- Bereiche beispielsweise der kulturellen Aktivität oder sorgung. Die Kommunen stöhnen unter der Last, die der sozialen Dienstleistung sind nicht unbedingt bes- sie sich vor zwei oder drei Jahren aus Mangel an ser in privaten Händen aufgehoben, denn die rein Erfahrung aufgeladen haben. Es ist also wirklich zwiespältig! profitorientierte Behandlung kann den eigentlichen Zweck auch verfälschen oder verdrängen. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist Lieber Kollege Thiele, ich sage Ihnen: Viele Kom- doch Unfug! — Gegenruf von der SPD: Die munen wären überhaupt nicht mehr in der Lage, Wahrheit ist das!) bestimmte Aufgaben zu erfüllen, wenn sie nicht die Ich stelle zusammenfassend fest: Erstens. Die zusätzlichen Möglichkeiten hätten, aus eigener wirt- Gesetzesänderung ist überflüssig. Was die Koalition schaftlicher Aktivität Einnahmen zu erzielen. fordert, ist von der Sache her im Rahmen des beste- Ich bin durchaus für Wettbewerb in diesem Bereich. henden Haushaltsgrundsätzegesetzes machbar und Dafür, daß man da auch Preise kontrollieren und zu möglich. Das ist dort sogar schon angelegt. Es bedarf angemessenen Verhältnissen kommen kann, gibt es dazu nur des Willens der jeweils örtlich verantwortli- genügend Erfahrungen. Ich glaube, dazu braucht man chen Politiker. nicht von Bundesseite ex tra einen Druck auszuüben und eine Rechtfertigungsapparatur zu konstruieren. Zweitens. Wir sehen in dem Antrag den Versuch, Denn Sie überlassen ja die Entscheidung den mit organisatorischen Mitteln einen politischen Willen Gemeinden; das hat Herr Austermann hier noch durchzusetzen. Dort, wo Sie auf Grund des Wählerwil- einmal nachgeschoben. Da frage ich mich, welches lens nicht die Mehrheit haben, wollen Sie es auf denn nun der Nutzeffekt Ihrer Vorschrift sein soll. Es administrativem Wege durchsetzen. Eine Privatisie- ist politisch-plakativ und sonst überhaupt nichts. Das rung soll nicht mehr das Ergebnis einer rationalen gehört nicht ins Gesetz, sondern vielleicht in Ihr Entscheidungsfindung sein, sondern als Ergebnis vor- Wahlprogramm. gegeben werden. Wir lehnen es ab, dies als ideologi- sche Formel in das Haushaltsgrundsätzegesetz zu Ich halte das, was Sie hier machen wollen, schlicht schreiben. und einfach für den Ausfluß einer Zwangsneurose. Ihre Planungsideologie ist inzwischen zu einer Priva- Drittens. Im Interesse des kooperativen Föderalis- tisierungssucht verkommen, lieber Kollege. Sie wis- mus sind wir Sozialdemokraten nicht mehr bereit, den sen, daß ich der Polemik nur in begrenztem Maße Ländern, die eine eigene Verfassung haben, und den fähig bin, Gemeinden, die nach unser aller Willen weitgehende Selbstverwaltungsrechte besitzen, die Tendenz poli- (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Das war eben tisch zu fassender Beschlüsse verbindlich vorzuschrei- aber schon ganz beeindruckend!) ben. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19139

Dr. Nils Diederich (Berlin) Kurz: Wir Sozialdemokraten lehnen die Änderung nünftig, daß ich überhaupt nicht verstehe, weshalb sie des Haushaltsgrundsätzegesetzes in der vorliegenden von Ihnen abgelehnt werden. Fassung ab. (Zuruf von der SPD: Das liegt vielleicht an (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Ihnen!) Liste) Ihr Kanzlerkandidat setzt sich im Entwurf des SPD- Wahlprogramms dafür ein, daß — und ich zitiere — die Steuer- und Abgabenquote nicht weiter Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege erhöht werden darf, Carl-Ludwig Thiele. - (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Sehr rich tig!) der Ausgabenanstieg auf eine Zuwachsrate (F.D.P.): Herr Präsident! Sehr ver- Ludwig Thiele begrenzt werden soll, die spürbar unter dem ehrte Damen und Herren! Kollege Diederich, wir Zuwachs des nominalen Bruttosozialproduktes wollen nicht nur über Wirtschaftlichkeit reden, wir liegt, wollen einfach mehr Wirtschaftlichkeit. Das ist der Punkt, warum wir hier gesetzgeberisch tätig gewor- (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Richtig!) den sind. die Sicherung bestehender und die Schaffung Die F.D.P. ist die Partei, die sich für Freiheit und neuer wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze zur Menschenwürde einsetzt, und der Einsatz für Men- Hauptaufgabe der Politik gemacht wird .. . schenwürde bedeutet, insbesondere denjenigen, die (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Das ist ein einen Arbeitsplatz suchen, die Chance zu geben, über guter Vorschlag!) ein Mehr an Arbeitsplätzen auch einen Arbeitsplatz — Herr Diederich, diese Aussagen sind so gut, die erhalten zu können. könnten sogar von uns sein, und ich bin glücklich, daß (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Sie die von uns übernommen haben. Und hierzu besteht der Weg nicht da rin, über staatlich (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Müssen finanzierte Konjunkturprogramme beschäftigungspo- Sie nicht einräumen, daß Sie das eben nicht litische Strohfeuer zu entfachen, die nichts bringen, durchführen?) sondern die Neuverschuldung nur weiter in die Höhe Ihr Parteivorsitzender, Herr Scharping, predigt rich- treiben würden. Nein, meine sehr verehrten Damen tigerweise Wasser, und was schütten Sie ihm in das und Herren, der richtige Weg besteht darin, den Wasser rein? — Essig, Essig ist das. Staatsanteil zurückzufahren und für mehr Wirtschaft- lichkeit in der öffentlichen Hand zu sorgen. (Diedrich Austermann [CDU/CSU]: Jau che!) (Beifall bei der F.D.P.) Ich frage mich: Warum tun Sie das Ihrem Kanzler- Dies ist die Politik der F.D.P., und ich freue mich, daß kandidaten überhaupt an? Warum unterstützen Sie wir heute die Veränderung des § 6 des Haushalts- ihn nicht beim konkreten Handeln mit solchen ver- grundsätzegesetzes und des § 7 der Bundeshaushalts- nünftigen Forderungen? Warum haben Sie immer ordnung verabschieden. noch nicht gelernt, daß man Vorschlägen der Regie- Die Politik der Deregulierung und Privatisierung rungskoalition zustimmen kann, wenn diese vernünf- dieser Koalition schafft Freiräume für mehr wirtschaft- tig sind? Warum be treiben Sie denn hier eigentlich ein liche Dynamik und private Initiative. Es ist eben Spiel, in dem Unvernunft regiert und mit dem Sie richtig, daß jetzt durch die Novellierung des Haus- Ihren eigenen Kanzlerkandidaten diskreditieren? haltsgrundsätzegesetzes sowie der Bundeshaushalts- ordnung ein verpflichtender Prüfungsauftrag festge- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Thiele, der schrieben wird. Dem § 6 Haushaltsgrundsätzegesetz Kollege Diederich würde Ihnen gerne eine Frage wird im Absatz 1 folgender Satz angefügt: stellen. Diese Aufgaben verpflichten zur Prüfung, inwie- weit staatliche Aufgaben oder öffentlichen Zwek- Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Sofort, ich würde nur ken dienende wirtschaftliche Tätigkeiten durch gern einen Gedanken hier anschließen. — Denn Ausgliederung und Entstaatlichung oder Privati- gerade bei den Haushaltspolitikern der SPD handelt sierung erfüllt werden können. es sich im wesentlichen um — aus meiner Sicht — Und im Absatz 2 wird das Interessenbekundungs- vernünftige Politiker. Warum dann diese Ablehnung verfahren angefügt. Das bedeutet doch, daß wir nicht und dieser Eiertanz? sagen, alles muß privat sein, aber es muß geprüft werden, ob es nicht privat besser ist. Vizepräsident Hans Klein: Bitte schön. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Insofern verstehe ich nicht, wie man sich überhaupt Dr. Nils Diederich (Berlin) (SPD): Lieber Herr Kol- gegen ein solches Prüfverfahren wenden kann, mit lege Thiele, würden Sie wenigstens einräumen, daß einer Begründung, die ohnehin nicht nachvollziehbar Sie hier versuchen, über das Haushaltsgrundsätzege- ist und auf die ich gleich noch zu sprechen komme. setz in die Entscheidungsautonomie von Kommunen Meine Damen und Herren von der Opposition, diese und Ländern politisch einzuwirken und einzugrei- Grundsätze sind so klar, selbstverständlich und ver fen? 19140 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Dr. Nils Diederich (Berlin) Und haben Sie nicht zur Kenntnis genommen, daß Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Diederich, ich gesagt habe, dies ist einer der Hauptgründe, diese Form des Dialogs ist eigentlich nicht vorgese- warum wir es ablehnen? Wir wollen es der politischen hen. Vernunft der jeweiligen Ebene, die ja ihre eigene Legitimation durch die Wähler hat, überlassen. Wür- Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Das stimmt, Herr Präsi- den Sie einräumen, daß Sie hier versuchen, den dent, aber ich habe damit überhaupt keine Probleme, Föderalismus einzuschränken? wenn Sie mir diese Zwischenbemerkung gestatten.

Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Erst eine kurze- Bitte an Vizepräsident Hans Klein: Es geht nicht darum, ob den Präsidenten. Ich bin erstaunt, wenn während Sie damit ein Problem haben, Herr Kollege. einer Zwischenfrage die Uhr sp ringt. Das ist eigentlich hier in diesem Hause nicht üblich. Ich wäre dankbar, Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Wir hoffen, daß die wenn sie angehalten werden könnte. Länder und Kommunen durch diesen Denkansatz Herr Kollege Diederich, ich bin schon dafür, daß die angeregt werden. Wo finden denn Veränderungen Wirtschaftlichkeit, die in unseren Gesetzen ohnehin statt? Bevor sie irgendwo praktisch stattfinden, muß schon beschrieben ist, auch stärker Einfluß auf das sich insbesondere etwas innerhalb der Köpfe verän- konkrete Handeln der öffentlichen H and findet. Sie dern. Dazu soll hiermit ein Teil beigetragen wer- sind im Haushaltsausschuß wie ich. Ich bin zusätzlich den. im Rechnungsprüfungsausschuß. Wir erleben doch in (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) den Fällen, die uns tagtäglich präsentiert werden Warum die SPD in dieser Frage, dem Einzug wirt- — dazu kann ich nur sagen: uns werden ja gar nicht und genauer Ver- alle Fälle präsentiert; eine Reihe von Fällen bleibt schaftlichen Sachverstandes aus vordergründigem parteitak- schon vorher hängen, weil sie nicht für mitteilungs- gleichsrechnungen, tischen Kalkül dem im Wege steht, ist doch überhaupt würdig erachtet werden und überhaupt nur die dicken nicht nachvollziehbar. Welches Argument setzen Sie Dinge nach oben kommen —, daß der Bürger von — ausweislich der Drucksache, die wir hier vorliegen unserer öffentlichen Verwaltung sicher nicht den haben — dagegen? Zitat: „Es stehe zu befürchten, daß Eindruck hat, das, was dort betrieben wird, sei das durch die Einführung des Traumziel wirtschaftlichen Handelns. Wenn ich den Interessenbekundungsver- ein unverhältnismäßig hoher bürokratischer Eindruck der Bürger, mit denen ich mich unterhalte, fahrens Aufwand notwendig werde." dazu zur Kenntnis nehme, stelle ich fest: Sogar inner- halb des öffentlichen Dienstes wird zugegeben, hier (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) müsse mehr geschehen. — Das fordern Sie in Ihren Das muß man sich einmal auf der Zunge zergehen Programmen doch auch. lassen. Das heißt: Wenn die Wirtschaftlichkeit über- Wir als F.D.P. werden nicht so stark von Wählern aus prüft wird, ist alleine die Überprüfung ein unverhält- dem öffentlichen Dienst getragen wie andere Par- nismäßig hoher bürokratischer Aufwand. Das könnte teien. Aber zementieren Sie die Situation doch nicht, in der Folge doch nur bedeuten: Bitte überprüft nicht, öffnen Sie sie, überprüfen Sie es! Wir wollen lediglich das würde zuviel Bürokratie schaffen! — Daß das nicht stärker überprüfen. Mehr wollen wir gar nicht. Wir richtig sein kann, Herr Kollege Diederich, ist wohl sagen nicht, die öffentliche Hand müsse abgeschafft klar. Ich glaube, da stimmen Sie mir sogar zu. werden und morgen müsse alles privat geregelt wer- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Bei den. Das ist überhaupt nicht der Fall. Wir fordern: Es kurzem Nachdenken!) muß im Einzelfall überprüft werden, und dann soll die Deshalb kann ich nur sagen, meine sehr verehrten wirtschaftlichere Alternative genommen werden. Damen und Herren von der SPD: Als ob dieser Dazu muß teilweise auch einmal die Beweislast umge- unverhältnismäßig hohe bürokratische Aufwand kehrt werden. nicht schon jetzt von jedem einzelnen Bürger in (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: unserem Lande fast tagtäglich verspürt wird! Wer Sehr richtig! Das mit der Beweislast ist wich glaubt, mit einem solchen Argument alles im öffentli- tig!) chen Dienst und in der öffentlichen Hand zementieren Die ganze Buchführung im öffentlichen Dienst muß zu müssen, stellt sich nicht als konservativ, sondern als einmal umgestellt werden. Es geht doch nicht, die restaurativ dar. Kameralistik mit der normalen wirtschaftlichen Buch- Im Vorwort zu Ihrem noch nicht verabschiedeten führung zu vergleichen. Da muß mehr Bewegung Wahlprogramm heißt es: „Deshalb treten wir" , die hinein. Sozialdemokraten, „für Reformen ein, um die Erneue- rung von Wirtschaft und Gesellschaft zu einer großen Insofern wäre ich glücklich, wenn Sie diesen Grund- solidarischen Gemeinschaftsaufgabe zu machen" . sätzen zustimmen könnten. (Dr. Wolfg ang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Die müs Was lesen Sie denn für Sachen, Herr Kol sen zum Jagen getragen werden!) lege?) — Ja, natürlich. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der (Dr. Nils Diederich [Berlin] [SPD]: Sie wollen SPD, tun Sie dieses doch konkret! Unterstützen Sie den Ländern und Kommunen etwas oktroy diese Erneuerung, geben Sie die Denkmalpflege ieren, was Sie dort nicht bewirken können, öffentlicher Strukturen endlich auf! Geben Sie sich am weil Sie dort nicht mehr vertreten sind!) Ende dieser Debatte doch am besten einen Ruck, und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19141

Carl-Ludwig Thiele stimmen Sie dieser vernünftigen Gesetzesänderung garantierte Recht der Kommunen auf Selbstverwal- zu! tung erhalten und verwirklichen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Öffentliche Unternehmen sind eine wesentliche Grundlage der Selbstverwaltung und unverzichtbarer Bestandteil einer eigenständigen Haushalts- und Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege Finanzwirtschaft. Dazu gehört, daß kommunales Dr. Dietmar Keller. Eigentum z. B. an Entsorgungs- und Versorgungsun- ternehmen erhalten bleibt, damit die demokratische Einwirkung und Kontrolle gesichert ist. Dr. Dietmar Keller (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- Fragen der Energiepolitik, der Müllvermeidung, dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! des Grundwasserschutzes oder des Vorrangs für den Dieser Gesetzentwurf greift ein Lieblingsprojekt kon- öffentlichen Nahverkehr bestimmen vor allem die servativer Haushaltspolitik auf, die Privatisierung Kommunalpolitik. Private Unternehmen haben je- öffentlicher Dienstleistungen. Die Verfechter dieser doch nur ihren eigenen Profit im Auge. Sie greifen nur Politik berufen sich in ihrer Argumentation auch auf dann zu — dafür gibt es Hunderte von Beispielen im die Finanznot vieler Kommunen, die den Ausverkauf Osten Deutschlands —, wenn es Filetstückchen zu kommunaler Unternehmen angeblich unausweich- erhaschen gibt, und kümmern sich nicht um übergrei- lich macht. Zum anderen bedienen sie sich dabei des fende kommunal- oder regionalspezifische Interes- weit verbreiteten Vorurteils, die Privatisierung öffent- sen. licher Dienstleistungen sei ein Beitrag zu einer dauer- Eine Privatisierung öffentlicher Unternehmen haften Haushaltskonsolidierung. würde die Kommunen weder finanziell sanieren noch Bund, Länder und Gemeinden sollen verpflichtet handlungsfähiger machen. Vergleichbares gilt auch werden, zu überprüfen, ob öffentliche Aufgaben und für Bund und Länder. Das finanzielle Desaster der Leistungen privatisiert werden können. Die privaten Städte und Gemeinden haben nicht die kommunalen Anbieter sollen darlegen können, ob und inwieweit Unternehmen herbeigeführt. Dafür ist vor allem das sie diese öffentlichen Aufgaben nicht ebensogut oder Ausbleiben einer längst überfälligen Kommunal- besser erbringen können. Der Bund gibt, wie immer, finanzreform verantwortlich zu machen. Deshalb das Tempo vor, um Länder und Gemeinden einem wird auch keine noch so groß angelegte Privatisie- noch stärkeren Privatisierungsdruck auszusetzen. rungswelle die desolate Finanzsituation in Ostdeut- Die überlasteten öffentlichen Verwaltungen sollen schland beheben können. Und das ist das Hauptpro- künftig Markterkundung betreiben und Angebote blem, das dieses Parlament zu lösen hat. Privater prüfen. Und selbst dann, wenn private Anbie- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) ter die Preise öffentlicher Unternehmen nicht unter- bieten können, soll privatisiert werden können. Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem (Zuruf von der CDU/CSU: Nein!) Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesmini- Die Koalition will die von ihr finanziell geknebelten ster der Finanzen, Jürgen Echternach. Kommunen bis auf das letzte Hemd ausziehen. Vor allem die Finanznot der ostdeutschen Städte Jürgen Echternach, Parl. Staatssekretär beim Bun- und Gemeinden wird von der Bundesregierung zum desminister der Finanzen: Herr Präsident! Meine Anlaß genommen, auf breiter Ebene die Privatisie- Damen und Herren! Das Aktionsprogramm für mehr rung als Allheilmittel zu verkünden. Die PDS hat in Wachstum und Beschäftigung ist ein wichtiger Teil einer Studie, die Ihnen bekannt ist, nachgewiesen, unserer Gesamtstrategie, um die strukturellen Schwä- daß Ostdeutschland auch bei der Privatisierung von chen in unserer Wirtschaft zu überwinden und um ihr Kommunalvermögen eine Experimentier- und Vorrei- zu helfen, sich besser auf die veränderte weltwirt- terrolle zugedacht werden soll. schaftliche Lage einzustellen. Dazu gehören auch die Dabei haben die Erfahrungen in alten Bundeslän- Maßnahmen für mehr Deregulierung und private dern doch gezeigt, was sich alles hinter einer solchen Initiative. Privatisierungspolitik verbirgt. Die angeblichen Ko- Ein wichtiger Bestandteil dieses Maßnahmenbün- stenvorteile der Privatisierung gingen, sofern sie dels ist der vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung überhaupt längerfristig erhalten blieben, stets auf des Haushaltsgrundsätzegesetzes. Er verankert die

Kosten der Lohn - , Versorgungs - und Arbeitsbedin- Pflicht zur Suche nach privatwirtschaftlichen Lösun- gungen der Beschäftigten sowie auf Kosten der Qua- gen bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben, lität der Dienstleistungen. Das Wundermittel Privati- vor allem, um die erheblichen Privatisierungspoten- sierung besteht aus Arbeitsintensivierung auf Kosten tiale von Ländern und Kommunen zu aktivieren. der Beschäftigten sowie untertariflicher Bezahlung. Der Bund hat für seinen Bereich die Bundeshaus- Studien der ÖTV zur Privatisierung haben das schlüs- haltsordnung schon zu Beginn dieses Jahres geän- sig bewiesen. dert. Er ist damit für seinen Aufgabenbereich bereits Weil die PDS den Ausbau der kommunalen Selbst- einen Schritt voraus. Im Bundesbereich verpflichten verwaltung will, lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab. schon jetzt die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Wir halten die Privatisierung öffentlicher Unterneh- Sparsamkeit zur Prüfung, inwieweit staatliche Aufga- men und Dienstleistungen für einen falschen und ben oder öffentlichen Zwecken dienende wirtschaftli- gefährlichen Weg. Wir wollen, daß die Städte und che Tätigkeiten durch Ausgliederung, Entstaatli- Gemeinden mehr Möglichkeiten erhalten, sich eigen- chung oder Privatisierung erfüllt werden können. ständig zu entwickeln. Wir wollen das im Grundgesetz Dazu ist in geeigneten Fällen in einem Interessenbe- 19142 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Parl. Staatssekretär Jürgen Echternach kundungsverfahren festzustellen, inwieweit und un- Leistungen privatisiert werden können. Bei den Län- ter welchen Bedingungen p rivate Lösungen möglich dern und Gemeinden bietet sich ein breites Spektrum sind. für Privatisierungen an, so z. B. der öffentliche Perso- nennahverkehr, die öffentlichen Planungsleistungen, Damit stellen wir von neuem jegliches staatliches Wasser und Abwasser sowie die Elektrizitäts-, die Handeln auf den Prüfstand. Die Bundesverwaltung Gas- und die Abfallwirtschaft. Länder und Gemein- muß sich ab sofort nicht nur bei jeder neuen Aufgabe, den sind aufgefordert, über die Privatisierung ihres sondern auch bei bestehenden Aufgaben Gedanken umfangreichen Beteiligungsbesitzes, z. B. an großen darüber machen, ob diese Aufgaben von Privaten Industrieunternehmen und Stromversorgungsunter- wirtschaftlicher erfüllt werden können. Für ihre Ent- nehmen, nachzudenken. scheidung über die öffentliche oder die private Auf- gabenerfüllung hat sie jetzt einen gesetzlichen Maß- Sie, Herr Kollege Diederich, haben in diesem stab, vor dem sie ihre Entscheidungen rechtfertigen Zusammenhang noch einmal das Stichwort Sparkas- muß. sen angeführt, weil es dort zu Irritationen gekommen ist. Deshalb dazu auch ein klärendes Wort. Die Bun- Dabei können wir im gesamtwirtschaftlichen Inter- desregierung betrachtet den Sparkassensektor neben esse nicht auf halbem Wege stehenbleiben. Wir dür- den privaten Geschäftsbanken und den Genossen- fen uns nicht mit einer Regelung nur für den Bundes- schaftsbanken als einen der drei wichtigen Eckpfeiler bereich begnügen. Gerade der Bund ist ja bei der im Bankwesen Deutschlands. Ihm kommt gerade Privatisierung in der Vergangenheit stets mit gutem unter Wettbewerbsgesichtspunkten eine bedeutende Beispiel vorangegangen. ordnungspolitische Funktion zu. Die Sparkassen spie- (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: So ist es!) len traditionell durch ihren regionalen Schwerpunkt Schon seit 1982 hat die Bundesregierung die unter- eine tragende Rolle für eine ausgewogene regionale nehmerische Tätigkeit des Staates mit dem vollstän- Wirtschaftsentwicklung in Deutschland. In Überein- digen Rückzug des Bundes aus den großen Industrie- stimmung mit der regionalpolitischen Bedeutung ist konzernen VEBA AG, VIAG AG, Volkswagen AG Sparkassenrecht Landesrecht. Den Ländern obliegt und Salzgitter AG zurückgeführt. In der laufenden daher auch die Entscheidung über die Aufrechterhal- Legislaturperiode konnten sieben Beteiligungen, un- tung des öffentlich-rechtlichen Sparkassensystems. ter anderem die IVG und die Treuarbeit, vollständig Vor diesem Hintergrund wird die Bundesregierung privatisiert werden. Damit hat sich die Zahl der keine Vorschläge zur Änderung der Rechtsform und unmittelbaren und mittelbaren Beteiligungen des Privatisierung der Sparkassen machen. Bundes und seiner Sondervermögen von 958 im Jahre Gesetzestechnisch ist das Haushaltsgrundsätzege- 1982 auf gegenwärtig unter 400 verringert, also mehr setz das richtige Instrument zur Durchsetzung des als halbiert. Daneben hat er z. B. die DSL-Bank und Privatisierungsgedankens. Das Haushaltsgrundsät- die Lufthansa teilprivatisiert. Wir konnten dafür zegesetz enthält gemeinsam geltende Grundsätze für 12 Milliarden DM einnehmen und diesen zusätzlichen das Haushaltsrecht von Bund und Ländern. Die Ände- finanziellen Spielraum nutzen, um damit andere und rung soll jetzt die Länder verpflichten, die Neurege- wichtigere öffentliche Aufgaben erfüllen zu können. lung in ihre Landeshaushaltsordnungen zu überneh- In der nächsten Zukunft zeichnen sich Lösungen, men. Zur Vermeidung von Auslegungsproblemen unter anderem für die Rhein-Main-Donau AG, die haben die Koalitionsfraktionen ihrem Entwurf auch Neckar AG und die Gesellschaft für Nebenbetriebe eine Definition des Interessenbekundungsverfahrens der Bundesautobahnen, ab. Zentraler Gegenstand beigefügt. Es geht darum, privaten Anbietern über- unserer Privatisierungspolitik werden außerdem in haupt die Möglichkeit einzuräumen, Konzepte vorzu- der Zukunft die Privatisierungen der Deutschen Luft- legen, ob und inwieweit sie öffentliche Aufgaben hansa und der Telekom sein. ebensogut oder besser erbringen können. Lassen Sie mich aber auch auf die größte Privatisie- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) rungsaktion in der Geschichte unseres Landes, wenn Das Interessenbekundungsverfahren zwingt die Ver- nicht Europas, hinweisen, nämlich die Privatisierung waltung, den Markt nach wettbewerblichen Grund- der ehemaligen Staatswirtschaft in den neuen Bun- sätzen zu erkunden. Das Ergebnis dieser Markterkun- desländern. Die Bundesregierung hat hier über die dung ist dann mit den traditionellen staatlichen Treuhandanstalt in den letzten Jahren über 13 500 Lösungsmöglichkeiten zu vergleichen, um eine wirt- Staatsbetriebe in wettbewerbsfähige privatwirtschaft- schaftliche Bewertung der verschiedenen Möglich- liche Strukturen überführt. keiten zu gewährleisten. Damit die Privatisierungsinitiative des Bundes auch Natürlich erliegen wir nicht dem Irrtum, öffentliche in Zukunft ein durchschlagender gesamtwirtschaftli- Aufgaben seien immer und in jedem Fall durch P rivate cher Erfolg wird, müssen nun auch die Länder und wirtschaftlicher und besser zu erfüllen. Was wir aber Kommunen einbezogen werden, müssen auch sie ihre wollen, ist, Alternativen ernsthaft zu prüfen, und zu ausschöpfen. Die Privati- Privatisierungspotentiale nachvollziehbaren rationalen Entscheidungen zu sierung bietet die Chance, Aufgaben, die bisher von kommen. der öffentlichen Hand wahrgenommen werden, von privaten Unternehmen rascher und wirtschaftlicher (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) erfüllen zu können. Ich bitte Sie daher, den Gesetzentwurf zu unterstüt- Die beantragte Ergänzung des Gesetzes ist ein zen und an seiner raschen Verabschiedung mitzuwir- Signal an Länder und Kommunen, entschlossener als ken. Die erfolgreiche Privatisierungspolitik der Bun- bisher zu prüfen, ob nicht weitere Aufgaben und desregierung kann ihre wachstums- und beschäfti- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19143

Parl. Staatssekretär Jürgen Echternach gungssichernde Wirkung nur voll entfalten, wenn alle gesetzliche Regelung zu finden, wie sie auch in der Ebenen des Staates uneingeschränkt mitziehen. Ich Richtlinie des Rates der Europäischen Union aus 1990 bitte daher auch die Bundesländer, im Interesse des vorgesehen ist. Wirtschaftsstandortes Deutschland mit uns im Bun- desrat den gleichen Weg zum gemeinsamen Ziel zu Der Gesetzentwurf ist dann im letzten Jahr durch die Bundesregierung eingebracht worden. Ich möchte gehen. sagen, die Beratungen stellten aus meiner Sicht her- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) aus schon so etwas wie eine schwierige Geburt dar. Vieles in dieser Richtlinie der Europäischen Union ist Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- sicherlich so formuliert gewesen, daß die Umsetzung che. erhebliche Schwierigkeiten verursachte und wir im Wir kommen zur Abstimmung über den von den ständigen Spannungsverhältnis zwischen Notwen- Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten digkeiten, die sich einfach aus dem Betrieb eines Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Haushalts- Reiseunternehmens ergeben, und den Vorschriften grundsätzegesetzes und der Bundeshaushaltsord- dieser Richtlinie gestanden haben. Entsprechend nung auf Drucksache 12/6720. Der Haushaltsaus- schwierig waren die Beratungen, waren die Gesprä- schuß empfiehlt auf Drucksache 12/7292, den Gesetz- che mit den Vertretern der Reisebranche und auch mit entwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejeni- den Verbraucherorganisationen. gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um Jetzt liegt ein Gesetzentwurf vor, der im federfüh- das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer renden Rechtsausschuß einstimmig so verabschiedet enthält sich der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist worden ist und von dem man, so meine ich, mit Fug damit in zweiter Beratung angenommen. und Recht sagen kann, daß die wesentlichen Bedin- Wir kommen zur gungen sowohl für eine Verträglichkeit mit der Rei- dritten Beratung sebranche als auch gegenüber der EU-Richtlinie als und Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf auch gegenüber den Verbraucherschutzorganisatio- zustimmen will, möge sich bitte erheben. — Gegen- nen erreicht ist. Wir haben, wenn wir diesen Gesetz- probe! — Der Gesetzentwurf ist angenommen. entwurf hier heute verabschieden, in Zukunft eine Insolvenzabsicherung für deutsche Reisende. Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Allerdings war es notwendig, für das Inkrafttreten Gesetzes zur Durchführung der Richtlinie des eine Regelung zu finden, die dazu führt, daß dieses Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen Gesetz erst für Reisen gilt, die nach dem 1. November dieses Jahres angetreten und die nach dem 1. Ju li — Drucksache 12/5354 — gebucht werden. Anderes war aus organisatorischen (Erste Beratung 176. Sitzung) Gründen — zum Aufbau der Sicherungssysteme, zum Beschlußempfehlung und Bericht des Rechts- Aufbau der verschiedenen Lösungen, Bankbürg- ausschusses (6. Ausschuß) schaften und Versicherungslösung — nicht möglich, — Drucksache 12/7334 — so daß wir in der Tat noch immer mit der etwas unglücklichen Situation konfrontiert sind, daß es im Berichterstattung: Abgeordnete Klaus-Heiner Lehne Sommer dieses Jahres noch keine Insolvenzabsiche- Dr. Eckhart Pick rung geben wird. Dies ist ein Übel, das wir aber vor dem Hintergrund der Notwendigkeiten, die sich erge- Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die ben haben in Kauf nehmen mußten. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Dage- gen erhebt sich offenkundig kein Widerspruch. Dann Wir haben uns ausführlich Gedanken darüber ist das so beschlossen. gemacht, wie die Sicherungssysteme auszugestalten Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem sind. Hier sind insbesondere aus der Branche noch dem Kollegen Klaus-Heiner Lehne das Wo rt . eine Reihe von Vorstellungen geäußert worden, die beiden alternativen Systeme, Bankbürgschaft und Versicherung, zu ergänzen. Es war nach eingehender (CDU/CSU): Herr Präsident! Klaus-Heiner Lehne Prüfung nicht möglich, hier eine weitere Lösung zu Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir bera- finden. Alternativen, wie z. B. die Einführung eines ten heute in zweiter Lesung den Gesetzentwurf über Treuhandkontos, sind nach eingehender Prüfung ver- die Durchführung der Richtlinie des Rates der Euro- worfen worden, weil die Voraussetzungen der EG- päischen Union vom 13. Juni 1990 über Pauschalrei- Richtlinie hiermit nicht in Übereinstimmung zu brin- sen. Sie werden sich alle noch daran erinnern können, gen gewesen sind. daß wir vor einigen Monaten im Fernsehen Bilder gesehen haben, wo deutsche Urlauber in Übersee auf Wir haben auch lange über die Problematik der den Flughäfen festgesessen haben, weil der Reisever- Informationspflichten diskutiert, weil es hier eine anstalter, bei dem sie ihre Reise gebucht hatten, in Reihe von Vorschriften in der EU-Richtlinie gegeben Konkurs gegangen und nicht mehr in der Lage war, hat, die etwas von der Realität entfernt gewesen sind, die weitere Reise und insbesondere die Rückholung wenn es z. B. darum ging, aus der EU-Richtlinie abzuwickeln. abzuleiten, daß schon Monate im voraus konkrete Ich glaube, diese Bilder haben uns allen deutlich Flugzeiten, beispielsweise bei Charterflügen, ange- gemacht, daß es durchaus sinnvoll ist, hier eine geben werden müssen, obwohl bekannt ist, daß dies 19144 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Klaus-Heiner Lehne überhaupt nicht möglich ist, weil Flugzeiten durch diese Diskussionswünsche eingegangen und haben den Flugplankoordinator teilweise erst in halbjähri- ihnen entsprochen. gem Abstand festgelegt werden und man diese bei (Zuruf von der F.D.P.: Aber das war auch eine Buchung einer Reise schon deshalb gar nicht kennen komplizierte Sache, Herr Kollege!) kann. Hier ist es, glaube ich, dem Ausschuß gelungen, dem Ministerium eine Reihe von Empfehlungen für Ich denke, man muß sagen: Erst in letzter Minute sind die Ausgestaltung dieser Verordnung zu geben, um die Verbände hier aufgewacht. eine möglichst flexible und auch liberale Regelung, Im Vorfeld der Umsetzung — darauf ist hinzuweisen die praktikabel ist, zu erreichen. — kam es zu einer bundesweiten Diskussion — Herr Ich glaube, insgesamt kann man abschließend Kollege Lehne hat es angesprochen —, weil die sagen: Trotz der Komplexität der Problematik, mit der Bundesrepublik nicht in der Lage war, die Richtlinie wir es hier zu tim haben, haben wir ein Gesetz auf den rechtzeitig, zum 31. Dezember 1992, umzusetzen. Weg gebracht, das wir heute, so hoffe ich, hier Daran ist deswegen zu erinnern, weil gelegentlich so einvernehmlich beschließen werden, das den Anfor- getan wird, als wäre der Gesetzgeber ganz frei, das derungen sowohl der europäischen Richtlinie als auch Inkrafttreten beliebig weit hinauszuschieben. Das ist den Bedingungen entspricht, die von Verbraucher- nicht der Fall. schützern und von den Betroffenen der Reisebranche In Zukunft, denke ich — das ist der Wille aller an uns herangetragen worden sind. Ich glaube, wir Fraktionen —, wird es keine Fälle wie MP-Travel- alle können mit diesem Ergebnis recht gut leben. Line- oder Marlo-Reisen mehr geben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Zuruf von der F.D.P.: Die Fälle schon!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Kunden sollen sicher sein, daß der Reisepreis und die Rückbeförderung im Krisenfall eines Unterneh- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Eckhart mens gesichert sind. Dafür sorgt nicht nur die gesetz- Pick, Sie haben das Wort. liche Verpflichtung der Veranstalter zur Absicherung dieser Risiken mit dem Nachweis durch einen ent- sprechenden Sicherungsschein, sondern auch die Dr. Eckhart Pick (SPD): Herr Präsident! Meine Bußvorschrift, die in jedem Einzelfall der Zuwider- Damen und Herren! Wir hatten heute morgen schon handlung bis zu 10 000 DM be tragen kann. das Vergnügen, über Fragen der Insolvenz zu reden. Im Rahmen dieses Tagesordnungspunktes sprechen Im Mittelpunkt der Diskussion standen dement- wir über das Problem der Sicherung von Kunden auf sprechend die Sicherungsmodelle, die einerseits eine dem Gebiet der Pauschalreise. Monopolstellung ausschließen, zum anderen auch mittelständisch strukturierten Verbänden den Zu- Wir haben, glaube ich, in der ersten Lesung das gang zu solchen Sicherungsmodellen gewähren sol- Wesentliche zu den Absichten und den Grundzügen len, damit sie im Wettbewerb nicht benachteiligt sind. dieser Richtlinie und des vorliegenden Gesetzent- Wir unterstreichen dies und haben uns diese entspre- wurfs gesagt. Ich möchte heute sagen, daß sich der chenden Voraussetzungen gewünscht. Bundestag und vor allen Dingen die beratenden Ausschüsse große Mühe gegeben haben, die Pau- Ich darf am Schluß sagen: Uns wäre der 1. Juli 1994 schalreiserichtlinie vom 13. Juni 1990 beschleunigt, als Termin des Inkrafttretens ohne Wenn und Aber im aber mit aller Sorgfalt in der Beratung umzusetzen. Interesse eines frühen Verbraucherschutzes lieber gewesen. Wir haben uns aber dem Argument nicht Die erste Lesung hat am 23. September 1993 hier verschließen können, daß der 1. November 1994 den stattgefunden. Es hätte trotzdem schneller gehen Saisonbeginn markiert. Deswegen sind Buchung nach können; denn der Rechtsausschuß und die mitbera- dem 1. Juli und Reiseantritt nach dem 31. Oktober tenden Ausschüsse hatten ihre Beratungen bereits vor dieses Jahres die wichtigen Daten für die Verbrau- der Osterpause beendet. Daß es nicht zu einer Verab- cher. schiedung kam, liegt allein an der Tatsache, daß sich die Branche selber nicht einig war, so daß die zweite Insgesamt ein Fortschritt in puncto Reiserecht, eine und dritte Lesung nicht mehr vor der Osterpause erste Ergänzung des Reisevertragsrechts aus den 70er stattfinden konnte. Jahren und für uns trotz aller Bedenken ein Schritt vorwärts in puncto Verbraucherschutz. Wir werden Die Anhörung fand bereits am 8. Dezember des dem zustimmen. letzten Jahres statt. Hier wurden die Vorschläge der Experten in die weitere Beratung einbezogen. Es ist Vielen Dank. aber auch klargeworden — auch im Blick auf die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Absichten der Branche —, daß es dem Bundestag mit der PDS/Linke Liste) der Umsetzung ernst war. Damit wurde ein heilsamer Druck auf die Verbände ausgeübt, sich insbesondere mit der Umsetzung vertraut zu machen und sich auch über Modelle bei Zahlungsunfähigkeit bzw. Insolvenz Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem eines Reiseveranstalters Gedanken zu machen. Kollegen Detlef Kleinert. Die Reisebranche hat eine Menge Phantasie ent- wickelt, mit immer neuen Eingaben die Diskussion zu verlängern — das ist sicher nicht zu beanstanden — Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Herr Präsident! und ihre Interessen zur Geltung zu bringen. Wir sind, Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der glaube ich, bis an die Grenzen des Zumutbaren auf hochgeschätzte Kollege Pick, dessen Sachverstand Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19145

Detlef Kleine rt (Hannover) ich nun wirklich seit Jahren immer mehr zu bewun- jemanden aus den Reihen der F.D.P. repräsentiert dern gelernt habe, wurde, denn diese Richtlinie zwingt uns dazu? (Dr. Eckhart Pick [SPD]: Ich gehe in Dek kung!) ist eben einem kleinen logischen Fehler aufgesessen, Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Ich habe von den ich bei ihm nicht vermutete. Er hat gemeint, auf Ihrer Fähigkeit zum Zuhören bisher einen viel besse- Grund dieses Gesetzes seien Vorkommnisse wie bei ren Eindruck gehabt. MP-Travel-Line in Zukunft nicht mehr möglich. Das (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/ ist mit Sicherheit nicht richtig. Solche Vorkommnisse CSU) wird es wieder geben. Nur werden die Kunden, die Tatsache ist doch, lieber Herr Kollege de With, daß teurer bezahlen, und die Gesellschaften, die- seriös dieses Ding aus Europa auf uns zugekommen ist, arbeiten, für die Rückholungskosten, die letzten Endes betrügerische Firmen verursacht haben, die mit (Zuruf der Abg. Gudrun Weyel [SPD]) falsch kalkulierten Preisen ihren Umsatz aufgepustet worüber ich die ganze Zeit spreche, und die Bundes- haben, haften. Das ist ein ganz anderer Sachver- regierung genauso gepeinigt ist wie die Abgeordne- halt. ten dieses Hauses, die das Ding umsetzen sollen. Da Ob man es begrüßen soll, daß die Seriösen dafür kann ich überhaupt keinen Zusammenhang erken- bezahlen, daß sich die Unse riösen hier austoben, ist nen. etwas, was ich aus liberaler Sicht nicht so ohne (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und weiteres unterstreichen möchte. des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne [fraktionslos] — Dr. Hans de With [SPD]: Hat ten der CDU/CSU) denn die Bundesregierung in Europa nichts Wenn jemand in unserer von Leid, Elend und Armut zu sagen?) geplagten Gesellschaft eine Reise nach Flo rida antritt, Bevor wieder die Flackerei losgeht, möchte ich in Florida sitzenbleibt — nachdem er sich vorher an Ihnen gerne noch eines sagen: Wir hatten gestern eine seinem Stammtisch dessen gerühmt hat, daß er mit sehr interessante Diskussion im Rechtsausschuß; das einer besonders preiswerten Reise das Schnäppchen sollte doch einer breiteren Öffentlichkeit klarwerden. des Jahres gemacht hat — und dann vom Rest der Einer der klarsichtigsten und am eindrucksvollsten Bürger erwartet, daß sie ihn wieder zurückholen, argumentierenden Menschen war der Kollege Hans nachdem er sich diese Kleinigkeit gegönnt hat, dann de With. Es geht um die Frage, ob man, wenn die ist das ein Zeichen für übertriebenes Wohlstandsden- Kappungsgrenze von 200 Millionen DM, die für den ken, Ausgleich solcher Schäden zur Verfügung stehen soll, (Beifall bei der F.D.P.) überschritten wird, im Wege des Windhundverfah- aber noch lange kein Grund, ein solches Gesetz zu rens, wozu zunächst Herr Kollege Lehne neigte, machen. Wir müssen es aber machen, weil die euro- denen, die zuerst kommen, zahlt und bei 200 Millio- päische Verwaltung nen DM aufhört — im übrigen bin ich felsenfest davon überzeugt, daß dieser Betrag nie erreicht werden (Zurufe von der SPD) wird, eine Ansicht, die die beiden anderen Berichter- nun mal da ist. Und da sie insofern nicht im geringsten statter mit mir teilen — oder ob man es so machen soll, durch ein Parlament kontrolliert wird, schickt sie uns wie es gerechter ist — es ist immer ein Anliegen der eine Richtlinie, die wir dann umsetzen sollen. Sozialdemokratie, alles gerecht zu machen, wobei (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions meistens der Gedanke zu kurz kommt, daß die gerech- los]: Pfui!) teren Lösungen immer die verwaltungsmäßig auf- wendigeren sind —, nämlich erst abzuwarten, bis alle Daß es mit der Vorbereitung dieses Gesetzes so Schäden da sind, und dann zu verteilen. lange gedauert hat, liegt zum Teil daran, daß die Sache hochgradig ungeliebt, unpraktikabel und völlig Das bedeutet, daß Januar-Schäden eines Reisejah- überteuert ist und man nach der Möglichkeit gesucht res frühestens anderthalb Jahre später aus diesem hat, es etwas vernünftiger und preiswerter zu gestal- Topf ausgeglichen werden. Das bedeutet, daß die ten, was bei einer von Hause aus unvernünftigen Idee, jemand würde auf Kosten der jetzt beschlosse- Auflage natürlich sehr schwierig ist. Darum dauert es nen Versicherung aus Florida nach Hause geholt, dann auch länger. völlig abwegig ist. Es wird weiterhin auf die Solidarität der Fluglinien und der Reiseunternehmen ankom- men, die im Interesse ihres guten Rufes sich von Herr Kollege Kleinert, Vizepräsident Hans Klein: alleine darum kümmern, ohne den Gesetzgeber dazu gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen de zu brauchen, weil die Leute nun wirklich in eine echte With? Notlage gekommen sein würden, wenn diese Be träge nach anderthalb Jahren ausgezahlt werden. Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Ich bitte Es hat sich also durch die gestrige Diskussion über darum. einen scheinbar formalen Gesichtspunkt — Wind- hundverfahren oder Verteilung am Ende — ergeben, Dr. Hans de With (SPD): Kollege Kleinert, würden daß dieses ganze Gesetz die in es gesetzten Erwartun- Sie mir zustimmen, daß sich damit Ihre gesamte Kritik gen nicht erfüllen kann, daß es überflüssig ist, daß es an die Bundesregierung wendet, diese vertreten viel kostet und daß sich die Schlaumeier hier zu Lasten durch den Bundesminister der Justiz, der immer durch der Seriösen bedienen wollen. Derartige Veranstal- 19146 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Detlef Kleinert (Hannover) tungen haben wir uns von Europa nicht verspro- viele Verbraucher nach den spektakulären Pleiten des chen. vergangenen Jahres verstärkt den sogenannten gro- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) ßen Veranstaltern zuwenden, was ich bedaure. Man kann leider auch nicht hoffen, daß mit dem Inkrafttre- ten des Gesetzes die vielen kleinen seriösen und das Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile der Kollegin Angebot bereichernden Reisebüros wieder so fre- Angela Stachowa das Wort. quentiert werden, wie es ihnen zukommt. Meine allgemeine Genugtuung über das Zustande- kommen des Gesetzes muß ich mit weiteren kritischen Angela Stachowa (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- dent! Meine Damen und Herren! Seit der ersten Bemerkungen relativieren. - Lesung des Gesetzentwurfs am 24. September ver- gangenen Jahres sind knapp sieben Monate ins Land Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Stachowa, gegangen. Das ist nicht allzuviel, wenn man bedenkt, Sie sind leider schon mit der Zeit zu Ende. Wenn Sie wie kompliziert die Umsetzung dieser Richtlinie in aber noch einen etwas längeren Satz abschließend nationales Recht erschien und wie lange es dennoch sagen wollen, tun Sie das. gedauert hat, bis ein erster Gesetzentwurf überhaupt vorlag. Hier war wohl doch der Druck der Öffentlich- Angela Stachowa (PDS/Linke Liste): Eine gewisse keit nach den bedauerlichen, aber sehr medienwirk- Mittelstandsfeindlichkeit wohnt diesem Gesetz immer samen Konkursaffären des letzten Jahres mit all ihren noch inne. Die jährliche Haftungsobergrenze und die Nachwirkungen, ein nicht zu unterschätzender Kata- vorgesehenen Sicherungsmodelle führen zu Wettbe- lysator. werbsverzerrungen. Es ist erfreulich, daß innerhalb dieser Zeit unter Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Einbeziehung der betroffenen Verbände, der Rei- (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei seunternehmen, Veranstalter und Verbraucher und Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) unter Anerkennung der verschiedenen Interessen vehement eine Regelung gesucht wurde, die rechtli- che Voraussetzungen schaffen soll, damit sich solche Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Kollegen Alpträume des vergangenen Jahres für unsere Touri- Dr. Rolf Olderog das Wort. sten nicht wiederholen mögen. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Alpträume in Dr. Rolf Olderog (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Grenzen!) sehr verehrten Damen und Herren! Trotz allem: Ich denke, wir können aufatmen. Mit der Umsetzung der Die jetzt vorliegende Fassung des Gesetzentwurfs europäischen Pauschalreiserichtlinie hatten wir im ist ein kleiner Schritt in diese Richtung. Bundestag eine harte Nuß zu knacken. Ich freue mich (Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir bezahlen in darüber, lieber Carl Ewen, daß wir das gemeinsam Zukunft noch den ganzen Urlaub!) geschafft haben. Sie wird zwar Betrugsmöglichkeiten der schwarzen Grund zur Freude haben vor allem die Verbraucher, Schafe der Reisebranche nicht verhindern können, die Reisenden. Hiobsbotschaften von gestrandeten ihnen aber das Leben erschweren. Urlaubern, die ohne Rückreiseticket und ohne Hotel- Der Insolvenzsicherung galt in den vergangenen unterkunft an fernen Flughäfen sitzen, wird es in Beratungen der Ausschüsse das Hauptaugenmerk. Zukunft nicht mehr geben. Das neue Recht bietet allen Sie soll ein Sicherungssystem für jährlich 25 bis Pauschalreisenden einen zuverlässigen Schutz vor 30 Millionen Pauschalreisen garantieren und betrifft Insolvenz und Konkurs der Veranstalter. damit naturgemäß alle Beteiligten: die Reisebranche, Auch die Reisebranche — die Veranstalter — kann die Veranstalter und die Reisenden selbst. insgesamt zufrieden sein. Nach vielen Gesprächen Es ist anzuerkennen, daß mit viel Elan akzeptable war es uns möglich, wesentlichen Forderungen der Lösungen und praktikable Modelle gesucht wurden. Branche im Gesetzentwurf Rechnung zu tragen. Die Das Ergebnis ist und bleibt dennoch unbefriedigend.. großen Reiseveranstalter, TUI, NUR und die anderen Die Zukunft muß zeigen, ob es tatsächlich gelungen großen, leistungsfähigen, werden keine Probleme ist, die Interessen aller Beteiligten in Einklang zu haben, bringen. (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Keine Wer Die nicht endenden Diskussionen lassen ernste bung!) Zweifel aufkommen. Leider werden erst die zukünfti- die notwendigen Sicherheiten zu erbringen. Wir hof- gen Statistiken Auskunft darüber geben können, ob fen, daß auch all die kleineren Veranstalter, die kleine Unternehmen über ein ausreichendes Finanz- kleinen und mittleren Betriebe mit dieser jetzt von polster verfügen und die Gelder ihrer Kunden ent- ihnen verlangten Umstellung fertigwerden; sicher sprechend absichern können oder ob sie sich lieber aber können wir nicht sein. Wir haben uns über rechtzeitig aus dem Geschäft verabschieden wer- Monate den Kopf zerbrochen, um gerade für die den. kleinen und mittleren Unternehmen Lösungen zu Generell sehe ich unverändert die Gefahr einer finden. zunehmenden Konzentration der Reisebranche, die Wie kompliziert die Materie ist, zeigt ja eine ganz durch Aufhebung der Vertriebsbindung noch be- ungewöhnliche Tatsache: Der federführende Rechts- schleunigt werden wird. Erste Zahlen über das ausschuß hatte formell seine Beratungen bereits abge- Buchungsverhalten für das Jahr 1994 zeigen, daß sich schlossen, ist aber nach einem Gespräch mit dem asr Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19147

Dr. Rolf Olderog noch einmal in die Beratungen gegangen und hat möglichen Versicherungen und Versicherungsgrup- einen wichtigen Punkt, den des Inkrafttretens, geän- pen gegeben. Das hat sich letztlich doch auch als dert. erfolgreich erwiesen. Meine Damen und Herren, vom Zusammenbruch Meine Damen und Herren, zum Schluß ein Wort zu von MP-Travel Geschädigte haben Klage gegen die den großen Reisebüroverbänden DRV und asr. Die Bundesrepublik Deutschland erhoben. In der Tat ist es Beratungen zu diesem Gesetzentwurf belegen, wie so, daß nach den Vorstellungen der europäischen hilfreich, ja, wie unentbehrlich große Interessenver- Richtlinie das nationale Gesetz eigentlich bereits am bände heute für eine sachgerechte parlamentarische 1. Januar 1993 in Kraft treten sollte. Wer die Beratun- Beratung sind. Daß gegenwärtig überhaupt zwei gen verfolgt hat, weiß jedoch, daß das pure Illusion Sicherungsinstrumente auf dem Markt sind, verdan- - war. Nicht einmal zum 1. Juli 1994 war das zu ken wir ganz entscheidend dem großen Einsatz dieser schaffen, verehrter Herr Professor Pick. Verbände. Ich möchte dem Herrn Präsidenten Schnei- der und dem Herrn Hauptgeschäftsführer Nipper vom Lange bevor die Bundesregierung den Gesetzent- DRV ebenso wie Herrn Präsidenten Feibel und Herrn wurf vorgelegt hat, haben wir z. B. in meiner Arbeits- Vizepräsidenten Laepple vom asr sehr herzlich für gruppe mit den Vertretern der Bundesregierung, mit ihren großen persönlichen Einsatz danken. Natürlich den Vertretern der großen Verbände über denkbare liegt das auch in ihrem persönlichen Interesse, aber Lösungsmöglichkeiten diskutiert, und auch die Bran- wir haben doch den Eindruck gewonnen, daß sie sich che hat gearbeitet. Also, zu glauben, daß vorher nichts sehr stark auch von der öffentlichen Verantwortung, passiert sei, ist ganz bestimmt nicht richtig. die sie tragen, haben leiten lassen. Meine Damen und Herren, vielleicht hätte die Zeit bis zum 1. September 1994 ausgereicht. Nur, das wäre für das Inkrafttreten ein extrem ungünstiger, unglück- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Olderog, licher Termin gewesen. Dieser Termin hätte mit Sie sind ein großes Stück über die Zeit. Sicherheit eine Reihe von Insolvenzfällen ohne Schutz für die Verbraucher und die Touristen ausgelöst. Auf Grund mangelnder Bonität hätten viele ihr Unterneh- Dr. Rolf Olderog (CDU/CSU): Herr Präsident, dann men einstellen müssen. Viele laufende Reisen werden will ich auch Schluß machen. Unser Gesetz ist ein Markstein für den modernen Tourismus. Ich hoffe, daß durch die Vorkasse finanziert. Gibt es keine Vorkasse mehr, weil man nicht mehr arbeiten darf, dann bedeu- auch wir als Parlamentarier die damit für uns verbun- tet das, daß die durchzuführenden Reisen nicht mehr dene Prüfung unserer Bonität bestanden haben. finanziert sind, und dann landen Pauschalreisende als Schönen Dank. gestrandete Touristen irgendwo auf fernen Flughä- (Beifall bei der CDU/CSU) fen. Ergebnis: Wir haben es, glaube ich, richtig gemacht, indem wir als Zeitpunkt des Inkrafttretens den 1. No- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Carl Ewen, vember, also die reiseärmste Zeit, gewählt haben. Ich Sie haben das Wort. glaube, das war eine richtige Entscheidung. (Zuruf von der SPD: Carl, sag es dem Klei nert!) Ich möchte noch einmal sagen: Wir haben uns wirklich ungeheure Mühe gegeben. Lange bevor Sie sich im Rechtsausschuß damit befaßt haben, haben Carl Ewen (SPD): Herr Präsident! Meine sehr ver- wir diese Gespräche geführt. Ich kann mich nicht ehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst kurz erinnern — ich bin ja lange im Bundestag —, daß ich so auf Herrn Kleinert eingehen, der uns hier ja in viele Gespräche zu einem Gesetz mit Verbänden, gewohnter Manier durch sehr anschauliche Reden Organisationen, Instituten, Vertretern der Regierung erfreut und dabei natürlich auch Befindlichkeiten zum und auch zwischen den Fraktionen geführt habe. Wir Ausdruck bringen kann und damit voll im Trend der haben uns bis zum äußersten bemüht. Es war ja auch Zeit liegt. Aber wenn er behauptet, daß die Steuer- absolutes Neuland, das wir betreten haben. zahler die Reisen derjenigen bezahlen, die etwa in Das Kernproblem war der Insolvenzschutz. Wir alle Florida gestrandet sind, so stimmt das in Zukunft waren eigentlich dafür — ich erinnere an die erste nicht. Das macht schon der Verbraucher, der reist. Der Lesung —, ein verbindliches Pflichtmodell für alle zu ist zwar insofern auch ein Steuerzahler, aber dieses schaffen. Dagegen gab es kartell- und europarechtli- Geld kommt nicht aus Steuertöpfen. Ich glaube, es ist che Bedenken. Wir wollten das Risiko nicht auf uns doch ganz wichtig, zu sagen, daß hier die öffentliche nehmen, daß unsere Sicherungsinstitute dann vor Hand nicht zahlt. einem Gericht zum Zusammenbruch gebracht wer- (Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Dem den. So mußten wir darauf setzen, daß der Markt kann ich im wesentlichen zustimmen!) Lösungen anbieten werde. Das war sehr schwierig. Die Banken haben uns sehr schnell die kalte Schulter — Hervorragend! gezeigt. Der Verweis an die Hausbanken funktio- Die Reisebüros haben ja auch zugesichert, gegebe- nierte also nicht, obwohl wir möglicherweise jetzt nenfalls auch ohne Inanspruchnahme der Sicherungs- doch noch ein Bankenmodell, das „Tourgarant" - fonds die Kunden so wie bisher zurückzufliegen. Ich Modell, bekommen. Die Versicherungen waren inter- glaube, das ist ein gutes Zeichen; denn es wäre ja nicht essiert, standen aber vor zunächst unlösbaren Proble- vorstellbar, daß erst am Ende des Jahres alle Kunden men. Es hat unendlich viele Gespräche mit allen zurückgeflogen werden, weil erst dann gezahlt wird. 19148 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 Carl Ewen Das wäre nicht machbar. Insofern ist hier der Reise- unter besonderer Berücksichtigung des Mittelstands branche auch zu danken. auswirkt. (Beifall des Abg. Detlef Kleinert [Hannover] (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das ist sehr [F.D.P.]) wichtig!) Aus einem solchen Bericht sind dann gegebenenfalls Dank gilt dem Rechtsausschuß, der trotz sorgfältiger Folgerungen zu ziehen, die bis zur Novellierung des und schon abgeschlossener Beratung in zwei Sitzun- Pauschalreiserechts in einigen Punkten gehen kön- gen bereit war, sich auf Bitten des Fremdenverkehrs- nen. ausschusses noch einmal mit dem Gesetzentwurf zu befassen. Nun gibt es kritische Stimmen, die darauf hinwei- - sen, daß die Umsetzung der europäischen Reisericht- (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ linie in nationales Recht unverhältnismäßig lange, CSU]: Das ist ihm aber sehr schwer gefal vielleicht zu lange, gedauert habe. Ich stelle fest, daß len!) sich der Bundestag mit dem von der Bundesregierung — Das ist uns bekannt. eingebrachten Gesetzentwurf am 23. September 1993 erstmalig befaßt und dann zügig beraten hat. Die (Norbert Geis [CDU/CSU]: Aber so sind Arbeitsgruppe Fremdenverkehr der SPD-Bundes- wir!) tagsfraktion hat schon lange vorher versucht, prakti- kable Lösungen zu erkunden. Die Reisebranche und Aber herausgekommen ist nach meiner festen Über- die Versicherer haben lange gebraucht, um Vor- zeugung eine Regelung, die allen Reisenden, die nach schläge zu erarbeiten, die der Zielsetzung der Richt- dem 31. Oktober 1994 eine Reise antreten, die sie nach linie entsprechen und gleichzeitig in die Systematik dem 30. Juni 1994 gebucht haben, einen optimalen unseres Reiserechts passen und praktikabel sind. Schutz gewährt — Schutz vor finanziellen Schäden, nicht aber Schutz vor Stranden, nicht Schutz vor Mit der heutigen Beschlußfassung ist ein Schluß- überbuchten Hotels und nicht Schutz vor sonstigen strich zu ziehen. Meine feste Überzeugung ist, daß das Mißhelligkeiten. Also: Entgangenen Urlaubsgenuß deutsche Reiserecht im Vergleich mit Regelungen in oder Erschwernisse während des Urlaubs durch anderen Ländern einen optimalen Schutz für Pau- Umbuchung von Hotels usw. wird es leider auch in schalreisen bietet. Damit ist dem Verbraucherschutz Zukunft geben. Allerdings wird es die finanziellen in hohem Maße Rechnung getragen. Folgen eines solchen Strandens durch Insolvenz der (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das muß doch Reisebüros oder der Reiseveranstalter dann nicht einmal gesagt werden!) mehr geben. Ich hoffe, daß sich das Gesetz auch in Zukunft Zu hoffen ist, daß möglicherweise entstehende bewähren wird. Marktmacht wegen fehlender Konkurrenz bei den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Versicherern bzw. den Kreditinstituten nicht ausge- der CDU/CSU und der F.D.P.) nutzt wird, um hohe Prämien durchzusetzen. Zu hoffen ist auch, daß die Bereitschaft, Risiken einzuge- Ich erteile das Wort dem hen, groß genug ist, bisher mit Erfolg am Markt Vizepräsident Hans Klein: Parlamentarischen Staatssekretär bei der Bundesmi- operierenden Veranstaltern durch Absicherung der nisterin der Justiz, unserem Kollegen Rainer Funke. Kundengelder auch weiterhin eine Ch ance zu geben. Rainer Funke, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- Dem Wunsch der Touristikbranche, alle Veranstal- ministerin der Justiz: Herr Präsident! Meine Damen ter von Reisen zu verpflichten, sich dem Pauschal- und Herren! Das Gesetz zur Umsetzung der EG- reiserecht zu unterwerfen, konnte der Fremdenver- Pauschalreiserichtlinie be trifft einen der größten und kehrsausschuß nicht entsprechen. inzwischen wichtigsten Dienstleistungssektoren der Ich weise darauf hin, daß wir gemeinsam davon deutschen Wirtschaft. In Deutschland werden alljähr- ausgehen, daß unter dem Beg riff „gelegentlich veran- lich zwischen 25 und 30 Millionen Pauschalreisen mit stalten" ein bis höchstens zwei Reisen im Jahr gemeint einem durchschnittlichen Reisepreis von DM 1 500 sind. Im übrigen müssen die Reisebüros durch ihr verkauft. Trotz weltweiter Rezession boomt die Rei- Dienstleistungsangebot deutlich machen, daß sie sebranche. Auf der Internationalen Tourismusbörse in die Aufgabe, spezielle Reisewünsche zu erfüllen und Berlin wurde von zweistelligen Zuwachsraten berich- das entsprechende Programm zusammenzustellen, tet, die selbst Branchenoptimisten überraschten. Mit durchaus preisgünstig erfüllen können. diesen Zuwachsraten kann sonst kein Industriezweig aufwarten. Informationen im Reisekatalog werden in Zukunft genauer sein. Zu hoffen ist, daß die Sprache in Kernstück des Ihnen zur Beschlußfassung vorlie- Katalogen nicht mehr verschleiert als offenbart. Dies genden Gesetzentwurfs ist die Einführung der Ver- gilt dann auch für die verstärkt genutzten elektroni- pflichtung von Reiseveranstaltern, die Vorauszahlun- schen Informationsmöglichkeiten. gen ihrer Kunden auf den Reisepreis sowie etwaige Mehrkosten der Rückreise durch Abschluß einer ent- Der Bundestag fordert die Bundesregierung auf, sprechenden Versicherung oder Beibringung einer Ende 1995 zu berichten, wie sich das Pauschalreise- Bankbürgschaft für den Fall der Insolvenz des Reise- recht in bezug auf die Entwicklung des Wettbewerbs veranstalters abzusichern. Des weiteren konkretisiert im Bereich der Sicherungsgelder und auf die wirt- das Gesetz die Informationspflichten der Reiseveran- schaftliche Situation der Anbieter auf dem Reisemarkt stalter. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19149

Parl. Staatssekretär Rainer Funke Der Gesetzentwurf hat sehr gegensätzliche Reak- Feldmann. — Sind Sie bereit, alle diese Zwischenfra- tionen ausgelöst. Von Teilen der Tourismusbranche gen zuzulassen? wurde er als überflüssig und unzumutbar abgelehnt, obwohl die Branche die zugrunde liegende EG- Rainer Funke, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- Richtlinie nach ihrer Verabschiedung seinerzeit als ministerin der Justiz: Ja, natürlich. einen tragbaren Kompromiß begrüßt hat. Im Gegen- (Dr. Hans de With [SPD]: Ist das verabre satz dazu bemängelt die Verbraucherseite, daß das det?) Gesetz nicht schon früher, nämlich zu dem in der — Das ist nicht verabredet, Herr Kollege. Richtlinie vorgesehenen Zeitpunkt, dem 31. Dezem- ber 1992, gekommen ist. Nach den aufsehenerregen- Vizepräsident Hans Klein: Also zuerst Herr den Reiseveranstalterinsolvenzen des Reisesommers- Thiele. 1993, die vorhin schon erwähnt worden sind, von denen immerhin 15 000 bis 30 000 Bürger betroffen Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Herr Staatssekretär, waren, ist, glaube ich, über die Notwendigkeit der halten Sie es denn nicht für denkbar, daß der einzelne Insolvenzsicherung wohl nicht mehr viel zu sagen. Parlamentarier bei den umfangreichen Gesetzen, die wir hier zu verabschieden haben, möglicherweise (Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Sie sind nicht jede Vorschrift genau übersehen kann, und aber alle wieder da!) sollte man nicht für den Fall, daß er die Auswirkungen solcher Regelungen übersieht und nicht genau Vizepräsident Hans Klein: Herr Parlamentarischer Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des erkennt, tätig werden, um das Ganze — ich sage Kollegen Thiele? einmal: die Verwaltung greift in die Legislative ein — stärker zu diskutieren und möglicherweise wieder rückzuführen? Rainer Funke, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- ministerin der Justiz: Gerne, ja. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Parl. Staatssekretär bei der Bundes- Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Herr Staatssekretär, Rainer Funke, halten Sie es eigentlich für richtig, daß ein Parlament, ministerin für Justiz: Herr Kollege Thiele, sicherlich ist hier der Deutsche Bundestag, von der Exekutive das Parlament völlig frei, Beschlüsse, die es einmal Europas, die von der Exekutive der europäischen gefaßt hat, umzukehren. Dazu bedarf es einer Parla- Staaten, also auch der Exekutive der Bundesrepublik mentsinitiative. Dazu bedarf es dann aber auch ent- Deutschland, gestellt wird, gezwungen werden kann, sprechender Initiativen auf europäischer Ebene. Sie Gesetze zu verabschieden, die der einzelne Abgeord- sind völlig frei, dies zu unternehmen. nete gar nicht will, und daß dieser T rick der Verwal- Herr Kollege Olderog. tung nur dazu führt, daß wir immer stärker überregu- Vizepräsident Hans Klein: liert werden? Müßte in diesem Punkt nicht auch aus Dr. Rolf Olderog (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, Ihrer Sicht dringend etwas geändert werden? können Sie uns präzise sagen, welcher Vertreter der (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Ru Bundesregierung die Bundesregierung im Ministerrat dolf Karl Krause [Bonese] [fraktionslos]) vertreten hat und wie sich die Vertreter der Bundes- regierung dort bei der Abstimmung verhalten Rainer Funke, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- haben? ministerin der Justiz: Herr Kollege Thiele, dieses Hohe (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Haus hat den europäischen Verträgen zugestimmt. In sowie des Abg. Johannes Singer [SPD] — den europäischen Verträgen ist geregelt, daß die Dr. Hans de With [SPD]: Das wird zur Frak Richtlinien, die vom Ministerrat auf Vorschlag der tionssitzung hier!) Kommission beschlossen werden, in nationales Recht umzusetzen sind. Viel gefährlicher sind im übrigen Rainer Funke, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- die Verordnungen, die gleich nationales Recht wer- ministerin für Justiz: Herr Kollege Dr. Olderog, Sie den, indem sie von der Kommission verordnet werden. wissen, daß es sich hierbei um einen sehr langwieri- Diese Richtlinien werden im Ministerrat beschlossen. gen Prozeß mit sehr vielen Verhandlungen gehandelt Da sitzt auch unsere Bundesregierung. hat. (Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Das ist (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Aber am uns bekannt!) Schluß stand eine Abstimmung! — Weiterer Wenn die Bundesregierung nicht in der Lage ist, Zuruf von der CDU/CSU: Und da war nur ein gegen eine Richtlinie, die sie nicht will, eine Sperrmi- Beamter da!) norität von 23 Stimmen zustande zu bringen, muß — Ja. Sie wissen ganz genau, wie diese Abstimmun diese Richtlinie in nationales Recht umgesetzt wer- gen verlaufen. In diesem Ministerrat wird die Bundes den. Da gibt es überhaupt kein Vertun. regierung in der Regel durch den Wirtschaftsminister, (Beifall des Abg. Dieter Wiefelspütz [SPD] — gegebenenfalls durch den Außenminister vertreten. Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Was (Dr. Hans de With [SPD): Aber Herr Kleinert heißt dann aber Subsidiarität?) will das nicht wahrhaben, weil das F.D.P.- Leute sind! — Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das Vizepräsident Hans Klein: Der Kollege Thiele ist ja äußerst interessant! — Weitere Zurufe möchte eine weitere Zwischenfrage stellen. Der Kol- von der SPD — Detlef Kleinert [Hannover] lege Olderog hat sich ebenfalls zu einer Zwischen- [F.D.P.]: Keine der genannten Persönlichkei frage gemeldet. — Jetzt meldet sich noch der Kollege ten war anwesend!) 19150 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Vizepräsident Hans Klein: Bitte, Herr Kollege Olde- Hinweis, daß wir mit dieser Debatte jetzt langsam zu rog, zu einer Zusatzfrage. Ende kommen wollen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Dr. Rolf Olderog (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, SPD und der F.D.P.) würden Sie uns liebenswürdigerweise auch sagen, und daß alles, was jeder sagen wollte, weitgehend wie die Vertreter der Bundesregierung — wenn Sie gesagt ist. schon nicht genau wissen, wer das gewesen ist — in Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich frage der Sache abgestimmt haben? Sie, ob Sie eine weitere Frage des Kollegen Olderog zulassen. Rainer Funke, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- ministerin für Justiz: Das kann ich Ihnen jetzt im Rainer Funke, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- einzelnen Fall nicht sagen, weil mich das auch gar ministerin der Justiz: Trotz Ihres Einwandes würde ich nicht zu interessieren hat. Denn die Ministerratsent- sie gerne zulassen, weil ich solche Fragen ungern scheidung ist gefallen. Mit welchem Abstimmungs- verhindern will. verhalten die Bundesregierung dort aufgetreten ist, spielt überhaupt keine Rolle. (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Sehr gut!)

(Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Herr Vizepräsident Hans Klein: Der Redner ist eine Olderog legt den Finger in die Wunde!) Sache, und die Sitzungsleitung ist eine andere. Wenn die notwendige Mehrheit, Herr Kollege Klei- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Ein liberaler nert, im Ministerrat oder auch im Bundestag zustande Staatssekretär!) kommt, dann sind die entsprechenden Gesetze oder Ich appelliere also generell an Sie. — Bitte. Richtlinien von der Bundesregierung zu vollziehen. Da haben wir überhaupt keine Wahlmöglichkeiten. Dr. Rolf Olderog (CDU/CSU): Ich mache es kurz, (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Wo er recht hat, Herr Präsident. Der Herr Staatssekretär hat uns jetzt hat er recht! — Detlef Kleinert [Hannover] aber neugierig gemacht. [F.D.P.]: Wir wollen solche Diskussionen wie Ist die europäische Pauschalreiserichtlinie auf Ihrer hier öfters führen!) Subsidiaritätsliste enthalten, (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Zu spät!) Vizepräsident Hans Klein: Moment, Moment! — oder haben Sie sich schon mit der Frage auseinander- Bitte, Herr Kollege Feldmann. gesetzt, wie über einen entsprechenden Antrag, diese Richtlinie draufzusetzen, zu entscheiden wäre? Dr. Olaf Feldmann (F.D.P.): Herr Staatssekretär, ich (Dr. Hans de With [SPD]: Die Koalition ist mit möchte nur klarstellen, daß wir alle Europa wollen; ihrer Regierung nicht zufrieden! Das merkt man ganz deutlich!) (Dr. Hans de With [SPD]: Das klang aber eben nicht so!) Rainer Funke, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- nicht daß hier falsche Gedanken aufkommen. Herr ministerin der Justiz: Herr Dr. Olderog, die Pauschal- Staatssekretär Funke, ist die Bundesregierung bereit, reiserichtlinie wird gerade in nationales Recht umge- in Zukunft dem Subsidiaritätsgedanken in Brüssel setzt. Wenn wir der Auffassung wären, daß sie nicht etwas stärker zum Durchbruch zu verhelfen? umzusetzen wäre, weil sie dem Subsidiaritätsprinzip nicht entspricht, dann hätten wir uns zunächst von der (Dr. Hans de With [SPD]: Das ist eine Frage Europäischen Kommission vor dem Europäischen an den Außenminister!) Gerichtshof verklagen lassen. Wir sind ja der Auffas- sung gewesen, daß sie in nationales Recht umzusetzen Rainer Funke, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- ist. Ob in Zukunft im Wege der Verhandlung diese ministerin für Justiz: Nicht nur etwas, Herr Kollege europäische Pauschalreiserichtlinie verändert wer- Feldmann. Wir haben in den Maastrichter Vertrag mit den kann, muß man abwarten. Aber wir haben sie Bedacht das Prinzip der Subsidiarität untergebracht, — zumindest zur Zeit noch — nicht auf der Subsidia- im übrigen nach langen Verhandlungen mit den ritätsliste. Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Das war Meine Damen und Herren, ich hatte soeben gesagt, nicht ganz leicht. Sie wissen, daß zur Zeit von der daß hinsichtlich der Notwendigkeit der Insolvenzsi- deutschen Bundesregierung eine nationale Subsidi- cherung in Anbetracht der 15 000 bis 30 000 Bürger, aritätsliste erarbeitet wird. Die Gesetze, die auf dieser die im letzten Jahr von der Insolvenz von Reiseveran- Subsidiaritätsliste stehen, sollen dann im Ministerrat staltern be troffen waren, wohl kein Zweifel bestehen der Europäischen Union intensiv beraten werden, kann. Die ausnahmslos übliche volle Vorauszahlung sowohl was alte Richtlinien angeht, als vor allem auch, der Reisepreise kann wirtschaftlich als Kredit angese- was neue Richtlinien angeht. Das Prinzip der Subsidi- hen werden, den auch professionelle Kreditgeber wie arität ist für die Bundesregierung unverzichtbar. z. B. Banken nicht ohne Sicherheit gewähren würden. Diejenigen, die an die Selbstverantwortlichkeit der Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Olderog, Verbraucher appellieren, müssen bei realistischer bei Fragen hat nicht der Präsident, sondern der Betrachtung der Fakten zugeben, daß die Möglichkei- Redner zu entscheiden. Ich erlaube mir trotzdem den ten der Reisenden, bei Buchung einer Reise die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19151

Parl. Staatssekretär Rainer Funke Bonität des Reiseveranstalters zu beurteilen, sehr Vizepräsident Hans Klein: Zu einer Kurzinterven- begrenzt sind. Manchmal verlocken auch die schönen tion erteile ich das Wort dem Kollegen Horst Eyl- Prospekte sehr, Herr Kollege Kleine rt. Da gebe ich mann. Ihnen völlig recht.

(Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Die bil Horst Eylmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine ligen Preise! Die zu billigen Preise!) sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind im — Ja, das kommt erschwerend hinzu. Rechtsausschuß sicherlich nicht glücklich darüber, daß wir Richtlinien auch dann vollziehen müssen, Daß die EG-Richtlinie über Pauschalreisen nicht wenn sie nicht unseren Vorstellungen entsprechen. früher in das deutsche Recht umgesetzt werden Aber es erscheint mir einfach zu billig, der Bundesre- konnte, ist bedauerlich, war aber in Anbetracht- der gierung hier die Schuld zu geben. Gefechtslage, die Sie zum Teil miterlebt haben, wohl (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der nicht zu ändern. F.D.P. und der SPD) (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Erst vier von Jeder Richtlinienentwurf wird vorher unserem Par- zwölf Ländern haben sie umgesetzt!) lament zugeleitet. Wir haben im Rechtsausschuß vor Ich glaube, daß die Ministerien und auch der Deutsche einigen Jahren sogar einen Unterausschuß eingerich- Bundestag das ihnen Mögliche getan haben. Ich tet, damit wir uns intensiver mit den Entwürfen der möchte den Ausschüssen des Deutschen Bundestages Richtlinien befassen können. an dieser Stelle für ihre zügige Arbeit ausdrücklich Außerdem: Das Europäische Parlament ist zwar Dank sagen. nicht der entscheidende Faktor bei den Richtlinien, wirkt aber mit. Mich würde interessieren, wie z. B. die in der Grö- Die Absicherung von Kundengeldern Liberalen oder die Vertreter der anderen Parteien im ßenordnung von jährlich immerhin 30 bis 40 Milliar- Europäischen Parlament zu dieser Richtlinie Stellung den DM in einer Branche, zu der jeder Gewerbetrei- genommen haben. bende freien Zugang hat und die durch eine kompli- zierte Struktur der tätigen Unternehmen gekenn- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Zugestimmt, wie zeichnet ist, bildete für alle Beteiligten eine außerge- wir auch heute zustimmen!) wöhnliche und nicht alltägliche Herausforderung. Bevor wir Parlamentarier uns nun gewaltig aufbla- Herr Dr. Olderog, Sie haben erwähnt, wie sich die sen und die Bundesregierung angreifen, müssen wir Struktur der Branche zusammensetzt: von ganz Gro erst einmal dazu Stellung nehmen, was wir im Vor- ßen bis zu ganz Kleinen mit einem starken Mittel- wege getan haben, um Richtlinien, die uns nicht standsblock. passen, zu verhindern. Die Schwierigkeit der Umsetzung belegt auch die (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Herr Eyl Tatsache, daß die Mehrzahl der anderen EU-Mitglied- mann, Sie reden, ohne sich vorher informiert staaten ebenfalls nicht fristgerecht umgesetzt hat. Wir zu haben!) sind das fünfte Land, das diese Richtlinie umsetzt. — Doch. (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Also noch in der (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Der Fremden vordersten Reihe!) verkehrsausschuß hat massiv protestiert, bevor sie verabschiedet worden ist!) Die notwendigen Vorkehrungen zur Schaffung der Insolvenzsicherung sind nunmehr in die Wege gelei- — Gut. Mich würde aber interessieren, wie diese tet. Ich habe mich vergewissert, daß sie bei gehöriger Richtlinie im Europäischen Parlament beurteilt wor- Anstrengung bis zum Beginn der neuen Reisesaison den ist. Wir Parlamentarier sind nämlich in erster Linie im Frühherbst 1994 — aber leider auch nicht früher — selber aufgerufen, dagegen Stellung zu nehmen. abgeschlossen sein können. Dem trägt die Inkrafttre- (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Haben wir tensregelung in Art. 4 Rechnung, wonach Sommerrei- auch! Wiederholt!) sen noch ohne Sicherungsschein verkauft werden Ich halte es durchaus für notwendig, diese Debatte können, während bei Buchungen für die Wintersaison intensiver zu führen, wie es Herr Kleinert gesagt hat, der Reisepreis abzusichern ist. aber nicht bei der einzelnen Richtlinie. Vielmehr Für Sommerreisen — darauf möchte ich ganz beson- müssen wir im Zuge einer Europadebatte einmal ders hinweisen — gilt aber die bereits nach der darüber diskutieren, wie wir das Zustandekommen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bestehende von Richtlinien verhindern wollen, die uns nicht Sicherung der Reisenden. Der Reisepreis muß nur gefallen — das ist der entscheidende Punkt —, aber gegen werthaltige Reisedokumente gezahlt werden, nicht hier. die dem Reisenden einen Anspruch gegen Hotel und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Beförderer gewähren. Jeder Reisende sollte daher im F.D.P. und der SPD — Dr. Rolf Olderog eigenen Interesse Wert darauf legen, sie bei der [CDU/CSU]: Wir haben die Bundesregierung Zahlung zu erhalten, und bei der Buchung darauf eindringlich davor gewarnt, einer solchen achten, daß sich der Reiseunternehmer vielleicht Richtlinie zuzustimmen!) bereits jetzt freiwillig an einer Insolvenzsicherung beteiligt hat. Zur Abgabe einer Erklä- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Vizepräsident Hans Klein: rung nach § 31 der Geschäftsordnung erteile ich das (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wort der Kollegin Marita Sehn. 19152 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Marita Sehn (F.D.P.): Herr Präsident! Liebe Kolle- Gegenstimmen und zwei Enthaltungen in zweiter ginnen! Liebe Kollegen! Das Gegenteil von „gut" ist Beratung angenommen. „gut gemeint". In diese Rubrik ordne ich den Gesetz- Wir kommen zur entwurf der Bundesregierung zur Durchführung der dritten Beratung Richtlinie des Rates vom 13. Juni 1990 über die Pauschalreisen. und Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, möge sich bitte erheben. — Gegen- Nur drei Gründe — Herr Eylmann, es gibt derer probe! — Wer enthält sich? — Der Gesetzentwurf ist noch mehr — für meine ablehnende Entscheidung bei sechs Gegenstimmen und zwei Enthaltungen möchte ich hier nennen: angenommen. Erstens. Die Gesetzgebungskompetenz liegt beim - Der Rechtsausschuß empfiehlt unter Nr. 2 seiner Parlament. Es ist nicht in Ordnung, wenn der Beamte Beschlußempfehlung die Annahme einer Entschlie- der Bundesregierung in Brüssel die Verhandlungen ßung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — führt und die Entscheidungsfreiheit des Parlaments Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußemp- beschränkt. Wenn dieser Weg der richtige wäre, wäre fehlung ist angenommen. unsere Parlamentsarbeit unnötig. (Dr. Hans de With [SPD]: Es wäre Sache des Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf: Bundeskanzlers gewesen, diese Richtlinie zu Zweite und dritte Beratung des von der Bun- verhindern!) desregierung eingebrachten Entwurfs eines Die Kompetenz und Entscheidung hätte dann aus- Gesetzes zur Durchsetzung der Gleichberechti- schließlich die Bürokratie. Wollen wir dies wirklich? gung von Frauen und Männern Zweitens. Aus Verbrauchersicht lehne ich diese (Zweites Gleichberechtigungsgesetz — Regelung ab. Der Verbraucher muß automatisch für 2. GleiBG) alle Pauschalreisen, die nach dem 31. Oktober 1994 — Drucksache 12/5468 — angetreten werden, die Kosten für die Insolvenzsiche- Zweite und dritte Beratung des von den Abge- rung tragen. Davon hat heute noch keiner gespro- ordneten Ilse Janz, Hanna Wolf, Dr. Marliese chen. Ich habe nur Positives gehört. Aber daß der Doberthien, weiteren Abgeordneten und der Verbraucher das bezahlt, ist doch ganz klar. Er hat Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines überhaupt keine Möglichkeit, sich dieser Regelung zu Gesetzes zur Gleichstellung von Frau und entziehen. Alle zahlen dafür, daß ein paar besonders Mann (Gleichstellungsgesetz) Kluge besonders preisgünstig Urlaub machen wollen. — Drucksache 12/5717 — Wer billig bucht, sollte als aufgeklärter Verbraucher bereit sein, auch das Risiko zu tragen. (Erste Beratung 179. Sitzung) Drittens. Ein Blick über unsere Grenzen hinweg Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- macht deutlich, daß die Mehrzahl unserer Partner die schusses für Frauen und Jugend (14. Aus- Umsetzung noch nicht betrieben hat und Großbritan- schuß) nien, die Niederlande, Frankreich und Portugal große — Drucksache 12/7333 — Probleme bei der Umsetzung noch nicht bewältigt Berichterstattung: haben. Abgeordnete Dr. Maria Böhmer Dem vorliegenden Gesetzentwurf werde ich daher Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink nicht zustimmen. Ilse Janz (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU (Unruhe) sowie des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause [Bo — Meine Damen und Herren, nehmen Sie doch bitte nese] [fraktionslos]) Platz, damit die Kollegen, die sich beteiligen möchten, erfahren, worüber hier debattiert wird. Ich will ungern Namen nennen, aber nehmen Sie doch Platz. Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen che, die - das wirkt sich auf die später vorgesehene sieben Änderungsanträge der Gruppe PDS/Linke namentliche Abstimmung aus — statt der angekün- Liste vor. Ich weise darauf hin, daß wir im Anschluß an digten halben Stunde fast genau eine Stunde gedauert die Aussprache über den Gesetzentwurf der Bundes- hat. Es geht dem Präsidenten hier so wie dem ganzen regierung namentlich abstimmen werden. Das wird Parlament: Es gibt einfach Regelungen, denen man allerfrühestens um 13.50/13.55 Uhr der Fall sein. sich nicht entziehen kann. Wenn eine entsprechende Vermutlich wird es 14 Uhr werden, denn nach einer Zahl von Zwischenfragen gestellt und andere Formen interfraktionellen Vereinbarung ist für die Ausspra- der Interventionsmöglichkeiten genutzt werden, ver- che eine Stunde vorgesehen, und die Bonner Stunde längert sich die Debattenzeit. dauert ja ein bißchen länger. — Dagegen erhebt sich Wir kommen zur Abstimmung über den von der kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Durchführung der EG-Richtlinie über Pauschalreisen, Kollegin Claudia Nolte. Drucksachen 12/5354 und 12/7334 Nr. 1. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuß- Claudia Nolte (CDU/CSU): Herr Präsident! Sehr fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit der heutigen Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? Der Gesetz- zweiten und dritten Lesung des Gleichberechtigungs- entwurf ist mit sehr großer Mehrheit bei wenigen gesetzes der Bundesregierung schließen wir eine Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19153

Claudia Nolte intensive parlamentarische Beratung ab. Sie war nicht werden ehrenamtliche Leistungen erbracht, die unse- leicht, und so manche Vorbehalte mußten in vielen ren Dank und unsere Anerkennung verdienen. Sitzungen ausgeräumt werden. (Beifall bei der CDU/CSU — Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Aber nicht anerkannt Ich möchte an dieser Stelle allen Kolleginnen und werden!) Kollegen meiner Fraktion und der F.D.P.-Fraktion, die Fast zwei Millionen Bürgerinnen und Bürger sind sich auf die Suche nach der besten Lösung eingelas- allein im sozialen Bereich ehrenamtlich engagiert. Sie sen haben, für ihre konstruktive Zusammenarbeit danken. Mein Dank geht auch an die zuständigen leisten jedes Jahr insgesamt 265,2 Millionen Stunden Beamten des Ministeriums, und allen voran an die freiwillige Hilfe und ersparen damit der Gemeinschaft Kosten in Höhe von über 5 Milliarden DM im Jahr. Ministerin Frau Angela Merkel für die hilfreiche- Unterstützung. Eine Aufwertung des sozialen Ehrenamtes inner- halb des Gleichberechtigungsgesetzes war nicht mög- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) lich. (Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Sonntagsre Mit diesem Gesetz gehen wir einen weiteren wich- den nützen aber nichts!) tigen Schritt zur Verwirklichung der verfassungs- Für uns heißt das aber nicht, daß dieses Anliegen zu rechtlich garantierten Gleichberechtigung zwischen den Akten gelegt wird, sondern wir werden weitere Mann und Frau. Wem die Interessen der Frauen am Möglichkeiten prüfen und nutzen. Herzen liegen, wird diesem Gesetz zustimmen. Es enthält in seinen wesentlichen Teilen Regelungen zur (Beifall bei der CDU/CSU) Frauenförderung, zu den Kompetenzen der Frauen- Liebe Kolleginnen und Kollegen, der uns gleichfalls beauftragten in den Bundesbehörden, zur Erleichte- vorliegende Entwurf eines Gleichstellungsgesetzes rung der Teilzeitarbeit im öffentlichen Dienst sowie der SPD ist völlig ungeeignet, die gleichberechtigte zur Novellierung des Bet riebsverfassungsgesetzes Teilhabe der Frauen in unserer Gesellschaft zu för- und des Bundespersonalvertretungsgesetzes, um dem dern. Ihre überzogenen Forderungen und Reglemen- Betriebsrat bzw. dem Personalrat Einflußmöglichkei- tierungen blockieren nicht nur eine vernünftige ten bei Maßnahmen zur Frauenförderung einzuräu- Gleichberechtigungspolitik, sie sind auch wirtschaft- men. lich schädlich. (Widerspruch bei der SPD) Ebenso sind Regelungen enthalten, die die Verein- Folgte man Ihrem Vorhaben, ergäbe sich noch mehr barkeit von Familie und Beruf für Frauen und Männer Bürokratie in der Verwaltung, würden Entscheidun- zum Ziel haben, Regelungen, die von der CDU/ gen gelähmt. Sie wollen Privatunternehmen gesetz- CSU-Fraktion sehr unterstützt wurden. Unser Anlie- lich bevormunden. Schon allein die Vorstellung, daß gen war es, das Gesetz so verbindlich wie möglich zu künftig alle Ausbildungsplätze nach einer starren formulieren. Dem galten unsere Anstrengungen in 50-%-Quote gesetzt werden sollen, zeigt, daß die SPD den Beratungen, und wir konnten dabei ja auch vieles die Realitäten nicht zur Kenntnis nimmt. erreichen. (Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Sie merken Zwei weitere Schwerpunkte sind das Gesetz zum gar nicht, daß wir in Deutschland mehr als Schutz der Beschäftigten vor sexueller Belästigung 50 % Frauen sind!) am Arbeitsplatz, mit dem sich bei uns die Absicht Realitätsferne aber hilft nicht — auch nicht Ihr verbindet, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz aus Geschrei —, der Grauzone herauszuholen und den Betroffenen (Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Für Argu eine Handhabe zu geben, sich zu wehren, und das mente sind Sie noch nie zugänglich gewe das die angemes- Bundesgremienbesetzungsgesetz, sen!) sene Repräsentanz von Frauen und Männern in Gre- mien im Einflußbereich des Bundes fördern soll. sie führt zu falschen Weichenstellungen. Wir lehnen Ihren Antrag ab und stimmen dem Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt wohl kein Entwurf der Bundesregierung in der geänderten Aus- Gesetz, in dem nicht Kompromisse geschlossen wer- schußfassung zu. den und das Machbare gegenüber dem Wünschens- Danke schön. werten abgewogen werden müßte. Erwartungsgemäß gestaltete sich die Einigung zur Änderung des § 611 a (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) BGB schwierig. Ich möchte für meine Fraktion noch- mals zum Ausdruck bringen, daß wir bei der Schaden- ersatzregelung den Verzicht auf eine Höchstbegren- Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile der Kollegin zung für sachgerechter hielten. Dr. Edith Niehuis das Wort.

Wir als CDU/CSU-Fraktion haben des weiteren immer wieder darauf aufmerksam gemacht, daß wir Dr. Edith Niehuis (SPD): Herr Präsident! Sehr auch denjenigen gerecht werden müssen, die sich geehrte Kollegen und Kolleginnen! Was lange währt, unermüdlich ehrenamtlich für unser Gemeinwohl wird endlich gut, sollte man meinen. Leider gilt das engagieren. Im sozialen, sportlichen, musischen, kul- nicht für das Gleichberechtigungsgesetz der Bundes- turellen und nicht zuletzt im politischen Bereich regierung. 19154 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Dr. Edith Niehuis In der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für leider mangelt es bei dieser Frauenministerin in der Frauen und Jugend haben alle Sachverständigen Regierung genau daran. dieses Gleichberechtigungsgesetz vernichtend beur- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) teilt; es ist durchgefallen. Trotz dieses vernichtenden Sachverständigenurteils, an dem auch die Meinen Lassen Sie mich das an einem Beispiel erläutern: kosmetischen Ergänzungen in der Beratung nichts Frauen sind es, die im Durchschnitt ein Drittel weniger geändert haben, besteht die Ministerin Merkel dar- als ihre männlichen Kollegen verdienen, die in der auf, dieses Gesetz heute zu verabschieden. Regel als letzte eingestellt, als letzte befördert wer- den, dann aber als erste entlassen werden — trotz Dieses Gesetz, das das schöne Wort Gleichberech- gleichwertiger oder besserer Bildungsabschlüsse, die tigung im Namen trägt, wird die Frauen bitter enttäu- sie heute vorweisen. schen. - Das heißt, nach mehr als 40 Jahren Bundesrepublik (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Deutschland sind die Frauen auf dem Arbeitsmarkt so Liste) erheblich benachteiligt, daß die Armut in der Bundes- Es wird die Frauen bitter enttäuschen, weil es im Ke rn republik Deutschland leider ein weibliches Gesicht für 99 % der erwerbstätigen Frauen nicht gilt. Es wird trägt. Diese Situation ist unwürdig für die Frauen, aber die Frauen bitter enttäuschen, weil es jene Frauen, für sie ist ebenso unwürdig für einen demokratischen die es gilt, nicht vor Benachteiligungen schützen wird. Rechtsstaat. Es wird die Frauen bitter enttäuschen, weil es jungen Frauen keine gleichberechtigte Chance auf einen (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Ausbildungsplatz gibt. dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Einen ersten Schritt werden wir hoffentlich gemein- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sam tun, wenn wir in diesem Haus die Ergänzung des Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes verabschieden, d. h. Wer ein Gleichberechtigungsgesetz vorlegt, das den Staat verpflichten, aktiv Frauenförderung zu den Namen nicht verdient, hilft den Frauen nicht, betreiben. Ich will noch einmal betonen, daß dieser sondern schadet den Frauen. Schritt in diesem Haus notwendig ist. Aber ebenso (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke notwendig sind einfachgesetzliche Maßnahmen. Liste) Dazu hätte das Gleichberechtigungsgesetz gehören können, wenn nicht die Frauenministerin selbst Frau Merkel weiß dieses sehr gut. Eine Frauenmini- gegen eine verbindliche Frauenförderung wäre. sterin, die stolz darauf ist, das Ihrige vorzustellen, wird sich in der Debatte nicht so verstecken, wie es Frau Damit bin ich bei der qualifikationsbezogenen Merkel tut, indem sie sich an das Ende der Debatte Quote. Sie ist die adäquate Antwort auf die stellen läßt. geschlechtsspezifischen Rollenklischees, die es in unserer Gesellschaft nach wie vor in erschreckendem (Maria Michalk [CDU/CSU]: Frau Merkel Maße gibt, was jüngst auch eine Untersuchung des versteckt sich nicht! — Weitere Zurufe von Frauenministeriums herausgestellt hat. Die qualifika- der CDU/CSU) tionsbezogene Quote und nicht irgendeine unver- bindliche Gleichberechtigungskampagne, die Frau Merkel initiiert, ist die Antwort. Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, fairer- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und weise darf ich Sie darauf hinweisen, daß sich Frau dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Merkel nicht versteckt. Sie ist auf der Regierungsbank sichtbar. Doch anders als die Frauenunion lehnt die Frauen- ministerin die Quote strikt ab. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr vernünf tig!) Dr. Edith Niehuis (SPD): In der Debatte versteckt sie In einem Beitrag der „Frankfurter Rundschau" vom sich. Sie stellt sich nicht den Argumenten. 26. Februar 1993 begründet Frau Merkel ihre ableh- nende Haltung wie folgt — Frau Nolte hat es ähnlich (Dr. Wolfgan g Freiherr von Stetten [CDU/ gesagt —; ich zitiere: CSU]: Sie wird den Schlußpunkt setzen! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Sie — Lassen Sie mich das doch so feststellen! Ich möchte — d. h. die Quotenregelung — das auch weiterhin tun. behindert die notwendige Flexibilität in der Per- Wir alle wissen — damit Sie sich wieder beruhigen sonalentscheidung und beeinträchtigt unzumut- können —, daß es eine Frauenministerin in einer bar den Betriebsfrieden. männerdominierten Politik nicht leicht hat. Doch (Zuruf von der SPD: Unglaublich! — Weitere darum geht es gar nicht. Zurufe von der SPD) ( [F.D.P.]: Das ist wie bei der Frau Merkel, Sie sind mit dieser Meinung nicht SPD!) allein. Genauso haben sich jüngst die fünf Wi rt Wenn sie etwas erreichen wi ll, muß sie sich schon voll -schaftsverbände gegen eine Ergänzung des Art. 3 mit den berechtigten Interessen der Frauen solidari Abs. 2 des Grundgesetzes geäußert, worauf Frauen sieren und für ihre Durchsetzung kämpfen. Doch und Frauenverbände empört reagierten. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19155

Dr. Edith Niehuis Am 25. März 1994 reagierte die Präsidentin des ches, was zur Frauendiskriminierung gehört, nicht Katholischen Deutschen Frauenverbandes, Frau verstanden. Dr. Hansen, auf die Stellungnahme der Wirtschafts- verbände, als diese auch von personellen Schwierig- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und keiten und Unstimmigkeiten in den Betrieben rede- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ten, wie folgt: Wenn Sie als Frauenministerin den Frauenstreiktag Dabei schrecken die Verbände weder vor logi- diskriminieren, weil er sich zu einseitig auf die schen Kurzschlüssen noch vor Diffamierung Arbeitswelt beziehe, dann sitzen Sie, Frau Merkel, in zurück. diesem Fall jenen Ideologen auf, die mit diesem Argument stets versuchen, die Frauen nach dem Sie ergänzt: diffamierenden Motto zu spalten, wer sich für Nicht die verstärkte Förderung von Frauen, son- erwerbstätige Frauen einsetze, diskrimiere zugleich dern derart bornierte Äußerungen stellen eine die nichterwerbstätigen Frauen; dieses ist blanker ernsthafte Gefahr für den Wirtschaftsstandort Unsinn. Deutschland dar. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS/ dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Abg. Linke Liste) Jürgen Koppelin [F.D.P.] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Es geht in dieser Debatte eben nicht urn die Pflege von Ideologien, sondern um Chancengleichheit, aber auch um Tatsachen und Zahlen. Als der sächsische Sozialminister Geisler im März seinen Sozialbericht Frau Kollegin, gestatten Vizepräsident Hans Klein: vorstellte, hat er mit Stolz darauf verwiesen, daß die Sie eine Zwischenfrage? Frauen in den neuen Bundesländern im Durchschnitt ein Viertel mehr Rente als die westdeutschen Rentne- rinnen beziehen und gesagt, daß dies dank der Dr. Edith Niehuis (SPD): Nein, ich möchte nicht. durchgängigen Erwerbsbiographie und der hohen Äußerungen zur Frauenförderung, wie Sie sie tun, Frauenbeschäftigung in der ehemaligen DDR so sei. Frau Merkel, werden vom Katholischen Deutschen (Vorsitz: Vizepräsident Helmuth Becker) Frauenbund als unlogisch, diffamierend und borniert bezeichnet. Sie sollten sich als Frauenministerin drin- Ich sage Ihnen: Bei 60 % Anteil der Frauen an der gend überlegen, auf welcher Seite Sie stehen: auf der Arbeitslosenzahl in den neuen Bundesländern wird es Seite derer, die, ideologisch verbrämt, mit scheinhei- in Zukunft keinem sächsischen Sozialminister mehr ligen wirtschaftspolitischen Argumenten weiterhin möglich sein, so eine Bilanz vorzulegen. Rollenklischees gegen die Frauen verbreiten, oder auf der Seite der berechtigten Interessen von Frauen, wie (Beifall bei der SPD) es sich für eine ordentliche Frauenministerin gehören Weil in unserem System die individuelle Erwerbs- würde. tätigkeit von zentraler Bedeutung auch für alle weite- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke ren existenzsichernden sozialen Leistungen ist — ich Liste) habe bisher überhaupt keine Vorlage der Bundesre- gierung gesehen, mit der sie diesen Zusammenhang Mittlerweile spüren die Frauen in der Bundesrepu- verändern will —, kommt der Benachteiligung von blik Deutschland, daß sie sich auf ihre Frauenministe- Frauen im Erwerbsleben eine zentrale politische rin nicht verlassen können. Bedeutung zu. In der Geschichte Deutschlands gab es zweimal den Aufruf der Frauen, landesweit zu streiken. Das war Das gilt auch, Frau Nolte, für den Wiedereinstieg in 1911 zur Durchsetzung des Frauenwahlrechts, und den Beruf nach einer Familienarbeit. Sie haben das das war 1994, im März, nach zwölf Jahren Kohl- Beispiel Ehrenamt genommen. Ich sage Ihnen: Was da Regierung. Frauen solidarisierten sich in vielen Aktio- im Laufe der Zeit mit dem Gleichberechtigungsgesetz nen am 5. und 8. März; aber sie solidarisierten sich passiert ist, ist schlimm. Sie geben diesen Frauen, die nicht mit der Frauenministerin. Frau Merkel wurde nach einer Familienarbeit wieder in den Beruf einstei- auf dem Bonner Münsterplatz von diesen Frauen gen möchten, nicht mehr die Chance, ihre Qualifika- ausgepfiffen. Ich sage Ihnen: Diese Frauen haben sehr tion für den Wiedereinstieg zu nutzen, sondern Sie gut gewußt, warum. verlassen auch diesen von Ihnen immer vertretenen Weg. Und wer, wie Sie es tun, am 12. November 1992 in einem Artikel in der „Rheinischen Post" über die (Zuruf von der CDU/CSU: Blödsinn!) Benachteiligung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt Sie hätten eine so gute Gelegenheit gehabt, mit dem den Frauen rät, sie müßten Druck machen, wenn sie Gleichberechtigungsgesetz eine zentrale politische vorankommen wollen, sich aber am 8. März 1994, Maßnahme hier vorzuführen. Sie haben diese Chance wenn Frauen Druck machen wollen, gegen den nicht genutzt. Sie haben Millionen Frauen in Ost und Frauenstreiktag ausspricht mit der Begründung West mit diesem Gleichberechtigungsgesetz im Stich — nachzulesen in der „Bonner Rundschau" —, er gelassen, beziehe sich viel zu einseitig auf die Arbeitswelt, der spielt bei diesem Hü und Hott nicht nur mit den Sorgen (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke und Nöten der Frauen, sondern hat auch Wesentli- Liste) 19156 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Dr. Edith Niehuis und das in einer Zeit, in der Arbeitsplätze knapp Erstens. Die wichtigste Neuerung sind die verbind- geworden sind und in der die wirtschaftliche Situation lichen Zielvorgaben für die Frauenförderpläne, die in schwieriger wird. Gerade jetzt hätten die Frauen ein allen Dienststellen erstellt werden müssen. Nach drei gutes Gleichberechtigungsgesetz sehr gut gebrau- Jahren muß dann vor der nächsthöheren Dienststelle chen können. Weil Frauen in Ost und West so ein der Dienststellenleiter Rechenschaft über die Erfül- Gesetz nicht verdient haben, werden wir diesem lung der verbindlichen Zielvorgaben ablegen. Die Gesetz nicht zustimmen. verbindlichen Zielvorgaben für die Frauenförderung, (Lebhafter Beifall bei der SPD sowie Beifall wie wir sie vorsehen, haben den Vorteil, daß der bei der PDS/Linke Liste und dem BÜND Einstellende oder Befördernde bei jeder einzelnen NIS 90/DIE GRÜNEN) Entscheidung frei ist, die jeweils qualifizierteste Per- - son — Frau oder Mann — auszuwählen. Lediglich nach Ablauf des festgelegten Zeitraums muß die Vorgabe erreicht werden. Da die Zielvorgaben für die Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- ten Damen und Herren, nächste Rednerin ist unsere zeitliche und numerische Frauenförderung verbind- Kollegin Frau Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink. lich ausgestaltet sind, da Sanktionen ausgelöst wer- den, wenn die Nichterfüllung der Kriterien nicht durch überzeugende Gründe gerechtfertigt werden kann, ist ein nachdrücklicher Anreiz für den Einstel- Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink (F.D.P.): Herr Prä- sident! Meine Herren! Meine Damen! Art. 3 Abs. 2 des lenden bzw. Befördernden gegeben, sich um qualifi- Grundgesetzes stellt fest: „Männer und Frauen sind zierte Bewerberinnen zu bemühen. Ob die Sanktion, gleichberechtigt. " Die rechtliche, vor allem aber wirt- die wir vorsehen, wirkungsvoll ist, wird die Zukunft schaftliche und soziale Realität entspricht den Anfor- erweisen. Machen wir uns doch nichts vor, meine derungen dieser Verfassungsbestimmung bis heute Damen und Herren, auch von der SPD: Entscheidun- nicht. Nach einschlägigen Untersuchungen gilt in gen, die Einstellungen und Beförderungen be treffen, Ost- wie in Westdeutschland nach wie vor: sind auch bei formal gleichwertigen Leistungsauswei- sen zum großen Teil subjektiv begründet. Deshalb Das Durchschnittseinkommen berufstätiger Frauen gibt es immer Möglichkeiten, gesetzliche Vorgaben ist erheblich niedriger als das der Männer. zu unterlaufen. Die Abschottung der Berufe nach dem Geschlecht Das gilt natürlich auch für eine qualifikationsbezo- ist immer noch sehr stark. Dienstleistungsberufe wer- gene Quotierung, wie sie von der SPD vorgeschlagen den vorwiegend von Frauen, technikorientierte wird. Denn, wenn die Weisung gilt, bei gleicher Berufe bzw. Metall- und Elektroberufe überwiegend Qualifikation bevorzugt Frauen einzustellen und zu von Männern ausgeübt. befördern, dann droht die Gefahr, daß Qualifikation so Frauen sind häufiger in den unteren und seltener in definiert wird, daß die Auswahl auf die Person zutrifft, den oberen Berufspositionen vertreten als ihre männ- die man haben will. lichen Kollegen. (Dr. Edith Niehuis (SPD): Wie ist es heute?) Frauen üben wesentlich seltener als Männer quali- fizierte Tätigkeiten im Bereich neuer Techniken — Dann brauche ich auch die Quote nicht. — Dies kann — Quote hin oder her — eben auch der Mann aus . sein. Frauen nehmen seltener an Weiterbildungsmaß- Im übrigen bin ich nach wie vor überzeugt, daß eine nahmen teil. — Der verfassungsrechtliche Gleichbe- rechtigungsgrundsatz harrt also immer noch der Ver- Quotierung im öffentlichen Dienst und in der Privat- wirklichung. wirtschaft, wie Sie sie vorhaben, weder politisch noch gesellschaftlich durchsetzbar wäre. Eine solche For- Wir verabschieden heute ein Gesetz, das eine derung kann sich darum auch nur eine Oppositions- wichtige Lücke schließt. Dieses Gesetz strebt an, partei erlauben. erstens die berufliche Förderung von Frauen, die in der Bundesverwaltung oder in den Bundesgerichten (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wieso? Das tätig sind, zweitens die bessere Vereinbarkeit von hängt doch von Ihnen ab! — Dr. Edith Nie Familie und Beruf für Frauen und Männer und drittens huis [SPD]: Dann wird es ja Zeit, daß Sie das die verstärkte Mitwirkung von Frauen in Gremien. werden!) Diese Ziele sollen verwirklicht werden durch Förder- Zweitens. Die nächste wichtige Verbesserung des pläne und Frauenbeauftragte, durch Ergänzungen Regierungsentwurfs durch die Koalitionsfraktionen des Betriebsverfassungs- und Personalvertretungs- betrifft den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit. Hier rechts, durch mehr Mitwirkungsrechte der Arbeitneh- muß der öffentliche Dienst Vorreiter für die private mervertretungen im Bereich Frauenförderung, durch Wirtschaft sein. Das ist sicherlich der frauenfreund- Änderung der Schadenersatzregelung in § 611a BGB lichste Teil des Gesetzes. Der Anspruch auf familien- sowie durch Regelungen zum Schutz vor sexueller gerechte Arbeitszeiten, auf Teilzeitarbeitsplätze und Belästigung am Arbeitsplatz und durch Bestimmun- auf die spätere Rückkehr zur vollen Stundenzahl ist gen zur Berufung und Entsendung von Frauen und ein Schritt in die richtige Richtung zur Flexibilisierung Männern in Gremien, auf die der Bund Einfluß hat. der individuellen Lebensarbeitszeit. Das vorliegende Gesetz kann also durchaus zu einem (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) schlagkräftigen Instrument für die faktische Durchset- zung der Gleichberechtigung werden, wenn es richtig Alle Stellen müssen grundsätzlich auch für Vorge- umgesetzt wird. Ich beschränke mich hier auf drei setzten- und Leitungsfunktionen in Teilzeitform aus- zentrale Punkte. geschrieben werden. Teilzeitbeschäftigung darf das Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19157

Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink berufliche Fortkommen nicht beeinträchtigen, und sie Die F.D.P. ist aber für andere Mittel und Wege als darf sich nicht nachteilig auf die dienstliche Beurtei- die SPD. Nicht schon die Förderung von Frauen löst lung auswirken. die Probleme der strukturellen Benachteiligung, son- In der Beratung durch die Koalitionsfraktionen dern nur eine grundlegend neue Definition der tradi- wurde erreicht, daß bei der Ablehnung einer Teilzeit- tionellen Geschlechterrollen. Das Haupthindernis für stelle zwingende dienstliche Belange angeführt wer- die Gleichstellung von Frauen und Männer in dieser den müssen. Das bedeutet eine hohe Hürde. Auf Gesellschaft ist die bis heute gültige Unvereinbarkeit Betreiben der F.D.P. sind die Kriterien für Einstellung, von Familienarbeit und Berufsarbeit. beruflichen Aufstieg und Qualifikation im öffentli- (Beifall bei der F.D.P.) chen Dienst — nämlich Eignung, Befähigung und Die traditionelle Rollenverteiligung im familiären fachliche Leistung — unangetastet geblieben. Aller- Alltag ist immer noch so, daß die Erziehung eines dings ist ein Benachteiligungsverbot bei Hemmnissen Kindes, unabhängig davon, ob die Mutter erwerbstä- für den beruflichen Aufstieg, nämlich im Blick auf tig ist oder nicht, vorrangig Aufgabe der Frau ist. Mit Kindererziehungszeit und häusliche Pflege, explizit anderen Worten: Solange nicht die berufliche Arbeit formuliert worden. einerseits und die Arbeit in der Familie andererseits Drittens. Eine weitere wesentliche Veränderung: auf Männer und Frauen gleichberechtigt aufgeteilt Die Frauenbeauftragte muß nicht nur — wie im sind, solange bleibt die Benachteiligung von Frauen ursprünglichen Regierungsentwurf — bestellt, son- im Berufsleben und von Männern im Familienleben dern sie kann auch von den weiblichen Beschäftigten bestehen. gewählt werden. Jede Behörde hat also die Möglich- Wir müssen hier die Grundfrage beantworten: Wie keit, zwischen Bestellung und Wahl plus Bestellung. erreichen wir, daß Männer mehr Familienarbeit lei- Dadurch wird die Zusammenarbeit der Frauenbeauf- sten? Der Rechtsanspruch auf qualifizierte Kinderbe- tragten mit der Dienststellenleitung verbessert, und es treuungsmöglichkeiten ab 1996 ist ein wichtiger wird verstärkt zum Ausdruck gebracht, daß ihre Schritt zur Gleichstellung. Tätigkeit zur Aufgabe der Dienststelle gehört. Der andere, aber wichtigere Schritt muß die Flexi- Insgesamt gilt, meine Damen, meine Herren, daß bilisierung der individuellen Wochenarbeitszeit, der jetzige Gesetzentwurf überflüssigen bürokrati- Jahresarbeitszeit und Lebensarbeitszeit sein, wie die schen Aufwand und Mißbrauchsmöglichkeiten zu F.D.P. das schon lange fordert. verhindern sucht. Dies gilt im besonderen für den § 611 a BGB, eine Sanktion für Verstöße gegen das (Beifall bei der F.D.P.) Benachteiligungsverbot wegen des Geschlechts. Ge- Erst sie ist die Voraussetzung für eine wirkliche rade auf Betreiben der F.D.P. wurde die Zahl der Gleichberechtigung; denn sie gibt Männern und möglichen Anspruchsberechtigten reduziert und die Frauen die Möglichkeit, ihr gemeinsames Zeitbudget Höhe der möglichen Entschädigung begrenzt. so zu verwenden, daß Berufs- und Familienarbeit (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. — ohne Diskriminierung der Frauen vernünftig aufge- Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/ teilt werden können. CSU) meldet sich zu einer Zwischenfrage) Vielen Dank. Ich verhehle nicht, daß die F.D.P.-Fraktion lieber (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) über einen Gesetzentwurf mit erheblich weniger Reglementierungen abstimmen würde. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- ten Damen und Herren, zur Geschäftslage möchte ich Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin, sagen: Nach den mir vorliegenden Wortmeldungen gestatten Sie eine Zwischenfrage? wird es etwa kurz vor 14 Uhr zu der beantragten namentlichen Abstimmung kommen. Dr. Margret Funke-Schmi tt-Rink (F.D.P.): Nein, ich Ich erteile nunmehr unserer Frau Kollegin Petra möchte weiterreden. Bläss das Wort. Fazit: Meine Damen, meine Herren, dieses Gesetz löst nicht alle Probleme der strukturellen Benachteili- Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! gung von Frauen im Beruf und in der Gesellschaft. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregie- Aber es ist ein Einstieg, um die Chancen der Frauen in rung hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, dessen Vor- einigen Bereichen des Arbeitslebens zu verbessern. teil in weiten Bereichen allein darin besteht, dem Unser Gesetzentwurf setzt eher auf Anreize, der unbefriedigenden Ist-Zustand bei der Teilhabe von SPD-Entwurf demgegenüber auf Dirigismus und Stra- Frauen an Berufen im öffentlichen Dienst Legitimität fen. Im SPD-Entwurf ist ein vernünftiger Ausgleich zu verschaffen. zwischen den berechtigten Interessen von Frauen und Der mit der Erarbeitung und Diskussion dieses den plausiblen Interessen der privaten Wirtschaft und Gesetzentwurfs verbundene hohe zeitliche Aufwand des öffentlichen Dienstes nicht hergestellt. In einem wäre zweifellos einer besseren Sache wert gewesen. Punkt stimme ich allerdings mit der SPD überein: Von Weil die Koalitionsfraktionen das in Anbetracht ihrer der tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Zielstellung, Frauen zu fördern, ohne Männerprivile- Männern sind wir in dieser Gesellschaft noch weit gien anzutasten, natürlich wissen, haben sie den entfernt. Gesetzentwurf mittels undemokratischer Geschäfts- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Deswegen ordnungsspielchen durchgezockt. Nachdem die Op- lehnen Sie das auch alles ab!) position bereits in der ersten Lesung ihre Kritik am 19158 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Petra Bläss halbherzigen Versuch geäußert hatte, die bestehende betrifft die Rechtsstellung der Frauenbeauftragten, Benachteiligung von Frauen in einem eng begrenzten die im Regierungsentwurf mehr als Handlangerin der Bereich etwas abzumildern, reichte die CDU/CSU- Arbeitgeber ausgestaltet ist. Zumindest die Wahl Fraktion mehr als 20 Änderungsanträge ein, von durch alle weiblichen Beschäftigten, die Unabhängig- denen nach dem Prinzip des Überraschungseies der keit, die bezahlte Freistellung der Frauenbeauftrag- größte Teil in die Rubrik „Spielzeug für Emanzipa- ten und die ausdrückliche Beschränkung dieser Funk- tionsblockierer" gehört. tion und ihrer Vertretung auf weibliche Beschäftigte halten wir für unverzichtbar. Obwohl auch die Sachverständigenanhörung im Ausschuß für Frauen und Jugend die Defizite bestä- Zum Abschluß muß ich erneut die Art und Weise tigte, wurden die entscheidenden Mängel bis heute ansprechen, in der die Regierung das Problem der nicht behoben. In Anbetracht der feststehenden sexuellen Belästigung angehen will. Trotz vielfältiger Mehrheiten in diesem Hause hat sich die PDS/Linke Kritik ist die Formulierung, daß Frauen eine sexuelle Liste deshalb entschlossen, heute ihrerseits Ände- Belästigung erkennbar ablehnen müssen, noch immer rungsanträge zur Abstimmung zu stellen, wohl wis- erhalten. So viel frauenfeindliche Grundeinstellung in send, daß auch derartige Reparaturversuche aus einem Entwurf, der zumindest dem Namen nach einem zahnlosen Entwurf kein Gesetz mit Biß machen Diskriminierung aufheben will, ist eine Unverschämt- werden. heit. Meine Damen und Herren, ich bin mir sicher, daß Wir halten die Frauenförderung, die nur auf den die vielen Wahlen in diesem Jahr Frauen die Gelegen- Sektor des öffentlichen Dienstes bezogen ist, in Anbe- tracht des Ausmaßes, das die Benachteiligung von heit geben, dafür die rote Karte zu zeigen. Frauen im Erwerbsleben bereits erreicht hat, für völlig Ich danke. unzureichend. Die Tatsache, daß Frauen zur Zeit (Beifall bei der PDS/Linke Liste) einen unproportional hohen Anteil an den Arbeitslo- sen ausmachen und dies besonders auf die frauen- feindlichen Praktiken der p rivaten Wirtschaft zurück- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und zuführen ist, verlangt doch geradezu nach deren Herren, gemäß § 27 Abs. 2 der Geschäftsordnung hat Einbeziehung in den Geltungsbereich staatlich sank- jetzt das Wort zu einer Zwischenbemerkung unser tionierter Frauenförderung. Das Scheinargument, Kollege Jürgen Koppelin. dies im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft nicht leisten zu können, und die Unterstellung, damit sozia- Jürgen Koppelin (F.D.P.): Ich wollte vorhin bei der listischer Mißwirtschaft Tür und Tor zu öffnen, sind bei Rede der Kollegin Dr. Niehuis darauf aufmerksam Gegnern wirklicher Gleichstellung ebenso beliebt wie machen, daß das, was sie für die SPD gefordert hat, falsch. Ich erinnere nur an die starre und sehr klare nämlich die Quote, ja wohl so nicht stimmen kann. Ich Antidiskriminierungsgesetzgebung in den Vereinig- darf aus den „Kieler Nachrichten" vom Montag zitie- ten Staaten. ren. Es geht um einen Be richt über den SPD-Landes- Im übrigen hat der Vertreter eines Großkonzerns parteitag in Schleswig-Holstein, Frau Kollegin. Da bei der Sachverständigenanhörung im Ausschuß für heißt es: Frauen und Jugend durchaus bewiesen, daß frauen- Vergeblich mühte sich da der stellvertretende fördernde Maßnahmen, so unzureichend sie auch Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Rudolf sind, keine Wettbewerbsnachteile bedeuten müs- Dreßler, die Nord-Genossen zur Mäßigung zu sen. bringen. Um die Beseitigung von Benachteiligung der — Das gelingt sowieso nicht. Frauen im Erwerbsleben aktiv voranzubringen, for- Dann heißt es weiter: dern wir eine positive Diskriminierung von Frauen durch Quotierung. Diese soll einer wirklichen Für eine Zerreißprobe — Geschlechterparität dienen, worunter wir nicht nur — so sagt Dreßler — eine Chancen-, sondern auch eine Ergebnisgleichheit „bis in den letzten Ortsverein" könne da allein die ohne Anpassung an männliche Muster und Werte Forderung nach der Frauenquote in der Privat- verstehen. wirtschaft führen. Wir fordern ferner, bei der Festlegung von Kriterien Und dann weiter: für die bevorzugte Einstellung von Frauen das durch Doch der Mahner blieb weitgehend ungehört. Sozialisation erworbene weibliche Arbeitsvermögen als positives Beurteilungskriterium anzuerkennen, Ich wollte zumindest das dem Plenum doch zur um die in der Gesellschaft noch vorhandene Unterbe- Kenntnis geben. wertung der vorrangig durch Frauen geleisteten Familien- und Hausarbeit zu beseitigen. Vizepräsident Helmuth Becker: Zu einer Entgeg- Natürlich stellen wir heute erneut den Antrag, nung, die nach der Geschäftsordnung zulässig ist, hat endlich alle ungeschützten Beschäftigungsverhält- jetzt das Wort unsere Frau Kollegin Dr. Edith Nie- nisse zu verbieten und jede Stunde Arbeitszeit unter huis. den Schutz des Arbeits- und Sozialrechts zu stellen. Sie sehen: Die Skala der Artikel des Entwurfs, die Dr. Edith Niehuis (SPD): Herr Kollege Koppelin, dringend geändert werden müßten, ist weit. Ich kann erstens lese ich nicht die „Kieler Nachrichten", und nur noch auf zwei weitere Dinge eingehen. Das erste zweitens war ich nicht auf dem Landesparteitag der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19159

Dr. Edith Niehuis schleswig-holsteinischen SPD. Insofern kann ich dazu Hier stellt sich in der Tat die Frage, ob Ihnen die nichts sagen. Sachargumente ausgehen. Was ich verteidigt und vorgestellt habe, ist das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Gleichstellungsgesetz der SPD-Bundestagsfraktion, der F.D.P.) das wir hier angenommen haben. Insofern kann sich Schwierige Verhandlungen liegen hinter uns, und die das, was Sie hier erzählt haben, mit dem, was ich Frage, ob es gelingt, das Zweite Gleichberechtigungs- gesagt habe, überhaupt nicht decken. gesetz durchzusetzen, hat sich in der Tat nicht nur (Beifall bei der SPD) einmal im Laufe der Beratungen gestellt. Wir haben mit so manchem Gegenargument zu kämpfen gehabt, und auch so manches Wunderliche war dabei: Es gab - Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und die Forderung nach Männerförderung, Herren, noch eine Zwischenbemerkung, diesmal von (Zuruf von der SPD: von Ihrer Seite!) unserer Frau Kollegin Cornelie Sonntag-Wolgast. es gab ein Phantom des Bewerbungstourismus, es gab auch das Gespenst des Mißbrauchs, aber es gab vor Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Ich würde allen Dingen Geschäftsordnungsdebatten. Insofern jedem Kollegen, der auf einen Landesparteitag oder haben wir uns im Frauenausschuß dreimal darum auf andere regionale Ereignisse Bezug nimmt, raten, bemüht, dieses Gesetz zu verabschieden. Es ist im sich nicht aus der Presse, sondern bei den dort Plenum in der vergangenen Woche abgesetzt worden, Anwesenden aus erster Quelle zu informieren. Dann was ich an und für sich mit großem Bedauern gesehen hätten Sie, Herr Kollege Koppelin, erfahren, daß der habe, denn die Debatte, die wir heute führen, hätten Kollege Dreßler sehr wohl gehört wurde und nach der wir schon letzte Woche führen sollen. Diskussion mit einem derartig langen Beifall der (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ Delegierten bedacht wurde, daß er sich noch einmal CSU]: Sehr richtig!) extra erheben mußte. Die Phantasie an der Stelle von Verhindern und (Heiterkeit bei der SPD — Zuruf von der Behindern hat oft keine Grenzen gekannt. Ich wün- F.D.P.: Hat er es gesagt, oder hat er es nicht sche mir die Phantasie jetzt, bei der Durchsetzung der gesagt? — Eckart Kuhlwein [SPD]: Der Kol Gleichberechtigung in der Lebenswirklichkeit. Alle lege Dreßler hat auch gesagt, daß die F.D.P. sind dazu gefordert. fein raus sein wird! — Heiterkeit bei der SPD —Weiterer Zuruf von der SPD: Das haben Sie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nicht zitiert!) Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück — so wurde vor kurzem in einem Filmbericht die Situation der Frauen in der Gesellschaft, in der Arbeitswelt in Deutschl and Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und gekennzeichnet. Aber wir Frauen machen in der Tat Herren, wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat derzeit die Erfahrung, daß wir gegen so manchen jetzt unsere Frau Kollegin Dr. Maria Böhmer. Rückschritt zu kämpfen haben. Wenn es Rückschritt gibt, müssen wir dagegen Flagge zeigen, und deshalb ist es so wichtig, dieses Gleichberechtigungsgesetz Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Herr Präsident! heute zu verabschieden und nicht irgendwann oder in Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich merke, in der vier Jahren, worauf es die SPD ganz deutlich anlegt. SPD-Fraktion ist doch eine gewisse Unruhe aufge- Heute gilt es, für Frauen in Deutschland Flagge zu kommen, dank des Hinweises des Kollegen Koppe- zeigen, um Benachteiligungen abzubauen und um lin. bessere Bedingungen für die Vereinbarkeit von Fami- lie und Beruf zu schaffen. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Trotzdem sollten wir uns vielleicht wieder unserem der F.D.P.) ureigensten Thema zuwenden. Die zentrale frauenpolitische Erfahrung lautet: Bevor ich das aber tue, möchte ich doch noch eine Bemerkung machen. Wir Frauen reklamieren so oft, Maßnahmen zur beruflichen Förderung von Frauen reichen allein nicht aus, notwendig ist die einen anderen politischen Stil zu haben. Als ich das bessere erste Mal hier im Parlament die Haushaltsdebatte Vereinbarkeit von Beruf und Familie, und zwar nicht nur für Frauen, auch für Männer ist sie notwendig. — Stichwort: Frauenpolitik — verfolgt habe, sind mir schon die ersten Zweifel gekommen. Ich muß sagen: Diese Erkenntnis setzt der Gesetzentwurf um. Sie kommen mir so manches Mal. Frau Niehuis, wir Wir sind zur Zeit in einer Phase enormer Struktur- haben im Ausschuß, so denke ich, in großer Sachlich- veränderungen in Wirtschaft und Verwaltung. Wir keit und auch ein Stück aufeinander hörend disku- sollten diese Strukturveränderungen auch als Chance tiert. Aber ich habe heute doch mit großem Bedauern begreifen, sie für Frauen zu nutzen und die Weichen festgestellt, daß Sie die Auseinandersetzung in der dafür zu stellen, daß der Strukturwandel die Lebens- Sache Mn zu einer Auseinandersetzung um die Person vorstellungen von Frauen in Zukunft besser berück- der Frauenministerin verlagert haben. Das halte ich sichtigt. Da sind Flexibilität und neues Denken ange- nicht für gerechtfertigt. sagt. Die alten Rezepte taugen nicht immer, um die neuen Herausforderungen zu bewältigen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zuruf von der F.D.P.: Sehr wahr!) (Maria Michalk [CDU/CSU]: Sehr richtig!) 19160 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Dr. Maria Böhmer Frauenförderung darf nicht isoliert betrachtet wer- Sie wissen, daß die Vertreterin der ÖTV in aller den. Wir brauchen eine Verbindung von Frauenför- Deutlichkeit gesagt hat: Es sind zwar verbindliche derung und Personalplanung. Hier hat die Bundes- Regelungen enthalten, aber keine Quoten. — Das ist frauenministerin mit großer Hartnäckigkeit ein Kon- sehr deutlich mit Blick auf den Gesetzentwurf der SPD zept verfolgt, das die Frauenförderung in den Dienst- gesagt worden. stellen des öffentlichen Dienstes des Bundes veran- (Ilse Janz [SPD]: Sie müssen auch weiter kert. lesen!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) — Gerne, ich empfehle Ihnen, die Seiten 57/89 nach- Ich sage dafür ganz herzlichen Dank, denn ich glaube, zulesen. Der einzige Punkt, bei dem Sie mit der Quote das ist nicht nur für den öffentlichen Dienst- beispiel- recht haben, ist der Vorschlag, die Ausbildungsplätze gebend, es ist darüber hinaus auch eine deutliche zu 50 % an junge Frauen und zu 50 % an junge Männer Anregung für den Bereich Wirtschaft. Wir haben in zu vergeben. den Beratungen durchgesetzt, daß wir verbindliche steht bekanntermaßen Zielvorgaben haben, daß wir Frauenbeauftragte mit Die „Süddeutsche Zeitung" entsprechenden Kompetenzen haben, die, um ihre nicht in dem Verdacht, gegen Frauenförderung zu Akzeptanz bei den Betroffenen, sprich: bei den sein. Sie hat sich in einem Artikel recht ausführlich mit Frauen, zu erhöhen, jetzt nicht nur bestellt, sondern diesem Ansatz beschäftigt und schreibt — ich auch gewählt werden können. Das ist ein wichtiger zitiere —: Punkt. Wir haben auch deutliche Fortschritte im ... flächendeckendes Halbe-Halbe bei der Ver- Bereich Teilzeitarbeit gemacht und damit Verbesse- gabe von Lehrstellen per Gesetz? Da fassen sich rungen bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf Ausbildungsleiterinnen und Personalchefs an erzielt. den Kopf. Auch weibliche Azubis finden, daß mit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) diesem Ansatz, gleiche Rechte zu erreichen, das Problem zu pauschal angegangen, zu kurzsichtig Dieser Gesetzentwurf bringt erstmals einen grund- und wenig situationsbezogen betrachtet werde. sätzlichen Rechtsanspruch für Teilzeitbeschäftigung und für Beurlaubte und Teilzeitbeschäftigte einen Die „Süddeutsche Zeitung" weist die „Rasenmä- Abbau von Benachteiligung. Hierin sehe ich einen her-Methode" vom flächendeckenden Lehrstellen- großen Fortschritt, den dieses Gesetz für alle bringt. Halbe-Halbe per Gesetz als garantiert untauglich zurück. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich meine auch, daß wir es mit einem noch beacht- Sie hatten den Experten Dr. Klaus Bertelsmann lichen Entwicklungspotential gerade im öffentlichen eingeladen. Er hat sich mit dem in der Tat spannenden Dienst zu tun haben. Der Anteil der Teilzeitbeschäf- Ansatz der Auftragsvergabe befaßt. Bertelsmann sagt: tigten im unmittelbaren Bundesdienst beträgt zur Zeit Die Auftragsvergabe ist im SPD-Entwurf angespro- 11,4 %. Da ist noch viel Luft drin, da kann noch viel chen, allerdings in einer Weise, wie sie wohl schwer geschehen. Dafür haben wir jetzt dieses Gesetz als wirksam werden kann. — Ich frage mich: Warum soll Grundlage. das alles so glänzen, wenn es nur so schwer wirksam Hinzu kommt, daß sich Teilzeitarbeit in Zukunft wird? nicht mehr nur für diejenigen realisiert, die in weniger Ich denke, wir sollten zu pragmatischen Regelun- attraktiven Positionen sind. Sie wird nicht mehr für die gen kommen, zu Regelungen, die eine Chance haben, Telefonistin und die Sachbearbeiterin allein attraktiv die Situation der Frauen in der Lebenswirklichkeit, im sein, auch die Abteilungsleiterin und der Abteilungs- Beruf in der Tat zu verbesseren. Ich sage: Dann greift leiter werden in Zukunft für Teilzeitarbeit alle Mög- das Gesetz, das die Bundesregierung vorgelegt hat lichkeiten eröffnet erhalten. Ich glaube, da gilt es die und das wir im Ausschuß beschlossen haben. Tabus zu brechen, die wir in diesem Bereich noch haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich möchte noch einige Worte zum Gesetzentwurf Trugbilder helfen nicht weiter, liebe Kolleginnen, der SPD sagen, denn Sie loben ihn stets. Daher bin ich und schon gar nicht in der Frauenpolitik. Trugbilder auch ein Stück neugierig auf die Anhörung gewesen. werden uns von der SPD in vieler Beziehung leider oft Sie haben uns empfohlen, wir sollten die Anhörung vorgegaukelt. Wer in die Länder sieht, weiß, wie berücksichtigen. Wir haben das in etlichen Punkten mancher lila Luftballon, den sie aufsteigen lassen, getan. zerplatzt. Ich kann Ihnen nur nahelegen, noch einmal im Ich kann nur sagen: Das SPD - Parteiprogramm ist Anhörungsprotokoll nachzulesen. Denn das, was die ein trauriges Kapitel. Denn in ihm wurde zunächst Experten — wohlgemerkt, die Experten, die gerade überhaupt nichts zu Frauenfragen gesagt; erst auf Sie eingeladen hatten — sagten, ist eine Entzaube- heftigste Intervention von Ihnen hat Scharping diesem rung des Traums der SPD von einem umfassenden Problembereich einen Absatz gewidmet. Gleichberechtigungsgesetz. (Zuruf von der SPD: Das müssen Sie geträumt (Hanna Wolf [SPD]: Darm hätten wir noch haben!) mehr machen müssen?!) Ich lese manchmal SPD-Programme. Sie sind ab und — Liebe Frau Wolf, Sie sagen immer: In diesem zu ganz spannend, besonders an der Stelle, an der klar Gleichberechtigungsgesetz ist eine Quote gegeben. wird, daß die SPD für die Mehrheit der Frauen, die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19161

Dr. Maria Böhmer nicht berufstätig sind, keine Zeile übrig hat. Das halte Der Regierungsentwurf ist weit hinter dem ich für einen Offenbarungseid Ihrer Partei. zurückgeblieben, was m an verfassungsrechtlich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — hätte machen können. Widerspruch bei der SPD) Frau Dr. Böhmer, „hätte machen können" ! — Mit dem Gleichberechtigungsgesetz kommt die Rechtsanwalt Dr. Bertelsmann faßte wie folgt zusam- Bundesregierung einem dreifachen Auftrag nach, men: und zwar dem Auftrag, der aus dem Einigungsvertrag, aus der Koalitionsvereinbarung und aus der Empfeh- Der Regierungsentwurf ist nicht nützlich, aber er lung der Verfassungskommission stammt. Mit der ist auch nicht schädlich. Verabschiedung des Gleichberechtigungsgesetzes Ich meine aber, eine Frauenministerin, die ein machen wir heute einen wichtigen Schritt voran in nutzloses Gesetz einbringt, schadet den Frauen. Sie punkto bessere Verwirklichung von Gleichberechti- hat ihren Auftrag nicht erfüllt, sie hat die Gleichstel- gung im Lebensalltag. Wir werden eine namentliche lung von Frauen nicht vorangebracht. Abstimmung haben, und ich darf alle daran erinnern, daß sie mit ihrer Stimmabgabe deutlich machen, wie (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ ernst sie es mit Frauenförderung meinen. Wer dieses CSU: Doch, das hat sie!) Gesetz ablehnt, tut den Frauen in Deutschl and keinen Schon der Titel Ihres Gesetzes ist irreführend: Gefallen. „Gesetz zur Durchsetzung der Gleichberechtigung Ich danke Ihnen. von Frauen und Männern" . Damit fühlen sich alle (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Frauen angesprochen. Tatsächlich ist eine Frauenför- derung aber nur für 1 % der erwerbstätigen Frauen vorgesehen — Sie sehen, ich habe schon etwas Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und aufgerundet, wir hatten noch weniger ausgerech- Herren, nächste Rednerin ist unsere Kollegin Frau net —, für 99 % geschieht nichts; denn das Gesetz gilt Hanna Wolf. nur für die Bundesbeamtinnen und sonstigen Beschäf- tigten des Bundes. (Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink [F.D.P.]: Hanna Wolf (SPD): Herr Präsident! Meine lieben Das ist nicht richtig!) Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Dr. Böhmer, es ist schön, daß Sie unsere Papiere so Durch die Privatisierung der Bundesbahn und die ausführlich lesen; besser wäre es gewesen, Sie hätten geplante Privatisierung der Bundespost hat sich der auch aus Ihrer Erfahrung als langjährige Frauenbe- Anwendungsbereich von zunächst 3 % auf 1 % der auftragte mehr übernommen. Was nützt das Lesen, weiblichen Erwerbsbevölkerung reduziert. Das sind wenn man daraus nichts lernt? im wesentlichen die Frauen in den Bundesministerien und in der Bundeswehr. (Beifall bei der SPD) Lassen Sie mich zu Beginn meiner Ausführungen Jetzt wird Frau Merkel kommen und sagen, daß das aber noch etwas zum Ablauf der Beratung der vorlie- nicht stimme. Im Bereich der sexuellen Belästigung genden Gesetzentwürfe sagen: Die SPD-Fraktion gilt Ihr Gesetz, Frau Merkel, zwar auch für die mußte sich im federführenden Ausschuß für Frauen Privatwirtschaft, aber Sie werden doch wohl nicht und Jugend ausreichende Beratungszeit dadurch behaupten wollen, daß das Frauenförderung ist. Und erstreiten — das Gesetz sollte auch ohne Rücksicht auf die Schadenersatzansprüche im Falle von Benachtei- die mitberatenden Ausschüsse durchgepeitscht wer- ligungen bei Einstellung und Beförderung gehen in den —, daß sie unter Protest den Ausschuß verließ und Ihrem Gesetz hinter das heute geltende Recht zurück. den Geschäftsordnungsausschuß zur Gewährung der Ich bleibe dabei: Sie haben keine einzige Frauenför- ihr versagten parlamentarischen Rechte anrief. Dieser derungsmaßnahme für 99 % der erwerbstätigen gab uns dann auch recht. Die Beschlußfassung wurde Frauen vorgesehen. aufgehoben und eine erneute Beratung verlangt. So sieht es auch der DGB. Ich zitiere ein Mitglied des Das heute von der Bundesregierung eingebrachte DGB-Bundesvorstandes, Regina Görner — sie ist nicht sogenannte Zweite Gleichberechtigungsgesetz liegt Mitglied der SPD —: in einer Fassung vor, die so tut, als sei seit der Damit macht sich die Bundesregierung frauen- Einbringung vor einem halben Jahr nichts geschehen politisch völlig lächerlich. — nicht die massive Kritik von Frauenpolitikerinnen, Gewerkschafterinnen, Juristinnen, nicht die Sachver- Deswegen haben wir heute auch namentliche Abstim- ständigenanhörung im Frauenausschuß des Bundes- mung verlangt, weil wir diese Frauenverdummung tages, in der selbst die von der Koalition benannten hier nicht mitmachen wollen, und wir werden deswe- Sachverständigen die Unzulänglichkeit des Regie- gen auch dagegenstimmen. rungsentwurfs herausstellten. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Beispielsweise äußerte sich Dr. Ute Sacksofsky, der PDS/Linke Liste) tätig beim Bundesverfassungsgericht und von Ihnen benannte Sachverständige, wie folgt: Meine Damen und Herren, haben wir dafür in der Verfassungskommission die endlosen Debatten zur Was der Regierungsentwurf regelt, ist Frauenför- Neufassung des Art. 3, zur Gleichberechtigung derung ohne Biß. geführt? Die Verfassungskommission hat folgendes Oder Professor Battis, auch von Ihnen benannt: beschlossen: 19162 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Hanna Wolf Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung den Unternehmen, die Frauen gezielt fördern, bei der der Gleichberechtigung von Frauen und Män- Vergabe öffentlicher Aufträge bevorzugt. Ich denke, nern und wirkt auf die Beseitigung bestehender das ist eine vernünftige Position. Die Unternehmen Nachteile hin. werden merken, daß sie sehr gut damit fahren, wenn Dieser Verfassungssatz ist nicht auf 1 % der weibli- sie Frauen fördern. chen Erwerbsbevölkerung beschränkt. Nein, er (Beifall bei der SPD) betrifft alle Frauen — egal, in welchem Arbeitsver- hältnis. Er betrifft auch und gerade die Frauen, die In unserem Gesetz werden Frauen am Mitbestim- keinen Arbeitsplatz finden, weil ihnen Männer vorge- mungsprozeß durch eine Quotierung der Betriebs- zogen werden — egal, ob von öffentlichen oder von und Personalräte beteiligt. Darüber hinaus wird end- privaten Arbeitgebern. - lich dem weitgehenden Ausschluß von Frauen in öffentlichen Entscheidungsgremien ein Ende ge- Der Verfassungssatz richtet sich auch gegen die macht. Wir führen die Quote für die obersten Bundes- gängige Praxis, Frauen als letzte einzustellen, gerichte, für Hochschulgremien, Rundfunkanstalten schlechter zu bezahlen und als erste zu entlassen, wie und andere Gremien im Bereich des Bundes ein. Die es jetzt überall geschieht. Diskriminierungen im Diskussion um die Besetzung des Bundesverfassungs- Erwerbsleben, ob in den Behörden oder in den Betrie- gerichts haben wir gerade lebhaft im Zusammenhang ben, sollen abgeschafft und die Gleichberechtigung mit § 218 miterlebt. Die SPD hat endlich dafür gesorgt, durch aktive Frauenförderpolitik erreicht werden, so daß jetzt tatsächlich mehr Frauen am Bundesverfas- der Geist dieses neuen Verfassungsartikels — wenn er sungsgericht sind. Aber wir wollen das durch ein denn kommt. Gesetz regeln: Quotierung auch bei der Besetzung des Meine Damen und Herren, mit dem Entwurf der Bundesverfassungsgerichts. SPD für ein Gleichstellungsgesetz haben wir ein (Beifall bei der SPD) solches Konzept für eine aktive Gleichstellungspoli- tik vorgelegt. Frauenfreundliches Handeln wird Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regie- honoriert, frauenfeindliches, diskriminierendes Ver- rungskoalition, Sie sehen, daß die Quote bei uns ein halten wird mit Sanktionen belegt. Sie, meine Damen zentrales Instrument zur Herbeiführung der Gleich- und Herren von der Regierungskoalition, mögen das stellung von Frauen und Männern ist. Obwohl Sie Bürokratismus nennen. Ich nenne das gelungene selbst in Ihren Parteien landsmannschaftliche und Frauenpolitik. andere Quoten haben, diffamieren Sie ausgerechnet die Frauenquote als angeblich frauenfeindlich. Das (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lassen Sie sich, Frau Merkel, auf Ihrem Hamburger Unser Gesetzentwurf läßt nicht mehr zu, daß Frauen Parteitag auch noch unwidersprochen vorbeten. die Hauptleidtragenden der Arbeitslosigkeit sind. (Zurufe von der SPD: Ja, leider!) Frauen müssen an Arbeitsförderungsmaßnahmen entsprechend ihrem Anteil an der Arbeitslosigkeit Da hat wirklich ein klarstellendes Wort von Ihnen beteiligt werden. Frauen dürfen bei Entlassungen gefehlt. nicht überproportional be troffen sein. Frauen müssen (Zurufe von der SPD: Leider! — Ja! — bei gleichwertiger Qualifikation gegenüber Männern Genau!) bevorzugt eingestellt und befördert werden. Hätten Sie in Ihren Parteien — wie wir — die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Frauenquote, dann kämen auch bei Ihnen in den Außerdem sehen wir eine 50%ige Ausbildungsplatz nächsten Bundestag mehr Frauen und nicht — wie quote für Frauen vor. Dabei bleiben wir auch. Das ist jetzt — weniger. Vielleicht gibt Ihnen das zu denken. — gerade auch von den Gewerkschaften — eine seit Kommen diese Kolleginnen von Ihnen deswegen langem erhobene Forderung und eine sehr wichtige nicht wieder, weil sie weniger qualifiziert waren? Passage in unserem Gesetz. Wann kapieren eigentlich auch die Frauen bei Ihnen (Beifall bei der SPD) mehrheitlich, daß sie hier einfach immer nur durch Männerseilschaften ausgebootet werden und daß dies Frauenförderung gilt bei uns für den öffentlichen mit der Qualifikation dieser Kolleginnen nichts zu tun Dienst und die Privatwirtschaft: In Betrieben und hat? Behörden müssen Frauenförderpläne erstellt werden, die verbindliche Vorgaben zur Frauenförderung ent- (Beifall bei Abgeordneten der SPD — halten. Frauenbeauftragte müssen eingesetzt wer- Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ den, um die Durchsetzung der Frauenförderpläne zu CSU]: Wo leben Sie denn?) gewährleisten und Diskriminierungen entgegenzu- — Wo ich lebe? Gott sei Dank in der SPD. Wir haben wirken. Frauenbeauftragte werden von den weibli- die Quote. chen Beschäftigten gewählt und mit dem Recht auf Freistellung von anderen Aufgaben ausgestattet. Sie ( [CDU/CSU]: Dann bleiben haben umfangreiche Initiativ- und Mitwirkungs- Sie in der Minderheit!) rechte. Wenn Sie in Ihren Parteien die Frauenquote nicht Durch eine Beweislastumkehr bei Diskriminierun- einführen, wenn Sie die Frauenquote als generelles gen von Frauen und durch Schadensersatzansprüche Instrument der Frauenförderung ablehnen, dann wer- in Höhe von mindestens drei Monatsgehältern wird den Sie nie vorankommen, nicht als Partei und nicht diskriminierenden Einstellungs- und Beförderungs- die Frauen in Ihren Parteien. Liebe Kolleginnen von praktiken effektiv entgegengewirkt. Dagegen wer- der Koalition, es könnte mir eigentlich egal sein, aber Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19163

Hanna Wolf ich bin der Überzeugung, mehr Frauen auch in Ihren Gleichberechtigung befaßt. Sie wissen genausogut Parteien würden der Politik guttun. wie ich, daß Frauen aus CDU, SPD und F.D.P. daran (Beifall bei der SPD) gleichermaßen beteiligt waren. Ich bitte, das dann auch zu sagen. Meine Damen und Herren, unser Gesetzentwurf macht Schluß mit den ewigen Bitten und Appellen, Es gibt gemeinschaftliche Interessen von Frauen in den Soll- und Kann-Vorschriften, auf die sich der diesem Parlament. In der Diskussion über dieses Regierungsentwurf beschränkt. Die Bundesregierung Gesetz habe ich aber immer wieder bemerkt, daß es macht Oberflächenretusche, sie hat kein Konzept und, auch die Frage gibt: Was ist eigentlich Gleichberech- so meine ich, will es auch nicht haben. tigung, und welche Wege wählen wir, um die Gleich- berechtigung durchzusetzen? — Liebe Frau Niehuis, Die Frauenbeauftragte gibt es bei Ihnen nur zum - es ist einfach so, daß es in der politischen Realisierung Nulltarif — dafür hat schon die F.D.P. gesorgt —, denn unterschiedliche Ansätze gibt. Darüber müssen wir es muß überall gespart werden, und hier ganz beson- diskutieren, und wir haben sie auch gegenseitig zu ders bei Frauen. Freistellung ist praktisch unmöglich. akzeptieren. Ihre so großgeschriebene Vereinbarkeit von Familie und Beruf zur Betreuung von Kindern gibt es nur (Beifall bei der CDU/CSU) dann, wenn dienstliche — oder wie es jetzt heißt: Deshalb halte ich nichts davon, hier zu polemisieren zwingend dienstliche — Belange dem nicht entgegen- und die Interessen von Frauen auseinanderzudividie- stehen. In unserem Entwurf dagegen haben Frauen ren, denn Sie sprechen nicht für alle Frauen, wie auch und Männer mit Kindern einen Rechtsanspruch auf ich nicht für alle Frauen spreche. Deshalb werden wir Teilzeitarbeit und Beurlaubung ohne Wenn und weiter politischen Streit haben. Aber. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich komme zum Schluß. Die große gesellschaftliche Reform des Ehe- und Scheidungsrechts in den 70er Aber eines, Frau Niehuis, müßten wir am Ende der Jahren kam von der SPD. Legislaturperiode eigentlich voneinander wissen: Ich (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das war die drücke mich vor den Auseinandersetzungen nicht. größte Katastrophe!) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich sage Ihnen: Auch die zweite große gesellschaftli- Daß ich hier heute zum Schluß spreche, ist z. B. auch che Reform, die Gleichstellung von Frauen, wird ein Ergebnis meines Lernens. Sie von der SPD-Seite wieder von der SPD eingeleitet werden. Eine — davon haben nämlich in der haushaltspolitischen Debatte gehe ich nach den Bundestagswahlen aus — SPD Bundesfinanzminister Waigel kräftig beschimpft, als geführte Regierung wird dieses Gleichstellungsgesetz er in der zweiten und dritten Lesung eines Haushalts wieder einbringen und umsetzen. einmal nicht als letzter gesprochen hat. Sie haben (Beifall bei der SPD) gesagt, er schätze nicht die Argumente der Opposition Der Frauenstreiktag am 8. März stand unter dem und drücke sich davor, darauf einzugehen. Sie müs- sen sich schon einigen, wann wer sprechen soll. Dann Motto „Uns reicht's! " Am Wahltag im Oktober werden werden wir versuchen, auch darauf einzugehen. die Frauen sagen: „Uns reicht diese Bundesregie rung." (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Beifall bei der SPD — Volker Kauder [CDU/ ordneten der F.D.P.) CSU]: Aber nicht alle!) Meine Damen und Herren, „Beharrlichkeit führt zum Ziel" , das ist ein altes Sprichwort. Beharrlichkeit war notwendig, um diesen Gesetzentwurf heute hier Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und miteinander diskutieren zu können. Herren, Kollege Konrad Weiß möchte seine Rede gerne zu Protokoll geben.') Kann ich Übereinstim- Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen: Die mung feststellen? — Danke sehr. gesellschaftlichen Realitäten haben sich seit der deut- schen Einheit verändert, und dem muß natürlich auch Dann erhält zu diesem Tagesordnungspunkt zuletzt ein Gleichberechtigungsgesetz in dieser Legislatur- unsere Frau Kollegin Dr. Angela Merkel, Bundesmi- periode Rechnung tragen. Wir stehen heute vor der nisterin für Frauen und Jugend, das Wort. Aufgabe, die politischen, die sozialen und die wirt- schaftlichen Voraussetzungen für das nächste Jahr- tausend zu schaffen. Dies hat die Bundesregierung in Bundesministerin für Frauen Dr. Angela Merkel, wesentlichen Gesetzentwürfen in den letzten Wochen und Jugend: Herr Präsident! Meine Damen und Her- getan. ren! Art. 3 unseres Grundgesetzes sagt: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt." Dies ist in unser (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei Rechtssystem umgesetzt, aber es ist keine tatsächliche der SPD) gesellschaftspolitische Realität; das ist heute an vielen Natürlich müssen wir uns mit der Frage auseinan- Stellen gesagt worden. dersetzen: Ist es richtig, daß wir in einer Zeit, in der wir Deshalb, meine Damen und Herren und auch liebe Deregulierung auf unsere Fahnen geschrieben Frau Niehuis, haben wir uns parteiübergreifend dafür haben, ein weiteres Gesetz machen, ein Gesetz zum entschieden, in Art. 3 des Grundgesetzes eine Ergän- Schutz und zur Förderung von Frauen? Ich habe zung vorzunehmen, die sich mit der tatsächlichen immer wieder gesagt: Weil wir in unserer gesell- schaftspolitischen Realität ungleiche Zustände haben, ') Anlage 2 genau deshalb ist es wichtig, daß wir auch in dieser 19164 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Bundesministerin Dr. Angela Merkel Zeit für Frauen weitere Gesetze machen, und deshalb Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Frau beantworte ich diese Frage mit einem Ja. Aber daß sie Ministerin, Sie haben in dem Gesetzentwurf zunächst in einer Zeit, in der Deregulierung notwendig ist, stehen gehabt: keine Kosten. Jetzt heißt es: keine gestellt wird, das verstehe ich. Darüber müssen wir größeren Auswirkungen auf Kosten im öffentlichen miteinander argumentieren. und privaten Leben. Stimmen Sie mit mir darin (Beifall bei der CDU/CSU) überein, daß in § 16 des Frauenfördergesetzes, Rechtsstellung der Frauenbeauftragten, festgehalten Der Referentenentwurf dieses Gesetzes hat schon wird, daß es nicht zu einer Stellenvermehrung kom- vor zwei Jahren wesentliche Dinge enthalten, die in men darf? Stimmen Sie mit mir darin überein, daß der heutigen politischen Diskussion von außerordent- nach § 611a BGB kein allgemeines Schmerzensgeld licher Wichtigkeit sind. Wir haben damals gesagt: Für - für die Diskriminierung nach Geschlecht gegeben die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist eine werden darf, sondern daß es um die geschlechtsspe- flexiblere Gestaltung der Arbeitszeit notwendig. zifische Benachteiligung bei einer Bewerbung geht Damals sind wir an vielen Stellen auf erhebliche und daß im Rahmen des praktizierten Richterrechts Vorbehalte gestoßen. Heute können wir sagen: Die entsprechende Summen bereits ausgeworfen wer- Frauenpolitik war auf diesem Feld ein wirklicher den? Vorreiter. Teilzeitarbeit ist heute ein Diskussionsge- genstand nicht nur für Frauen, sondern auch für Dr. Angela Merkel, Bundesministerin für Frauen Männer. und Jugend: Herr von Stetten, ich möchte hier noch Dies führt mich übrigens zu der Aussage, die ich für einmal betonen, daß keine zusätzlichen Kosten ent- die Gleichberechtigungspolitik insgesamt als ganz stehen, weil keine neuen Stellen geschaffen werden. wesentlich betrachte: Gleichberechtigung in unserer Die Frauenbeauftragten in den Ministerien und nach- Gesellschaft werden wir nur durchsetzen, wenn Män- geordneten Bundesbehörden werden vielmehr im ner und Frauen Änderungen in ihrem Leben vor- Rahmen der Stellenpläne arbeiten. Es wird so sein, nehmen. Das heißt, auch die Männer müssen sich daß diese Leistungen durch die Umstrukturierung der mehr auf Familienarbeit, auf Teilzeitarbeit und auf Verwaltung, wie das auch bei anderen zusätzlichen flexiblere Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein- Aufgaben der Fall ist, erbracht werden. Das ist mit stellen. dem Bundesfinanzminister so abgestimmt, und daran (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge halten wir uns. ordneten der F.D.P.) (Zuruf von der SPD: Das ist die Ehrenamtlich Frau Niehuis, wenn Sie immer wieder sagen — Frau keit der Frauenbeauftragten!) Wolf von der SPD und auch viele andere tun das Zum zweiten sage ich schon vorweg etwas zum genauso —, „Frauen in der Bundesrepublik Deutsch- § 611 a BGB. Es ist so, daß es in der Tat um eine land sind nichts weiter als enttäuscht über diesen Verletzung der Persönlichkeitsrechte der Frau geht, Gesetzentwurf ", dann kann ich Ihnen nur erwidern: die schon heute in der Rechtsprechung berücksichtigt Sie vertuschen vor den Frauen, daß dieser Gesetzent- wird. Das heißt, es geht nicht darum, andere Dinge zu wurf deutliche Fortschritte bringt. pönalisieren, sondern um die Verletzung der Persön- (Zuruf von der SPD: Wo denn?) lichkeitsrechte der Frau entsprechend der heutigen Rechtsprechung der Arbeitsgerichte. Er bringt Fortschritte in den gesetzlichen Regelungen des öffentlichen Dienstes, der für andere Bereiche Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Minister, vorbildlich ist. Aber er bringt auch Fortschritte in gestatten Sie eine Frage des Kollegen Koppelin? Bereichen der Wirtschaft, so bei der sexuellen Belästi- gung, so bei der Fortentwicklung des § 611 a BGB und Jürgen Koppelin (F.D.P.): Frau Ministerin, ich darf so beim Gremienbesetzungsgesetz, Frau Niehuis, an die Frage des Kollegen von soeben anschließen. nach dem sehr viel mehr Frauen in Zukunft mit Sind Sie fest davon überzeugt, daß es keine großen darüber entscheiden werden, wie die Bundesregie- Kosten bei diesem Gesetz gibt? Wenn ich dieses rung ihren Sachverstand in Gesetze umgießt. Gesetz lese, stelle ich überall fest, daß noch mehr Ich bitte Sie einfach: Täuschen Sie doch nicht die Kosten kommen. Ich könnte Ihnen viele Beispiele Frauen in dieser Republik! Sagen Sie: Dieses Gesetz nennen. Wie kommen Sie zu der Erkenntnis, daß es so ist ein erster Schritt. gut wie keine Mehrkosten geben wird? (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Angela Merkel, Bundesministerin für Frauen Es ist noch nicht der letzte Schritt. Tun Sie doch nicht und Jugend: Wir haben sehr intensiv miteinander so, als sei es ein Rückschritt. Es ist ein Fortschritt. darüber diskutiert, was in Sachen Frauenförderung in den obersten Bundesbehörden bereits geschieht und Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Minister, las- was noch geschehen kann. Wir wissen, daß durch sen Sie Zwischenfragen zu? Es gibt zwei Wortmeldun- Umstrukturierung und durch Prioritätensetzung in der gen. Verwaltung sehr wohl Aufgaben verlagert werden können. Ich erinnere nur an die deutsche Einheit. Dadurch ist in den Verwaltungen ein enormer Mehr- Dr. Angela Merkel, Bundesministerin für Frauen aufwand entstanden, der in keiner Weise einen ent- und Jugend: Ja. sprechenden Stellenzuwachs zur Folge hatte. Der Haushaltsausschuß hat einen Sparbeschluß gefaßt: Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr, Herr 1 % Stellenkürzung. Auch das erfordert, daß Aufga- Kollege von Stetten. ben der öffentlichen Verwaltung eventuell anders Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19165

Bundesministerin Dr. Angela Merkel organisiert werden. Deshalb sage ich nochmals: Ich Zweitens. Teilzeitarbeit und flexible Arbeitszeitge- gehe davon aus, daß das, was wir in der Gesetzesbe- staltung werden in Zukunft kein Grund mehr sein, gründung gesagt haben, weiterhin Gültigkeit hat, daß Abschied von Beruf und Karriere nehmen zu müssen. es sich nicht geändert hat. Weiterbildung in der Familienphase wird möglich (Unruhe) sein. Auch das ist ein Fortschritt, gerade für jüngere Frauen, die in ihrem Beruf beginnen. Drittens. Die Position der Frauen auf dem Arbeits- Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Minister, eine markt wird durch die Änderung des Arbeitsrechtli- Sekunde! — Meine sehr verehrten Damen und Her- chen EG-Anpassungsgesetzes (§ 611 a BGB) verbes- ren, die Frau Ministerin hat noch fünf Minuten Rede- sert. zeit. Ich mache folgende Feststellung: Die Opposition- Viertens — ein ganz wichtiger Fortschritt —: Der hört ruhig und gelassen zu, was die Frau Ministerin zu Schutz aller Beschäftigten in der Privatwirtschaft und erzählen hat. Auf der rechten Seite des Hauses und auf im öffentlichen Dienst vor sexueller Belästigung am der Regierungsbank ist zuviel Unruhe. Es gibt ganze Arbeitsplatz verbessert die Versammlungen. Ich bitte Sie, noch fünf Minuten in Rechtssicherheit von Frauen, gerade von Frauen in nicht festen Anstel- Ruhe zuzuhören. lungsverhältnissen, von jungen Frauen und von (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Frauen, die nicht über die allerhöchste Qualifizierung dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei verfügen. Es gibt nur wenige Länder auf dieser Erde, Abgeordneten der CDU/CSU) die solche Schutzvorschriften haben. Mir ist völlig Bitte, Frau Minister. unverständlich, warum gerade Sie von der Opposition immer wieder argumentiert haben, das sei gar nichts. Bundesministerin für Frauen Dr. Angela Merkel, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Jugend: Herr Präsident, ich danke Ihnen. sowie der Abg. Dr. Margret Funke-Schmitt Heftige Diskussionen — wir haben das soeben Rink [F.D.P.]) gemerkt — haben die Bestimmungen zum § 611 a des Fünftens. Durch das Bundesgremienbesetzungsge- Bürgerlichen Gesetzbuches ausgelöst. Ich gehe davon setz wird es — wie ich schon gesagt habe — einen aus, daß die deutsche Wirtschaft Einstellung und deutlichen Anstieg der Zahl von Frauen in den Auswahl von Bewerberinnen und Bewerbern nach Gremien geben. Mit ähnlichen Regelungen hat m an Recht und Gesetz, so wie es heute schon ist, vornimmt es in Belgien und Dänemark geschafft, in kurzer Zeit und daß nicht pausenlos Ausnahmeregelungen zur einen Frauenanteil von 30 % in den Gremien zu Anwendung kommen. erreichen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Vorsitz : Vizepräsident Hans Klein) In mancher Diskussion hatte ich den Eindruck, als würden hier dauernd Rechtsverstöße zu erwarten Warum, meine Damen und Herren von der Opposi- sein. Ich kann das so nicht teilen. tion, sollen wir nicht auch einmal aus dem Ausland lernen? Ich verstehe nicht, warum Sie hiergegen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) opponieren. Wir haben nach vielen Diskussionen einen vernünf- Deshalb muß ich sagen: Dieser Gesetzentwurf ist tigen Kompromiß gefunden. Für mich ist in dieser bei allem, was wir mit ihm noch nicht realisiert haben Frage ganz besonders wichtig — wer hier behauptet, — ich möchte hier auch sagen, ich hätte mir mehr wir gingen hinter die gültige Rechtslage zurück, sagt gewünscht —, ein deutlicher Fortschritt für die nicht die Wahrheit —, daß durch dieses Gesetz erst- Frauen in diesem Lande. Sie, meine lieben Kollegin- mals sichergestellt wird, daß jede Stelle geschlechts- nen und Kollegen von der Opposition, müssen schon neutral ausgeschrieben werden muß, daß also Männer wissen, ob Sie es sich leisten können, in dieser und Frauen zur Bewerbung aufgefordert werden Legislaturperiode lieber nichts für die Frauen zu tun, müssen. Diesen Zustand haben wir heute leider noch indem Sie sich der Zustimmung hier verweigern. nicht überall. (Zurufe von der CDU/CSU: Sehr richtig!) Mit diesem Gesetz werden also deutliche Verbesse- rungen für Frauen wirksam. Die Frauenförderung in In der von Ihnen beantragten namentlichen Abstim- der Bundesverwaltung wird auf eine gesetzliche mung werden Sie deutlich machen, ob Sie einen Grundlage gestellt. Ich sage es noch einmal: Wir Fortschritt für die Frauen in diesem Lande wollen oder haben heute in den über tausend beratenden Gremien ob Sie lieber keinen wollen und statt dessen in der der Bundesregierung nur 6,7 % Frauen. In der Hälfte Frauenpolitik polemisieren, die dies nicht verdient dieser Gremien haben wir keine einzige Frau. Des- hat. halb bin ich stolz darauf, daß es uns gelungen ist, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Verfahren vorzuschlagen, mit denen sichergestellt ist, Widerspruch bei der SPD) daß in Zukunft mehr bzw. überhaupt erst Frauen in Herzlichen Dank. den Gremien sein werden, die die Bundesregierung beraten.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- Das ist ein Fortschritt für alle Frauen in diesem Land. ren, ich bitte Sie noch um zwei Minuten kollegiale Auch das möchte ich in Richtung Opposition noch Geduld, um eine Kurzintervention der Kollegin Antje einmal sagen. Steen anzuhören. 19166 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Vizepräsident Hans Klein Bitte, Frau Kollegin Steen. Drucksache 12/7341: Dafür? — Dagegen? — Enthal- tungen? — Abgelehnt. Antje-Marie Steen (SPD): Frau Ministerin Merkel, Drucksache 12/7342: Dafür? — Dagegen? — Enthal- ich möchte Sie fragen, was Sie bisher für die Gleich- tungen? — Abgelehnt. stellung von uns Frauen hier in diesem Parlament getan haben. Ein aktueller Anlaß: Ich komme eben in Wer stimmt für den Antrag Drucksache 12/7343? — dieses Parlament und stelle fest, daß auf der Tages- Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? ordnung „Rednerliste" steht, — Auch dieser Änderungsantrag ist abgelehnt. (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Damit sind alle Änderungsanträge abgelehnt. und das in diesem Zusammenhang, wo- hier nur Ich bitte nunmehr diejenigen, die dem Gesetzent- Frauen diskutiert haben. Ich frage Sie, Frau Ministerin wurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um Merkel — oder muß ich sagen: Herr/Frau Minister ihr Handzeichen. — Wer lehnt ab? — Wer enthält sich Merkel? —: Was tun Sie eigentlich für uns Frauen in der Stimme? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter diesem Parlament? Beratung angenommen. ( [CDU/CSU]: Das ist un Wir kommen zur glaublich! Gibt es denn so etwas? Jeder blamiert sich auf seine Weise!) dritten Beratung und Schlußabstimmung.') Die Fraktion der SPD ver- Vizepräsident Hans Klein: Zur Beantwortung Frau langt namentliche Abstimmung. Ich eröffne die Ministerin Merkel. Abstimmung. — Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das Dr. Angela Merkel, Bundesministerin für Frauen seine Stimme nicht abgegeben hat? Diese Frage und Jugend: Liebe Frau Kollegin, eine kurze Bemer- beschleunigt in jedem Fall das Verfahren. — kung. Ich hatte immer den Eindruck, daß sich das Parlament nach seinem Selbstverständnis um solche Sind alle Stimmen abgegeben? —Das ist offensicht- Dinge selbst kümmert. lich der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Aber selbstverständlich, Frau Kollegin, hat sich die Meine Damen und Herren, die Abstimmung ist Bundesregierung mit diesem Thema befaßt und in geschlossen. Ich bitte Sie, wieder Platz zu nehmen. Das Ergebnis dieser Abstimmung werden wir Ihnen einer Vorlage eines Rechtsspracheberichts in ge- meinsamer Federführung von Frauen- und Justizmi- später bekanntgeben.") Wir setzen jetzt die anderen nisterium festgelegt, daß man sich im öffentlichen Abstimmungen fort. Bereich und in allen anderen Bereichen um Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- geschlechtsneutrale Formulierungen bemühen wurf der Fraktion der SPD zur Gleichstellung von Frau sollte. und Mann auf Drucksache 12/5717. Der Ausschuß für Ich füge noch ganz persönlich hinzu: Mir ist es egal, Frauen und Jugend empfiehlt auf Drucksache ob man „Frau Minister" oder „Frau Ministerin" sagt. 12/7333 Nr. 2, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich Aber damit unterscheide ich mich von mancher ande- lasse über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD ren in diesem Lande. auf Drucksache 12/5717 abstimmen, also nicht über (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die Ausschußempfehlung, sondern über den Gesetz- entwurf der SPD.

Vizepräsident Hans Klein: Wir kommen zur Abstim- Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die mung dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das H and- zeichen. — Wer lehnt ihn ab? — Wer enthält sich der (Unruhe) Stimme? — — meine Damen und Herren, bitte hören Sie sich doch an, worüber wir jetzt abstimmen — über den von der Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abge- Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ge- lehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung setzes zur Durchsetzung der Gleichberechtigung von die weitere Beratung. Frauen und Männern, Drucksachen 12/5468 und 12/7333 Nr. 1. Dazu liegen sieben Änderungsanträge der Gruppe PDS/Linke Liste vor, über die wir zuerst abstimmen. Meine Damen und Herren, ich rufe den Tagesord- Wer stimmt für den Antrag Drucksache 12/7337? — nungspunkt 5 auf: Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsan- — Zweite und dritte Beratung des von der Bun- trag ist abgelehnt. desregierung eingebrachten Entwurfs eines . . . Drucksache 12/7338: Wer stimmt dafür? — Dage- Strafrechtsänderungsgesetzes — Zweites Ge- gen? — Wer enthält sich? — Abgelehnt. setz zur Bekämpfung der Umweltkriminali- Drucksache 12/7339: Dafür? — Dagegen? — Enthal- tät — (. StrÄndG — 2. UKG) tungen? — Der Änderungsantrag ist abgelehnt. — Drucksache 12/192 — Drucksache 12/7340: Wer stimmt dafür? — Dage- gen? — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist *) Erklärungen zur Abstimmung siehe Anlagen 3 und 4 abgelehnt. **) Seite 19169A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19167

Vizepräsident Hans Klein — Zweite und dritte Beratung des von den Abge- mäßigen Strafrechtsaktionismus zu verfallen, der ordneten Hermann Bachmaier, Dr. Herta langfristig gesehen die Umwelt nicht mehr schützen, Däubler-Gmelin, Harald B. Schäfer (Offen- ganz sicher jedoch Arbeitsplätze kosten würde. burg), weiteren Abgeordneten und der Frak- Dieser verantwortungsbewußte Interessenaus- tion der SPD eingebrachten Entwurfs eines gleich zwischen dem notwendigen Umweltschutz und Strafrechtsänderungsgesetzes — Zweites Ge- dem Wirtschaftsstandort Deutschland wird beispiels- setz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität weise in dem Verzicht deutlich, Bagatellkriminalität — Drucksache 12/376 — zu regeln. Die Aufnahme der Bagatellkriminalität in (Erste Beratung 21. Sitzung) das Umweltstrafrecht, so wie es von einigen gefordert Beschlußempfehlung und Bericht des Rechts- worden ist, würde nur zu einer Überlastung der ausschusses (6. Ausschuß) zuständigen Strafverfolgungsbehörden und damit im Ergebnis zu einer weniger effektiven Verfolgung — Drucksache 12/7300 — führen. Berichterstattung: Abgeordnete Hermann Bachmaier Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bekennt sich Jörg van Essen ausdrücklich dazu, die Umwelt auch mit Hilfe des Andreas Schmidt (Mülheim) Strafrechts zu schützen. Die immer wieder geäußerte Kritik, das moderne Strafrecht sei zu einem Ins tru- Zum Entwurf der Bundesregierung liegt ein Ände- ment gesellschaftlicher Konfliktlösung verkommen rungsantrg der Fraktion der SPD auf Drucksache und habe nicht mehr seine ursprüngliche Funktion als 12/7331 vor. Ultima ratio, entspricht nicht meiner Vorstellung eines Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die modernen, verantwortungsbewußten Rechtsstaates. Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Dagegen In einer modernen Gesellschaft muß die Gesetzge- erhebt sich offensichtlich kein Widerspruch. Dann ist bung auf Fehlentwicklungen auch mit Hilfe des Straf- das so beschlossen. rechts reagieren können, zumal unsere Umwelt ein Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kolle- hochrangiges Gut ist, das es auch für zukünftige gen Andreas Schmidt das Wort. Generationen zu schützen gilt. Daß das Umweltstraf- recht im Gegensatz zu den meisten anderen Berei- chen des Strafrechts besonderen Wert auf die Allge- Andreas Schmidt (Mülheim) (CDU/CSU): Herr Prä- mein- und nicht so sehr auf die Individualrechtsgüter sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erst legt, ist, so glaube ich, in der Natur der Sache das Gleichberechtigungsgesetz und jetzt das neue begründet. Umweltstrafrecht — damit zeigen die Regierungsko- alition, ihre Fraktionen und die Regierung, daß sie auf Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nun allen wesentlichen Feldern der deutschen Politik auch einige Punkte nennen, wie wir die Umwelt durch das kurz vor einer Wahl handlungsfähig und entschei- neue Strafrecht besser schützen wollen. dungsfreudig sind. Erstes Beispiel: Bisher war der Boden im Gegensatz (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zu Wasser und Luft nicht unmittelbar durch das Meine Damen und Herren, das Umweltstrafrecht Strafrecht geschützt. Mit dem neuen Umweltstraf- will ich so überschreiben: Was lange währt, wird recht schließen wir diese Gesetzeslücke, die bisher endlich gut. eine Ahndung bei denjenigen Bodenverunreinigun- gen verhinderte, die nicht zu einer nachweisbaren Das heute zu verabschiedende Gesetz zur Bekämp- Grundwasserverunreinigung führten oder auf einer fung der Umweltkriminalität geht in der Tat auf einen Lagerung gefährlicher Stoffe beruhten. Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. zurück, der bereits zu Beginn des Jahres 1990 Der alltägliche Fall, daß ein Autobesitzer Altöl in vorgelegt worden ist. den Boden abläßt, wird nunmehr erstmals unter den Das neue Umweltstrafrecht dokumentiert meines Straftatbestand des neuen § 324 a StGB fallen. Mit Erachtens sehr überzeugend, daß die Bundesregie- dieser Norm wird der bisher nur unzureichend rung und die sie tragende Koalition ihrer Verantwor- geschützte Boden ausdrücklich unter strafrechtlichen tung für unsere Umwelt auch im Bereich des Straf- Schutz gestellt. Dieser Beitrag des Strafrechts ent- rechts gerecht werden. Mit dem vorliegenden Gesetz- spricht nicht nur den dringenden Wünschen der entwurf der Bundesregierung in der Fassung der Wissenschaft und der Praxis, sondern orientiert sich Beschlußempfehlung und des Berichtes des Rechts- auch an den Forderungen des 12. Internationalen ausschusses erhält die Bundesrepublik Deutschland Strafrechtskongresses. — daran kann es keinen Zweifel geben — das Ein ganz besonderes Anliegen des Gesetzentwurfes schärfste Umweltstrafrecht in der gesamten Welt. in der vorliegenden Fassung ist es, den illegalen Aber, meine Damen und Herren, und auch dies Mülltourismus wirksamer zu bekämpfen. Hier sind möchte ich hier sehr deutlich unterstreichen, unserer insbesondere die Änderungen der §§ 326 und 328 Verantwortung für das Gemeinwohl werden wir letzt- StGB zu nennen, die in Zukunft helfen sollen, den lich nur dann gerecht, wenn wir die Umwelt zwar auch kriminellen Machenschaften verantwortungsloser durch Strafandrohung schützen, dabei aber nicht Müllschieber das Handwerk zu legen. Mit der Andro- außer acht lassen, daß wir in einer hochtechnologisier- hung einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren wird ten Industrienation leben. Mit dem Gesetzentwurf auch die Chance eröffnet — das, so finde ich, ist ganz leisten wir einen entscheidenden strafrechtlichen Bei- wichtig —, daß das Gesetz auch die gewünschte und trag zum Umweltschutz, ohne in einen unverhältnis- notwendige präventive Wirkung entfaltet. Es geht ja 19168 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Andreas Schmidt (Mülheim) nicht nur um Strafe, es geht auch um Prävention, um eines effektiven Umweltschutzes die Einführung Straftaten in diesem Bereich von vornherein im Sinne einer eigenen Amtsträgerstrafbarkeit. der Umwelt zu verhindern. Bei diesem Streitpunkt, so finde ich, wird der Ein weiterer entscheidender Punkt ist, daß das neue Unterschied zwischen praktischer Vernunft einerseits Umweltstrafrecht nicht nur auf eine bessere Sanktio- und Ideologie andererseits sehr deutlich. Im übrigen, nierung spektakulärer Ereignisse aus dem Bereich meine Damen und Herren, ist es nach dem geltenden des Mülltourismus oder der chemischen Industrie Strafrecht bereits jetzt möglich, Amtsträger strafrecht- abzielt. Es ist leider so, daß jeder einzelne noch so lich zu belangen, wenn dies in der Sache gerechtfer- kleine Verstoß gegen die Umweltnormen in der tigt ist. Wenn ein Mitarbeiter einer Umweltbehörde Gesamtheit aller Verstöße großen Schaden an der - gegen besseres Wissen eine Genehmigung für einen Schöpfung und der Umwelt verursachen kann. So ist Industriebetrieb erteilt, die mangels Erfüllung um- es denn nur folgerichtig, wenn eine Privatperson, die weltrechtlicher Aufgaben eigentlich hätte versagt z. B. meint, den alten Kühlschrank auf einer wilden werden müssen, so kann dieser bereits nach der Müllkippe im Wald abladen zu müssen, mit der geltenden Rechtslage strafrechtlich zur Verantwor- ganzen Härte des Gesetzes zu rechnen hat. tung gezogen werden. Der Gesetzentwurf trägt der Tatsache Rechnung, Auf Grund der geltenden oder der bestehenden daß der zunehmende unerlaubte Umgang mit Kern- Garantenstellung gilt dies auch für den Fall, wo einem brennstoffen und anderen gefährlichen Stoffen ganz Amtsträger deliktisches Verhalten von Be trieben erhebliche Gefahren für unsere Umwelt in sich birgt. bekannt wird, er aber trotzdem nicht dagegen ein- Daher stellt der Gesetzgeber nicht nur auf die Verar- schreitet. Auch in diesem Fall kann er bereits jetzt, beitung, sondern auch auf die Lagerung, Verpackung, ohne daß es eines eigenen Delikts bedarf, im straf- Beförderung oder Versendung und schließlich auf die rechtlichen Sinne zur Verantwortung gezogen wer- Auspackung dieser Stoffe ab. Das war bisher nicht so. den. So wird beispielsweise zukünftig auch ein Transport- unternehmer bei vorsätzlichen Verstößen gegen diese Ich will abschließend sagen, daß das neue Umwelt- Norm mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen müs- strafrecht nur einer der wichtigen Beiträge dieser sen. Bundesregierung und dieser Koalition zum besseren Schutz unserer Umwelt ist. Es gibt viele andere Darüber hinaus sanktioniert der vorliegende Ge- Gesetze, die wir für die Umwelt, für die Schöpfung setzentwurf Umweltschädigungen in Biotopen mit hier eingebracht und verabschiedet haben. Entschei- seltenen Pflanzen und Tieren durch eine Strafandro- dend wird daher weiterhin sein, daß es uns gelingt, die hung von bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug. Menschen, vielleicht auch mit Hilfe dieses Gesetzes, Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben für Umweltfragen noch stärker zu sensibilisieren. ja zwei Gesetzentwürfe vorliegen. Der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion orientiert sich in einigen Bereichen Für die zunehmende Sensibilisierung der Bürgerin- ziemlich klar an dem Entwurf der Bundesregierung. In nen und Bürger sowie der Verantwortungsträger den Bereichen, in denen er sich unterscheidet, werden spricht u. a. die Zahl von 25 882 erfaßten Umweltstraf- die Unterschiede zwischen der Koalition und der taten im Jahr 1992. Damit, meine Damen und Herren, Opposition sehr deutlich. Ich glaube, es ist sehr gut, setzt sich die Steigerung der Verfolgung, die in den daß Unterschiede deutlich werden. alten Bundesländern seit langem zu beobachten ist, in den neunziger Jahren für die gesamte Bundesrepu- Der CDU/CSU-Fraktion geht es um einen effekti- blik Deutschland erfreulich fort. ven Umweltschutz in — ich betone: in — einer Industrienation. Der SPD-Opposition geht es in Teil- Ich bin sicher, meine sehr verehrten Damen und bereichen, dort, wo wir uns deutlich unterscheiden, Herren, daß dieses Umweltstrafrecht dazu beitragen nicht um effektiven Umweltschutz, sondern meines wird, nicht nur die Aufklärungsrate bei Umweltstraf- Erachtens um eine Umweltideologie. taten zu verbessern, sondern auch die Zahl der Ver- urteilungen zu erhöhen, wo es auf Grund der Gesetz- Dieser Unterschied, meine Damen und Herren, gebung nunmehr gerechtfertigt ist. zwischen uns und Ihnen, zwischen einem effektiven Umweltschutz und einer Umweltideologie, wird ins- Ich will abschließend noch einmal sagen: Ich besondere darin deutlich, daß Sie mit aller Macht glaube, daß die Verabschiedung dieses neuen daran festhalten wollen, eine eigene Amtsträgerstraf- Umweltstrafrechts ein ganz wichtiger und wesentli- barkeit einzuführen. Die Normierung einer eigenen cher Beitrag ist, um die Umwelt in Zukunft besser zu Amtsträgerstrafbarkeit wäre für den Umweltschutz schützen, um die Schöpfung auch für die zukünftigen unseres Erachtens mehr als kontraproduktiv. Sie Generationen zu bewahren. würde im Ergebnis nur zu einer Absicherungsmenta- lität der Umweltbehörden führen, die die Verwal- Mit diesem Gesetzentwurf wird die Bundesregie- tungsstellen nahezu lähmt oder gar zur Abwanderung rung und wird die Koalition, werden wir der Verant- qualifizierten Personals führen könnte. wortung für die Umwelt gerecht; aber — ich sage es noch einmal — wir werden auch unserer Verantwor- (Beifall des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause tung für den Wirtschaftsstandort Deutschland und für [Bonese] [fraktionslos]) die Arbeitsplätze in unserem L and gerecht. Gerade aber weil die Polizei und die Staatsanwalt Ich danke Ihnen. schaft unbedingt auf die Kooperation mit den Umwelt behörden angewiesen sind, verbietet sich im Interesse (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Vizepräsident Hans Klein: Bevor ich den nächsten Kronberg, Heinz-Jürgen Schätzle, Ortrun Redner aufrufe, möchte ich Ihnen gern das von den Dr.-Ing. Krüger, Paul Dr. Schäuble, Wolfgang Krziskewitz, Reiner Schell, Manfred Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Lamers, Karl Schemken, Heinz Abstimmung über den von der Bundesregierung ein- Dr. Lammert, Norbert Scheu, Gerhard gebrachten Entwurf eines Zweiten Gleichberechti- Lamp, Helmut Schmalz, Ulrich gungsgesetzes, Drucksachen 12/5468 und 12/7333, Dr. Laufs, Paul Schmidbauer, Bernd Laumann, Karl-Josef Schmidt (Fürth), Christian bekanntgeben: Abgegebene Stimmen 540; mit Ja Lehne, Klaus-Heiner Dr.-Ing. Schmidt (Halsbrücke), haben gestimmt 288, mit Nein 227; der Stimme Lenzer, Christian Joachim enthalten haben sich 25 Kolleginnen und Kollegen. Limbach, Editha Schmidt (Mülheim), Andreas Link (Diepholz), Walter Dr. Schmidt, Christa - Lintner, Eduard Schmidt (Spiesen), Trudi Dr. Lippold (Offenbach), Schmitz (Baesweiler), Klaus W. Hans Peter Endgültiges Ergebnis Fuchtel, Hans-Joachim Dr. Lischewski, Manfred Dr. Schneider (Nürnberg), Ganz (St. Wendel), Johannes Löwisch, Sigrun Oscar Abgegebene Stimmen: 539; Dr. Geiger (Darmstadt), Sissy Lohmann (Lüdenscheid), Dr. Schockenhoff, Andreas davon: Geiger, Michaela Wolfgang Graf von Schönburg Geis, Norbert Louven, Julius Glauchau, Joachim ja: 288 Dr. von Geldern, Wolfgang Lummer, Heinrich Dr. Scholz, Rupert nein: 226 Gibtner, Horst Dr. Luther, Michael Frhr. von Schorlemer, Glos, Michael Maaß (Wilhelmshaven), Erich Reinhard enthalten: 25 Dr. Göhner, Reinhard Männle, Ursula Schulhoff, Wolfgang Götz, Peter Magin, Theo Dr. Schulte (Schwäbisch Gres, Joachim Dr. Mahlo, Dietrich Gmünd), Dieter Ja Grochtmann, Elisabeth Marienfeld, Claire Schulz (Leipzig), Gerhard Gröbl, Wolfgang Marten, Günter Schwalbe, Clemens CDU/CSU Grotz, Claus-Peter Meckelburg, Wolfgang Dr. Schwörer, Hermann Dr. Grünewald, Joachim Meinl, Rudolf Seesing, Heinrich Dr. Ackermann, Else (Duisburg), Horst Dr. Merkel, Angela Seibel, Wilfried Adam, Ulrich Günther Frhr. von Hammerstein, Michalk, Maria Sikora, Jürgen Dr. Altherr, Walter Franz Carl-Detlev Michels, Meinolf Skowron, Werner H. Augustin, Anneliese Harries, Klaus Dr. Möller, Franz Spilker, Karl-Heinz Augustinowitz, Jürgen Haschke (Großhennersdorf), Muller (Kirchheim), Elmar Spranger, Carl-Dieter Austermann, Dietrich Gottfried Nelle, Engelbert Dr. Sprung, Rudolf Bargfrede, Heinz-Günter Haschke (Jena), Udo Neumann (Bremen), Bernd Steinbach, Erika Dr. Bauer, Wolf Hasselfeldt, Gerda Niedenthal, Erhard Dr. Stercken, Hans Baumeister, Brigitte Haungs, Rainer Nitsch, Johannes Dr. Frhr. von Stetten, Belle, Meinrad Hauser (Esslingen), Otto Nolte, Claudia Wolfgang Bierling, Hans-Dirk Hauser (Rednitzhembach), Ost, Friedhelm Stockhausen, Karl Dr. Blank, Joseph-Theodor Hansgeorg Oswald, Eduard Dr. Stoltenberg, Gerhard Dr. Blens, Heribert Hedrich, Klaus-Jürgen Otto (Erfurt), Norbert Strube, Hans-Gerd Bleser, Peter Heise, Manfred Dr. Päselt, Gerhard Stübgen, Michael Dr. Blüm, Norbert Dr. h. c. Herkenrath, Adolf Dr. Paziorek, Peter Dr. Süssmuth, Rita Böhm (Melsungen), Wilfried Dr. Herr, Norbert Pesch, Hans-Wilhelm Susset, Egon Dr. Böhmer, Maria Hiebing, Maria Anna Petzold, Ulrich Szwed, Dorothea Börnsen (Bönstrup), Wolfgang Hintze, Peter Pfeifer, Anton Tillmann, Ferdi Bohlsen, Wilfried Hörsken, Heinz-Adolf Pfeiffer, Angelika Dr. Töpfer, Klaus Brähmig, Klaus Hörster, Joachim Dr. Pflüger, Friedbert Dr. Uelhoff, Klaus-Dieter Bühler (Bruchsal), Klaus Dr. Hoffacker, Paul Dr. Pinger, Winfried Uldall, Gunnar Büttner (Schönebeck), Hollerith, Josef Pofalla, Ronald Verhülsdonk, Roswitha Hartmut Dr. Hornhues, Karl-Heinz Dr. Pohler, Hermann Vogt (Düren), Wolfgang Buwitt, Dankward Hornung, Siegfried Priebus, Rosemarie Dr. Voigt (Northeim), Carstens (Emstek), Manfred Hüppe, Hubert Dr. Probst, Albert Hans-Peter Carstensen (Nordstrand), Jaffke, Susanne Dr. Protzner, Bernd Dr. Vondran, Ruprecht Peter Harry Dr. Jahn (Münster), Raidel, Hans Dr. Waffenschmidt, Horst Dehnel, Wolfgang Friedrich-Adolf Rau, Rolf Graf von Waldburg-Zeil, Alois Dempwolf, Gertrud Janovsky, Georg Rauen, Peter Harald Dr. Warnke, Jürgen Deres, Karl Jeltsch, Karin Rawe, Wilhelm Dr. Warrikoff, Alexander Deß, Albert Dr. Jobst, Dionys Regenspurger, Otto Wetzel, Kersten Diemers, Renate Dr.-Ing. Jork, Rainer Reichenbach, Klaus Dr. Wilms, Dorothee Dörflinger, Werner Jung (Limburg), Michael Dr. Reinartz, Bertold Wilz, Bernd Dr. Dregger, Alfred Junghanns, Ulrich Reinhardt, Erika Dr. Wisniewski, Roswitha Ehlers, Wolfgang Dr. Kahl, Harald Repnik, Hans-Peter Wissmann, Matthias Eichhorn, Maria Kalb, Bartholomäus Dr. Rieder, Norbert Engelmann, Wolfgang Dr. Wittmann, Fritz Kampeter, Steffen Riegert, Klaus Wonneberger, Michael Eppelmann, Rainer Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Dr. Riesenhuber, Heinz Erler (Waldbrunn), Wolfgang Wülfing, Elke Kauder, Volker Ringkamp, Werner Yzer, Cornelia Eylmann, Horst Keller, Peter Rode (Wietzen), Helmut Eymer, Anke Zeitlmann, Wolfgang Kiechle, Ignaz Rönsch (Wiesbaden), Zöller, Wolfgang Falk, Ilse Klein (Bremen), Günter Hannelore Dr. Faltlhauser, Kurt Klein (München), Hans Roitzsch (Quickborn), Ingrid Feilcke, Jochen Klinkert, Ulrich Romer, Franz Dr. Fell, Karl H. Kolbe, Manfred Dr. Rose, Klaus F.D.P. Fischer (Hamburg), Dirk Kors, Eva-Maria Rossmanith, Kurt J. Fischer (Unna), Leni Koschyk, Hartmut Roth (Gießen), Adolf Albowitz, Ina Fockenberg, Winfried Kossendey, Thomas Rother, Heinz Dr, Babel, Gisela Francke (Hamburg), Klaus Kraus, Rudolf Dr. Ruck, Christian Baum, Gerhart Rudolf Frankenhauser, Herbert Krause (Dessau), Wolfgang Dr. Rüttgers, Jürgen Bredehorn, Günther Dr. Friedrich, Gerhard Krey, Franz Heinrich Sauer (Salzgitter), Helmut Engelhard, Hans A. Fritz, Erich G. Kriedner, Arnulf Sauer (Stuttgart), Roland Dr. Feldmann, Olaf 19170 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Friedrich, Horst Esters, Helmut Dr. Penner, Willfried Grünbeck, Josef Funke, Rainer Ewen, Carl Pfuhl, Albert Grüner, Martin Dr. Funke-Schmitt-Rink, Ferner, Elke Dr. Pick, Eckha rt Heinrich, Ulrich Margret Fischer (Gräfenhainichen), Purps, Rudolf Dr. Hitschler, Walter Gallus, Georg Evelin Reimann, Manfred Irmer, Ulrich Genscher, Hans-Dietrich Fischer (Homburg), Lothar von Renesse, Margot Kleinert (Hannover), Detlef Günther (Plauen), Joachim Fuhrmann, Arne Rennebach, Renate Koppelin, Jürgen Homburger, Birgit Ganseforth, Monika Reuschenbach, Peter W. Schüßler, Gerhard Dr. Hoth, Sigrid Gansel, Norbert Reuter, Bernd Schuster, Hans Dr. Hoyer, Werner Gilges, Konrad Rixe, Günter Sehn, Marita Leutheusser-Schnarrenberger, Gleicke, Iris Schanz, Dieter Thiele, Carl-Ludwig Sabine Graf, Günter Scheffler, Siegfried Zywietz, Werner Lühr, Uwe Großmann, Achim Schily, Otto Dr. Ortleb, Rainer Haack (Extertal), Schluckebier, Günter PDS/Linke Liste Peters, Lisa Karl Hermann Schmidbauer (Nürnberg), Dr. Pohl, Eva Horst Bläss, Petra Habermann, Michael Dr. Enkelmann, Dagmar Richter (Bremerhaven), Hacker, Hans-Joachim Schmidt (Aachen), Ursula (Nürnberg), Renate Dr. Fischer, Ursula Manfred Hampel, Manfred Schmidt Schmidt (Salzgitter), Wilhelm Dr. Fuchs, Ruth Schmidt (Dresden), Arno Hanewinckel, Christel Dr. Schwaetzer, Irmgard Schmidt-Zadel, Regina Dr. Gysi, Gregor Dr. Hartenstein, Liesel Dr. Heuer, Uwe-Jens Seiler-Albring, Ursula Dr. Schnell, Emil Hasenfratz, Klaus Dr. Höll, Barbara Dr. Semper, Sigrid Schöler, Walter Dr. Hauchler, Ingomar Jelpke, Ulla Dr. von Teichman, Cornelia Schreiner, Ottmar Heistermann, Dieter Dr. Keller, Dietmar Timm, Jürgen Schulte (Hameln), Brigitte Heyenn, Günther Lederer, Andrea Türk, Jürgen Dr. Schuster, R. Werner Hiller (Lübeck), Reinhold Philipp, Ingeborg Walz, Ingrid Schwanhold, Ernst Dr. Holtz, Uwe Dr. Seifert, Ilja Dr. Weng (Gerlingen), Schwanitz, Rolf Huonker, Gunter Seidenthal, Bodo Stachowa, Angela Wolfgang Ibrügger, Lothar Sielaff, Horst Würfel, Uta Iwersen, Gabriele Simm, Erika BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jäger, Renate Fraktionslos Singer, Johannes Janz, Ilse Dr. Skarpelis-Sperk, Sigrid Dr. Feige, Klaus-Dieter Hackel, Heinz-Dieter Dr. Janzen, Ulrich Dr. Soell, Hartmut Köppe, Ingrid Dr. Krause (Bonese), Jaunich, Horst Dr. Sonntag-Wolgast, Cornelie Poppe, Gerd Rudolf Karl Dr. Jens, Uwe Sorge, Wieland Schulz (Berlin), Werner Jung (Düsseldorf), Volker Steen, Antje-Marie Dr. Ullmann, Wolfgang Kastner, Susanne Nein Steiner, Heinz-Alfred Weiß (Berlin), Konrad Kirschner, Klaus Stiegler, Ludwig Wollenberger, Vera CDU/CSU Klappert, Marianne Dr. Struck, Peter Dr. Klejdzinski, Karl-Heinz Tappe, Joachim Fraktionslos Klemmer, Brudlewsky, Monika Siegrun Terborg, Margitta Dr. Knaape, Hans-Hinrich Dr. Briefs, Ulrich Hinsken, Ernst Thierse, Wolfgang Kolbe, Regina Karwatzki, Irmgard Titze-Stecher, Uta Kolbow, Walter Molnar, Thomas Toetemeyer, Hans-Günther Enthalten Koltzsch, Rolf Dr. Ramsauer, Peter Urbaniak, Hans-Eberhard CDU/CSU Werner (Ulm), Herbert Kubatschka, Horst Vergin, Siegfried Dr. Kübler, Klaus Würzbach, Peter Kurt Dr. Vogel, Hans-Jochen Blank, Renate Kuessner, Hinrich Vosen, Josef Brunnhuber, Georg Kuhlwein, Eckart Göttsching, Martin SPD Wagner, Hans Georg Lambinus, Uwe Wallow, Hans Jäger, Claus Lange, , Brigitte Waltemathe, Ernst Dr. Jüttner, Egon von Larcher, Detlev Andres, Gerd Walter (Cochem), Ralf Köhler (Hainspitz), Leidinger, Robert Antretter, Robert Dr. Wegner, Konstanze Hans-Ulrich Lennartz, Klaus Bachmaier, Hermann Weiermann, Wolfgang Dr. Meyer zu Bentrup, Dr. Leonhard, Elke Barbe, Angelika Weiler, Barbara Reinhard Lörcher, Christa Becker (Nienberge), Helmuth Weisheit, Matthias Reddemann, Gerhard Dr. Lucyga, Christine Becker-Inglau, Ingrid Weißgerber, Gunter Wittmann (Tännesberg), Maaß (Herne), Dieter Berger, Hans Welt, Jochen Simon Marx, Dorle Bernrath, Hans Gottfried Dr. Wernitz, Axel Mascher, Ulrike F.D.P. Beucher, Friedhelm Julius Wester, Hildegard Matschie, Christoph Bindig, Rudolf Westrich, Lydia van Essen, Jörg Matthäus-Maier, Ingrid Blunck (Uetersen), Lieselott Wettig-Danielmeier, Inge Dr. Guttmacher, Karlheinz Mattischeck, Heide Bock, Thea Dr. Wetzel, Margrit Hansen, Dirk Mehl, Ulrike Dr. Böhme (Unna), Ulrich Weyel, Gudrun Dr. Hirsch, Burkhard Meißner, Herbert Börnsen (Ritterhude), Arne Dr. Wieczorek, Norbert Dr. Graf Lambsdorff, Otto Dr. Mertens (Bottrop), Brandt-Elsweier, Anni Wieczorek-Zeul, Heidemarie Mischnick, Wolfgang Franz-Josef Dr. Brecht, Eberhard Wiefelspütz, Dieter Nolting, Günther Friedrich Jürgen Büchner (Speyer), Peter Dr. Meyer (Ulm), Wimmer (Neuötting), Otto (Frankfurt), Mosdorf, Siegmar Dr. von Bülow, Andreas Hermann Hans-Joachim Müller (Schweinfu ), Rudolf Büttner (Ingolstadt), Hans rt Dr. de With, Hans Parr, Detlef Müller (Völklingen), Jutta Bulmahn, Edelgard Wittich, Berthold Dr. Röhl, Klaus Müller (Zittau), Christian Burchardt, Ursula Wohlleben, Verena Dr. Schmieder, Jürgen Dr. Niehuis, Edith Caspers-Merk, Marion Wolf, Hanna Dr. Schnittler, Christoph Dr. Niese, Rolf Catenhusen, Wolf-Michael Zapf, Uta Dr. Starnick, Jürgen Niggemeier, Horst Conradi, Peter Dr. Zöpel, Christoph Dr. Thomae, Dieter Odendahl, Doris Dr. Däubler-Gmelin, Herta Wolfgramm (Göttingen), Oesinghaus, Günter Dr. Dobberthien, Marliese Torsten Oostergetelo, Jan F.D.P. Dreßler, Rudolf Opel, Manfred Ebert , Eike Ostertag, Adolf Dr. Blunk (Lübeck), Michaela Fraktionslos Dr. Ehmke (Bonn), Horst Dr. Otto, Helga Friedhoff, Paul K. Lowack, Ortwin Eich, Ludwig Palis, Kurt Dr. Elmer, Konrad Paterna, Peter Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19171

Vizepräsident Hans Klein Herr Kollege Hermann Bachmaier, Sie haben das Verabschiedung eines novellierten Umweltstrafrech- Wort. tes kommen würde. Es kreißte ein Berg und gebar allenfalls ein Mäuslein. Auf der Strecke blieb, wie es Hermann Bachmaier (SPD): Herr Präsident! Meine in einem Kommentar der „Süddeutschen Zeitung" Damen und Herren! Seit Jahren ist bekannt, daß unser hieß, die geschundene Umwelt. Die Möglichkeiten, Umweltstrafrecht effizienter ausgestaltet werden die das Strafrecht im Kampf gegen Umweltverschmut- muß. Der Deutsche Juristentag hat bereits im Jahre zung und Umweltvergiftung bieten könnte, bleiben 1988 das geltende Recht auf den Prüfstand genommen weitgehend unausgeschöpft. Wir werden deshalb die- und detaillierte Vorschläge zur Verbesserung des sem Reformstückwerk nicht zustimmen. materiellen Rechts gemacht. Die empirischen Daten Die zentralen Anliegen des SPD-Entwurfes stellen liegen seit Jahren auf dem Tisch, ohne daß bis heute wir heute nochmals als Änderungsanträge zur daraus notwendige Konsequenzen gezogen worden Abstimmung. Wir haben die Umweltstraftatbestände wären. in unserem Entwurf so neu gefaßt, daß reine Bagatell- Die polizeilich erfaßten Delikte sind zwar in den verstöße nicht mehr dem S trafrecht sondern aus- letzten 20 Jahren sprunghaft gestiegen. Aber Drei- schließlich dem Bußgeldrecht unterworfen werden, so viertel der eingeleiteten Verfahren werden einge- daß die Strafverfolgungsorgane sich nicht weiter ver- stellt. Wenn es dennoch zur Bestrafung kommt, so sind zetteln müssen, sondern sich auf die ökologisch wirk- die ausgeworfenen Strafen in aller Regel geringe lich bedeutsamen und gravierenden Umweltdelikte Geldstrafen. Die wirklich schwarzen Schafe, die um konzentrieren können. ihres wirtschaftlichen Vorteils unseren natürlichen Wir haben sämtliche Straftatbestände überarbeitet Lebensgrundlagen erheblichen Schaden zufügen, und systematisch so neu gefaßt, damit die Anwendung werden nur selten gefaßt und angemessen strafrecht- in der Praxis erleichtert und bei allen Umweltdelikten lich zur Verantwortung gezogen. Neben den nach wie die gleichen rechtlichen Voraussetzungen geschaffen vor vorhandenen Vollzugsdefiziten liegen die durch werden. Im Gegensatz zum Regierungsentwurf haben viele Untersuchungen belegten Mängel auch an den wir die besonders nachhaltigen und rücksichtslosen spezifischen Schwächen des geltenden materiellen Umweltstraftaten als Verbrechen eingestuft, so daß Umweltstrafrechts. derartige Täter mit einer Freiheitsstrafe bis zu 15 Jah- Meine Damen und Herren, wir wissen natürlich ren zu rechnen haben. Damit tritt auch eine wesentli- auch, daß das Umweltstrafrecht kein Allheilmittel che Verlängerung der Verjährungsfrist dieser Delikte gegen die immer mehr um sich greifende Zerstörung ein, so daß sich Umweltkriminelle dieses Kalibers unserer natürlichen Lebensgrundlagen sein kann. nicht schon nach wenigen Jahren in Sicherheit wie- Das Umweltstrafrecht ist nicht dazu da, legislative und gen können, sondern noch lange mit strafrechtlicher administrative Defizite bei der Durchsetzung verbes- Ahndung zu rechnen haben. serter Umweltstandards auszugleichen. Es kann weder als Lückenbüßer noch als Nothelfer herange- Wir Sozialdemokraten haben außerdem in unserem zogen werden. Die Funktion des Strafrechts besteht Entwurf die rechtlichen Voraussetzungen dafür darin, groben Schädigungen und schweren Gefähr- geschaffen, daß bei Umweltkriminalität im gewerbli- dungen der natürlichen Lebensgrundlagen auch mit chen Bereich endlich auch die wirklich Verantwortli- den schärfsten Sanktionsmöglichkeiten, die der Staat chen zur Rechenschaft gezogen werden können, und aufzubieten hat, mit den Mitteln von Geld- und — entsprechend auch den Empfehlungen des Juri- Freiheitsstrafen sowie den anderen strafrechtlichen stentages — den auch immer wieder im Zusammen- Sanktionsmöglichkeiten, zu begegnen. hang mit der Verfolgung von Wirtschaftsstraftaten als Hindernis empfundenen § 14 Abs. 2 des Strafgesetz- Bereits am Ende der letzten Legislaturperiode wur- buches neu gefaßt. den die heute abschließend zur Beratung anstehen- den Gesetzentwürfe der Bundesregierung und der Außerdem haben wir eine Anregung des Bundesra- SPD-Bundestagsfraktion eingebracht. Im federfüh- tes aufgenommen und einen Tatbestand zur Auf- renden Rechtsausschuß zogen sich die Beratungen nahme in das Strafgesetzbuch beantragt, der die lange hin. Mittlerweile wurden zwei Sachverständi- Verletzung der Aufsichtspflicht in Betrieben und genanhörungen durchgeführt, zuletzt vor anderthalb Unternehmen unter S trafe stellt. In unserem Jahren in Weimar. Insbesondere bei der letzten Anhö- ursprünglichen Entwurf war dieses Fehlverhalten als rung, in Weimar, haben zahlreiche Sachverständige Ordnungswidrigkeit schon erfaßt. dem Gesetzentwurf der SPD recht eindeutig den Die von der Koalition vorgenommenen Verbesse- Vorrang vor den Lösungsansätzen der Koalition gege- rungsversuche im Bereich der strafbaren Abfallbesei- ben. Wo darin Ideologie zu finden sein soll, müssen tigung müssen so lange Stückwerk bleiben, solange Sie mir, sehr verehrter Herr Kollege Schmidt, erst durch diesen Tatbestand lediglich Abfälle, nicht aber einmal zeigen. Im Gegenteil, wenn ich mir Ihren auch der Umgang mit gefährlichen Wirtschaftsgütern Abfalltatbestand, zu dem ich noch komme, anschaue, unter Strafe gestellt wird. Wir haben, auch entspre- dann weiß ich, welche Ideologie hier obwaltet. Des- chend dem Vorschlag des Deutschen Juristentages, halb möchte ich Vorwürfe dieser Art zurückweisen. diesen Tatbestand auf den umweltgefährdenden Bis in die Schlußberatungen des Rechtsausschusses Umgang mit gefährlichen Wirtschaftsgütern ausge- wurden, so besonders gravierend im Bereich der dehnt, weil es hinsichtlich der strafrechtlichen Rele- strafrechtlich zu ahnenden Luftverschmutzung, noch vanz ausschließlich auf die Gefährlichkeit des Gutes Aufweichungen des Regierungsentwurfs seitens der und nicht auf seine jeweilige wirtschaftliche Bedeu- Koalition vorgenommen. L ange Zeit blieb überhaupt tung ankommen kann. Dadurch wird auch den unter unklar, ob es noch in dieser Legislaturperiode zur Umweltkriminellen so beliebten Manipulationen, mit 19172 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode -- 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Hermann Bachmaier denen Abfälle in Wirtschaftsgüter umdeklariert wer- Umweltkriminalität ist häufig eine gesteigerte und den, ein Riegel vorgeschoben. besonders häßliche Form der Wirtschaftskriminalität, da viele Schäden, die der Umwelt aus Gründen Wir halten es für unausweichlich, einen eigenstän- wirtschaftlichen Vorteils zugefügt werden, nicht wie- digen Straftatbestand für Amtsträger in das Strafge- der behoben oder beseitigt werden können. setzbuch einzufügen, und zwar für Amtsträger, die vorsätzlich oder leichtfertig die ihnen zum Schutz der Lassen Sie uns deshalb heute einen entscheidenden Umwelt obliegenden Pflichten verletzen, wie dies Schritt tun, um die längst erkannten Mängel des übrigens im Referentenentwurf zu dem heute von geltenden Rechts zu beseitigen, damit dieser wichtige Ihnen vertretenen Regierungsentwurf auch enthalten strafrechtliche Bereich endlich auch die nötige Wirk- war. Was hier an Ideologie beinhaltet sein soll,- ist mir samkeit zum Schutz unserer natürlichen Lebens- völlig unerklärlich, wie ich bereits gesagt habe. grundlagen entfalten kann. Auch wenn der Bundesgerichtshof in Einzelfällen Ich danke Ihnen. die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Amtsträ- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke gern aus einzelnen Tatbeständen des Umweltstraf- Liste) rechtes hergeleitet hat, bedarf es eines Straftatbestan- des, der für alle Amtsträger bezüglich aller Umwelt- delikte in gleicher Weise relev ant ist. Sie wissen, daß Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege es hier bis heute Unterschiede zwischen den §§ 324, Jörg van Essen. 325 und anderen unterschiedlich ausgestalteten Delikten gibt. Jörg van Essen (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Da lediglich vorsätzliches und leichtfertiges Verhal- Damen und Herren! Die Novellierung des Unwelt- ten unter Strafe gestellt wird, grenzt dieser Straftatbe- strafrechts ist in der letzten Legislaturperiode des stand die gesetzlich zulässigen Ermessensspielräume Bundestages durch Zeitablauf nicht beschlossen wor- von Umweltbeamten in keiner Weise ein. Wie uns den; auch dieses Mal gab es einen starken Druck, von viele im Umweltbereich tätige öffentliche Bedienstete diesem Vorhaben abzusehen. Ich habe mich für eine erklärt haben, könnte sich dieser Tatbestand letztlich Verabschiedung des Gesetzes eingesetzt, obwohl sogar schützend für die Betroffenen auswirken, weil auch ich das Gewicht der Argumente der Gegner mit Hinweis auf diesen Straftatbestand unziemlicher anerkenne. Druck und sachfremder Einfluß besser als bisher zurückgewiesen werden können. Der Wirtschaftsstandort Deutschland darf durch gesetzliche Vorgaben nicht so stranguliert werden, (Horst Eylmann [CDU/CSU]: Das glauben daß in ihm nicht mehr die Mittel erwirtschaftet werden Sie doch selbst nicht!) können, die zu einer Verbesserung der Umwelt — und — Ich gebe nur weiter, was mir gesagt worden ist. Ich das ist kostenintensiv — benötigt werden. weiß, das gefällt Ihnen nicht, obwohl Ihre Fachleute (Beifall des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause Ihnen geraten haben, es uns gleichzutun und die [Bonese] [fraktionslos]) Amtsträgerhaftung in den Entwurf aufzunehmen Das Strafrecht ist die Ultima ratio, das letzte Mittel. — und das nicht nur im Bundesjustizministerium, Es muß sich an dieser Aufgabenstellung messen sondern in der Fachwelt überhaupt —, weil es sonst zu lassen. Ich bin der Auffassung, daß wir einen vernünf- Ungleichgewichten kommt. Es bedarf dringend dieses tigen Mittelweg gefunden haben. Einerseits werden Straftatbestandes, durch den pflichtbewußte Beamte Lücken geschlossen und festgestellte Defizite im straf- in keiner Weise eingeengt werden. rechtlichen Schutz der Umwelt beseitigt; andererseits Meine Damen und Herren, trotz aller Mängel bei haben wir überspannte Forderungen abgewehrt und der Ausgestaltung der einzelnen Tatbestände war es einleuchtende Änderungen während des Beratungs- ein großes Verdienst des Gesetzgebers und des dama- verfahrens vorgenommen. ligen Bundesjustizministers Vogel und seines Staats- Um mit letzterem zu beginnen: Es gibt weiterhin sekretärs Hans de With, der heute hier ist, im Jahre keine Strafbarkeit von Amtsträgern. Der Vorsitzende 1980, daß das Umweltstrafrecht aus der nebenstraf- des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwalts- rechtlichen Versenkung herausgeholt und in das kammer, Professor Dahs — ihn möchte ich hier mit Kernstrafrecht übernommen wurde. Dadurch erst hat Ihrer Zustimmung zitieren — hat dazu völlig überzeu- das Umweltstrafrecht seine heutige Bedeutung gend ausgeführt, daß eine solche Strafbarkeit endgül- erlangt. tig zu einer Lähmung der Umweltverwaltung führen, Jetzt gilt es nach den gemachten Erfahrungen, das die Genehmigungsverfahren kaum noch akzeptabel geltende Umweltstrafrecht effizienter auszubauen. verlängern und die Abwanderung qualifizierter Selbstverständlich kann das Umweltstrafrecht — dar- Beamter weiter steigern würde. Das wäre ein Ergeb- auf möchte ich noch einmal hinweisen — selbst dann, nis, das im gesamten Bundesgebiet, aber insbeson- wenn es, wie wir es wünschen, von seiner allzu dere in den neuen Bundesländern nicht hinnehmbar strengen Verwaltungsakzessorietät befreit werden ist. würde, allenfalls flankierenden Schutz bei groben und (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne kriminellen Umweltverstößen bieten. ten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Rudolf Das Umweltstrafrecht ist auch kein Mittel gegen die Karl Krause [Bonese] [fraktionslos]) vielen Schäden, die unseren natürlichen Lebens- Wir haben in § 324 a wie in § 325 und § 328 StGB die grundlagen ganz legal alltäglich zugefügt werden. strafrechtlichen Bestimmungen gegenüber dem Re- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19173

Jörg van Essen gierungsentwurf entschärft, ohne daß der strafrechtli- Amtssprache der Bundesrepublik gefunden hat. Es ist che Schutz der Umwelt dadurch zu schwach gewor- mir klar, daß dafür viel Kleinarbeit geleistet werden den wäre. Als Beispiel dafür mag § 325 StGB dienen. mußte, bis es soweit war. In den heutigen Gesetzent- Solange die Freisetzung von Schadstoffen das Krite- würfen wird die Benennung der Probleme weiter rium des bedeutenden Umfangs außerhalb des konkretisiert. Das ist wichtig, aber eigentlich müßte Betriebsgeländes nicht erreicht, sind schützenswerte noch viel, viel mehr getan werden. Dazu will ich etwas Belange der Allgemeinheit nicht verletzt. sagen. Im übrigen sei der Hinweis gestattet, daß durch die Die Industrieländer exportieren Pestizide in viele Verwaltungsakzessorietät sichergestellt ist — und wir Länder der Dritten Welt. Nur selten sieht man Repor- behalten sie bei —, daß Entwicklungen im Umwelt- tagen über Krankheiten und Leid, das damit angerich- verwaltungsrecht auch im strafrechtlichen- Bereich tet wird. Ich habe noch deutlich einen Be richt vor Wirkung entfalten. Wir als F.D.P. werden uns hier Augen über das Krankwerden und Sterben von weiter für Deregulierung einsetzen. Frauen, die wertvolle Blumen für den Export in die Zu den neuen Vorschriften, die mir besonders Industrieländer züchten, schneiden und verpacken. wichtig sind, zählt in erster Linie die neue einheitliche Sie leiden — und einige sterben — durch unsere Bodenschutzvorschrift des § 324a StGB. Damit wird umweltschädigenden Pestizide. Auch das gehört in die Rechtseinheit in Deutschland wiederhergestellt; den Bereich der Umweltkriminalität und sollte bald in denn bisher gab es eine strafrechtliche Bodenschutz- Gesetzestexte gefaßt werden. vorschrift nur im ehemaligen Strafgesetzbuch der DDR. Das ist übrigens ein weiteres Beispiel dafür, daß (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions bei der Verwirklichung der Rechtseinheit in Deutsch- los]: Nennen Sie einmal das Land!) land westdeutsche Regelungen nicht einfach überge- Gestern habe ich hier in Bonn eine Buchvorstellung stülpt werden. mit Ernesto Cardenal erlebt. In seinem neuen, 600 Die Ausweitung des Luftverunreinigungstatbe- Seiten umfassenden Gedichtband „Kosmischer Ge- standes um die Tathandlung des Freisetzens von sang " betrachtet er die Probleme unserer Erde und der Schadstoffen beseitigt die bisherige praktische Unan- Menschheit in kosmischer Dimension. Dieser Band wendbarkeit des geltenden § 325. Wir gleichen im wird zunächst mit Teilausgaben bekanntgemacht. übrigen die Vorschrift an die ähnlichen über Gewäs- Gestern haben lateinamerikanische Sänger und ser- und Bodenverunreinigung an und tragen auch Musiker diese Lesung umrahmt. Gedankentiefe Texte durch diese Angleichung zu einer besseren Verständ- und sensible Umsetzung in Musik sind ihre Gaben für lichkeit der strafrechtlichen Pflichten bei. uns. Müssen wir wirklich Leid und Tod über andere Eine weitere beklagenswerte Lücke wird durch die Völker bringen, und sind wir schon stumpf geworden Schaffung einer Strafvorschrift gegen die ungeneh- für die Schönheiten des Lebens und die Verantwor- migte grenzüberschreitende Verbringung gefährli- tung, die wir dafür haben? cher Abfälle beseitigt. Dem illegalen Abfalltourismus, Wir müssen umdenken. Unsere Industrie, beson- der insbesondere die wirtschaftlich schwachen Län- ders die chemische Industrie, muß sich der Herausfor- der im Osten trifft, wird damit ein notwendiger straf- derung stellen, Verantwortungsethik zu praktizieren. rechtlicher Riegel vorgeschoben. Dazu gehört nicht nur, daß umweltschädigende Wer das verantwortungslose Verhalten von gewis- Exporte nicht mehr getätigt werden, sondern eine sen Tankwagenfahrern sieht, wird die Ausdehnung umfassende Umstellung des Produktionsprofils. Clin- und Verschärfung des Tatbestandes über die Gefähr- ton und Gore beginnen ihren Weg mit einer klar dung schutzbedürftiger Gebiete, insbesondere von benannten politischen Umsetzung von Verantwor- Wasserschutz- und Naturschutzgebieten, in § 329 tungsethik. Die chemische Industrie sollte nicht StGB begrüßen. Auch das ist für mich sehr wichtig: zurückbleiben. Gorbatschow hat sich für Fehlent- Wir erweitern die Regelungen über die tätige Reue wicklungen im Kommunismus entschuldigt. Auch die und schaffen damit einen Anreiz für eine rechtzeitige chemische Industrie sollte das tun und mit einem G efahrenabwehr. konstruktiven Nachdenken beginnen. Insgesamt ist uns ein abgewogener Entwurf gelun- Es ist klar, daß eine Umstellung des Produktionspro- gen, der zusammen mit weiteren Gesetzgebungsvor- fils nicht von heute auf morgen geschehen kann. Aber haben in dieser Legislaturperiode deutlich macht, daß halten unser Pl anet und die Menschheit die Belastun- die Koalition den Schutz der Umwelt verbessert, ohne gen noch lange aus, die wir in den Industrieländern in Dogmatismus zu verfallen und berechtigte Interes- verursachen? Es ist fünf vor zwölf. Das sollten wir klar sen der Wirtschaft zu mißachten. erkennen und begreifen. Vielen Dank. Vor kurzem war in der Reihe „Gott und die Welt" (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ein 30minütiger Beitrag zu sehen, der die Verantwor- ten der CDU/CSU) tung für unsere Erde durch gute Texte, Bilder und Wortbeiträge von Peter Dürr und einem Pfarrer klar- machte. Morgen wird im Kunstmuseum die Präsenta- Vizepräsident Hans Das Wort hat die Kollegin Klein: tion des Buches „Rettungsaktion Planet Erde " stattfin- Ingeborg Philipp. den. Über 10 000 Kinder und Jugendliche aus 75 Län- dern der Erde haben daran mitgewirkt. In Wort und Ingeborg Philipp (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Bild gestaltet wurde das Buch von einem Herausge- Meine Damen und Herren! Ich bin sehr froh darüber, berteam junger Menschen aus 21 Ländern. Am „Earth daß der Begriff „Umweltkriminalität" Eingang in die Day " — das ist der morgige Tag — wird das Buch 19174 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Ingeborg Philipp weltweit in verschiedenen Sprachen vorgestellt wer- nach den Buchstaben des Gesetzes auch erfaßt wer- den, hier in Bonn durch Bundeskanzler Kohl. Dieser den. Beitrag zur Umsetzung der Agenda 21 wurde durch Viertens. Dieses Gesetz ist nicht unzureichend, weil die UN initiiert, und wir sollten dafür auch weiter viel es zuwenig regelt, sondern weil es sich nur auf tun. Deutschland bezieht. Wenn wir das schärfste Umwelt- Im Bundestag müssen wir gleichfalls viel tun. Dazu strafrecht auf dieser Welt haben, heißt das doch, daß gehört der vorliegende Gesetzentwurf. Aber eine sehr wir dafür sorgen müssen, daß ein homogenes, ein große Arbeit zur weiteren Erkenntnis der Lage und zu gleiches Umweltstrafrecht auf dieser Erde existiert; einem angemessenen Problembewußtsein muß noch sonst nützt es dieser großen Erde gar nichts. Am geleistet werden. Es ist noch nicht da. kleinen Deutschland, am deutschen Wesen wird beim Ich danke. Umweltstrafrecht die Welt eben nicht genesen. Zum Schluß: Als Republikaner bin ich bestimmt kein Internationalist, aber ich fordere die Harmonisie- Das Wort hat der Kollege Vizepräsident Hans Klein: rung des internationalen Umweltrechtes und des Dr. Rudolf Krause (Bonese). internationalen Umweltstrafrechtes. Deutschl and soll weiterhin eine Vorreiterrolle haben, 10 bis 20 % plus Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (fraktionslos): Herr oder minus ja, aber ein nationalökologischer Wirt- Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Debatte schaftsmasochismus führt zu mehr Arbeitslosen, und ist eigentlich inhaltlich eine Fortsetzung der Umwelt- acht Millionen sind genug. debatte vom letzten Freitag. Aber ich vermisse Mit- Ich danke für die Aufmerksamkeit. glieder des Umweltausschusses, des Wirtschaftsaus- schusses und natürlich auch die kleine Gruppe der Ich erteile dem Parlamen- GRÜNEN, die hier wohl vertreten sein sollten. Vizepräsident Hans Klein: tarischen Staatssekretär bei der Bundesministerin der Deutschland hat das mildeste S trafrecht gegen viele Justiz, unserem Kollegen Rainer Funke, das Wort. Arten von Kriminalität, die wir importieren, aber es hat das schärfste S trafrecht gegen eine an sich schon überreglementierte Produktion. Lassen Sie mich fünf Rainer Funke, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- Punkte dazu sagen: ministerin der Justiz: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will versuchen, wieder zum Thema Erstens. Eine strafbewehrte deutsche Nationalöko- zurückzufinden. Das heute zu verabschiedende logie kann, wie streng auch immer, das globale Gesetz hat seine Grundlagen in einem Gesetzentwurf Ökosystem dieses Pl aneten nicht retten, aus der letzten Legislaturperiode. Ich hatte schon (Gudrun Weyel [SPD]: Das behauptet auch damals das Vergnügen, als Abgeordneter im Rechts- niemand!) ausschuß an der Novellierung mitwirken zu können. Aber wenn sie ins Abseits läuft, stranguliert sie die Daß sich das etwas länger hingezogen hat, liegt deutsche Nationalökonomie, die deutsche Wirtschaft. sicherlich auch an der Kompliziertheit der Materie, Eine Produktionsverlagerung in andere Länder auf aber auch sicherlich daran — Herr Kollege Bachmaier, Grund überhöhter deutscher Umweltauflagen führt in da gebe ich Ihnen recht —, daß hier unterschiedliche der Ökobilanz dieser Erde immer zu wesentlich Interessen auszugleichen sind. Es ist überhaupt nicht stärkeren Umweltverschmutzungen, Umweltvergif- zu leugnen, daß wir hier einen Interessenausgleich tungen, als wenn diese Produktion mit milderen vornehmen müssen. Auflagen in Deutschland durchgeführt würde. Es kann auch nicht bestritten werden, daß die Zweitens: Eigendiskriminierung der deutschen Bedrohung unserer Umwelt und damit unserer Wirtschaft. Was bei uns zu produzieren unter Strafe Lebensgrundlagen immer mehr zunimmt. Dem kann gestellt wird, muß auch beim Import unter Sanktionen sich auch der Gesetzgeber in strafrechtlicher Hinsicht gestellt werden; sonst ist dies kein Beitrag für das nicht verschließen. Praktische Erfahrungen, empiri- Ökosystem dieses Planeten, sondern nur eine Eigen- sche Untersuchungen und wissenschaftliche Erörte- diskriminierung der deutschen Wirtschaft. All die rungen hatten in den letzten Jahren in Teilbereichen hier genannten 300er-Paragraphen sind nur wirksam Mängel und Probleme des im Jahre 1980 neugestal- gegen die Produktion in Deutschland, auch gegen teten Umweltstrafrechts aufgezeigt. Das nunmehr Abfallimporte, aber nicht gegen Produktimporte. Ich vorliegende Gesetz enthält deshalb wesentliche Ver- habe gesehen, wo die Blumen gebunden werden, die besserungen und Verschärfungen des Umweltstraf- Sie genannt haben und die wir hier im Winter verkau- rechts und des Umweltordnungswidrigkeitenrechts. fen. Das ist ein Pestizidimport in unsere Wohnstu- Der Tatbestand der Bodenverunreinigung in § 324 a ben. StGB, der in diesem Bereich zur Wiederherstellung Drittens. Gut finde ich die Änderung der §§. 330 a der Rechtseinheit in Deutschland führt — darauf hat und b. § 330b betrifft die tätige Reue. In § 330a Abs. 1 der Kollege van Essen bereits hingewiesen —, wird heißt es: „Wer Stoffe, die Gifte enthalten ... , verbrei- eine zentrale Vorschrift des Umweltstrafrechts wer- tet oder freisetzt und dadurch die Gefahr des Todes den. Sie beseitigt in den alten Bundesländern den oder einer schweren Gesundheitsschädigung" usw. bisher nur mittelbaren und lückenhaften Schutz des Das gilt ohne Einschränkung, also auch für Nikotin, Bodens gegen Beschädigung. Hier wird das neue für Rauschgifte. Hierzu gibt es keine Ausnahmerege- Gesetz eine wesentliche Verbesserung bringen. lung, keinen Absatz 4. Es gilt aber auch — ich sage das Die Strafvorschrift der Luftverunreinigung wird im bei aller Brisanz — für aidsinfizierte Einwanderer und Gegensatz zur derzeitigen Lage erheblich an Bedeu- den Import anderer Schäden und Krankheiten, die tung gewinnen. Das gilt insbesondere für den Emis- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19175

Parl. Staatssekretär Rainer Funke sionstatbestand in § 325 Abs. 2 StGB in der Fassung Ziele des Umweltrechts schützen und durchsetzen. der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses trotz Deshalb ist an dem Grundsatz der Verwaltungsakzes- der Einschränkungen gegenüber dem Regierungs- sorietät im Umweltstrafrecht grundsätzlich festzuhal- entwurf. Dieser Tatbestand ist praktikabel ausgestal- ten. Das zur Abstimmung anstehende Gesetz sieht tet und wird in zahlreichen Fällen, die bisher und eine Lockerung der Verwaltungsakzessorietät bei künftig durch § 325 Abs. 1 StGB nicht erfaßt werden, rechtsmißbräuchlichen Verhaltensweisen nur in den Anwendung finden und so einen erheblichen Beitrag Fällen vor, in denen sie zur Vermeidung unerträgli- zum Schutz der Luft leisten. cher Rechtsfolgen notwendig ist. Die Strafvorschrift der umweltgefährdenden Ab- Dieses Gesetz wird das bisherige Umweltstrafrecht fallbeseitigung in § 326 StGB, die in der Praxis bereits schlagkräftiger ausgestalten. Nur wenn Vergehen heute eine erhebliche Rolle spielt, wird generell oder Verbrechen an der Natur wirksam geahndet erweitert und im Strafmaß verschärft. Hervorheben werden, lassen sich potentielle Täter abschrecken. möchte ich den Absatz 2 dieser Vorschrift, durch den Darüber hinaus wird dieses Gesetz zu einer weiteren der verbotene und ungenehmigte Im- und Export von Verfestigung des Umweltbewußtseins in allen Berei- gefährlichem Abfall unter Strafe gestellt wird. chen unserer Gesellschaft führen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Diese Regelung setzt das Basler Übereinkommen und eine entsprechende, am 6. Mai dieses Jahres in (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Kraft tretende Verordnung des Rates der Europäi- schen Gemeinschaft zur Überwachung und Kontrolle Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Axel Wer- der Verbringung von Abfällen um. Hiermit wird dem nitz, Sie haben das Wort. illegalen Abfalltourismus endlich ein Riegel vorge- schoben. Dr. Axel Wernitz (SPD): Herr Präsident! Meine Die Verlagerung unserer Abfallprobleme auf die Damen und Herren! 14 Jahre ist es her, daß die Reformstaaten in Mittel- und Osteuropa — worauf sozialliberale Bundesregierung und Koalition die schon Herr Kollege van Essen hingewiesen hat — wichtigsten Tatbestände zum Schutz der Umwelt in sowie vor allem auf die Länder der Dritten Welt ist und das Strafgesetzbuch aufnahm und daß somit die darf keine Lösung sein. Deutschland muß künftig in Umwelt als Rechtsgut im Kernstrafrecht anerkannt diesem Bereich endlich aus den Schlagzeilen der in- wurde. Diese Reform von 1980 markierte einen wich- und ausländischen Presse herauskommen. tigen Einstieg und einen bedeutsamen Schritt auf dem Weg zu einer angemessenen Ahndung von Umwelt- (Beifall bei der F.D.P.) schäden. Vor allem aber kam es damals darauf an, Ein weiterer Eckpunkt der Reform ist die Erweite- gerade auch unter dem Blickwinkel der hier mehrfach rung des § 328 StGB um gefährliche radioaktive erwähnten Prävention und des vorsorgenden Um- Stoffe. Durch die Neufassung der Absätze 1 und 2 weltschutzes das öffentliche Bewußtsein für die dieser Vorschrift wird auf den vermehrt zu beobach- immense Schädlichkeit von Umweltbelastungen zu tenden Schmuggel und den Vertrieb dieses Mate rials schärfen. aus den Staaten Osteuropas rasch reagiert. In der Zwischenzeit — und das war nicht anders zu erwarten; das wird dem heute zu verabschiedenden Was die Kritik der Opposition an der Ausgestaltung novellierten Gesetz ähnlich gehen — haben sich in der der neuen Strafvorschrift über den illegalen Umgang Praxis Lücken und Schwachstellen des geltenden 328 Abs. 3 mit gefährlichen Stoffen und Gütern im § Umweltstrafrechts gezeigt. Wohl werden mehr und statt nach dem StGB als konkretes Gefährdungsdelikt mehr Umweltdelikte polizeilich registriert, aber durch Regierungsentwurf als Eignungsdelikt angeht, will die zuständigen Staatsanwaltschaften werden — wie ich mit Nachdruck darauf hinweisen, daß diese Rege- Kollege Bachmaier hier schon erwähnt hat — rund lung auch in der Fassung der Beschlußempfehlung drei Viertel der Umweltstrafverfahren eingestellt. Die des Rechtsausschusses über das geltende Recht hin- sogenannten großen Fische oder schwarzen Schafe ausgeht. — welches Beispiel aus der Tierwelt man immer Spektakuläre Unfälle mit gefährlichen Stoffen und wählt —, die Umweltdelikte rücksichtslos und aus Gütern, wie beispielsweise die unvergessene Kata- Gewinnsucht begehen, werden zu selten gefaßt und strophe von Herborn, werden künftig auch durch angemessen strafrechtlich zur Verantwortung gezo- diese Vorschrift mit erfaßt. Die Vorschrift wirkt zudem gen. Neben Vollzugsdefiziten liegt dies eben auch an einem weiteren Übel, nämlich der Tarnung von den spezifischen Defiziten des geltenden Umwelt- gefährlichen Abfällen als Wirtschaftsgüter, entgegen. strafrechts. Das gilt z. B. auch für den gesamten Seeverkehr. Das Zwar ist dies bereits seit Jahren bekannt, dennoch gilt auch für den Hamburger Hafen, von dem ich weiß, gelang es in der letzten Legislaturperiode nicht mehr, daß dort gelegentlich falsch deklarierter Abfall in die das Umweltstrafrecht entsprechend zu modernisieren Dritte Welt entsorgt wird. und zu effektivieren. Dem Strafrecht kommt auch und gerade im Umwelt- Heute stehen wir nun nach den über Jahre gehen- recht nur eine flankierende und ergänzende Funktion den Ausschußberatungen vor der parlamentarischen zu. Dem Umweltverwaltungsrecht ist unter den Beschlußfassung. So einmütig die Notwendigkeit Gesichtspunkten der Einheitlichkeit und Wider- einer Reform des Umweltstrafrechts auch hier im spruchsfreiheit der Rechtsordnung sowie aus prakti- Hause allseits bejaht wird und bis zu dieser Debatte schen Erwägungen heraus der Vorrang einzuräumen. auch bejaht wurde, so sehr gehen zwischen Koalition Das Umweltstrafrecht soll lediglich die staatlichen und SPD-Fraktion die Meinungen darüber auseinan- 19176 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Dr. Axel Wernitz der, wie dieses Ziel am besten erreicht werden kann. sprechenden Verordnungen unverzüglich vorzule- Unser Paket an Änderungsanträgen zum vorliegen- gen. den Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Umweltkri- (Beifall bei der SPD) minalität dokumentiert dies. Die Dringlichkeit einer bundesgesetzlichen Rah- Nach unserer Überzeugung muß derjenige, der men-Regelung für einen vorsorgenden Bodenschutz unsere natürlichen Lebensgrundlagen in krimineller in Verbindung mit den entsprechenden landesrechtli- Weise schädigt, streng bestraft werden. Umweltkrimi- chen Aktivitäten ist gerade heute offenkundig. Des- nalität darf sich nicht lohnen. halb sollte die Bundesregierung bei dieser Gelegen- heit erklären, ob sie an ihrem Vorhaben festhält oder (Beifall bei der SPD) nicht. Das jüngste Gespräch zwischen Umweltmini- Unter anderem war und ist ein umfassender Schutz ster Töpfer und dem bayerischen Ministerpräsidenten des Umweltmediums Boden dringend geboten. Dies Stoiber in München dürfte wohl eher das Aus für das ist hier auch schon angesprochen worden. Der Boden Bodenschutzgesetz in dieser Legislaturperiode mar- ist ein wesentlicher Teil des Naturhaushaltes und kiert haben. bildet die natürliche Lebensgrundlage für Menschen, Das heute zu novellierende Umweltstrafrecht sieht Tiere und Pflanzen. Der Schutz des Bodens vor den weiter ein Verbot des ungenehmigten grenzüber- Gefahren übermäßiger Nutzung und Verunreinigung schreitenden Ex- und Imports von gefährlichem Abfall gerade in einem so dichtbesiedelten und hochindu- vor. Damit soll einem illegalen Abfalltourismus das strialisierten Land wie Deutschland ist von größter Handwerk gelegt werden, der vor allem die Länder Bedeutung. der Dritten Welt und Osteuropas belastet und wieder- holt auch Deutschland negative Schlagzeilen ge- Positiv anzumerken — ich darf das unterstreichen, bracht hat. Ich weise in dem Zusammenhang auch auf was hier von mehreren Rednern gesagt wurde — ist, das Ausführungsgesetz zum Baseler Abkommen hin, daß mit dem einheitlichen Straftatbestand der Boden- mit dem ein Schritt getan worden ist, der wichtig und verunreinigung — § 324 a StGB — in diesem Bereich unverzichtbar war. die Rechtseinheit in Deutschland wiederhergestellt wird. Gleichwohl war bisher — wenn wir die Situation Die SPD-Fraktion ist darüber hinaus jedoch der in der Altbundesrepublik sehen — auch der strafrecht- Auffassung, daß der Anwendungsbereich des hier liche Schutz des Bodens begrenzt. Seine Verunreini- einschlägigen § 326 StGB allgemein auf den umwelt- gung war nur strafbar, wenn sie durch umweltgefähr- gefährdenden Umgang mit gefährlichen Gütern aus- dende Abfallbeseitigung begangen wurde oder Folge zuweiten ist. Auch das hat Hermann Bachmaier schon einer anderen Straftat war, wenn nachhaltige Ein- erwähnt. Ich darf das aus der Sicht der Umweltpoliti- griffe in Naturschutzgebiete erfolgten oder durch ker noch einmal unterstreichen. Die von der Koalition Freisetzen von Giften Menschen schwer gefährdet konzipierte Begrenzung auf Abfälle würde wiederum wurden. zu erheblichen Lücken im strafrechtlichen Umwelt- schutz führen. (Vorsitz : Vizepräsidentin ) Meine Damen und Herren, es gäbe eine breite Mit unserem Entwurfstext wird ein Tatbestand Palette weiterer Punkte. Ich will mir das hier versagen. eingeführt, der die unbefugt begangene nachhaltige Dabei denke ich etwa an die Erweiterung der Straf- Bodenverunreinigung allgemein unter Strafe stellt. vorschrift gegen die Luftverunreinigung. Auch hier gibt es Anmerkungen und konstruktive Präzisierun- Damit wird nicht nur die grundsätzliche Gleichran- gen seitens der SPD-Fraktion. gigkeit der Rechtsgüter Wasser, Boden und Luft zum Ausdruck gebracht; vielmehr werden dadurch auch Man kann sicher — das war mit ein zentrales Strafbarkeitslücken geschlossen, die in der Praxis Anliegen der SPD-Fraktion — über die Einführung auftraten, wenn z .B. auf Grund des Umgangs mit eines § 329a StGB, nämlich die Strafbarkeit fehler- gefährlichen Stoffen erhebliche Bodenverunreinigun- haften Amtswalterhandelns, konstruktiv streiten. gen eintraten, aber die Schadstoffe nicht oder nicht Aber ich bitte herzlich darum, lieber Kollege Schmidt, nachweisbar zu einer Grundwasserverunreinigung hier nicht die Keule des Ideologievorwurfs undifferen- führten, so daß auch der einschlägige § 324 StGB nicht ziert zu erheben. Das ist zu niedrig gegriffen und eingreifen konnte. vielleicht auch zu niedrig geschlagen. Meine Damen und Herren, gelegentlich der Mitbe- Es ist im übrigen nicht angemessen, mit dem Erlaß ratung dieses Gesetzgebungsvorhabens im Umwelt- einer einschlägigen Strafnorm zuzuwarten, bis wei- ausschuß hat die Koalitionsseite damit argumentiert, tere verwaltungsrechtliche Regelungen für den daß die lange Vorbereitungs- bzw. Vorlaufzeit dem Schutz des Bodes erarbeitet sind. Allerdings sind Gesetzentwurf gut get an habe, also frei nach dem — zumindest vorübergehend — einzelne Lücken im Motto — es wurde bei einem anderen Gesetzentwurf strafrechtlichen Bodenschutz nicht auszuschließen, hier schon zitiert —: Was lange währt, wird endlich solange eine umfassende Normierung des Boden- gut. schutzes noch nicht erfolgt ist. Vor diesem Hintergrund möchte ich an den aktuel- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Wer- len Antrag auf der Drucksache 12/6747 der SPD- nitz, es gibt den Wunsch zu einer Zwischenfrage des Bundestagsfraktion vom 3. Februar dieses Jahres Kollegen Klejdzinski. erinnern, mit dem wir die Bundesregierung aufforder- ten und auffordern, das angekündigte und seit vielen Jahren überfällige Bodenschutzgesetz und die ent- Dr. Axel Wernitz (SPD): Ja, bitte. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19177

Dr. Karl-Heinz Klejdzinski (SPD): Herr Kollege Wer- verhindert hätten. Sie haben im übrigen die Verbände nitz, Sie haben einerseits vom Bodenschutz und ande- des öffentlichen Dienstes vergessen, die sich massiv rerseits vom Schutz der Luft gesprochen. Meine Frage: gegen die Amtsträgerhaftung gewandt haben. Müßte konsequenterweise nicht auch der Meeresbo- Ein Argument haben Sie aber völlig vergessen, den bzw. das Wasser oder der Nahbereich in eine nämlich die Einwendungen, die von seiten der libera- solche Strafbestimmung grundsätzlich mit auf genom- len Strafrechtspflege erhoben worden sind. Das ver- men werden? wundert mich um so mehr, als Sie doch sonst — das nehmen Sie für sich in Anspruch — durchaus ein Dr. Axel Wernitz (SPD): Mit Sicherheit. Sprachrohr dieser Richtung sind. Ich lese Ihnen ein- mal vor, was der DAV, der Deutsche Anwaltverein, Dr. Karl-Heinz Klejdzinski (SPD): Denn -bisher geht man darauf nicht ein, bzw. es ist inhaltlich auch noch (Zuruf von der SPD: Die können sich auch nicht so auskristallisiert worden. einmal irren!) zum Regierungsentwurf gesagt hat: Dr. Axel Wernitz (SPD): Sie haben recht. Die Proble- matik des Meeresbodens würde die Dimension der Der Entwurf leidet unter einer eklatanten Über- Schwierigkeiten hier aber noch potenzieren. Auch das schätzung der Funktionen des Strafrechts bei der muß man bei dieser Gelegenheit sagen. Aber Sie Erfüllung staatlicher Aufgaben zum Umwelt- weisen zu Recht auf ein Problem hin, das bereits seit schutz. Hierbei kann der Entwurf zwar auf eine Jahr und Tag in der Diskussion ist. traditionell irrationale Resonanz rechnen. Jedoch begründet gerade dies die Gefahr einer umwelt- Meine Damen und Herren, ich darf zu dem Sprich- verträglichen Fehlinvestition staatlicher Rege- wort „Was lange währt, wird endlich gut" zurückkom- lungsenergien. men. Wir bieten Ihnen mit unseren Anträgen in der zweiten Lesung die Gelegenheit, dazu beizutragen, Mich überrascht nun, daß Sie sich heute auf der daß dies guten Gewissens gesagt werden kann. Wir Seite der traditionell irrationalen Resonanz befinden würden damit gemeinsam eine effektivere Ahndung und daß Sie diese liberale Kritik eigentlich überhaupt von Umweltkriminalität sicherstellen und damit einen nicht aufnehmen. Mit der Kritik in dieser Einseitigkeit entscheidenden Beitrag zum Schutz unserer natürli- identifiziere ich mich zwar nicht; aber es gehört zur chen Lebensgrundlagen leisten. Ich bin allerdings Vollständigkeit dazu, daß man sie erwähnt. skeptisch, ob dieses Sprichwort die Mehrheit heute (Hermann Bachmaier [SPD]: Nicht immer hat hier erreicht. der DAV recht!) Vielen Dank. Ich will nur einige grundsätzliche Überlegungen, (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke die uns bei dieser Frage wohl anstehen, hier artiku- Liste) lieren. Wir haben in der Strafrechtspolitik im Augen- blick zwei Richtungen. Die einen reden der Entkrimi- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster nalisierung das Wort; denken Sie an die Kommission spricht unser Kollege Horst Eylmann. in Hannover, die auch gerade von Anhängern der liberalen Strafrechtspflege besetzt worden ist. Auf der Horst Eylmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! anderen Seite gibt es überall, einmal hier, einmal dort, Meine sehr verehrten Damen und Herren! Da ich mit die Neigung, das Strafrecht als Instrument gegen dem Begriff der Nationalökologie nicht viel anfangen gesellschaftliche Fehlentwicklungen einzusetzen. kann und die GRÜNEN heute als politische Diskus- Dabei müssen wir uns, wenn wir über die Frage „Was sionspartner ausfallen, weil sie dem Thema offenbar ist richtig? Was ist falsch?" entscheiden wollen, immer so wenig Bedeutung beimessen, daß sie gar nicht erst vor Augen halten: Das Strafrecht muß praktisch h and- kommen, muß ich mich in erster Linie mit dem habbar bleiben. Es nützt überhaupt nichts, Straftatbe- Kollegen Bachmaier auseinandersetzen. stände zu schaffen, mit denen die Praxis nachher nicht (Dr. Karl-Heinz Klejdzinski [SPD]: Das tut arbeiten kann, die auf dem Papier stehenbleiben, die ihm aber gut!) symbolisches Strafrecht sind. — Es macht mir ausgesprochen Freude. — Er hat mit (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. dem Temperament, das ihn auszeichnet und das die sowie des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause [Bo Diskussion in der Regel unterhaltsam macht, und auch nese] [fraktionslos]— Hermann Bachmaier mit der grob vereinfachenden Forschheit, die die [SPD]: Dann müßten Sie unseren Vorschrif Überzeugungskraft seiner Argumente manchmal ten zustimmen! Die sind viel handhabbarer etwas vermindert, den Entwurf als unzureichend als Ihre!) bezeichnet. Er hat gesagt, der Berg habe gekreißt, und ein Mäuslein, ein strafrechtliches Mäuslein, sei her- Das Entscheidende ist der Vollzug. Weil wir beim ausgekommen. Vollzug der Gesetze wegen ihrer Formulierung in einigen Punkten Schwierigkeiten hatten, haben wir (Dr. Karl-Heinz Klejdzinski [SPD]: Da hat er das mit diesem Entwurf ausgebügelt. noch übertrieben!) Außerdem, Herr Kollege Bachmaier: Die Bürger Ich schließe daraus, daß Ihnen ein strafrechtlicher müssen einsehen, daß etwas strafbar ist. Der Gesetz- Elefant lieber gewesen wäre. geber kann zwar diese Einsicht befördern, indem er (Lachen bei der SPD) etwas unter Strafe stellt. Aber das muß für die Bürger Natürlich hat auch das Argument nicht gefehlt, na nachvollziehbar bleiben. Ich glaube, daß wir nichts ja, es seien nur die Wirtschaftskreise gewesen, die das erreichen, wenn wir die Bürger — in welchem Bereich 19178 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Horst Eylmann auch immer — mit einer abgestuften, immer enger Horst Eylmann (CDU/CSU): Nein, ich habe schon werdenden Wand von Strafvorschriften umstellen. den richtigen Entwurf im Auge, Herr Kollege Bach- Wir können nicht jeden unter Strafe stellen, der in maier, irgendeiner Weise, die uns allen ebenfalls sehr leicht (Horst Kubatschka [SPD]: Aber dann zumin passieren kann, einen großen Schaden hervorruft. Das dest falsch gelesen!) haben wir ja im Strafrecht. Kleine Versehen können große Schäden hervorrufen. Deshalb verlagern wir für dessen Verabschiedung ich mich, wie Sie wissen, die strafrechtliche Grenze immer weiter in Richtung sehr eingesetzt habe. Bagatelistrafrecht ist ein weites Bürger, ohne daß ein Schaden hervorgerufen zu sein Feld. Wenn wir das fortführen, dann landen wir bei der braucht. Ich nenne das Stichwort „abstrakte Gefähr- Entkriminalisierung. Man muß mit aller Sorgfalt dungsdelikte". Wenn wir auf diesem Wege -fortfahren, betrachten: Was ist wirklich eine Bagatelle, und was dann entwerten wir nach meiner Auffassung das ist nur dem Anschein nach eine Bagatelle, aber in Strafrecht. Wahrheit der Einstieg in schwerere Straftaten? Das ist Es gibt schon den ironischen Vorschlag, die ein schwieriges Thema, das wir an dieser Stelle nicht angstfreie Daseinsgewißheit unter strafrechtlichen vertiefen sollten. Aber Sie weichen dem Problem Schutz zu stellen. Sozialdemokraten lassen sich aus. besonders leicht vom Impetus allgemeiner Volksbe- (Hermann Bachmaier [SPD]: Fragt sich, wer glückung in Vorschläge hineintreiben, bei denen man ausweicht!) noch von Glück reden kann, wenn sie wirkungslos bleiben. Es geht mir darum, daß Sie in Ihrem Entwurf in vielen Bereichen, was die Strafbarkeit angeht, über unseren (Dr. Hans de With [SPD]: Das ist aber sehr Entwurf massiv hinausgegangen sind. Deshalb wird bösartig!) sich die Kritik, die gerade von der liberalen Straf- In vielen Fällen sind sie aber sogar kontraproduktiv rechtspflege gekommen ist, noch viel mehr gegen und richten mehr Schaden als Nutzen an. Ihren Entwurf richten. (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: So ist er Ich wiederhole — lassen Sie mich das zum Schluß nun einmal, der Eylmann, ganz bösartig!) sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren —: Ein typisches Beispiel ist Ihr Vorschlag, den Sie ja Wir alle neigen manchmal dazu, vorschnell das Straf- mit aller Hartnäckigkeit verfolgen, die Amtsträger- recht ausweiten zu wollen. Ich will mich da gerne haftung einzuführen. Sie würde mehr schaden als einschließen. Ich würde mir jedoch wünschen, daß nützen, wir, wenn wir vor der Frage stehen, ob wir das tun sollten, das nie ohne Skrupel tun. Das S trafrecht ist ein (Jörg van Essen [F.D.P.]: Genauso ist es!) scharfes Schwert. Wir dürfen die Schranken des weil sich die Amtsträger in unseren Behörden bei Strafrechts nicht zu nahe und zu eng an den Bürger jeglicher Neuerung äußerst schwer tun würden — wir heranbringen. Es gibt eine Fülle anderer gesetzlicher erreichen ja mehr Umweltschutz, indem wir immer Möglichkeiten, vielleicht sogar mit größerer Aussicht, wieder neue Produktionsformen erfinden und auch das angestrebte Ziel zu erreichen. zulassen —, den Innovationen zu vertrauen. Das wäre ein Schaden für die Umwelt und kein Nutzen. Vielen Dank, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Eyl- mann, Sie haben sicherlich gemerkt, daß der Kollege Bachmaier eine Zwischenfrage zu stellen wünscht. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Wortmel- dungen liegen mir nicht vor. Horst Eylmann (CDU/CSU): Aber mit großem Ver- Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der gnügen. Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ge- setzes zur Bekämpfung der Umweltkriminalität auf den Drucksachen 12/192 und 12/7300, Buchstabe a. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Wunderbar. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/7331 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsan- Hermann Bachmaier (SPD): Herr Eylmann, wenn trag? — Sie gerade nicht auf die Amtsträgerhaftung zu spre- chen gekommen wären, hätte ich fast gedacht, Sie (Zuruf von der SPD: Das ist die Mehrheit!) redeten vom Entwurf der Koalition. Jetzt die Frage: Ist Wer stimmt dagegen? — Ihrer Aufmerksamkeit entgangen, daß wir in unserem Gesetzentwurf entsprechend der Anregung auch wei- (Zuruf von der SPD: Auszählen! — Norbert ter Juristenkreise — des Juristentages usw. — die Geis [CDU/CSU]: Hammelsprung!) Bagatellverstöße aus dem Strafrecht entfernt und in Das Präsidium kann sich nicht darauf einigen, daß wir das Ordnungswidrigkeitenrecht verlagert haben? eine Mehrheit haben. Deshalb verfahren wir nach Dies zieht sich wie ein roter Faden durch unseren unserer Geschäftsordnung: Wir lassen einen Hammel- Entwurf. Ist Ihnen das entgangen, oder haben Sie sprung stattfinden. vielleicht doch aus Versehen den falschen Entwurf genommen? (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19179

Vizepräsidentin Renate Schmidt Ich bitte Sie, den Raum zu verlassen. Ich bitte die men? — Stimmenthaltungen? — Damit ist diese Schriftführer, die Türen zu besetzen. — Das ist kein Beschlußempfehlung angenommen. Anlaß zur Erheiterung. (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Aus- zählen!) Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 19a — Wir hätten zählen können. Dann wäre es eindeutig bis h und zum Zusatzpunkt 2: gewesen. Sie haben recht, Herr Kollege. Das wäre 19. Überweisungen im vereinfachten Verfahren dann aber wiederum von jemandem angezweifelt a) Erste Beratung des von der Bundesregie- worden, wahrscheinlich von Ihrer Seite, weil die rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Mehrheitsverhältnisse im Moment vergleichsweise zes zu dem Übereinkommen vom 7. No- eindeutig waren. vember 1991 zum Schutz der Alpen (Alpen- (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Ich konvention) weiß, Frau Präsidentin, daß mir diese Kritik — Drucksache 12/7268 — nicht zusteht!) Überweisungsvorschlag: Ich bitte darum, nach unserer Geschäftsordnung zu Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- verfahren. Verlassen Sie bitte den Raum. Ich bitte die heit (federführend) Schriftführer, die Türen zu besetzen. Auswärtiger Ausschuß Sportausschuß Ich darf nun mit der Abstimmung beginnen. Wenn Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus ich es richtig sehe, sind die Schriftführer auf ihren b) Erste Beratung des von der Bundesregie- Plätzen. Ist alles klar? — rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Ich bitte diejenigen, die dem Änderungsantrag der zes zur Aufhebung des Rabattgesetzes und Fraktion der SPD auf Drucksache 12/7331 zustimmen, der Verordnung zur Durchführung des durch die Ja-Tür, die dem Antrag nicht zustimmen, Rabattgesetzes durch die Nein-Tür, und diejenigen, die sich enthalten (Rabattgesetzaufhebungsgesetz — Rabatt- wollen, durch die Tür „Enthaltungen" zu gehen. GaufhG) Die Abstimmung ist eröffnet. — Drucksache 12/7271 — Wünscht noch jemand abzustimmen? — Ich darf Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Wirtschaft (federführend) dann bitten, daß ich von den Schriftführern gegebe- Finanzausschuß nenfalls eine Nachricht über das Ergebnis be- Rechtsausschuß komme. Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Ich bitte, die Türen zu schließen und schließe c) Erste Beratung des von der Bundesregie- hiermit die Abstimmung. rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Ich darf bitten, mich mit den vielfältig geäußerten zes über die Errichtung einer Bundesan- Wünchen, daß es nicht mehr Hammelsprung heißen stalt für Landwirtschaft und Ernährung und zur Änderung von Vorschriften auf den solle, zu verschonen oder einen anderen Vorschlag zu Gebieten der Land- und Ernährungswirt- machen. schaft (Unruhe — Heiterkeit) — Drucksache 12/7133 — Ich darf das Abstimmungsergebnis vorlesen. An der Überweisungsvorschlag: Abstimmung haben 361 Kolleginnen und Kollegen Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten teilgenommen. Mit Ja haben 131 gestimmt, mit Nein (federführend) 230. Enthalten hat sich niemand. Damit ist dieser Ausschuß für Gesundheit Änderungsantrag abgelehnt. Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO Erste Beratung des von der Bundesregie- Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in d) rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Stimment- zes zu dem Abkommen vom 5. April 1993 haltungen? — Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter zwischen der Bundesrepublik Deutschland Beratung angenommen. und der Republik Lettland über den Luft- verkehr Wir kommen zur — Drucksache 12/7189 — dritten Beratung Überweisungsvorschlag: und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ausschuß für Verkehr Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — e) Erste Beratung des von der Bundesregie- Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Der rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung mit deutli- zes zu dem Übereinkommen vom 17. März cher Mehrheit angenommen. 1992 zum Schutz und zur Nutzung grenz- Der Rechtsausschuß empfiehlt unter dem Buchsta- überschreitender Wasserläufe und interna- ben b seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache tionaler Seen (Gesetz zu dem Übereinkom- 12/7300, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf men zum Schutz grenzüberschreitender Drucksache 12/376 für erledigt zu erklären. Wer Wasserläufe) stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenstim- — Drucksache 12/7190 — 19180 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Vizepräsidentin Renate Schmidt Überweisungsvorschlag: herumbrüllen muß, sondern es etwas leiser sagen Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- kann, und, soweit Sie hier wegmüssen, den Saal leise heit (federführend) verlassen. Ausschuß für Gesundheit Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 20 a bis 20 d f) Beratung des Antrags der Gruppe der PDS/ auf: Linke Liste Änderung des Bundesentschädigungsge- 20. Abschließende Beratungen ohne Aussprache setzes a) Zweite und dritte Beratung des von der — Drucksache 12/7256 — Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes Überweisungsvorschlag: zur Übernahme der Beamten und Arbeit- Rechtsausschuß (federführend) nehmer der Bundesanstalt für Flugsiche- Innenausschuß rung Finanzausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — Drucksache 12/6372 — (Erste Beratung 202. Sitzung) g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Mehl, Michael Müller (Düsseldorf), aa) Beschlußempfehlung und Be richt des Friedhelm Julius Beucher, weiterer Abge- Ausschusses für Verkehr (16. Aus- ordneter und der Fraktion der SPD schuß) Erhaltung der biologischen Vielfalt und — Drucksache 12/7085 — Schutz gefährdeter Tropenholzarten Berichterstattung: — Drucksache 12/6420 — Abgeordneter Lothar Ibrügger bb) Bericht des Haushaltsausschusses Überweisungsvorschlag: (8. Ausschuß) gemäß § 6 der Ge- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit (federführend) schäftsordnung Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten — Drucksache 12/7200 — Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Berichterstattung: h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Abgeordnete Werner Zywietz Herbert Werner (Ulm), , Wilfried Bohlsen Claus Jäger und weiterer Abgeordneter Ernst Waltemathe Ausbau der sozialpolitischen Maßnahmen b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung zur Förderung der Bereitschaft zur An- des von der Bundesregierung eingebrach- nahme ungeborener Kinder in Konfliktla- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Über- gen und zur Förderung der Familie einkommen vom 21. Dezember 1979 über — Drucksache 12/7098 — die Anerkennung von Studien, Diplomen und Graden im Hochschulbereich in den Überweisungsvorschlag: Staaten der europäischen Region Sonderausschuß Schutz des ungeborenen Lebens (feder- führend) — Drucksache 12/4077 — Rechtsausschuß (Erste Beratung 134. Sitzung) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie und Senioren Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- Ausschuß für Frauen und Jugend wärtigen Ausschusses (3. Ausschuß) Ausschuß für Gesundheit — Drucksache 12/7217 — Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Dorothee Wilms ZP2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Dr. Verfahren Ulrich Irmer (Ergänzung zu TOP 19) c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Beratung des Antrags des Bundesministeriums Berichts des Ausschusses für Frauen und der Finanzen Jugend (14. Ausschuß) zu der Unterrichtung Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundes- durch die Bundesregierung haushaltsordnung zur Veräußerung des bun- Zweiter Bericht der Bundesregierung an deseigenen Grundstückes in München an der den Deutschen Bundestag über die Gleich- Heidemannstraße stellungsstellen in Bund, Ländern und — Drucksache 12/7146 — Kommunen — Drucksachen 12/5588, 12/7066 — Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Maria Böhmer Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen Dr. Marliese Dobberthien an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Es d) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- gibt keine Einwände. Dann ist es so beschlossen. tionsausschusses (2. Ausschuß) Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, würden Sie es Sammelübersicht 147 zu Petitionen mir ein bißchen erleichtern, damit ich hier nicht — Drucksache 12/7254 — Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19181

Vizepräsidentin Renate Schmidt Wir kommen als erstes zum Tagesordnungspunkt wasserkatastrophe eine Soforthilfe von jeweils 20 a und damit zur Abstimmung — ich meine mit der 10 Millionen DM zur Verfügung gestellt hat. Diese Bitte um etwas weniger Lautstärke auch die Regie- Hilfe soll in Sachsen-Anhalt insbesondere für ergän- rungsbank — auf den Drucksachen 12/6372 und zende Schwerpunktmaßnahmen in den Bereichen 12/7085. Landwirtschaft und Verkehr eingesetzt werden. In Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Thüringen sollen die Mittel für kommunale Straßen, Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Hand- Sportanlagen und die Landwirtschaft mit dem zeichen. — Gegenstimmen? — Stimmenthaltungen? Schwerpunkt Gartenbau verwendet werden. — Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung Die Bundesregierung hat den betroffenen Ländern einstimmig bei wenigen Enthaltungen angenom- zu den Einzelheiten Gespräche angeboten. Die Län- men. - der haben den Vorschlag aufgegriffen. Die Gespräche Wir kommen zur werden heute nachmittag fortgesetzt. dritten Beratung Hinzuweisen ist auch darauf, daß auf Grund einer mit dem Bundesminister der Finanzen getroffenen und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Rahmenregelung die obersten Finanzbehörden der Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Länder die Möglichkeit haben, den Geschädigten bei Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Naturkatastrophen durch steuerliche Maßnahmen zur Damit ist dieser Gesetzentwurf in dritter Beratung Vermeidung unbilliger Härten entgegenzukommen. einstimmig bei einer Enthaltung angenommen. Ferner besteht für gewerbliche Bet riebe die Möglich- Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 20c, keit, Investitionszuschüsse im Rahmen der Gemein- Drucksachen 12/5588 und 12/7066. schaftsaufgabe „Regionale Wirtschaftsförderung" Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? — Gegen- und Überbrückungskredite aus dem Mittelstandspro- stimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist die gramm der Kreditanstalt für Wiederaufbau für diese Beschlußempfehlung angenommen. Zwecke einzusetzen. Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 20 d Der Bund hilft den be troffenen Regionen auch auf der Drucksache 12/7254. Wer stimmt für die durch den tatkräftigen Einsatz von Technischem Beschlußempfehlung ? — Gegenprobe? — Stimment- Hilfswerk und Bundeswehr. Seit dem 13. April sind in haltungen? — Damit ist die Beschlußempfehlung bei den Überschwemmungsgebieten Ortsverbände des wenigen Stimmenthaltungen angenommen. Technischen Hilfswerkes aus den betroffenen Bun- Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 20 b desländern sowie aus Niedersachsen mit über 1 000 auf der Drucksache 12/4077. Der Auswärtige Aus- Helfern und umfangreicher technischer Ausstattung schuß empfiehlt auf Drucksache 12/7217, dem im Einsatz. Schwerpunkt der Einsätze ist die Region Gesetzentwurf unter Berücksichtigung der Anlagen 2 Staßfurt. In enger Zusammenarbeit mit Feuerwehr, und 3 zuzustimmen. Bei den Anlagen 2 und 3 handelt Bundeswehr und Bevölkerung wurden insbesondere es sich um Vorbehalte, die bei der Hinterlegung der Hochwasserdämme errichtet und gesichert. Ratifikationsurkunde erklärt werden sollen. Ingesamt möchte die Bundesregierung all denen Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- danken, die sich in vorbildlicher Weise für die men wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? Gemeinschaft engagiert und dazu beigetragen haben, — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Gesetzent- daß Leib und Gut vieler Mitbürger gesichert wur- wurf einstimmig ohne Enthaltungen angenommen. den. (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) los]: Mit einer Gegenstimme!) — Entschuldigung, das habe ich nicht gesehen, Herr Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Frau Kollege. Damit ist dieser Gesetzentwurf bei einer Kollegin Wollenberger. Gegenstimme angenommen. Vera Wollenberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 1 auf: Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse vor, wel- che Auswirkungen das Hochwasser auf die Landwirt- Fragestunde schaft im Thüringer Becken hatte, und gibt es spe- — Drucksachen 12/7295, 12/7327 — zielle Hilfe für die Landwirte dort? Wir kommen als erstes zu der Dringlichen Frage der Frau Kollegin Vera Wollenberger: Friedrich Bohl, Bundesminister: Frau Kollegin, ich Treffen Pressemeldungen vom 20. April 1994 zu, wonach die sagte Ihnen schon, daß das Land Thüringen von den Bundesregierung für die durch die Hochwasserkatastrophe in 10 Millionen DM, die wir zur Verfügung stellen Thüringen und Sachsen-Anhalt entstandenen Schäden 20 Mio. wollen, einen Großteil für die Landwirtschaft und die DM zur Verfügung stellen will, und beabsichtigt die Bundesre- gierung, angesichts der besonderen Lage in den neuen Ländern, laufenden Programme des Freistaates Thüringen ein- darüber hinaus noch weitere Mittel unverzüglich zur Verfügung setzen will. Darüber hinaus hat mich der Landwirt- zu stellen oder andere Arten der Soforthilfe zu leisten? schaftsminister dahin gehend informiert, daß er sich auch bemühen wird, insoweit auch Programme der Friedrich Bohl, Bundesminister für besondere Auf- EG zu belegen, damit den Landwirten dort geholfen gaben und Chef des Bundeskanzleramtes: Frau Präsi- werden kann. dentin, ich darf die Frage wie folgt beantworten: Es ist Generell aber ist es heute noch schwer, die Schäden zutreffend, daß die Bundesregierung den Ländern insgesamt oder auch individuell abzuschätzen. Ich Thüringen und Sachsen-Anhalt angesichts der Hoch- war gestern selbst in der Region Erfurt und habe mir 19182 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Bundesminister Friedrich Bohl das dort angeschaut. Dadurch, daß das Wasser noch sen haben, möchte ich Ihnen folgendes sagen: Nach nicht abgeflossen ist, ist es den betroffenen Landwir- der grundgesetzlichen Ordnung hat die Bundesregie- ten noch gar nicht möglich zu sagen, wieweit Auswa- rung ja keine Kompetenz. Wo keine Kompetenz schungen stattgefunden haben, wieweit das Saatgut vorhanden ist, da ist ein Finanzierungsverbot gege- verfault ist und vieles andere mehr. Es ist im Moment ben. offensichtlich nicht möglich, einen umfassenden Wie auch mein gestriger Besuch in den Hochwas- Überblick über die Schäden zu haben. sergebieten gezeigt hat, ist doch folgendes festzustel- len: Wir haben dort noch keine so eingefahrene, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nein, keine ausgebaute Verwaltung, keine Strukturen, wie das in zweite Zusatzfrage. Aber jetzt hat der Kollege Brecht den alten Ländern der Fall ist. Der Einsatz von THW, eine Zusatzfrage. - Bundeswehr und Feuerwehr hat natürlich noch Koor- dinierungsbedarf. Es ist unverkennbar, daß wir noch Dr. Eberhard Brecht (SPD): Herr Kollege Bohl, wie keine eingespielten Strukturen haben. Ich habe fest- erklären Sie sich die Tatsache, daß aus Kreisen der stellen müssen, daß es mit der Meldung der Hochwas- Regierung anfangs eine andere Zahl als 10 Millionen serpegel offensichtlich Probleme gegeben hat. sickerte, und diese Zahl 20 Millionen dann am 18. April auch über die Tagesschau ausgestrahlt Wenn Sie mit Betroffenen sprechen, wie Sie es wurde? gestern getan haben, werden Sie feststellen, daß es für die Betroffenen natürlich ein Unterschied ist, ob sie Friedrich Bohl, Bundesminister: Das kann eigentlich seit 45 Jahren oder länger einen Gewerbebetrieb nur ein Mißverständnis sein. Die Bundesregierung hat haben oder ob sie gerade eine solche Existenzgrün- am Montag auf Wunsch des Herrn Bundeskanzlers dung hinter sich haben und nun ihre Existenz durch entschieden, daß sowohl für den Freistaat Thüringen das Hochwasser einfach weggeschwemmt wurde. als auch für das Land Sachsen-Anhalt jeweils 10 Mil- Herr Kollege, vor diesem Hintergrund kann m an, lionen als Soforthilfe zur Verfügung gestellt werden. glaube ich, durchaus sagen, daß eine differenzierte Das sind also zusammen 20 Millionen DM. Es mag Betrachtung angebracht ist. Deshalb sollten wir zu sein, daß es da in der Kommunikation irgendwie dieser Soforthilfe fähig sein. Mißverständnisse gegeben hat. Aber die Bundesre- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gierung hat da immer eine eindeutige und klare Position gehabt. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine Zusatzfrage des Kollegen Matschie. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Körper. Christoph Matschie (SPD): Herr Minister Bohl, Sie selbst haben gesagt, daß sich die Schadenshöhe noch Fritz Rudolf Körper (SPD): Herr Bundesminister, mich würde einmal interessieren, nach welchen Kri- nicht voll abschätzen läßt. Wäre die Bundesregierung terien die Bundesregierung sich bei dem Hochwasser bereit, die Mittel, die zur Verfügung gestellt werden, in Thüringen und Sachsen-Anhalt zu dieser Sofort- noch zu erhöhen, wenn sich erweist, daß die bisher hilfe mit jeweils 10 Millionen entschlossen hat, neben vorgesehenen unzureichend sind? den von Ihnen auch genannten steuerlichen Erleich- Wird in dem Zusammenhang eventuell auch daran terungen und somit Hilfen. Ich möchte Sie daran gedacht, da unterstützend einzugreifen, wo Schäden erinnern, als wir die Bundesregierung aus der Sicht nicht über Versicherungsleistungen abgedeckt wer- des Landes Rheinland-Pfalz bezüglich des Dezember den können, beispielsweise auch im Bereich von Hochwassers mit verheerenden Schäden auf eine Hauseigentum? sogenannte Soforthilfe, wie sie jetzt praktiziert wird, angesprochen und um sie gebeten haben, hat die Friedrich Bohl, Bundesminister: Herr Kollege, wir Bundesregierung das abgelehnt. Ich weiß nicht, ob stehen mit den Ländern in sehr intensiven Gesprä- das dem Gleichheitsgebot und der Gleichbehandlung chen. Ich habe in diesen Minuten die Chefs der der Bundesländer entspricht. Staatskanzleien bei mir im Bundeskanzleramt zu (Widerspruch und Zurufe von der CDU/ Besuch. Wir bereden alles. Die Bundesregierung wird CSU) sicherlich versuchen, auch die Schäden, die an Bun- deseinrichtungen entstanden sind — also beispiels- Friedrich Bohl, Bundesminister: Herr Kollege, ich weise an den Bundesfernstraßen —, möglichst vorran- darf Ihnen dazu wie folgt antworten: Ich habe im Laufe gig und zügig zu beheben, d. h. die Bundesregierung des Montags fernmündlich Kontakt sowohl mit der wird sich auch hier bemühen, in Vorleistung zu Staatskanzlei in Thüringen als auch mit der Staats- treten. kanzlei in Sachsen-Anhalt gehabt. Auf Grund der dort Sie sehen aber schon angesichts der Frage Ihres entwickelten Überlegungen bezüglich der jeweiligen Kollegen zuvor, wie vermint das Gelände ist. Wenn Landeshilfe war ich der Auffassung, daß es richtig sei, die Bundesregierung jetzt mehr tun wird, könnte das dem Herrn Bundeskanzler zu empfehlen, jeweils natürlich als Präjudiz aufgefaßt werden, auch in 10 Millionen DM zu nennen. Ich gebe gerne zu, daß anderen Ländern noch etwas zu tun, vielleicht sogar ich das jetzt nicht exakt auf Heller und Pfennig noch ex tunc zu tun. Das veranlaßt mich zu allerhöch- begründen kann, aber nach pflichtgemäßem Ermes- ster Zurückhaltung. Ich kann da also nichts in Aussicht sen war das, glaube ich, eine adäquate Zahl. Was Ihre stellen. Allerdings ist die Bundesregierung immer auf Frage angeht, warum wir in Rheinland-Pfalz nichts der Seite der Menschen. Wir werden zu jeder Zeit gemacht und uns hier zu dieser Soforthilfe entschlos- prüfen, ob aus der Not heraus noch etwas erforderlich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19183

Bundesminister Friedrich Bohl ist. Da wollen wir uns keineswegs grundsätzlich rungen gesagt, daß seitens der Bundesregierung verweigern. Ich möchte aber nichts in Aussicht stellen keine Kompetenz und damit eigentlich auch ein und falsche Hoffnungen wecken. In erster Linie sind Finanzierungsverbot gegeben ist. Ich frage Sie: Aus hier die Länder gefordert. Da bitte ich Sie um Ver- welchem Haushaltstitel werden diese 20 Millionen ständnis. DM bereitgestellt?

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächstes folgt Friedrich Bohl, Bundesminister: Diese Haushalts- die Zusatzfrage des Kollegen Büttner. mittel werden aus den allgemeinen Finanzmitteln zur Verfügung gestellt. Es wird sicherlich auch im Haus- Hartmut Büttner (Schönebeck) (CDU/CSU): Herr haltsausschuß — da bin ich ganz sicher — eine Bundesminister, ist denn sichergestellt, daß gemein- Unterstützung für diese besondere Finanzierung sam mit den Ländern die Auszahlung der Beträge geben. relativ schnell und unbürokratisch erfolgen wird? Sind der Bundesregierung schon einige Folgeschä- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun eine Zusatz- den im Bereich Staßfurt bekannt? Denn bei Ihrem frage des Kollegen Schwalbe. gestrigen Besuch werden Sie festgestellt haben, daß da eine besondere geologische Situation gegeben ist: Clemens Schwalbe (CDU/CSU): Herr Bundesmini- Die Stadt sinkt bekanntlich Jahr für Jahr um zwei ster, ich hatte ja Gelegenheit, gestern mit Ihnen die Zentimeter; sie ist ausgehöhlt wie Schweizer Käse. Hochwassergebiete zu besuchen, und konnte mich Der zusätzliche Wassereinbruch könnte bedeuten, dabei davon überzeugen, daß insbesondere das Tech- daß weitere Senkungen eingetreten sind. Gibt es dazu nische Hilfswerk aus den alten Bundesländern vor Ort schon erste Erkenntnisse? sehr aktiv war, weil ja in Sachsen-Anhalt und Thürin- gen die Hilfsorganisationen noch nicht so aufgebaut sind. Ich frage Sie: Sieht die Bundesregierung Mög- Friedrich Bohl, Bundesminister: Nein, die gibt es noch nicht. Auch ich habe dort zur Kenntnis nehmen lichkeiten — auch auf Grund einer Auswertung der müssen, daß durch den Bergbau — wenn ich das so Hochwasserkatastrophe —, das Technische Hilfswerk verkürzt formulieren darf — ganz offensichtlich weiter zu unterstützen, so daß dort entsprechende besondere Probleme in dieser Region vorhanden sind. Mittel für den Aufbau bereitstehen? Darüber wird man sicherlich gemeinsam mit dem Bundesminister: Ja, Herr Kollege Land reden müssen. Friedrich Bohl, Schwalbe, es ist völlig richtig: Ich hatte gestern Natürlich brauchen wir diese Bestandsaufnahme ebenfalls Gelegenheit, mit der Landesvorsitzenden jetzt einfach. Wenn die Bestandsaufnahme vorliegt, des THW von Sachsen-Anhalt darüber zu sprechen. dann wird man sicherlich weitersehen. Auf alle Fälle Die Bundesregierung wird sicherlich — vertreten wird unbürokratisch ausgezahlt. Die Landesregie- durch den Bundesinnenminister — hier nach Mitteln rung von Sachsen-Anhalt hat ja noch ein besonderes und Wegen suchen, um das THW auch in den neuen Programm aufgelegt, in dessen Rahmen die Landräte Ländern auf den Stand zu bringen, daß solchen u.nd Oberbürgermeister und Bürgermeister einen Herausforderungen begegnet werden kann. Die tech- besonderen Betrag zur Verfügung haben, den sie nische Ausstattung des THW ist ja in der Tat derart, ohne Antragstellung auszahlen können. Ich glaube, daß damit dort beachtliche Leistungen möglich die Landesregierung von Sachsen-Anhalt hat hier sind. sehr weitsichtig gehandelt. Ministerpräsident Berg- ner, mit dem ich darüber gesprochen habe, wird Ich will noch einmal, an dieser Stelle betonen, daß sicherlich alles tun, um eine unbürokratische Auszah- bei meinen Gesprächen großer Respekt vor der Lei- lung zu ermöglichen. stung der Bundeswehr sichtbar wurde. Allein in der Region Staßfurt sind 800 Bundeswehrsoldaten — bei Ähnliches gilt für Thüringen. Do rt konnte ich mit insgesamt 2000 Helfern in dieser Region — im Ein- Innenminister Schuster und auch mit Ministerpräsi- satz, dent Vogel entsprechende Klarstellungen vorneh- men. Dort wird ab Montag die Antragstellung erfolgen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — können. Die Bevölkerung des Freistaates Thüringen Zuruf von der CDU/CSU: Das sind Aufgaben ist gestern durch eine Regierungserklärung des zur inneren Sicherheit!) Innenministers über das informiert worden, was Sache und alle Beteiligten haben herzlich gedankt. ist und welche prozeduralen Dinge zu beachten sind, so daß ich sagen möchte: Die beiden Landesregierun- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun eine weitere gen haben eigentlich in vorbildlicher Weise auf diese Zusatzfrage, diesmal der Kollegin Weyel. Herausforderung, die sicherlich ungewohnt war und ist, reagiert. Gudrun Weyel (SPD): Herr Minister, damit nicht ein (Zuruf von der SPD: Sie haben schon immer falscher Eindruck entsteht: Wir begrüßen bei der Hochwasser gehabt!) Größe der Katastrophe ausdrücklich, daß in den beiden Ländern geholfen wird. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächstes eine (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Zusatzfrage des Kollegen Hampel. F.D.P.) Aber ich muß in bezug auf die Begründung, die Sie Manfred Hampel (SPD): Herr Bundesminister, ich eben in der Antwort auf die Frage des Kollegen Körper freue mich, daß die Bundesregierung so schnell bereit gegeben haben, doch noch einmal nachfragen. Sie war, Hilfe zu leisten. Sie haben aber in Ihren Ausfüh- haben die unterschiedliche Behandlung der alten und 19184 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Gudrun Weyel der neuen Länder damit begründet, daß der Bund im der anderen Rettungsorganisationen, in vorbildlicher Falle von Rheinland-Pfalz keine Kompetenz hatte. Weise eingesetzt und im Grunde genommen rund um Wollen Sie damit sagen, daß der Bund in den neuen die Uhr Dienst getan haben. Ich konnte z. B. mit den Ländern noch Kompetenz hat? Soldaten der Bundeswehr sprechen, die — ich hoffe, (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch pein ich werde jetzt nicht mißverstanden — sogar sehr froh lich! Peinlich!) waren, nicht Kasernenbetrieb zu erleben, sondern vor einer echten Herausforderung zu stehen, die sich Und zweitens: Bleiben Sie bei der Aussage, daß die eigentlich richtig mit Freude dieser körperlichen Einrichtungen der Selbsthilfe in den neuen Ländern Anstrengung unterzogen haben und die dafür dank- unfähiger sind als in den alten? Ich möchte das doch bar waren. bestreiten. - Ich kann auch sagen, daß sich die Bevölkerung (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch nicht — das habe ich von allen Bürgermeistern gehört, mit gesagt worden!) denen ich gesprochen habe — vorbildlich verhalten — Doch, genau das hat er gesagt. hat, daß der Gemeinschaftsgeist, der dabei sichtbar wurde, allgemein gelobt wurde. Vor diesem Hinter- Friedrich Bohl, Bundesminister: Frau Kollegin, ich grund — ich sage es noch einmal — kann man nur bin sehr dankbar, zum einen dafür, daß Sie offensicht- voller Respekt davon sprechen, was die Menschen in lich auch für Ihre Fraktion betonen, daß Sie das diesen schweren Tagen in Thüringen und Sachsen unterstützen, was die Bundesregierung getan hat. Das Anhalt bewältigt haben. war sicherlich eine wichtige und wertvolle Klarstel- lung. Das zweite: Ich muß Ihnen zugeben: Nach Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun eine Zusatz- Prüfung der Bundesregierung haben wir für diese frage des Kollegen Kubatschka. Fälle eigentlich keine Finanzierungskompetenz. Das ist in der Tat richtig. Aber die Bundesregierung setzt Horst Kubatschka (SPD): Herr Minister, Sie haben darauf, daß der Haushaltsausschuß des Bundestages vorhin vom lobenswerten Einsatz des THW gespro- diese Vorgehensweise der Bundesregierung billigt. chen. Die Bundesregierung erarbeitet ein Konzept, Wenn ein politischer Konsens da ist, sollte es möglich das den dramatischen Abbau des THW vorgibt. Die sein, so etwas zu tun. Ehrenamtlichen fühlen sich übergangen. Zieht die Was den letzten Teil Ihrer Frage angeht, kann ich Bundesregierung aus diesen Einsätzen, die so vorbild- eigentlich nur mißverstanden worden sein. Schauen lich waren, Konsequenzen für das Konzept des THW Sie, es ist doch ganz klar: Wenn Sie z. B. in der Bonner in der Zukunft? Region oder auch in Ihrer Heimatregion, Frau Kolle- gin Weyel, das Technische Hilfswerk, die Feuerwehr Friedrich Bohl, Bundesminister: Die Bundesregie- und viele andere Hilfseinrichtungen seit vielen Jahren rung ist immer in der Lage, auf neue Gegebenheiten bei ähnlichen Anlässen im Einsatz sehen, wenn Übun- angemessen zu reagieren. gen durchgeführt werden, wenn seit vielen Jahren (Beifall bei der CDU/CSU — Freimut Duve Katastrophenschutzübungen — ich war ja nun auch [SPD]: Das ist die radikale Aufrichtigkeit! — jahrzehntelang in der Kommunalpolitik tätig — statt- Horst Kubatschka [SPD]: Wir schicken die gefunden haben, ist das doch ein eingespielteres THWler ins Haus, da werden Sie sich wun Verfahren, als wenn man in den neuen Ländern, wo dern!) wir das alles erst zum erstenmal gehabt haben, eine solche Herausforderung bestehen soll. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun eine Zusatz- Das hat doch nichts mit der Fähigkeit oder mit der frage der Kollegin Hoth. Leistungsbereitschaft der Menschen vor Ort zu tun, sondern schlicht und einfach damit, daß Übung den Dr. Sigrid Hoth (SPD): Herr Minister, ich möchte Meister macht. Das muß man doch in Rechnung ausdrücklich begrüßen, daß die Bundesregierung stellen. Weil wir das in Rechnung stellen, sind wir der trotz der angespannten Haushaltslage direkte finan- Auffassung, daß wir besondere Hilfen seitens des zielle Mittel für die betroffenen Bürger in den neuen Bundes geben sollten. Bundesländern bereitgestellt hat, denn, liebe Kolle- ginnen und Kollegen, es müßte Ihnen allen klar sein, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine Zusatzfrage daß wegen des nach wie vor geringeren Einkommens- des Kollegen Kronberg. niveaus in den neuen Bundesländern auch steuerliche Maßnahmen nur ganz bedingt greifen. Heinz-Jürgen Kronberg (CDU/CSU): Sehr geehrter Genauso wie es notwendig ist, direkte finanzielle Herr Kollege Bohl, mich würde Ihr Eindruck von Ihrem Hilfen bereitzustellen, ist es aber auch notwendig, gestrigen Besuch bei uns im Wahlkreis zusammen mit dies möglichst schnell zu tun. dem Kollegen Otto und mir interessieren, und zwar in Deshalb hat sich die F.D.P. bereits in der gestrigen bezug auf den Einsatz der Bundeswehr und des Sitzung des Haushaltsausschusses nach einer bera- Technischen Hilfswerks. Ich meine nicht die Koordi- tungsreifen Vorlage erkundigt, die aber gestern nierung, sondern die Einsatzbereitschaft dieser Ein- abend noch nicht vorgelegt werden konnte. heiten. Meine Frage deshalb an den Minister: Wann rech- nen Sie damit, daß eine Vorlage in den Haushaltsaus- Friedrich Bohl, Bundesminister: Ich habe schon in schuß kommen wird und wir darüber im Haushalts- anderem Zusammenhang anzudeuten versucht, daß ausschuß abschließend, so hoffe ich, beraten kön- sich die Soldaten und die Mitarbeiter des THW, auch nen? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19185

Friedrich Bohl, Bundesminister: Frau Präsidentin! Friedrich Bohl, Bundesminister: Herr Kollege Meine Damen und Herren! Ich bin natürlich jetzt nicht Klejdzinski, es gibt eine Rahmenvereinbarung des in der Lage, einen exakten Termin sozusagen aus dem Bundesfinanzministeriums mit allen oberen Finanz- Handgelenk heraus zu nennen. Aber ich habe mich in behörden in den Ländern, die das beinhaltet, was Sie diesen Sekunden mit dem Finanzministerium abge- in dem Papier — ich vermute einmal, daß Sie das stimmt: Wir werden es unverzüglich tun. „Unverzüg- entsprechende Papier in der Hand halten — wieder- lich" wird bedeuten, so denke ich, daß es noch nicht in finden. Das ist aber nicht etwas, was nun gesetzgebe- der nächsten Sitzungswoche sein kann; aber im Mai risch neu geregelt werden müßte, sondern ist geltende wird es vorgelegt. Rechtslage respektive entsprechende Interpretation und Auslegung der bestehenden Rechtslage. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun eine Zusatz- frage des Kollegen Lambinus. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- fragen zu dieser Frage liegen mir nicht vor. Weitere Uwe Lambinus (SPD): Herr Minister, ich möchte auf Fragen aus diesem Geschäftsbereich gibt es ebenfalls die Ursprungsfrage zurückkommen, bei der es um die nicht. Herzlichen Dank, Herr Bundesminister. Gleichbehandlung der einzelnen Bundesländer ging. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi- Ich darf Sie deshalb, Bezug nehmend auf Ihr Schrei- nisteriums für Raumordnung, Bauwesen und Städte- ben vom 14. Januar an den Kollege Körper, in dem Sie bau. Zur Beantwortung der Fragen steht Frau Bundes- schreiben, daß der Bundesminister der Finanzen am ministerin Dr. Irmgard Schwaetzer zur Verfügung. 27. Dezember 1993 breit angelegte Steuererleich- terungen, z. B. Sonderabschreibungen, steuerfreie Wir kommen zur Frage 41 des Kollegen Dr. Walter Rücklagen, Reduzierung der Einkommensteuer für Hitschler: Landwirte usw., für Rheinland-Pfalz angekündigt hat, Sieht die Bundesregierung weitere Möglichkeiten, die aus fragen, was aus dieser Ankündigung wurde. einer städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme resultierenden nachteiligen Auswirkungen auf die persönlichen Lebensum- stände betroffener Land- oder Forstwirte abzumildern? Friedrich Bohl, Bundesminister: Bezüglich Rhein- land-Pfalz? Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin für Uwe Lambinus (SPD): Ja. Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Herr Kol- lege, das Verfahren zur Vorbereitung und Durchfüh- Friedrich Bohl, Bundesminister: Da gilt sie weiter- rung städtebaulicher Entwicklungsmaßnahmen sieht hin. für die betroffenen Land- und Forstwirte eine Reihe von Mitwirkungs- und Beteiligungsrechten sowie Hil- Uwe Lambinus (SPD): Sie ist nur angekündigt. fen und Rechtsansprüche vor, die nachteilige Auswir- kungen auf die persönlichen Lebensumstände und Friedrich Bohl, Bundesminister: Nein. Herr Kollege, die wirtschaftliche Zukunft von betroffenen Land- es ist ganz eindeutig, daß der Bundesfinanzminister und Forstwirten vermeiden helfen und abmildern. mit der Erklärung vom 27. Dezember die geltende So soll die Entwicklungsmaßnahme möglichst früh- Rechtslage dargestellt hat. Aus der geltenden Rechts- zeitig mit allen Betroffenen erörtert werden, damit sie lage ergeben sich die steuerlichen Begünstigungen zur Mitwirkung gewonnen werden. Die Gemeinden oder Möglichkeiten, die dort niedergelegt wurden. Im sind gesetzlich verpflichtet, die Auswirkungen der Rahmen dieser Möglichkeiten können die Geschädig- Entwicklungsmaßnahme mit den Betroffenen zu erör- ten sozusagen ihre Interessen wahrnehmen. tern, insbesondere wie nachteilige Auswirkungen Das unterscheidet uns in der Tat von der Situation in vermieden oder abgemildert werden können. Die Sachsen-Anhalt und in Thüringen, wo die Menschen Gemeinde hat den Betroffenen auch bei ihren Bemü- auf Grund der Besonderheiten, die jetzt nicht noch hungen, nachteilige Auswirkungen zu vermeiden einmal dargelegt werden müssen, weniger oder gar oder abzumildern, zu helfen. keine Steuern zahlen und damit natürlich steuerliche Besonders hinzuweisen ist auch auf die Verpflich- Vergünstigungen auch nicht in Anspruch nehmen tung der Gemeinde, bei der Inanspruchnahme land- können, so daß wir dort mehr Direkttransfer brauchen, wirtschaftlicher oder forstwirtschaftlicher Flächen als das in den alten Ländern der Fall ist. geeignetes Ersatzland zur Verfügung zu stellen, und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zwar auch aus gemeindeeigenen Beständen. Dane- ben ist bei Enteignungen eine Entschädigung auf Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere Antrag des Eigentümers in geeignetem Ersatzland Zusatzfrage des Kollegen Klejdzinski. zwingend vorgeschrieben, wenn es zur Sicherung (Zuruf von der CDU/CSU: Das muß nicht seiner Berufstätigkeit, seiner Erwerbstätigkeit oder sein!) zur Erfüllung der ihm wesensgemäß obliegenden Aufgaben erforderlich ist. Dr. Karl-Heinz Klejdzinski (SPD): Es muß nicht sein, Die Gemeinde kann auch die Einleitung eines aber es kann sein. Flurbereinigungsverfahrens beantragen. Schließlich Ich frage jetzt noch einmal nach. Wir wollen uns können von städtebaulichen Entwicklungsmaßnah- nicht darüber streiten, Herr Minister, was angekün- men betroffene Land- und Forstwirte die Übernahme digt ist. Meine Frage lautet: Gibt es einen Erlaß der der gesamten Betriebsgrundstücke verlangen, wenn zuständigen Oberfinanzdirektion, der eindeutig er- es ihnen aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr klärt, die und die steuerlichen Erleichterungen kön- zugemutetu behal- werden kann, die Grundstücke z nen in Anspruch genommen werden? ten und den Betrieb weiterzuführen. 19186 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer Angesichts dieser zahlreichen im Gesetz vorgese- Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr henen Möglichkeiten sieht die Bundesregierung Kollege, durch die Regelung des § 137 Baugesetzbuch zusätzliche gesetzliche Maßnahmen oder sonstige wird eine sehr frühzeitige Beteiligung der betroffe- Instrumente als nicht notwendig an. nen Privaten sichergestellt. Die Entwicklungsmaß- nahme soll mit den Eigentümern, Mietern, Pächtern Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine Zusatzfrage, und sonstigen Be troffenen möglichst frühzeitig erör- Herr Kollege Hitschler. tert werden. Dies beinhaltet, sowohl deren Mitwir- kungsbereitschaft anzuregen als auch sie im Rahmen Dr. Walter Hitschler (F.D.P.): Frau Minister, ist die des Möglichen zu beraten. Bundesregierung bereit, über Modelle oder Konstruk- Betroffen sind vor allem die Eigentümer der im tionen nachzudenken, diejenigen Landwirte,- denen Entwicklungsbereich gelegenen Grundstücke, da in durch eine solche städtebauliche Entwicklungsmaß- förmlich festgelegten Entwicklungsbereichen die Ge- nahme die Erwerbsgrundlage auf Dauer entzogen meinde grundsätzlich alle Grundstücke zu erwerben wird, in die Investitionstätigkeit der Baumaßnahme hat. einzubeziehen und ihnen die Möglichkeit zu geben, die Mittel, die sie durch den Verkauf von Grund und So geht es im Rahmen dieser Beteiligung auch um Boden erlangen, dort steuergünstig anzulegen, um sie die Ermittlung der Mitwirkungs- und Verkaufsbereit- sozusagen in die wohnungswirtschaftlichen Absich- schaft der betroffenen Eigentümer. Für diese besteht ten der Entwicklungsmaßnahme einzubeziehen? auch die Möglichkeit, die Grunderwerbspflicht der Gemeinde abzuwenden, indem sie sich verpflichten und auch dazu in der Lage sind, das Grundstück Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Für das Bundesbauministerium, Herr Kollege, kann ich Ihnen binnen angemessener Frist entsprechend den Zielen selbstverständlich zusagen, daß die Bundesregierung und Zwecken der städtebaulichen Entwicklungsmaß- bereit ist, auch über weitergehende, über die gegen- nahme zu nutzen. wärtigen Möglichkeiten hinausgehende Möglichkei- Auch die Regelung zum Sozialplan aus § 180 ten nachzudenken, um sicherzustellen, daß dieses Baugesetzbuch sieht vor, daß die Gemeinde Vorstel- Instrument auf jeden Fall seine städtebauliche Wir- lungen entwickeln und mit den Betroffenen erörtern kung entfalten kann. soll, wie nachteilige Auswirkungen auf die persönli- chen Lebensumstände der in dem Gebiet wohnenden Dr. Walter Hitschler (F.D.P.): Danke schön. und arbeitenden Menschen möglichst vermieden oder gemildert werden können. Zu den Einzelheiten habe Vizepräsidentin Renate Schmidt: Frau Kollegin ich soeben bereits Ausführungen gemacht. Peters, bitte. Im Rahmen der Durchführung einer städtebauli- chen Entwicklungsmaßnahme hat die Gemeinde nach Lisa Peters (F.D.P.): Frau Ministerin, sind Ihnen § 166 Abs. 1 Baugesetzbuch für den städtebaulichen Zahlen bekannt, die Entwicklungsmaßnahmen be- Entwicklungsbereich ohne Verzug Bebauungspläne treffen, die nach dem 1. Mai 1993 in Angriff genom- aufzustellen. Wie bei jedem anderen Bebauungsplan men worden sind? Mich interessieren natürlich beson- sind auch hier die Regeln der Bürgerbeteiligung ders die Zahlen, die sich auf landwirtschaftlichen anzuwenden. Die Gemeinde hat aber die Möglichkeit, Grund und Boden erstrecken. Um die Frage von Herrn die Beteiligungsverfahren im Rahmen des Bauleit- Hitschler aufzunehmen: Wie ist dort vorgegangen planverfahrens mit der Beteiligung nach § 137 Bauge- worden? Oder liegen Ihnen keine Erkenntnisse vor? setzbuch zu verbinden. Durch die Regelungen des Baugesetzbuchs sind Bundesministerin: Frau Dr. Irmgard Schwaetzer, also ausreichende Mitwirkungsmöglichkeiten für die Kollegin, die genauen Zahlen der städtebaulichen betroffenen Eigentümer bereits ab einem sehr frühen Entwicklungsmaßnahmen, auch die Zeitpunkte, zu Zeitpunkt gewährleistet. denen sie eingeleitet worden sind, werden derzeit vom Deutschen Städtetag und vom Städte- und (Uwe Lambinus [SPD]: Fragen und Antwor Gemeindebund bei den Gemeinden abgefragt. Ein ten sollen kurz sein! Das steht in der Ergebnis dieser Umfrage liegt uns noch nicht vor. Aus Geschäftsordnung!) sehr vorläufigen Erkenntnissen wissen wir, daß inzwi- schen weit über 100 städtebauliche Entwicklungs- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Die Zusatzfrage, maßnahmen eingeleitet wurden, aber wann sie Herr Kollege. begonnen worden sind, kann ich Ihnen heute noch nicht sagen. Ein Großteil dieser Entwicklungsmaß- Peter Götz (CDU/CSU): Frau Ministerin, sind Ihnen nahmen ist im landwirtschaftlichen Bereich in Angriff Fälle bekannt, in denen diese frühzeitige Mitwirkung genommen worden. bei den Städten und Gemeinden nicht erfolgt ist?

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zu dieser Frage Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr liegen keine weiteren Zusatzfragen vor. Kollege, es ist auch dem Bundesbauministerium gele- Wir kommen damit zur Frage 42 des Kollegen Peter gentlich über Klagen berichtet worden, die sich in der Götz: Anfangsphase einer Diskussion über die Einrichtung Nachdem die städtebauliche Entwicklungsmaßnahme nach einer städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme erge- den §§ 165 ff. des Baugesetzbuches als ein effizientes Ins trument ben haben. zur Baulandbereitstellung gilt, frage ich, hält die Bundesregie- rung die Möglichkeiten der Mitwirkung für die be troffenen Ich denke, daß das auf eine gewisse Unsicherheit in Eigentümer für ausreichend? der Anwendung eines Instruments zurückzuführen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19187

Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer ist, das in dieser spezifischen Ausformung erst seit Die Regelung im § 169 Baugesetzbuch, die in dem 1. Mai des vergangenen Jahres besteht. Insofern solchen Fällen anzuwenden ist, besagt, daß nicht der sind wir natürlich auch daran interessiert, mögliche eigentlich gegebene innerlandwirtschaftliche Ver- Unsicherheiten über die Anwendung zu beseitigen. kehrswert entschädigt wird, sondern der höhere Wert Das ist die Begründung dafür, daß auch in vielen des begünstigten Agrarlandes. Dieser ist identisch mit Fällen Informationsveranstaltungen mit den Gemein- dem außerlandwirtschaftlichen Verkehrswert. den durchgeführt werden, um sicherzustellen, daß Die Anwendung der Sonderregelung ist also ein keine rechtsmißbräuchliche Anwendung erfolgt. äußerst seltener Ausnahmefall. Dies hat sich auch bereits im Planspiel „Städtebauliche Entwicklungs- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine zweite maßnahmen" angedeutet, das 1993 im Auftrag des Zusatzfrage, Herr Kollege Götz. bayerischen Staatsministeriums des Innern durchge- führt wurde. Genauere Zahlen liegen der Bundesre- Peter Götz (CDU/CSU): Sehen Sie es auch so, daß es gierung nicht vor. Es läuft jedoch derzeit eine allge- durchaus sinnvoll erscheint, wenn die Anwendungs- meine Umfrage des Deutschen Städtetages und des hilfen zur städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme, Deutschen Städte- und Gemeindebundes, auf die ich die seit mehreren Monaten von der ARGEBAU her- bereits hingewiesen habe. ausgegeben worden sind, auch den Gemeinden ent- sprechend zur Verfügung gestellt werden, bzw. ist Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine Zusatzfrage, Ihnen bekannt, ob die Gemeinden bereits diese Herr Kollege. Anwendungshilfe an der Hand haben? Peter Götz (CDU/CSU): Sind der Bundesregierung Fälle — wie Sie sagen, mit wenigen Ausnahmen Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, da wir ja als Bundesregierung ein hohes Sonderfälle — im einzelnen bekannt, in denen die Interesse daran haben, daß die Gemeinden möglichst Sondernorm des § 169 Abs. 4 des Baugesetzbuches frühzeitig auch darüber informiert werden, wie die greift und eine andere als im Wohnbaulandgesetz von Anwendung zwischen Bund und Ländern vereinbart 1993 vorgesehene Bestimmung angewendet wurde, woren ist, ist in den Kommunalinformationen der also nicht der außerlandwirtschaftliche Wert als Min- Bundesregierung dieser Vorschlag für Erlasse veröf- destwert herangezogen worden ist? fentlicht worden. Das heißt: Über die Informationen Bundesministerin: Es hat, der Bundesregierung ist er den Gemeinden zugäng- Dr. Irmgard Schwaetzer, lich geworden. Herr Kollege, einen Fall einer rechtsmißbräuchlichen Anwendung der früher geltenden Regelung des Bau- Nicht alle Länder haben diese Erlasse bereits förm- gesetzbuches gegeben, die aber von dem für diese lich auf den Weg gebracht, was ich bedaure. Aber, wie Region zuständigen Oberverwaltungsgericht außer gesagt: Die Information über das, was darinsteht, ist Kraft gesetzt worden ist. Dieser Fall hat zu erheblicher allen Gemeinden zugänglich. Beunruhigung unter Landwirten generell geführt. Mit den Auswirkungen dieser Diskussion sind wir insge- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- samt auch heute noch beschäftigt. fragen liegen nicht vor. Erste Hinweise aus der Umfrage des Deutschen Wir kommen zur Frage 43 des Kollegen Götz: Städtetages und des Städte- und Gemeindebundes Welche Bedeutung hat bei Anwendung der städtebaulichen bestätigen aber unsere Einschätzung, daß in ca. 90 % Entwicklungsmaßnahme die Vorschrift des § 169 Abs. 4 Bauge- der Fälle Entschädigungsleistungen nach dem Wert setzbuch (BauGB), nach der für Eigentümer land- und forstwirt- schaftlich genutzter Grundstücke als Mindestentschädigung der von Bauerwartungsland gezahlt werden, auch weil außerlandwirtschaftliche Verkehrswert im Sinne von j 4 Abs. 1 sich ein entsprechender Wert bereits gebildet hat, und Nr. 2 der Wertermittlungsverordnung zu zahlen ist, und sind der auch nur in einem geringen Teil der rest lichen ca. Bundesregierung Fälle bekannt, in denen diese Vorschrift zur 10 % der Fälle die Sonderregelung über den außer- Anwendung gekommen ist? landwirtschaftlichen Wert angewendet werden müßte. Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, für den Regelfall der Inanspruchnahme land- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine Zusatzfrage oder forstwirtschaftlich genutzter Grundstücke im des Herrn Kollegen Götz. städtebaulichen Entwicklungsbereich gilt als Grund- regel, daß der Eigentümer als Entschädigung den Peter Götz (CDU/CSU): Der Hintergrund meiner Verkehrswert erhält, der sich für sein Grundstück Frage war, inwieweit die Bundesregierung es für ohne Aussicht auf die Entwicklungsmaßnahme, deren notwendig erachtet, Veränderungen in einem Bereich Vorbereitung und Durchführung gebildet hat. vorzunehmen, der insgesamt eine ganz marginale, Da die Entwicklungmaßnahmen in den meisten eine untergeordnete Rolle spielt und in dem, wenn ich Fällen in Gebieten durchgeführt werden, in denen Sie richtig verstanden habe, bei einer mißbräuchli- sich bereits auf Grund des allgemeinen Siedlungs- chen Anwendung die Rechtsaufsicht zu Recht einge- drucks ohne Aussicht auf die Maßnahme Bauerwar- schritten ist und Korrekturen vorgenommen hat. tungsland gebildet hat, wird auch dieser Wert Basis der Entschädigung sein. Wenn die Anwendung dieser Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Grundregel allerdings zu dem Ergebnis führt, daß sich Kollege, die Bundesregierung sieht keinen Bedarf für für eine Fläche lediglich der sogenannte innerland- eine Novellierung dieser Vorschrift des Baugesetzbu- wirtschaftliche Verkehrswert ergibt, so liegt ein Son- ches. Sollte sich allerdings, sagen wir einmal, ein derfall vor. Konsens dahin gehend ergeben, daß mit einer klar- 19188 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer stellenden Formulierung die Handhabbarkeit dieses zu wollen: Ist die Bundesregierung nicht doch bereit, Instruments weiter erhöht wird und damit gleichzeitig um der Rechtsklarheit willen eine Änderung vorzuse- eine Beruhigung im landwirtschaftlichen Bereich ein- hen nach dem Motto der Prozessionen nach Lourdes: tritt, wäre die Bundesregierung durchaus bereit, eine „Ob es hilft, weiß man nicht; schaden tut es in keinem solche klarstellende Formulierung, die aber am Fall." eigentlichen Rechtsgehalt des Baugesetzbuchs nichts ändert, mitzutragen. Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, wenn irgend etwas der Rechtsklarheit dient Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere und zusätzliche Beruhigung in diesem Bereich schafft, Zusatzfrage der Frau Kollegin Peters. ist die Bundesregierung selbstverständlich gerne bereit, eine solche Klarstellung, die den materiellen Lisa Peters (F.D.P.): Frau Ministerin, als wir dieses Gehalt nicht verändert, mitzutragen. Gesetz noch diskutiert haben, also im ersten Viertel- jahr des Jahres 1993, haben, wie mir und sicher auch Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- Ihnen bekannt geworden ist, Städte und Gemeinden fragen zu dieser Frage liegen nicht vor. Entwicklungsmaßnahmen schon beschlossen. Es wa- Die Fragen 44 und 45 des Kollegen Thomas Molnar ren sehr viele Entwicklungsmaßnahmen dabei, die werden schriftlich beantwortet. Die Antworten wer- sich wirklich auf das flache Land erstreckten. Ich den als Anlagen abgedruckt. meine solche Fälle wie den eines Bauerndorfs mit 400, Auch die Fragen 46 und 47 des Kollegen Jürgen 500 Einwohnern, dem eine Entwicklungsmaßnahme Sikora werden schriftlich beantwortet. Die Antworten mit 3 000, 4 000 oder 5 000 Einwohnern, sage ich werden als Anlagen abgedruckt. einmal sehr billig, angeklatscht wurde. Sind diese Dinge eigentlich zum Tragen gekommen, und können Wir kommen damit zur Frage 48 des Kollegen Hans Sie mir einmal beantworten, ob diese Fälle bei der Raidel: Verabschiedung des Gesetzes berücksichtigt worden Liegen der Bundesregierung Kenntnisse darüber vor, in wel- chem Umfang die Kommunen den zugunsten des nachträglichen sind? Dachgeschoßausbaus eingeräumten Entscheidungsspielraum beim Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz aus- Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Frau nutzen? Kollegin, eine städtebauliche Entwicklungsmaß- nahme, die in der gegenwärtigen Situation im wesent- Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr lichen dazu angewandt wird, zusätzliches Bauland für Kollege, nach § 4 Abs. 1 des Maßnahmengesetzes zum Wohnungsbau bereitzustellen, ist natürlich immer nur Baugesetzbuch kann nunmehr von einschränkenden in Abstimmung mit den Zielen der Landesplanung zu Vorgaben zum Dachgeschoßausbau auch bei Bebau- sehen und durchzuführen. ungsplänen aus der Zeit vor 1990 befreit werden. Die Mir ist nicht bekannt, daß solche Fälle, wie Sie sie Bundesregierung geht davon aus, daß die Baugeneh- gerade beschrieben haben, genehmigt worden migungsbehörden von dieser Vorschrift, für deren wären. Daß es hier Ansätze gegeben hat, ist allerdings Anwendung ein großer Bedarf besteht, umfangreich auch uns bekannt geworden. Gebrauch machen. Ich möchte allerdings auf einen zusätzlichen Aspekt Eine Zusatzfrage, hinweisen. Die Ziele der Landesplanung, aber auch Vizepräsidentin Renate Schmidt: die Landesentwicklungsplanungen mancher Länder, Herr Kollege Raidel? die zum großen Teil in den 70er und 80er Jahren erstellt worden sind, sind nicht auf den Zuwande- Hans Raidel (CDU/CSU): Nein. rungsdruck vor allem im Umfeld der Ballungsgebiete Dann rufe ich die zugeschnitten, so daß sich daraus für manche der Vizepräsidentin Renate Schmidt: Frage 49 des Kollege Raidel auf Gemeinden in den Ballungsrandzonen erhebliche Probleme bei ihrer eigenen Entwicklung ergeben. Es Ist der im Mustereinführungserlaß der ARGEBAU gegebene Hinweis zur zulässigen Überschreitung der Geschoßfläche als entstehen dadurch aber auch erhebliche Probleme in „kein atypischer Sachverhalt", der sich „nicht auf Einzelfälle den Ballungsgebieten insgesamt, zusätzliches Bau- beschränkt", dahin gehend zu verstehen, daß dies auch auf land für Wohnungsbau auszuweisen. Deswegen plä- Neubaugebiete zutrifft, und in welchem Maße haben die Länder dieren wir dafür, daß in diesem Zusammenhang von dem Appell des Deutschen Bundestages entsprochen, die wirt- schaftlichen Voraussetzungen für einen nachträglichen Dachge- einer Vorschrift Gebrauch gemacht wird, die mit dem schoßausbau durch Abbau überzogener landesrechtlicher Baulandgesetz neu eingeführt worden ist: von der Anforderungen, etwa bei Stellplatz- und Aufzugsnachweis, Möglichkeit, von den Zielen der Landesplanung Mindesthöhe- und Brandschutzforderungen, zu verbessern? abzuweichen, wenn das der Befriedigung eines drin- genden Wohnbedarfes dient. Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, der Befreiungstatbestand des § 4 Abs. 1 des Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere Maßnahmengesetzes zum Baugesetzbuch bezieht Zusatzfrage des Kollegen Hitschler. sich auf alle Bebauungspläne, bei denen die Baunut- zungsverordnung in einer bis zum 26. Januar 1990 Dr. Walter Hitschler (F.D.P.): Frau Ministerin, trifft geltenden Fassung zugrunde gelegt worden ist. Die es zu, daß einige Gemeinden den neuen Text des § 169 Vorschrift kann daher auch auf einen beabsichtigten Abs. 4 des Bundesbaugesetzes in der Öffentlichkeit Dachgeschoßausbau in Neubauvorhaben auf der falsch ausgelegt haben, so daß es zu Irritationen, wie Grundlage von Plänen aus dieser Zeit angewendet sie soeben geschildert wurden, gekommen ist? Ohne werden und ist nicht auf Ausbaumaßnahmen im den materiellen Restgehalt dieser Vorschrift ändern Bestand beschränkt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19189

Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer Soweit bei neu aufzustellenden Bebauungsplänen Ablösesumme zur Schaffung von zusätzlichen Park- die Baunutzungsverordnung in ihrer aktuellen Fas- möglichkeiten verwenden. sung anzuwenden ist, ist die Zulässigkeit eines Dach- Insofern hat sich zumindest in manchen Städten geschoßausbaues zu ermöglichen. Das bedeutet, daß eine Praxis herausgebildet, bei der das Einfordern von auch hier in erheblichem Umfange zusätzliche Mög- Ablösesummen — zum Teil von mehreren 10 000 lichkeiten zur Schaffung von Wohnraum gegeben DM — und das Schaffen von Stellplätzen so weit sind, die von den Gemeinden angewendet werden auseinanderliegen, daß der Sinn nicht mehr gegeben können. war. Wir haben im Zusammenhang mit dem Maßnah- mengesetz die Freistellung generell verankert, damit Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine Zusatzfrage die Schaffung von zusätzlichem Wohnraum zumin- des Herrn Kollegen Hitschler. dest nicht mehr durch größere Ablösesummen verhin- dert wird. Dr. Walter Hitschler (F.D.P.): Frau Ministerin, nach- dem der Kollege Raidel nur nach den Konsequenzen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- für die Länder gefragt hat, darf ich einmal nach den fragen zu dieser Frage liegen nicht vor. Erfahrungen bezüglich der Anwendung in einzelnen Dann kommen wir zur Frage 50 des Kollegen Städten, insbesondere solchen Städten, wo die Woh- Werner Dörflinger: nungsnot in der Öffentlichkeit immer als am größten Welche Gründe sind nach Auffassung der Bundesregierung dargestellt wird, fragen. Wie verhält es sich beispiels- für die offensichtlich schleppende Umsetzung des Investitions- weise in der Landeshauptstadt München? erleichterungs- und Wohnbaulandgesetzes durch einige Lander maßgebend gewesen, und sieht die Bundesregierung dadurch Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr einen bundeseinheitlichen Verwaltungsvollzug des Investitions- Kollege, ohne hier jetzt exemplarisch auf einzelne erleichterungs- und Wohnbaulandgesetzes gefährdet? Städte ganz besonders eingehen zu wollen: Es wäre Bundesministerin: Herr schon wünschenswert, wenn Städte, wie z. B. Mün- Dr. Irmgard Schwaetzer, Kollege, soweit ersichtlich, liegt die teilweise verzö- chen oder auch Frankfurt, in größerem Umfange davon Gebrauch machen würden, Dachgeschoßaus- gerte Umsetzung des Investitionserleichterungs- und ins- bau nach den erleichterten Möglichkeiten des jetzt Wohnbaulandgesetzes sowie des Mustererlasses besondere in Meinungsverschiedenheiten zwischen veränderten Baugesetzbuch-Maßnahmengesetzes den Bau- und den Umweltressorts der Länder begrün- zuzulassen, und von den Befreiungstatbeständen z. B. bei dem Nachweis eines Stellplatzes, von den Befrei- det, die sich nicht darüber einigen können, in welcher Form die naturschutzrechtlichen Eingriffsregelungen ungsvorschriften für den Einbau von Aufzügen und im Rahmen der Bauleitplanung zu prüfen sind. Voll- von der Möglichkeit der Überschreitung der Geschoß- flächenzahl, um genau diesen Dachgeschoßausbau zu zugsschwierigkeiten des Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetzes dürften dabei vor allem in genehmigen. den Ländern entstehen, in denen der Mustererlaß zur Der Bundesgesetzgeber hat also eine Menge an Anwendung des Gesetzes noch nicht vorliegt und Flexibilität in diesem Bereich geschaffen, der dazu deren Verwaltungen daher hinsichtlich Auslegung dienen kann, schnell zusätzlichen Wohnraum gerade und Anwendung einzelner Vorschriften nicht über die in den besonders bedrängten Städten zu gewinnen. benötigten Hilfestellungen zur Umsetzung verfü- gen. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere Zusatzfrage zu dieser Frage vom Herrn Kollegen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine Zusatzfrage, Klejdzinski. Herr Kollege. (SPD): Frau Ministerin, Dr. Karl-Heinz Klejdzinski Werner Dörflinger (CDU/CSU): Frau Minister, meinen Sie ernsthaft, daß man auf Stellplätze verzich- haben Sie nicht den Eindruck, daß die Tatsache, daß ten könnte, insbesondere unter der Maßgabe, daß dieses wichtige Gesetz nicht in ausreichendem Maße gerade die Innenstädte, wenn sie alte Bausubstanz umgesetzt worden ist, dazu beitragen könnte, daß haben, kaum Stellplätze für Pkws zur Verfügung manche Mittelinstanz und manche Sonderbehörde in stellen können und die Städte in diesen Bereichen ausgelatschten ideologischen Pfaden der Vergangen- durch Autos zugestellt sind, beispielsweise auf Geh- heit herummacht und nicht zur Kenntnis genommen wegen, so daß eine Frau mit Kinderwagen nicht mehr hat, daß wir auf dem Wohnungsmarkt eine dramatisch durchkommen kann? veränderte Situation haben? Bundesministerin: Herr Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege Kledjzinski, es ist gängige Praxis der Städte, Kollege, zumindest ist eine solche Vermutung nicht auf den Nachweis eines Stellplatzes zu verzichten, ganz von der Hand zu weisen, wenn man die prakti- aber dafür hohe Ablösesummen zu verlangen. sche Handhabung des Gesetzes vor Ort sieht. Die (Dr. Karl-Heinz Klejdzinski [SPD]: Das kenne bekommen wir immer wieder vorgetragen. Insofern ich! Das ist aber nicht der Sinn der Sache!) halte ich es für dringend erforderlich, den Einfüh- In den Bereichen, die Sie angesprochen haben, kön- rungserlaß möglichst rasch zu verabschieden und nen damit allerdings nur unter größten Schwierigkei- überall zur Anwendung zu bringen, und zwar mög- ten überhaupt irgendwelche Möglichkeiten zur lichst in der Form, auf die wir uns in der ARGEBAU Unterbringung von Autos geschaffen werden. Sie geeinigt haben. Die Länder, die diesen Mustereinfüh- müssen auch nicht sofort geschaffen werden. Denn die rungserlaß bisher noch nicht auf den Weg gebracht Gemeinden sind frei, zu welchem Zeitpunkt sie die haben, planen zum Teil weitreichende Veränderun- 19190 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer gen dessen, was zwischen Bund und Ländern abge- Wir kommen zur Frage 51 des Kollegen We rner stimmt worden ist, und zwar im wesentlichen zu Dörflinger: Lasten des Wohnungsbaus. Ich denke, daß der Effekt Hat die Bundesregierung Kenntnisse darüber, ob und welche des Gesetzes, aber auch der Wille des Gesetzgebers Länder bei der Veröffentlichung von dem Text des Musterein- — nicht nur im Deutschen Bundestag, sondern auch führungserlasses der ARGEBAU abgewichen sind oder vorha- im Bundesrat, der diesem Gesetz zugestimmt hat — ben, dies zu tun? dadurch nicht befördert wird. Vielmehr wird dem Ziel Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr entgegengewirkt, was ich sehr bedaure. Kollege, von den Ländern, die den Mustererlaß bereits umgesetzt haben, hat das Land Hessen Abwei- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine zweite chungen hinsichtlich der Erläuterungen der umwelt- Zusatzfrage, Herr Kollege. rechtlichen Regelungen in bezug auf die naturschutz- rechtliche Eingriffsregelung und Umweltverträglich- vorgenommen bzw. angekündigt. Berlin Werner Dörflinger (CDU/CSU): Halten Sie es vor keitsprüfung dem Hintergrund, den Sie eben schilderten, nicht für hat auf Erläuterungen zur Eingriffsregelung verzich- sinnvoll, wenn sich mancher Landtag, der sich manch- tet. Bayern hat einen vorläufigen eigenständigen mal über Mangel an Beschäftigung beklagt, eines Erlaß herausgegeben, ohne inhaltlich wesentlich vom solch wichtigen Themas annimmt und von der politi- Mustererlaß abzuweichen. schen Seite her Einfluß auf die Bürokratie nimmt, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Herr damit das, was Bundestag und Bundesrat gemeinsam Kollege Dörflinger. gemacht haben, im Interesse der Menschen auch umgesetzt wird? Werner Dörflinger (CDU/CSU): Frau Minister, Sie haben eben Hessen erwähnt. Wie beurteilen Sie vor dieser generellen Aussage die Praxis z. B. des Regie- Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Ich wünschte mir in der Tat mehr öffentliche Wirksamkeit rungspräsidiums in Gießen, Gemeinden, die einen aus einer Diskussion über dieses wichtige Gesetz. Denn es dem Flächennutzungsplan heraus entwickelten Be- bietet soviel Handhabe, die Voraussetzungen dafür bauungsplan aufstellen, zu verpflichten, für die mit rasch zu realisieren, daß die noch bestehenden Eng- dem Bebauungsplan fixierte Menge an Gelände das pässe auf dem Wohnungsmarkt überwunden werden Eineinhalbfache an Ausgleichsfläche zur Verfügung können, so daß es schon wichtig wäre, daß auf allen zu stellen, das Eineinhalbfache dessen, was mit dem Ebenen — Baulandausweisung ist ein Punkt, wo der B-Plan als Wohnbaufläche ausgewiesen werden Bundesgesetzgeber, aber auch der Verordnungsge- soll? ber des Landes und die aktive Kommune gefordert Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr sind — eine größtmögliche Aktivität entsteht. Ich sehe Kollege, diese Praxis widersp richt zweifellos dem in vielen Gemeinden die Bereitschaft, zusätzliches Kriterienkatalog, der in Zusammenarbeit mit dem Bauland auszuweisen. Aber die praktischen Schwie- Deutschen Städtetag und dem Städte- und Gemein- rigkeiten des Vollzugs, die wir auch heute diskutieren, debund für die Anwendung der naturschutzrechtli- stehen dem weit entgegen. chen Eingriffsregelung aufgestellt worden ist. Sie widerspricht selbstverständlich den Zielen einer zügi- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine Zusatzfrage gen Baulandausweisung zu angemessenen Preisen. dazu vom Kollegen Horst Kubatschka. Man darf sich doch nichts vormachen: Je mehr Aus- gleichsland ausgewiesen werden muß, desto teurer Horst Kubatschka (SPD): Frau Ministerin, wo sind wird das Bauland, und desto höher werden die Mieten die größeren Schwierigkeiten, auf seiten der Kommu- der Häuser, die auf diesem Bauland errichtet werden. nen und ihren Planern oder auf seiten der Eigentümer Insofern widerspricht eine solche Praxis selbstver- der Grundstücke und Häuser? ständlich den Zielen des Baulandgesetzes, nämlich möglichst rasch und auch möglichst preiswert Bau- land für den Wohnungsbau bereitzustellen. Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Weder noch, Herr Kollege. Die größten Schwierigkeiten sehe Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine Zusatz- ich im Moment im Vollzug, darin, daß die Erleichte- frage. rungen zur Verkürzung vom Planungsverfahren, die wir mit Zustimmung der SPD im letzten Jahr auf den Peter Götz (CDU/CSU): Sieht die Bundesregierung Weg gebracht haben, in den Ländern noch nicht in Möglichkeiten, einer solchen Entwicklung, wie sie vollem Umfange umgesetzt worden sind oder zum sich jetzt im Land Hessen abzeichnet, entgegenzu- Teil so umgesetzt worden sind, daß sie den Zielen des steuern, vor allen Dingen auch im Hinblick auf mög- Gesetzes entgegenlaufen. liche Praktiken in anderen Ländern, die nachfolgen Wir hatten gestern in der Fragestunde schon eine könnten, und wenn ja, in welcher Form? längere Debatte über die Anwendung der natur- Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr schutzrechtlichen Abwägungsregelung. Einige Län- Kollege, Sie wissen, daß die verabschiedete Fassung der haben die Schwierigkeiten bei der Baulandaus- des Baulandgesetzes ein Kompromiß zwischen Bun- weisung in der Umsetzung dieses Gesetzes durchaus destag und Bundesrat gewesen ist. Zu meinem Bedau- vergrößert, was ich bedauere. ern hat die Mehrheit der Länder im Bundesrat im Vermittlungsausschuß durchgesetzt, daß ein Abwei- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- chen von der bundesgesetzlichen Regelung in dieser fragen liegen dazu nicht vor. Beziehung möglich ist. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Apr il 1994 19191

Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer Um das gesamte Planungsinstrumentarium zur Baulandgesetz eine, wie ich finde, sehr sorgfältig Anwendung gelangen zu lassen, haben wir alle dieser zwischen den naturschutzrechtlichen und umwelt- Möglichkeit einer abweichenden Regelung zuge- schutzrechtlichen Belangen und den Belangen der stimmt. Jetzt liegt es an der hessischen Landesregie- Wohnungssuchenden abgewogene Regelung einge- rung — gerade in den Ballungszentren im Lande führt. Diese abgewogene Regelung wird zugunsten Hessen gibt es ja durchaus gravierende Probleme der eines Faktors von einzelnen Ländern, wie ich finde, Baulandbereitstellung —, dafür zu sorgen, daß der schlecht angewendet. Es ist eine Regelung gegen die Wunsch nach stärkerem Wohnungsbau, und zwar in Wohnungssuchenden. Richtung preiswerter Wohnungen, nicht nur ein Es ist doch völlig klar, Herr Kollege, daß der Zuzug Wunsch bleibt, sondern Realität wird. Wir haben hier der uns in den nächsten fünf bis zehn Jahren noch ein klassisches Beispiel dafür, wie wenig die Relevanz bevorsteht, nämlich noch einmal ca. 4 Millionen von Umweltregelungen und deren Kosten für die Deutsche aus Osteuropa, in den Baulücken der 80er Kosten des Wohnens gesehen, diskutiert und berück- Jahre nicht zu bewältigen ist. Deshalb ist es zwingend sichtigt wird. erforderlich, eine solche Abwägung zwischen natur- schutzrechtlichen Belangen und den Belangen der Vizepräsidentin Renate Schmidt: Jetzt lasse ich noch zwei Zusatzfragen zu; dann sind wir am Ende der Wohnungssuchenden so vorzunehmen, daß ein Aus- Fragestunde angekommen. Als nächstes kommt die gleich stattfindet und nicht die eine Seite so bewertet Zusatzfrage des Kollegen Hitschler, dann noch die des wird, daß letztlich das Wohnen unbezahlbar wird. Kollegen Kuhlwein. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU) Dr. Walter Hitschler (F.D.P.): Frau Ministerin, halten Sie es angesichts dieser hessischen Praxis überhaupt noch für möglich, im Rahmen des sozialen Wohnungs- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- baus preiswerten Wohnraum zu schaffen? fragen liegen nicht vor. Die beiden letzten Fragen dieses Geschäftsbereiches werden schriftlich beant- Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr wortet. Die Antworten werden als Anlagen abge- Kollege, da diejenigen, die auf preiswerten Wohn- druckt. raum angewiesen sind, ja keine höheren Einkommen Herzlichen Dank, Frau Bauministerin. haben, wird der Betrag an Subventionen pro Woh- nung, den der Steuerzahler zur Verfügung stellen Wir sind damit auch am Ende der Fragestunde muß, höher. Das heißt, diese Umweltmaßnahmen angekommen. beinhalten, daß für jede Wohnung mehr Steuermittel aufgewendet werden müssen, damit Haushalte mit Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 auf: einem kleinen Einkommen angemessenen Wohn- raum erhalten. Schon deswegen halte ich es für Aktuelle Stunde äußerst wichtig, daß gerade die Auswirkungen sol- Lage in Gorazde und Hilfe der Bundesregie- cher, wie ich finde, sehr exzessiven Umweltregelun- rung für die bedrohten Menschen gen auf die Kosten des Wohnens tr ansparent gemacht Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat eine werden. Aktuelle zu diesem Thema beantragt. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun die letzte Ich möchte Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kol- Zusatzfrage, nämlich die des Kollegen Eckart Kuhl- legen, darauf hinweisen, daß auf der Tribüne der wein. Oberbürgermeister der Stadt Tuzla, Herr Selim Bes- lagic, mit Begleitung Platz genommen hat. (SPD): Frau Bundesministerin, Eckart Kuhlwein (Beifall im ganzen Hause) nachdem Sie sich eben so stark dafür gemacht haben, daß weniger Ausgleichsflächen für bebaute Flächen Wir freuen uns, daß Sie heute Gast im Deutschen geschaffen werden: Teilen Sie die Auffassung, daß es Bundestag sind. langfristig für alle teurer wird, vor allem auch für In Tuzla haben bis heute bosnische Bürger katholi- unsere Kinder, wenn kein Ausgleich für bebaute schen, orthodoxen und muslimischen Glaubens Flächen geschaffen wird, so daß immer mehr Natur zusammengelebt, zusammengearbeitet und sich auch in der ohnehin dichtbesiedelten Bundesrepublik gemeinsam gegen die tödlichen Gefahren verteidigt. Deutschland zerstört wird? Wir wünschen Ihnen, Herr Oberbürgermeister, und Ihrer Begleitung Mut und Tatkraft für die schwierige Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin: Herr Kollege, diese Frage wird mir immer wieder gestellt. Lage, die Ihre Stadt und ihre Bürgerinnen und Bürger Sie wird mir natürlich immer wieder von Menschen jetzt zu meistern haben. Herzlichen Dank, daß Sie hier gestellt, die genauso wie Sie und ich, in guten Wohn- bei uns sind! verhältnissen leben. Ich glaube, daß dies ein Grund- (Beifall im ganzen Hause) widerspruch auch der wohnungspolitischen Diskus- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- sion ist, die in der Bundesrepublik Deutschland statt- gin Vera Wollenberger. findet. Ich muß Ihnen ganz klar sagen: Bei der Zuwanderung, die die westlichen Bundesländer seit 1988 erlebt haben, ist eine Bewältigung der Woh- Vera Wollenberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nungsprobleme überhaupt nicht möglich, ohne daß Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- zusätzliche Flächen für den Wohnungsbau ausgewie- legen! „Die Menschen vor Ort glauben zum erstenmal sen werden. Wir haben im vergangenen Jahr mit dem seit langer Zeit mindestens an die Möglichkeit eines 19192 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Vera Wollenberger Friedens", sagte Außenminister Kinkel vorige Woche Jetzt, wo von Clinton ein ähnlicher Vorschlag an dieser Stelle in seiner Regierungserklärung. kommt, ist es für Gorazde bereits zu spät. Nicht zu spät

wäre es aber für die anderen UN - Schutzzonen. Ich Die Menschen von Gorazde konnten ihn wegen des denke, es ist höchste Zeit, allerhöchste Zeit, daß es die Granatfeuers auf die Stadt nicht hören. „Hier herrscht UNO nicht länger duldet, daß Menschen in UNO- die Hölle auf Erden", schildert ein Amateurfunker die Schutzzonen schutzlos ihren Mördern preisgegeben Lage der 65 000 Eingeschlossenen. Es muß wirklich werden, oder, wenn sie ihre Schutzzone nicht schüt- nicht weniger als die Hölle sein, wenn der Bürgermei- zen will, wenigstens nicht länger verhindert, daß sich ster der Stadt, Ismel Brija, über Funk die NATO diese Menschen selbst verteidigen können. auffordert, Gorazde endlich zu bombardieren, um die „ qualvolle Agonie, in der wir uns befinden, endlich zu Ich erinnere daran, daß die Verteidiger von Gorazde beenden". vor einem Jahr im Vertrauen auf die UNO ihre schwere Artillerie abgegeben haben. Das Resultat So sieht das „eingetretene positive Momentum" können wir heute im Fernsehen betrachten. Heute — Zitat des Herrn Kinkel — wirklich aus, das der bleibt für Gorazde nur noch die Möglichkeit, die Außenminister vorige Woche unbedingt zu erhalten Menschen sofort zu evakuieren, und zwar mit allen wünschte. notwendigen Mitteln. Das ist das zynische Resultat Während hier im Plenarsaal je nach Temperament unrühmlicher westlicher Appeasement - Politik. Die und Laune beschwichtigt, schöngeredet oder Wahl- Serben werden ihr Ziel der ethnischen Säuberung und kampf gemacht wurde, sind in Gorazde die Grund- gewaltsamen Eroberung mit UNO-Hilfe erreichen. werte der westlichen Demokratie in Trümmer gelegt Dafür ist auch Außenminister Kinkel mitverantwort- worden. lich, der, statt zu handeln, beschwichtigt und schön- geredet hat. Deshalb fordere ich unseren Außenmini- Während Karadzic Gorazde bombardieren ließ, ster, der heute leider nicht da ist, teilte er den Medien mit, er tue dies nur, um aus der Stadt eine sichere, entmilitarisierte Zone zu machen. (Staatsministerin Ursula Seiler-Albring: Sie Pflichtschuldigst wurden seine Statements in der Welt wissen, warum!) verbreitet, zur besten Sendezeit im Fernsehen, wäh- auf, endlich den politischen Willen aufzubringen, den rend die Hilferufe der Betroffenen über die Tickermel- Völkermord in Bosnien zu beenden. dungen nicht hinauskommen. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste Seit 1991 läßt man Karadzic, Milosevic & Co. unge- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) hindert ihr Großserbien herbeibomben. Seit 1991 läßt man sie Absprachen brechen, Zusagen nicht einhal- ten, die Zivilbevölkerung massakrieren. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster spricht der Abgeordnete Heinrich Lummer. Monatelang wurde die Öffentlichkeit mit Schein- verhandlungen der sogenannten UN-Vermittler Stol- tenberg und Owen hinters Licht geführt. Wie sehr Heinrich Lummer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Herrn Stoltenberg bei seinem Wirken das Wohl Ser- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben biens am Herzen liegt, hat zuletzt seine abwehrende eine Aktuelle Stunde zu einem Thema, das uns viel Reaktion auf die Vorschläge von Präsident Clinton Sprachlosigkeit, ein Stück Hoffnungslosigkeit, Hilflo- deutlich gemacht. Durch Sanktionen, Drohungen und sigkeit demonstriert hat. Auch die Worte derjenigen, Bombardements könnte der Krieg nicht beendet wer- die die Aktuelle Stunde beantragt haben, werden den den, sekundiert ihm Karadzic, der ungestraft behaup- Menschen in Gorazde nicht helfen. ten darf, seine Einheiten würden „nur zurückschie- (Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig!) ßen". Das ist die Situation, in der wir uns hier und heute Er sagt das zu einer Zeit, da sich Europa darauf finden, und das erfüllt einen natürlich mit einer vorbereitet, mit Pomp den 45. Jahrestag des Beginns unglaublichen Bitterkeit, so daß man manchmal keine der Offensive gegen eine Armee zu feiern, die ihre Neigung und Lust mehr hat zu reden. Eroberungen begann, indem sie „seit 5 Uhr morgens zurückschoß". Aber das alles hat uns einige Lehren vermittelt. Ich glaube, dies müssen wir bedenken und uns selber vor Seit 1991 fehlt es am politischen Willen, die serbi- Augen führen, ehe wir so lapidare Schuldzuweisun- sche Aggression zu stoppen. Es fehlt am politischen gen treffen wie „Man läßt sie da hängen" oder „Es Willen, die eigenen Beschlüsse in die Tat umzusetzen. fehlt am politischen Willen". Es hat sicherlich viel Das hat die Katastrophe von Gorazde herbeigeführt guten Willen gegeben, aber es gibt jene, die heute und nicht, daß es unmöglich war, eine drittklassige Taten fordern und gestern noch der Untätigkeit das Armee daran zu hindern, mit Gewalt eine Politik der Wort geredet haben, gesagt haben, die Außenpolitik Eroberung und der ethnischen Säuberungen fortzu- müsse total entmilitarisiert bleiben. setzen. Eine der bitteren Lehren ist die, daß es wohl mit Mit dem Dreistufenplan von Präsident Clinton einer entmilitarisierten Außenpolitik nicht gehen würde sich noch einmal Handlungsspielraum erge- kann, sondern daß derjenige, der den Frieden bewah- ben, vorausgesetzt, dieser Plan wird endlich in die Tat ren will, auch bereit sein muß, ihn wiederherzustellen. umgesetzt. Die schweren Waffen der Serben auszu- Er muß bereit sein, auch eine Eskalation in Kauf zu schalten, ihre Nachschublinien in Bosnien abzu- nehmen; denn dies wird nicht von den Gutwilligen, schneiden hat BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schon vor sondern von den Bösewichten bestimmt. Es bleibt einem Jahr gefordert. immer noch richtig: M an kann nicht in Frieden leben, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19193

Heinrich Lummer wenn dies dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Dies ist Deutschland, wir sollten den Vereinten Nationen und eine dieser Lehren. denjenigen, die noch mehr Verantwortung tragen als Ich kann für mich in Anspruch nehmen, zu einem wir, deutlich machen, daß wir Deutschen bereit sind, im Rahmen unserer Möglichkeiten alles zu geben, Zeitpunkt den Einsatz militärischer Mittel gefordert zu haben, als das noch Sinn machte, als es noch was irgendwie denkbar ist. Daran soll es keinen realistisch und vernünftig war, vor fast zwei Jahren. Zweifel geben. Heute ist das alles viel problematischer und schwieri- Man stelle sich die Situation vor, daß der Bürger- ger geworden. meister von Gorazde meint, die humanitärste Lösung sei möglicherweise, einen anständigen Tod zu ster- Meine Damen und Herren, wir müssen auch jene ben! Für den ist vielleicht Evakuierung gar nicht die Lehre zur Kenntnis nehmen, die uns für künftige richtige Lösung. Wie zynisch und wie unerträglich ist Zeiten Unglaubliches kosten kann. Wenn sich jemand das alles geworden! die Geschichte der Drohungen, der Beschwichtigun- gen, der ungezählten Waffenstillstände, der Brüche Die gegenwärtige Situation also verlangt, daß die derselben, der Demütigungen — ich selber komme internationale Gemeinschaft vereint und entschlossen mir so vor — vor Augen führt, weiß er doch: Wenn man vorgeht. Aber dies auszusprechen wird nun manchen Politik macht und dabei, gerade hier, Versprechungen veranlassen zu sagen: Das alles haben wir schon abgibt, dann muß man es glaubwürdig tun, dann muß gehört. — Trotzdem sehe ich keine andere Möglich- keit als ebendiese. man das durchstehen. Sonst verliert jede Abschrek- kungsstrategie, die den Frieden bewahren will, ihren (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Sinn und ihre Chance. In dieser Situation finden wir uns heute. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Liebe Kollegen, Nun gibt es einige, die fordern, das Waffenembargo liebe Kolleginnen! Ich werde Sie bei so einem Thema aufzuheben, einige, die sagen, man solle die Leute nicht in Ihren Redebeiträgen unterbrechen, weil es evakuieren. Alles das kommt auf den Tisch. Aber sind mir schwerfällt. Ich bitte Sie aber um Disziplin und das Lösungen? — Ich meine, wir sind heute in der darum, die Redezeit tatsächlich einzuhalten. Situation — weil wir, und zwar allesamt, das Richtige Als nächster hat der Kollege Dr. Eberhard Brecht und Notwendige nicht getan haben —, daß heute das Wort. sogar die Möglichkeiten fehlen, humanitäre Hilfe in ausreichendem Umfange zu leisten. Die Vorausset- zung auch für humanitäre Hilfe wäre gewesen, daß Dr. Eberhard Brecht (SPD): Frau Präsidentin! Meine man sich im richtigen Moment auch mit militärischen Damen und Herren! Uns erreichen gegenwärtig keine Aktionen engagiert hätte. Wir sind ja bereit gewesen Bilder aus Gorazde. So können wir uns nur sehr — und sind es nach wie vor —, das alles zu leisten, was schwer ein Bild davon machen, wie es in der Stadt humanitär nur denkbar ist. Wir sind diejenigen, die wirklich aussieht. Wir kennen aber die Berichte der die meisten Flüchtlinge aufgenommen haben. Die UNO-Flüchtlingsorganisation, die uns sagen: Obwohl Bereitschaft bleibt ja doch im Grundsatz bestehen. Wir deren Mitarbeiter täglich mit solchen Dingen konfron- sind bereit, vor Ort zu helfen und zu tun, was immer da tiert sind, ist das, was sie dort an menschlichem Leid möglich sein wird. gesehen haben, bisher für sie einmalig. Eine Stadt, überfüllt mit Flüchtlingen, eine Stadt mit mehr als Aber sicherlich müssen wir auch vorsichtig sein mit 300 Toten, mit mehr als 1 000 Verletzten; eine Stadt, guten Ratschlägen an andere, weil wir uns selber zum die nicht mehr in der Lage ist, ihre Verletzten zu Teil gebunden haben. Immerhin gibt es eine Partei versorgen, weil Wasser fehlt, weil S trom fehlt und weil hier im Hause, die in ihrem Programm gesagt hat, wir das Krankenhaus zu einem großen Teil zerstört ist. dürften unser Militär nicht einmal für friedensbewah- Die bosnischen Serben laden große Schuld auf sich. rende Maßnahmen, etwa als Blauhelme, einsetzen. Mit der linken Hand unterschreiben sie einen Waffen- Das muß man alles sehen. Wir können dann nicht stillstand, um die rechte Hand freizuhaben, damit sie anderen in einem bestimmten Sinne gute Ratschläge weiter schießen können. erteilen. Und die UNO? Ist die UNO auf den Hügeln von (Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Sie Gorazde gestorben? Nein, gestorben ist sie noch nicht; haben unrecht!) aber sie hat einen schweren Vertrauensverlust hin- — Ich meinte nicht Sie! Haben Sie das Programm der nehmen müssen. PDS nicht gelesen? — Entschuldigung! Mehr und mehr geht eine Saat auf, die auf einem falschen Konzept des Sicherheitsrates beruht. Es ist Meine Damen und Herren, ich glaube, wir haben im das Rezept, auf der einen Seite eine Verantwortung Moment nur die Chance, die Offerten anzunehmen, für die Integrität, für den Schutz dieses Landes Bos- die der amerikanische Präsident gemacht hat. Es gibt nien-Herzegowina zu verweigern und auf der ande- Gespräche auf höchster Ebene. Denn eines ist ja klar: ren Seite den bosnischen Muslimen das Recht auf Es gibt einen Erkenntnisprozeß, der dazu geführt hat, Selbstverteidigung zu nehmen. daß man jetzt wohl an den Punkt kommt, wo H andeln zwingend geboten ist. Selbst die wenigen partiellen Sicherheitsgarantien, die gegeben werden, werden mal so und mal so Wenn dies Schule macht, frage ich mich, wie wir ausgelegt. Wenn der britische UNO-Botschafter Sir künftig überhaupt noch friedensbewahrend tätig sein David Hannay sagt: Wir haben mit der Sicherheits- können. Wir jedenfalls sollten den Menschen in Bos- ratsresolution 836 überhaupt keine Garantien über- nien-Herzegowina, wir sollten der Öffentlichkeit in nommen, so trifft das zu, wenn er als NATO-Vertreter 19194 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Dr. Eberhard Brecht spricht; aber es trifft nicht zu, wenn er als Mitglied des sche Welt nach dem Ende des Kalten Krieges Sicherheitsrates spricht. erschien. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ru Vielen Dank. dolf Karl Krause [Bonese] [fraktionslos]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich möchte den entscheidenden Passus aus der Reso- der CDU/CSU und des Abg. Dr. Rudolf Karl lution 836 noch einmal zitieren: Die UN-Schutztrup- Krause [Bonese] [fraktionslos]) pen in Ex-Jugoslawien werden ermächtigt, als Ant- wort auf den Beschuß der Schutzzonen oder auf Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- bewaffnete Einfälle in die Schutzzonen die „erforder- lege Dr. Burkhard Hirsch das Wort. lichen Maßnahmen zu ergreifen, einschließlich- der Anwendung von Gewalt." Während sich die Briten auf politische Ausdauer Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Frau Präsidentin! verlassen, haben wir jetzt eine andere Politik bei den Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe in dieser Sache keine Lust mehr zu rheto rischen For- Amerikanern. Die Amerikaner wollen ihre Bosnien meln. Frau Kollegin Wollenberger, ich glaube, wir Politik neu konzipieren. Der russische Präsident wen- det sich aus innenpolitischen Erwägungen heraus sollten aufhören, uns hieraus gegenseitig innenpoliti- gegen eine konsequentere Haltung gegenüber den sche Knüppel zu schneiden. Wenn Sie wissen wollen, bosnischen Serben. Er findet kein Wort zu den Vor- wo der Außenminister ist: Er ist in Washington, um gängen, die sich jetzt in Sarajevo abgespielt haben, als eine gemeinsame Haltung der europäischen Außen- nämlich bosnische Serben die ursprünglich abgege- minister mit den Amerikanern in dieser Sache, über benen Waffen wieder zurückeroberten. die wir hier reden, herbeizuführen. Sie sollten das nicht kritisieren. Meine Damen und Herren, ich möchte fünf Anre- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — gungen geben, oder Vorschläge machen — einen Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: richtigen Begriff kann ich dafür angesichts der Dümmlich! — Vera Wollenberger [BÜNDNIS schwierigen Situation gar nicht finden — die mir 90/DIE GRÜNEN]: Das war korrekt!) geeignet erscheinen, die Glaubwürdigkeit der UNO wiederherzustellen und auch den bosnischen Musli- Es gibt im übrigen weniges festzustellen. men zu helfen. Erstens. Der Angriff der Serben auf Gorazde, auf Erstens. Die humanitäre Hilfe in Bosnien muß die Sicherheitszone der Vereinten Nationen, ist ein verstärkt werden, speziell für Gorazde, d. h. der UNO- Kriegsverbrechen, Konvoi, der sich jetzt von Sarajevo aufgemacht hat, (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der muß auch seinen Bestimmungsort erreichen. SPD und der PDS/Linke Liste) Zweitens. Entsprechend den Vorschlägen von Prä- nicht mehr und nicht weniger. Am Ende dieses Vor- sident Clinton sollten wir das Sicherheitsminimum für ganges muß stehen, daß diejenigen, die dafür verant- die Schutzzonen auch anerkennen. Dieses geschieht wortlich sind, als Kriegsverbrecher behandelt wer- eigentlich viel zu spät. Man muß darauf hinweisen, den. daß sich die amerikanische Regierung bisher gewei- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der gert hat, mehr Blauhelme zu stellen und auch der SPD und der PDS/Linke Liste) stellvertretende Verteidigungsminister Warren jetzt Zweitens. Kein Staat darf in einer zivilisierten Völ- eine sehr unvernünftige Diskussion über die Kosten kergemeinschaft Gewalt oder Gegengewalt ausüben, der Peace keeping operations eröffnet hat. außer auf dem Boden der Charta der Vereinten Drittens. Es soll eine Konsistenz hergestellt werden Nationen, zwischen den Resolutionen, die vom Sicherheitsrat Drittens. Was zu geschehen hat, kann nicht ein verfaßt werden, und dem Handeln der Mitglieder des Einzelstaat entscheiden, sondern es geht um eine Sicherheitsrates. Entscheidung der Vereinten Nationen, des General- Viertens — und das ist meine sehr persönliche sekretärs, des Sicherheitsrates; aber sie müssen sie Meinung —: Ich glaube nicht, daß die Philosophie, die treffen. Boutros-Ghali verfolgt, nämlich eine Verschmelzung Ich habe Zweifel, ob militärische Mittel zu einer von Maßnahmen nach Kapitel VI und VII, möglich ist, anderen Entwicklung geführt hätten. Ich glaube, daß denn in dem Moment, wo ich nach Kapitel VII sie im gegenwärtigen Zeitpunkt wenig bringen wer- Zwangsmaßnahmen durchsetze, begeben sich alle, den. Es sind Geiseln da. Es ist eine Bevölkerung da, die sich unter Kapitel VI in der entsprechenden die dort lebt und dort weiterleben will und wird. M an Region befinden, in die Geiselhaft derjenigen, gegen muß sich fragen, ob eigentlich alle Mittel ausgeschöpft die sich die Maßnahmen nach Kapitel VII richten. worden sind — ich weiß nicht, ob alle Mittel ausge- Schließlich sollte der Sicherheitsrat, so meine ich, schöpft worden sind —, um zu einer wirksamen nachdenken über die Inanspruchnahme des Art. 51 totalen Blockade dieses Gebietes zu kommen. der Charta in Kombination mit der selektiven Anwen- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dung eines Waffenembargos als Bestandteil von Maß- Viertens. Was wir erleben, ist eine Herausforde- nahmen und Kapitel VII der UN-Charta. rung der Vereinten Nationen und damit der Völker- Meine Damen und Herren, in Bosnien wächst ein gemeinschaft. Wenn sich die Vereinten Nationen in Krebsgeschwür, dessen Metastasen all das zerstören dieser Auseinandersetzung nicht durchsetzen, dann können, was uns als Chance für eine bessere politi- werden sie das Schicksal des Völkerbundes erleiden, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19195

Dr. Burkhard Hirsch dann werden sie ihr Ansehen und am Ende ihre dies eingestehen. Ich kann nur hoffen, daß diese Existenz verlieren. Wenn sie sich nicht durchsetzen, Verbrechen und diese Verbrecher irgendwann nach dann wird das eine Herausforderung und eine Ermu- allgemeingültigen Normen des Völkerrechts gerich- tigung für alle Aggressoren der Zukunft sein. tet werden. Fünftens. Wir müssen dafür sorgen, daß der Inter- Die jüngsten Informationen über die Lage im Bür- nationale Gerichtshof nicht nur zusammentritt, son- gerkrieg im verwüsteten Bosnien sind außerordent- dern daß die Kriegsverbrecher, einschließlich des lich widersprüchlich. Meldungen über Gasangriffe Herrn Karadzic, vor dieses Gericht gestellt werden der bosnischen Serben auf ein Krankenhaus in und daß jeder von ihnen weiß, daß sie vor dieses Gorazde stehen Erklärungen der so Beschuldigten Gericht gestellt werden, sobald sie die Grenzen ihres über fortdauernde Verletzungen des Waffenstillstan- eigenen Landes verlassen. Wenn wir in- Zukunft des durch die moslemische Seite gegenüber. Einer- Kriegsverbrechen und Völkermord verhindern wol- seits bereitet sich die NATO auf neue Luftangriffe vor, len, dann geht das nur, indem wir die individuelle andererseits beteuern die Konfliktparteien, daß end- Verantwortung nicht nur betonen, sondern durchset- lich eine politische Lösung gefunden werden müsse. zen. Ob das die Serben wirklich ernst meinen, scheint nach (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der den gestrigen Meldungen über gezielte Angriffe auf SPD und der PDS/Linke Liste) eindeutig zivile Einrichtungen sehr offen. Sechstens. Die Serben dürfen nicht behalten, was Es ist zu fragen: Sind do rt militärische Kräfte außer sie mit Gewalt erobert haben. Kontrolle geraten, die ihren eigenen politischen Füh- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der rern und deren Ambitionen nicht mehr folgen? CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Rudolf Karl (Freimut Duve [SPD]: Sie machen genau das, Krause [Bonese] [fraktionslos]) was die Anführer wollen!) Wenn wir das dulden, dann ist für alle deutlich, daß Meinen es die politischen Führer eigentlich ernst mit auch in Europa, daß in dieser Welt weiter Grenzen mit ihren Friedensbeteuerungen? Das sind Fragen, die Gewalt und mit Kriegen verändert werden können. auch hier im Raum stehenbleiben. Darum muß alles getan werden, um dieses Kriegs- (Vorsitz : Vizepräsident Helmuth Becker) gebiet politisch, wirtschaftlich und international voll- kommen zu isolieren. Wenn das wegen der Nachbarn Ich möchte betonen, wie es an dieser Stelle von uns nicht gelingt, dann müssen wir die Nachbarn zwin- schon öfter getan wurde: Nichts wäre verhängnis- gen, sich zu entscheiden, auf welche Seite sie sich voller als anzunehmen, daß durch Schläge aus der Luft stellen wollen. oder durch andere militärische Gewalteinsätze der Siebtens. Natürlich muß alles getan werden, um Bürgerkrieg in Bosnien oder ein Bürgerkrieg auch die humanitäre Hilfe, die wir mehr leisten — das irgendwo sonst auf der Welt beendet werden ist unstreitig — als alle europäischen Nachbarn, fort- könnte. zuführen, in Mostar und sonstwo, auch zum Aufbau (Freimut Duve [SPD]: Das ist kein Bürger des Gebietes, in dem nicht mehr Krieg herrscht. Ich krieg!) denke, daß wir auch unsere eigenen Regeln für Bürgerkriegsflüchtlinge in diesem Zusammenhang Heute morgen war im Fernsehen von russischen endlich in Ordnung bringen müssen. Militärs zu hören, daß ihrer Meinung nach Luftan- griffe keine bef riedigende, schon gar keine befrie- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne dende Lösung bringen, ein offener Kampf am Boden ten der CDU/CSU und der SPD und des Abg. aber den Einsatz von mindestens 70 000 UN-Soldaten Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions erfordere — mit allen Konsequenzen, die ein Boden- los]) krieg mit sich bringt. Ich glaube, noch nie seit dem Zerfall der jugoslawi- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächste hat schen Föderation und dem Beginn des Bürgerkriegs die Kollegin Angela Stachowa das Wort. war die Lage so dramatisch, angespannt und gefahr- voll wie gegenwärtig. Es genügen ein Funke, ein weiterer unbedachter oder gezielt provokativer Angela Stachowa (PDS/Linke Liste): Frau Präsiden- Schritt, um eine militärische Eskalation bisher nicht tin! Meine Damen und Herren! Die Lage in Gorazde gekannten Ausmaßes mit unabsehbaren Folgen für und die Hilfe der Bundesregierung ist das Thema der dieses geschundene Land, den Balkan und darüber heutigen Aktuellen Stunde. Damit konzentriert sich hinaus zu entfachen. der Deutsche Bundestag im Moment, wie so oft in jüngster Vergangenheit, auf ein — wenn auch sehr Meine Damen und Herren, Mostar und Sarajevo düsteres unter den vielen — Ereignis in der leidvollen gestern, Gorazde heute, morgen eine andere Stadt. „nachjugoslawischen" Geschichte. Die tagtäglichen Chaos und Anarchie, Tod und Verderben wechseln Schreckensmeldungen aus diesem Bereich Südosteu- nur den Ort, wenn dieser Krieg als solcher nicht ropas sind kaum noch zu übertreffen. beendet wird. Ich bezweifle, daß dies mit Bomben der NATO im Auftrag der UNO möglich sein wird. Für Kriegsverbrechen und brutalste Verbrechen gegen einen Moment, einen winzigen in der Geschichte der die Menschlichkeit gehören im ehemaligen Jugosla- Menschheit vielleicht, aber nicht auf Dauer. wien zum blutigen Alltag. Sie wurden von allen Konfliktparteien begangen. Jeder realistisch und auf- Ich meine, es gilt, mit nichtmilitärischem Druck auf merksam diese Ereignisse verfolgende Politiker muß alle Beteiligten seitens der UNO, der Europäischen 19196 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Angela Stachowa Union und Rußlands darauf hinzuwirken, daß endlich Bundesaußenminister Kinkel — dieses, Frau Wol- stabile Waffenstillstandsvereinbarungen zustande lenberger, hätte ich Ihnen jetzt dann gerne gesagt — kommen. befindet sich augenblicklich auf einer Reise nach Der Gedanke einer internationalen Konferenz über Washington. Dort wird er mit Außenminister Christo- Sicherheit und Entwicklung im ehemaligen Jugosla- pher über die Verwirklichung der Vorschläge des wien bzw. eines Gipfeltreffens mit Beteiligung der amerikanischen Präsidenten von gestern beraten. Die Europäischen Union, der USA und Rußlands sollte Bundesregierung hat die grundlegenden Aussagen auch in dieser zugespitzten Situation nicht aus dem von Präsident Clinton begrüßt. Sie ist der Auffassung, Auge gelassen und von der Bundesregierung mitge- daß die von ihm geforderten Maßnahmen zu denjeni- tragen, unterstützt und forciert werden. gen Optionen gehören, mit denen versucht werden muß, die Serben zur Vernunft zu bringen. Der Verzicht auf militärische Gewaltakte ist unseres Erachtens eine unabdingbare Voraussetzung für eine Der Ke rn der Vorschläge des amerikanischen Präsi- friedliche Lösung. Die nach den NATO-Luftangriffen denten besteht da rin, daß — wie im Falle Sarajevos — in der vergangenen Woche eingetretene Eskalation auch in den übrigen Schutzzonen schwere Waffen des Krieges und deren schlimme Folgen für die verboten werden sollten und, sollten sich die Serben Menschen sollten eine Lehre sein, die niemand miß- diesem Verbot widersetzen, ihnen Luftangriffe der achten darf. Bei allen Entscheidungen müssen Leben NATO drohen. Ferner — dieses wurde von einigen und Überleben der Menschen, gleich welcher Nation Kollegen hier ja auch angesprochen — müssen die oder Religion, egal ob als Einheimischer oder UN- Sanktionen gegen die Serben überprüft und, wo Soldat, im Vordergrund stehen. notwendig, verstärkt werden. Ich möchte mit einem Zitat aus einem Artikel aus Der Bundeskanzler hat sich angesichts der schlim- der heutigen „Zeit" mit der Überschrift „Gorazde: Wo men Nachrichten aus Gorazde telefonisch mit Präsi- die Welt keine Hilfe weiß" enden: dent Jelzin in Verbindung gesetzt. Beide unterstützen die französische Anregung, die Bemühungen um eine Ob sich die sechs UN-Sicherheitszonen in Bos- Regelung des Bosnien-Konfliktes dadurch zu aktivie- nien mit einigen Luftangriffen dauerhaft schüt- ren und zu intensivieren, daß Vertreter Rußlands, der zen lassen, bleibt mehr als zweifelhaft. Es wäre Vereinigten Staaten, der UNO und der Europäischen schon viel erreicht, wenn durch Diplomatie und Union gemeinsam eine neue diplomatische Initiative Druck ihr Zusammenbrechen verzögert würde — ergreifen sollen. und sei es nur in Gorazde. Diese Anregung steht auch im Einklang mit den Beschlüssen des Außenministerrats der Europäischen Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Union vom Montag dieser Woche. Dort hat Außenmi- Herren, ich erteile jetzt der Staatsministerin im Aus- nister Kinkel zusammen mit seinen Kollegen die wärtigen Amt, Frau Kollegin Ursula Seiler-Albring, Zusammenführung aller diplomatischen Anstrengun- das Wort. gen in dem Konflikt des ehemaligen Jugoslawien, die ja hier auch von Ihnen, Herr Dr. Brecht, dringend gefordert wurde, nachdrücklich befürwortet. Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin im Auswärti- Alle Genannten sind besorgt, daß eine diplomati- gen Amt: Vielen Dank, Herr Präsident. Meine sehr sche Offensive allein die Serben nicht beeindrucken geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die verheerende wird und diese ihr Verhalten nicht ändern. Wir stehen Lage in Gorazde wurde von meinen Vorrednern in all deshalb vor der Frage, wie diplomatisches Handeln ihrer Brutalität und Grausamkeit geschildert. 65 000 mit geeigneten militärischen Mitteln verstärkt und so Menschen sind auf engstem Raum zusammenge- der notwendige Nachdruck geschaffen werden kann. pfercht. Als Folge des serbischen Beschusses sind über Alle sehen dies, aber auch die damit verbundenen 300 Tote und mehr als 1 100 Verletzte zu beklagen. Risiken. Der Bundespräsident hat recht: Die serbischen Demgemäß gibt es beachtliche Unterschiede in den Angreifer sind Kriegsverbrecher. nationalen Positionen. Diejenigen Staaten, die im (Beifall bei allen Fraktionen und Gruppen) ehemaligen Jugoslawien Truppen für UNPROFOR Wir suchen nach Wegen und Instrumenten, diese zur Verfügung gestellt haben, sind verständlicher- ungeheure Herausforderung der zivilisierten Welt weise zu Recht besorgt, daß ihre Truppen bei einer durch Akte der Barbarei nicht unbeantwortet bleiben Intensivierung militärischen Handelns als Geiseln in zu lassen. Was können wir Deutsche, was kann die hohem Maße gefährdet sind. Aus Äußerungen von Bundesregierung tun, um dazu beizutragen, diese russischen Diplomaten wissen wir, wie schmerzlich Barbarei zu beenden? Sicher können wir Deutsche sie erfahren mußten, von den Serben mit leeren nicht mit den Säbeln unserer Verbündeten rasseln. Es Versprechungen abgespeist worden zu sein. Dennoch wären nicht unsere Soldaten, die in Gefahr oder auch ist mit Rücksicht auf die schwierige innenpolitische in den sicheren Tod gehen würden. Was wir aber tun Situation in der Russischen Föderation nicht ohne können — das tun wir gerade in diesen Stunden —, ist, weiteres mit russischem Einverständnis zum Einsatz in allen Foren, in den Vereinten Nationen, in der schärferer militärischer Mittel zu rechnen. Jedenfalls NATO, in der Europäischen Union, im bilateralen hat Präsident Jelzin eine solche Entscheidung von der Gespräch mit unseren Verbündeten und Rußland zur Abstimmung mit dem Sicherheitsrat der Vereinten Herstellung einer einheitlichen Front der internatio- Nationen abhängig gemacht. nalen Staatengemeinschaft gegen die serbische Die Diskussion im NATO-Rat in den vergangenen Aggression beizutragen. beiden Tagen hat gezeigt, daß die Anforderung des Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19197

Staatsministerin Ursula Seiler-Albring Generalsekretärs der Vereinten Nationen, die NATO kunft keine Überlebenschance in den eroberten möge sich bereit erklären, militärische Schläge aus Gebieten, auch dann nicht, wenn der Sieger die Stadt der Luft gegen serbische Ziele durchzuführen, aus erobert hat. Das ist die Lage. Darum ist das Wort von ähnlichen Erwägungen weiterer Klärung bedarf. den Kriegsverbrechern, das der Bundespräsident Entscheidend, meine Damen und Herren, wird alles gebraucht hat, völlig richtig. Alles, was wir an Abkom- von der amerikanischen Haltung abhängen. Die Auf- men über Kriegsführung im Rahmen des Roten Kreu- gabe der diplomatischen Anstrengungen der näch- zes haben, wird zerschossen und kaputtgemacht. Das sten Tage muß nun darin bestehen, diese verschiede- sind Kriegsverbrecher. nen Initiativen schnellstens auf einen gemeinsamen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Nenner zu bringen. Es hat schon eine Reihe bilateraler 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten Abstimmungsgespräche zwischen dem amerikani- der CDU/CSU und der F.D.P.) schen und dem russischen Präsidenten gegeben, auch zwischen Präsident Mitterr and und dem Bundeskanz- Die Lage, die ich beschrieben habe, erklärt auch die ler. Dies ist geschehen, um die Koordination diploma- Gründe für den Verzweiflungsschrei des Bürgermei- tischer Anstrengungen mit überzeugenden militäri- sters von Gorazde, den ich gestern abend am Telefon schen Drohungen zu gewährleisten. mitgehört habe: „Bombardiert bitte unsere Stadt, NATO und UNO, damit wir in Würde sterben kön- Denn eines ist sicher: Die Gemeinschaft der zivili- nen. " Das ist keine Verzweiflung aus Angst vor dem sierten Staaten kann es sich nicht noch einmal leisten, Täter nur, sondern das ist die feste Überzeugung, daß von den Serben wegen unwirksamer Drohungen es, wenn man verloren hat, für diese Menschen kein vorgeführt zu werden. Leben hinterher gibt. Darum haben sie auch gar keine Die Bundesregierung wird alles in ihrer Macht Chance etwa der Übergabe, wie sie Hamburg oder Stehende tun, um auf die Herbeiführung einer solchen andere Städte 1945 hatten. Diese Chance ist den einheitlichen Front mit einer überzeugenden Politik, Menschen nicht mehr gegeben, und das in der UNO- die von der nötigen Entschlossenheit und Durchset- Schutzzone. zungsfähigkeit getragen wird, hinzuwirken. Alle Pläne der UNO, alle Vorschläge der Herren Vielen Dank. Vance und Owen haben diesen Ermordungsauftrag (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) der Tschetniks außer acht gelassen. Dies ist kein Bürgerkrieg, kein Krieg zur Eroberung von Land und Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Leuten, dies ist ein Krieg der Vernichtung und Ver- Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Freimut treibung der dort lebenden Menschen. Das ist das Duve das Wort. Kriegsziel, nicht die Überwindung von Menschen, um sie nachher als Untertanen zu haben. Insofern ist auch das Wort von Kriegsparteien unangebracht. Nein, Freimut Duve (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegin- diese terroristische Soldateska will einen Teil der nen und Kollegen! Nach einer dritten Reise durch bosnischen Bevölkerung endgültig vernichten, sei es Bosnien und durch die genannten Städte bin ich mehr durch Mord oder Vertreibung. Das ist nicht die und mehr zu der Auffassung gekommen, daß eine Beschreibung eines Motivs oder eines Wunsches, Wurzel des Dramas darin liegt, daß wir alle sehr, sehr sondern die Beschreibung der Wirklichkeit der letzten unterschiedliche Lagebeurteilungen haben. Wir sa- zwei Jahre. gen immer, es gebe unterschiedliche Zielsetzungen und unterschiedliche Motive. Das stimmt zwar auch, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) aber ich empfinde mehr und mehr, daß von allen Wir haben zugestimmt, daß den davon Bedrohten Seiten sehr verschiedene Dinge über das gesagt keine Waffen geliefert werden dürfen, mit denen sie werden, was dort eigentlich los ist. sich hätten verteidigen können. Wir, auch meine Darum erlauben Sie bitte die Darstellung einer Partei, haben der Welt erklärt, daß wir Deutschen uns Szene: Ende März trifft die serbische Artillerie die an der Verteidigung der Menschen in Bosnien nicht orthodoxe Kirche in Tuzla, bisher durch den Krieg beteiligen werden — weil wir nicht dürfen aus verfas- völlig unbeschädigt. Einen Tag später steht ein Bau- sungsrechtlichen Gründen, weil wir nicht sollen aus gerüst auf Anordnung des muslimischen Bürgermei- historischen Gründen und weil wir nicht wollen aus sters, der heute unser Gast ist, der in der bedrängten politischen Gründen. Das ist eine legitime Position, Stadt auch seinen serbischen Mitbürgern zu Hilfe und wir sollten nicht versuchen, daraus in unserem kommt. Die Kirche wird repariert. Ich war selbst dabei Land parteilich Vorteile zu ziehen. Es ist eine Position, und habe es gesehen. die man einnehmen kann; ich persönlich habe sie von Szenen aus allen von den bosnischen Serben Anfang an nicht geteilt. eroberten Gebieten: Über 1 000 Moscheen sind zer- Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr, der Sieger stört worden, zerschossen oder gesprengt. Die F ried- steht fest, schon seit langem: Karadzic und der Ver- höfe werden bis zur Unkenntlichkeit geschändet und treibungsterror. Die Verlierer stehen auch fest: Verlie- verwüstet, die Erinnerung an das Leben wird verstüm- rer ist die Zivilität Bosniens, Verlierer ist Europa und melt. Die Überlebenden werden drangsaliert, Massa- Verlierer ist die UNO. Wir müssen uns jetzt auf die ker an ganzen Familien finden in diesen Gegenden Aufnahme der Vertriebenen und auf die Hilfe bei der zwei Jahre nach der Eroberung bis heute noch statt, so Sicherung der Restgebiete Bosniens konzentrieren. in Banja Luka vor wenigen Wochen. Tuzla kann das gleiche Schicksal erleben. Es gibt Unter dem Kommando der Kriegsverbrecher Kara- bisher kein wirkliches Haltesignal für alle anderen dzic und Mladic haben Bosnier muslimischer Her- Schutzzonen der UNO. 19198 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Freimut Duve Wenn die Eroberung von Gorazde ein Ergebnis nicht die Forderung nach der Weltregierung, nach der haben könnte, dann das, daß das Stoppschild für die Weltexekutive, die über die Vereinten Nationen in Terroristen endlich deutlich hochgehalten wird. Aber unser geltendes Völkerrecht eingegangen ist? — Ja, auch daran kann ich nicht mehr glauben. es gibt sie. Und wenn heute jemand sagt, militärische Mit wem es die Welt zu tun hat, meine Damen und Mittel — mit welchen Verdrehungen, Verrenkungen Herren, zeigt die Geschichte der orthodoxen serbi- und Verbeugungen auch immer das begründet schen Gemeinde in Tuzla, die ich zum Schluß noch zu wird — seien nicht die Mittel, die einzusetzen wären, Ende erzählen will. Nach der Reparatur der Kirche dann muß man fragen: Welche Mittel haben denn erklärte das orthodoxe Oberhaupt in Belgrad, alle bisher gewirkt? Können wir denn so sicher sein, daß Taufen, die der nach Tuzla zurückgekehrte Pope an Verhandlungen, von Herrn Owen und anderen serbischen Kindern in Tuzla inzwischen vollzogen geführt, zum Erfolg, zum Frieden führen? Die Frage hätte, seien ungültig, weil dieser Pope ein Verräter sei. beantwortet sich von selbst. Ich würde deshalb sehr Denn er sei auf die andere Seite zurückgekehrt. Er vorsichtig sein, den Einsatz militärischer Mittel auszu- darf jetzt dort nicht mehr tätig sein. Er ist zurückgeru- schließen. fen worden. — Wir haben selbst von deutschen Natürlich tun wir uns hier in Deutschl and schwer. Freunden gehört, in Tuzla gäbe es KZs für Serben. Ich Die beiden vergangenen Tage in Karlsruhe haben ein habe mit der Gemeinde gesprochen, und es gab hier Bild davon geliefert, wie wir mit dieser Frage umge- im Lande auch Menschen, die solche Propaganda hen. Vielleicht ist auch die Diskussion, die wir jetzt übernommen haben. — Diese Kirche ist heil geblie- führen müssen um die Frage des Grundsätzlichen, die ben. Dort will man keine muslimische oder serbische Frage der Verantwortung eines freien Landes in der Gesellschaft sein, sondern man will bosnische Gesell- freien Welt für diejenigen, die ihrer Freiheit beraubt schaft sein, eine moderne Industriegesellschaft, in der sind, eine Frage zur Besinnung bei uns in Deutsch- Menschen aller Religionen zusammenleben müssen, land. Es ist vielleicht auch eine Frage zur Besinnung denn sonst hat diese Gesellschaft keine Chance in darüber, ob wir unseren Teil der Verantwortung, der unserer industriellen Modernität. die Bundesregierung im Rahmen ihrer Möglichkeiten Der Pope ist wieder weg. Die serbische Gemeinde redlich und gut nachkommt, nicht ausdehnen müs- ist zwei Jahre ohne Betreuung gewesen. Dieses Ver- sen. dikt des Oberpopen in Belgrad ist Fundamentalismus. Da geht natürlich die Frage an manche, die hier Fundamentalismus findet wahrlich nicht nur in der gesprochen haben und noch sprechen werden, wie sie islamischen Welt statt, sondern auch woanders. es denn halten mit diesen Verantwortlichkeiten, die Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. auch auf uns zurückschlagen. Ist es denn so, daß es um (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gorazde und, Herr Bürgermeister, um Tuzla alleine der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS/Linke geht? Die Analyse der Lage zeigt doch, daß es hier um Liste) Europa geht. Der Botschafter Bulgariens, der heute vormittag mit Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und mir gesprochen hat, hat mir gesagt: Wir haben den Herren, nächster Redner ist unser Kollege Christian Eindruck, von Europa abzudriften, weil sich der ser- Schmidt. bische Sperriegel dazwischenlegt. — Ich sage: der Sperriegel des Unrechts sich dazwischenlegt. Und wenn Gorazde und andere Schutzzonen nicht vertei- Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Herr Präsi- digt werden sollten, wer garantiert uns denn dann, dent! Meine Kolleginnen und Kollegen! Als der daß der Kosovo nicht auf der nächsten Seite dieses Bischof von Banja Luka vor einigen Wochen hier in Buches steht? Bonn war und wir ein Gespräch miteinander hatten, hat er eine Karte seiner Diözese ausgebreitet und die Das heißt: Tua res agitur! Unsere Angelegenheiten kaputtgeschossenen Kirchen — Ort für Ort — einge- werden dort mitentschieden. Europa wird nichts zeichnet. Er hat an mich die Frage gerichtet, ob er anderes übrigbleiben, als diesen Konflikt, der immer denn noch eine Hoffnung für seine katholischen mehr an Schärfe gewinnt, der keine Dimension der kroatischen Glaubensbrüder in Banja Luka haben Humanität, in welcher Weise auch immer, mehr könne. Ich bin ihm die Antwort schuldig geblieben, aufnimmt, vor sich hinschwelen zu lassen. weil die Frage, die sich dahinter verbirgt, nämlich die Das ist die eigentliche Frage auch an uns. Und das Frage nach der Möglichkeit des Zusammenlebens ist auch das, was in diesem speziellen Punkt — nicht nach dem Konflikt — Kollege Duve hat das ja gerade bei dem Leiden der Bevölkerung — Gorazde von sehr deutlich angesprochen —, für uns ungeklärt und Kigali unterscheidet. In beiden Städten wird momen- ungelöst ist. tan rücksichtslos gemordet. Kigali ist schlimm und Wer Ivo Andric und seinen Roman „Die Brücke über betrifft die Weltgemeinschaft genauso wie Gorazde. die Drina" liest, der Jahrhunderte des Konflikts Aber Gorazde be trifft Europa in seiner Substanz. gerade an diesem Fluß, an dem auch Gorazde liegt, Gorazde ist eine europäische Stadt, Ivo Andric ein beschreibt, der bekommt eine Ahnung davon, welche europäischer Schriftsteller, und es ist auch eine euro- Schwierigkeiten aus den Jahrhunderten bestehen, päische Aufgabe, nicht nur den Vereinigten Staaten Schwierigkeiten, von denen zu befürchten ist, daß sie von Amerika und der Russischen Föderation die auch in Zukunft bestehen werden. Die Frage ist: schwierigen Aufgaben zu überlassen. Nach meiner Haben wir seit den Zeiten der osmanischen Herrschaft festen Überzeugung kann es nur darum gehen, das, etwas dazugelernt? Gab es da nicht einen Imm anuel was die NATO 40 Jahre lang bewiesen hat, daß Kant und eine Schrift „Zum ewigen Frieden"? Gab es nämlich Glaubwürdigkeit und Glaubhaftigkeit der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19199

Christian Schmidt (Fürth) Abschreckung zur Erhaltung des Friedens und zum die Zahl 30 000 genannt. Meine Damen und Herren, Nichtgebrauch von Waffen führen können, auch in ich fürchte, wer überhaupt überlegt, in Bosnien Zukunft — wenn es sein muß, und es muß wohl sein, Bodentruppen einzusetzen, muß mit wesentlich höhe- mit militärischen Schlägen — zu unterstreichen. ren Zahlen rechnen. Ich fürchte, die realistischere Si vis pacem, para bellum! Die schwerwiegende Zahl wäre 300 000. Wer will es verantworten, auch nur Erkenntnis: „Wenn du den Frieden erhalten willst, 30 000, geschweige denn 300 000 Soldaten dort in mußt du im Notfall auch für den bewaffneten Konflikt eine Situation zu schicken, in der möglicherweise gerüstet sein", bleibt uns nicht erspart. Das ist die nichts anderes geschähe, als daß sie selber verheizt eigentliche Lehre, die ich aus den schrecklichen würden? Nachrichten, die wir aus Gorazde und anderen Teilen Meine lieben Kollegen, ganz nüchtern sollten wir Bosniens hören, uns allen anempfehle: darüber in vielleicht ein paar Feststellungen treffen, die Bosnien aller Ruhe, aber auch in aller Ernsthaftigkeit nachzu- wahrscheinlich auch nicht helfen werden, die aber denken und manches Scharmützel, das auch im Hin- vielleicht zur Analyse beitragen können. blick auf das kommende halbe Jahr geführt werden Erstens. Rußland ist und bleibt eine Großmacht. Wir sollte, nicht zu führen, sondern auf die Ebene der sollten es begrüßen, daß Präsident Jelzin — entgegen Verantwortung Deutschlands einzuschwenken. Und Irritationen der letzten Woche — jetzt doch klarge- das heißt, daß wir in der Völkergemeinschaft unseren macht hat, daß Rußland bereit ist, seine Verantwor- ungeschmälerten Beitrag zur Lösung solcher Kon- tung auch in dieser Situation wahrzunehmen. flikte leisten müssen. Das mag bitter für uns und bitter für manche sein. Die Erkenntnis zeigt uns, daß kein Zweitens — ich wiederhole das —: Militärische Weg daran vorbeiführt. Schläge lösen keine politischen Probleme, sondern können allenfalls flankierend eingesetzt werden. Vielen Dank. Drittens — das ist eine Folgerung, die Bosnien wohl (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) auch nicht mehr hilft —: Sollte es, was ja zu befürchten ist, irgendwo auf der Welt zu ähnlichen Situationen Vizepräsident Helmuth Becker: Nächster Redner ist kommen, dann müßte sich die Staatengemeinschaft unser Kollege Ulrich Irmer. doch ernsthaft überlegen, ob man nicht durch früh- zeitigeres Krisenmanagement und gegebenenfalls Ulrich Irmer (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen frühzeitigeres Eingreifen durch eine Weiterentwick- und Herren! Gegen Ende dieser Aktuellen Stunde lung unseres Völkerrechts dazu beitragen könnte, daß fühle ich mich ratloser als je zuvor. Es ist klar, daß wir Menschen an anderen Plätzen der Welt das bittere keine Rezepte haben. Ich fühle mich dem Bürgermei- Schicksal Bosniens erspart bleiben möge. ster von Tuzla und seiner Begleitung gegenüber fast Ich danke Ihnen. etwas beschämt, weil wir ihm nichts mit auf den Weg (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der geben können, als daß wir erneut unser Entsetzen, PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der unseren Abscheu artikulieren, ohne daß wir konkret SPD) etwas beitragen können. Und da gerade wir als Deutsche aus den Gründen, die hier schon angespro- chen worden sind, weniger beitragen können als Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- andere, frage ich mich, ob es überhaupt richtig gewe- ten Damen und Herren, der nächste Redner ist jetzt sen ist, diese Aktuelle Stunde zu beantragen und dann unser Kollege . anzusetzen. Wir verbessern ja die Stituation nicht dadurch, daß wir immer wieder unsere Hilflosigkeit (Frankfurt) (SPD): Herr Präsident! betonen. Karsten D. Voigt Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Was können wir sagen? — Herr Kollege Brecht hat Debatte in der vorigen Woche habe ich gesagt, daß darauf hingewiesen, daß die Vereinten Nationen meiner Meinung nach die Einsätze der NATO im einen erheblichen Vertrauensverlust angesichts der Auftrage der Vereinten Nationen völkerrechtlich Entwicklungen in und um Gorazde erlitten haben. Das zulässig und politisch und moralisch legitim seien. ist sicher richtig, aber wir müssen doch erkennen, daß die Vereinten Nationen nur das Ansehen haben (Beifall des Abg. Freimut Duve [SPD]) können, das ihnen von denen verliehen wird, die ihre Dieser Meinung bin ich auch heute. Mitglieder sind und die Beschlüsse der Vereinten Frau Wollenberger hat am Beginn dieser Debatte Nationen umzusetzen hätten. Die Vereinten Nationen mit Hinweis auf die gleichen Prinzipien, die ich auch sind ja kein Abstraktum, sondern es sind die Mitglied- in der vorigen Debatte ausgesprochen habe und in staaten. Ich fürchte, daß wir für Bosnien nicht viel dieser Debatte ebenfalls aussprechen werde, Kampf- werden tun können. einsätze, Bombardements gegen die Serben gefordert Natürlich muß man erwägen, welche militärischen und gleichzeitig die Vereinten Nationen, die NATO Einsätze gegebenenfalls noch etwas helfen könnten. und die Bundesregierung scharf kritisiert. Nun kann ein Problem nie mit militärischen Mitteln Obwohl ich die moralischen Gründe von Frau gelöst werden. Militärische Schläge können allenfalls Wollenberger und auch ihre Art der Bewertung der flankierend helfen, um politische Lösungen, die ver- Konsequenzen aus der deutschen Geschichte teile, sperrt scheinen, vielleicht doch wieder möglich zu komme ich in wichtigen Teilaspekten zu unterschied- machen. lichen Konsequenzen in bezug auf die Kritik an diesen Es ist hier auch angeklungen, daß gegebenenfalls Institutionen. Daß eine solche moralische Debatte Bodentruppen eingesetzt werden müßten. Es wurde wichtig ist, ist selbstverständlich. Daß sie zu unter- 19200 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Karsten D. Volgt (Frankfurt) schiedlichen Konsequenzen führen kann, dafür ist die tisch legitim ist, vor dem Hintergrund zu prüfen, ob ein Debatte innerhalb des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Einsatz deutscher Truppen eskalierend oder friedens- NEN der beste Beweis; ich sage das ohne Vorwurf. fördernd wirkt. Nach meiner Meinung wirkt er eska- Beide Flügel innerhalb Ihrer Partei führen den Kampf lierend. gegeneinander — Sie sind in einer Minderheitenposi- Zuletzt: Es ist — so bitter es ist — in Wirklichkeit tion, was respektabel ist — überwiegend mit morali- auch jetzt noch wahr, daß eine dauerhafte Friedens- schen und historischen Argumenten in bezug auf die lösung nur am Verhandlungstisch erreicht werden deutsche Geschichte und kommen zu völlig gegen- kann. Das Problem bei den jetzt von den Russen — und sätzlichen praktischen Schlußfolgerungen. von Herrn Irmer — vorgeschlagenen und unterstütz- Ich teile, wie gesagt, Ihre moralische Position und ten Verhandlungen ist, daß die Verhandlungen als Ihre Bewertung, welche Schlußfolgerungen aus der Camouflage für weitere Aggressionen dienen kön- deutschen Geschichte zu ziehen sind, aber ich nen. Deshalb ist die Position der Russen in bezug auf bewerte das Verhalten der Institution NATO partiell Verhandlungen nur glaubwürdig, wenn sie gleichzei- deshalb anders, weil Politik etwas anderes ist als nur tig mit ihrem Einsatz zur Verweigerung der militäri- die Äußerung von Betroffenheit und Empörung und schen Erfolge der Serben verbunden ist. Dieser Punkt auch mehr und anderes ist als nur die moralische — ich spreche dabei jetzt nicht die deutsche Position Bewertung. Wir müssen gleichzeitig die zweiten und an — ist eine ernsthafte Frage an die Russen. Sie von dritten Schritte mit bedenken, die die Konsequenzen der PDS haben sie falsch beantwortet. Denn wenn unseres Handelns sind, das wir empfehlen. man den militärischen Erfolg in einer solchen Lage nicht verweigert — ich sagte, ich komme, was die Ich weise einfach darauf hin: So unbefriedigend das praktischen Schlußfolgerungen als Forderung angeht, Verhalten der NATO ist, der Tatbestand, daß, bevor auf das zurück, was Frau Wollenberger gesagt hat —, ein Handeln der NATO erforderlich ist, darüber ein dann bedeutet das, daß keine Verhandlungslösung Konsens hergestellt werden muß, ist selber ein frie- möglich ist. Solange ein Aggressor glaubt, er könne denstiftendes Element. Gerade weil der Erste Welt- militärische Erfolge erzielen, so lange ist eine Ver- krieg in Sarajevo begonnen hat, ist der Tatbestand, handlungslösung leider nicht realistisch. Nachdem daß jeder der Mitgliedstaaten der NATO auf Allein- die Sanktionen — ich komme damit auf den Aus- gänge in dieser Frage verzichtet, ein Schutz vor einem gangspunkt zurück — und die politische Warnung, neuen europäischen Krieg und ein Schutz vor einer ausgedrückt durch einen sehr begrenzten militäri- weiteren, die Grenzen Bosniens und des früheren schen Einsatz vorige Woche, nicht gezogen haben, ist Jugoslawiens überschreitenden militärischen Eskala- der nächste Schritt zur Verweigerung des militäri- tion. schen Erfolges leider die einzige Möglichkeit, um eine Das zweite: Soweit es die Vereinten Nationen Verhandlungslösung vorzubereiten, weil sonst der betrifft, kann man einen Konsens in bezug auf die Aggressor weitere Aggressionen begehen wird. Aktion nur herstellen, wenn nicht ein ständiges Mit- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten glied des Sicherheitsrats widersp richt. Deshalb wird der F.D.P.) schon im Vorfeld z. B. auf Rußland Rücksicht genom- men. Ich bedaure die Haltung Rußlands — ich komme Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und darauf gleich noch — in dieser Frage; ich teile deren Herren, jetzt hat unser Kollege Andreas Schmidt das Bewertung nicht. Aber der Tatbestand, daß solche Wort. Entscheidungen nur im Konsens unter den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates gefällt werden kön- nen, ist auch ein Schutz vor Mißbrauch. Viele hier im Andreas Schmidt (Mülheim) (CDU/CSU): Herr Prä- Parlament — damals Sie mit anderen geschlossen — sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! waren — ob das richtig oder falsch war, lasse ich jetzt Unser Kollege Stefan Schwarz kann jetzt leider nicht dahingestellt - beim Golfkrieg der Meinung, daß der hier sein, weil er versucht, telefonischen Kontakt mit Sicherheitsrat sein Instrumentarium mißbraucht habe. Gorazde herzustellen. Er hat mich deshalb gebeten, Ich war nicht unbedingt dieser Meinung; das ist aber hier einiges kurz mitzuteilen, was ich auch tun will. eine andere Frage. Wenn m an in diesem Fall das Der Kollege Schwarz hat um 15.15 Uhr mit dem Konsenserfordernis im Sicherheitsrat anprangert, bosnischen Ministerpräsidenten Silajdzic telefoniert. muß man sich darüber klar sein, was es bei künftigen Dieser hat ihm folgendes mitgeteilt: Die Radikalser- Krisen bedeuten kann, wenn es solche Schutzfunktio- ben haben den Bosniern in Gorazde ein neues Ultima- nen nicht gäbe. tum gestellt, daß sie bis 16 Uhr die Verteidigung der Stadt aufgeben. Wenn sie dies nicht tun, wird mit allen Das dritte. Obwohl ich Ihre historische Bewertung Mitteln weitergekämpft, wird es keine Verhandlun- der Schlußfolgerungen aus der deutschen Geschichte gen mehr geben. — Ich möchte das mitteilen, weil teile, ist der Tatbestand, daß das deutsche Militär nur mich Stefan Schwarz darum gebeten hat. eingesetzt werden kann, wenn das auf verfassungs- rechtlich einwandfrei geklärter Basis geschieht, ein Ich glaube, daß die brutalen Vorgänge um die wichtiger Beitrag zum inneren Frieden und auch eine moslemische Stadt Gorazde uns alle gleichermaßen der Schlußfolgerungen aus dem Zweiten Weltkrieg erschüttern. Da wird es keine Unterschiede geben. Ich und dem Verhalten des deutschen Militärs. Deshalb gehe davon aus, daß wir alle das Gefühl haben, ist es nach meiner Meinung nach wie vor unverant- unserer Verantwortung nicht gerecht zu werden, wortlich, vor der Klärung der verfassungsrechtlichen wenn wir zu diesen brutalen Kriegsverbrechen hier Frage für den Einsatz deutschen Militärs zu plädieren. nur unsere Befindlichkeit zum Ausdruck bringen. Auch danach ist die Erwägung, ob ein Einsatz poli- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist es!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19201

Andreas Schmidt (Mülheim) Gorazde ist meines Erachtens bereits jetzt ein Sym- tung gegenüber den schrecklichen Vorkommnissen in bol für das Versagen der Politik der Vereinten Natio- Gorazde nicht gerecht. nen, aber auch für das Versagen der Politik der Ich will hier — ich sage das noch einmal — nicht den Europäischen Union. Ich bin kein Militärexperte, aber Anlaß nutzen, um Parteipolitik zu machen. Verstehen ich hoffe sehr, daß die NATO im Auftrag der Vereinten Sie das als Appell, daß Sie sich in der Frage der Nationen im Sinne der Menschlichkeit sehr bald UNO-Einsätze bewegen, damit wir hier eine gemein- Luftstreitkräfte einsetzen wird, um den bestialischen same Haltung darstellen, nach außen tragen und Kriegsverbrechern in Gorazde Einhalt zu gebieten. unseren Einfluß in der Europäischen Union und inner- halb der UNO stärken können, damit beide Institutio- Pazifismus — dies wird meines Erachtens hier sehr deutlich — ist jedenfalls keine Antwort auf Brutalität nen in dieser Frage zu einer entschlosseneren Haltung und Unmenschlichkeit. Die Forderung der GRÜNEN,- finden. die NATO abzuschaffen, ist vor diesem Hintergrund Ich danke Ihnen. geradezu grotesk. Diese Forderung orientiert sich an (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) einer Illusion und nicht an der Realität. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und sowie des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]) Herren, weitere Wortmeldungen in der Aktuellen Pazifismus ist in der realen Situation keine Strategie Stunde liegen nicht vor. für mehr Menschlichkeit, sondern im Ergebnis eine Ich habe jetzt aber die Wortmeldung der Frau Strategie zur Kapitulation vor Brutalität und Ge- Kollegin Vera Wollenberger gemäß § 30 der Ge- walt. schäftsordnung. Bitte, Frau Kollegin Wollenberger. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause [Bo Vera Wollenberger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nese] [fraktionslos]) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Kollege Hirsch hat mich in seinem Beitrag aufgefordert, zu Meine Damen und Herren, die brutalen Vorgänge unterlassen, den Aufenthalt unseres Außenministers in Gorazde unterstreichen erneut die Forderung der Kinkel in Washington zu kritisieren. Ich stelle fest, daß Union, im Rahmen einer UN-Reform einen internatio- ich das nicht getan habe. Ich habe die Regierungser- nalen Gerichtshof für Kriegsverbrecher einzurichten. klärung des Außenministers kritisiert. Diese Regie- Die verantwortlichen Kriegsverbrecher müssen wis- rungserklärung kann jeder hier im Hause nachlesen. sen, daß die Weltgemeinschaft sie für ihre Verbrechen Wenn man sich die kleine Mühe macht, die Aussagen zur Rechenschaft ziehen wird. in der Regierungserklärung mit den Meldungen des Gorazde liegt nicht irgendwo, Gorazde liegt mitten Tages zu vergleichen, dann kommt man zu der in Europa. Die Lehre, die wir jetzt daraus ziehen Feststellung, daß die Aussage, in dieser Regierungs- müssen, heißt nicht „weniger Europa" , sondern, wie erklärung werde schöngeredet, weder dümmlich ich finde, „mehr Europa". noch unwahr, sondern einfach zutreffend ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Das Europäische Parlament muß endlich die Kom- Herren, damit sind wir am Ende dieses Tagesord- petenz erhalten, eine gemeinsame europäische nungspunkts. Außenpolitik zu formulieren und gegenüber den nationalen Außenpolitiken der Mitgliedsländer Ich rufe nunmehr Punkt 7 der Tagesordnung auf: durchzusetzen. Die Idee der Vision Europas ist doch nicht in erster Linie eine wirtschaftliche. Nicht der Beratung der Beschlußempfehlung und des Gemeinsame Markt steht an erster Stelle, sondern die Berichts des Ausschusses für Verkehr (16. Aus- Idee von Frieden und Menschenrechten sowie die schuß) Ideale des Humanismus. Aber wie können wir Deut- a) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang sche uns glaubwürdig für eine gemeinsame europäi- Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Ham- sche Außenpolitik einsetzen, wenn wir uns nicht burg), Dr. Dionys Jobst, weiterer Abgeord- einmal im Deutschen Bundestag einig sind, daß wir neter und der Fraktion der CDU/CSU sowie uns nach der Wiedervereinigung zu unserer interna- der Abgeordneten , Horst tionalen Solidarität bekennen müssen? Friedrich, Roland Kohn, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der F.D.P. Unser außenpolitischer Spielraum in dieser Frage ist durch die Blockadehaltung der SPD deutlich ein- Höhere Attraktivität des Fahrradverkehrs geschränkt. Ich will hier keine Parteipolitik machen; b) zu dem Antrag der Abgeordneten Heide aber ich finde, auch dieser Punkt gehört zu unserem Mattischeck, Robert Antretter, Hans Gott- Thema. Ich bin ganz sicher: Bei der Analyse der fried Bernrath, weiterer Abgeordneter und serbischen Kriegsverbrechen über den Grad der west- der Fraktion der SPD lichen Entschlossenheit ist die Blockadehaltung der Förderung des Fahrradverkehrs Sozialdemokratischen Partei eine konstante Größe in — Drucksachen 12/4816, 12/2493, 12/5725 — ihrem Kalkül. — Das ist meine feste Überzeugung; ich finde, das muß man auch an dieser Stelle sagen Berichterstattung: dürfen. — Solange Sie sich gegen die Beteiligung Abgeordneter Wolfgang Börnsen (Bönstrup) deutscher Soldaten bei den AWACS-Aufklärungsflü- Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die gen wenden, so lange werden Sie Ihrer Verantwor- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich höre 19202 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Vizepräsident Helmuth Becker und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so gefördert wissen. Es löst nicht unsere Verkehrskon- beschlossen. zentration, aber es kann zur Entspannung der Lage, Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem zur Entlastung der Straße und zur Erneuerung unserer unserem Kollegen Wolfgang Börnsen das Wort. Verkehrsphilosophie gut beitragen. Die Entwicklungschancen für das Rad sind noch lange nicht ausgeschöpft. Fast jeder zweite Weg, der Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Herr bei uns mit dem Auto zurückgelegt wird, ist kürzer als Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist 5 km. In Mittel- und Großstädten, so finden Fachleute, gar nicht einfach, nach einem so ernsthaften und könnte der Fahrradanteil bis 40 % gesteigert werden, traurigen Thema auf eine Thematik umzuschalten, in Kleinstädten bis 20 %. In Kombination mit dem die einen ganz anderen Hintergrund und Sachverhalt ÖPNV sind noch ganz andere Größenordnungen — da hat. Ich will es trotzdem versuchen und darf um Ihr gebe ich Lisa Peters recht — denkbar. So schätzen Verständnis bitten. Es gehört zum parlamentarischen Fachleute, daß sich rund 25 bis 35 % aller Nahver- Alltag, daß es unterschiedlichste Themen gibt, mit kehrswege vom Pkw auf das Rad verlagern lassen. denen wir uns auseinanderzusetzen haben. Bis zu einer Entfernung von 2,5 km sind Auto und Mein Thema heute ist die Verkehrspolitik, genauer: Rad in der Stadt nahezu gleich schnell, was den die höhere Attraktivität des Fahrradverkehrs. Unsere Autofahrer manchmal ärgert. Bei 5 km hat das Vierrad Familienministerin — Sie wissen es — ist ebenso nur dann vor dem Drahtesel die Nase vorn, wenn es daran beteiligt wie der Ministerpräsident Rudolf unverzüglich einen Parkplatz findet, sonst nicht. Scharping, wie Dieter Thomae von der F.D.P., Karl Hermann Haack von der SPD oder Sigrun Löwisch von Förderlich für den Fahrradverkehr sind auch wet- den Christdemokraten und viele hundert andere Kol- terunabhängige, diebstahlsichere Parkpavillons, wie leginnen und Kollegen in diesem Hohen Hause. Viele bereits modellhaft in ersten Städten, so in Bielefeld, treten in die Pedale, einige wenige in Bonn, aber viele erstellt werden. zu Hause, alle nach dem Motto: Fahren wir durch Wer Energie sparen, die Umwelt schonen und die Stadt und Mark, denn Radeln macht die Wadeln Gesundheit fördern will, muß mehr auf das Fahrrad stark! setzen. Radfahren befindet sich im Aufwind, aber nicht nur (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der bei uns: Die ganze Welt setzt auf das Rad. Als SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Personentransportmittel ist das Fahrrad weltweit füh- rend. 100 Millionen Fahrräder werden jährlich produ- Doch mit Menge und Masse, mit Tempo und Taten- ziert. Sein Abstand vor dem Auto hat sich seit 1970 drang der Zweiradfans, Freizeitgenießer und m an verdreifacht. Jeder Zehnte auf der Welt fährt ein Auto, -cher Pedalfanatiker wachsen auch die Risiken, aber 80 % fahren Fahrrad. Unfälle und Konflikte. Wenn die Fußgängerpassage als Trainingsstrecke für die Tour de France genutzt Mit der Entstehung der Umwelt- und Fitneßbewe- wird, wenn jeder dritte Radfahrer, so nachgewiesen, gung ist das Radfahren bei uns geradezu explodiert. Einbahnstraßen in falscher Richtung durchfährt, wenn Als Fortbewegungsmittel in der Freizeit hat das Rad jeder vierte bei roter Ampel die Rechtsabbiegung einen Vorzugsrang, weil es manchem ein besonderes trotzdem praktiziert, dann ist es notwendig und för- Freiheitsgefühl vermittelt. Das Selber-Erstrampeln derlich, daß sich der DVR, die Verkehrswacht, der bei Wind und Wetter ist das große Vergnügen. ADFC und andere der Radfahrer als bevorzugter Gesund, geschmackvoll gestylt, als Arme-Leute- Zielgruppe ihrer Verkehrssicherheitsarbeit anneh- Gefährt passé, erlebt das Rad bei uns eine Renais- men. Pedalritter sind gefordert und nicht Pedalrow- sance ohnegleichen. Gab es vor 20 Jahren noch dys. 30 Millionen Räder zwischen der Flensburger Förde und dem Bodensee, sind es heute wenigstens 60 Mil- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. lionen. Ihr Anteil als Verkehrsmittel liegt seit Jahren sowie bei Abgeordneten der SPD) konstant bei 10 %. Aber die Strecke, die mit dem Rad Herausforderung sind aber auch die Unfallzahlen: zurückgelegt wird, hat sich auf fast 7 Milliarden Waren es 1981 noch 1 069 getötete Radler, so ist die Fahrten gesteigert. Auch clevere Fahrradkuriere Zahl 1992 auf 702 gesunken. Damit ist ein absoluter haben daran ihren Anteil. Tiefstand erreicht, nach seit Jahren deutlichem Rück- Als Touren- und Freizeitfahrzeug gewinnt es gang. Diese erfreuliche Entwicklung gilt aber nicht für zunehmend an Bedeutung. Das gilt auch für den die Anzahl der Verletzten; sie ist in den letzten Jahren Berufsverkehr. Städte mit einem Radfahranteil von deutlich gestiegen. Jeder vierte Radfahrer verun- 20 % sind heute bei uns keine Seltenheit mehr. Zen- glückt mindestens einmal im Jahr; die Dunkelziffer ist tren wie Erlangen, Freiburg und Troisdorf radeln viermal höher. Jeder zwölfte Verkehrstote und jeder bereits an 40 % heran. Als fahrradfreundliche Stadt zu siebente Verunglückte ist ein Radfahrer. Das sind gelten ist ein Imagegewinn. Glücklich der Bürgermei- Zahlen, die alarmieren, ist ein Zustand, der Handeln ster wie in Offenburg oder in Münster, der einen verlangt. goldenen Lenker als Auszeichnung für seine Stadt in Trainierte Treter machen auch mit dem Rad ein Empfang nehmen kann und nicht die rostige Speiche hohes Tempo. 30 bis 40 km/h sind keine Seltenheit. bekommt, wie in Essen geschehen. Die Unfälle bei diesen High-Tech-Radlern sind um so Die Union begrüßt diese Entwicklung ausdrücklich. schwerer. Besonders Schädelfrakturen treten häufig Sie will dieses umweltfreundliche, gesundheitsför- auf. Nach Ansicht der Unfallforscher könnten 80 % der dernde, platz- und energiesparende Verkehrsmittel schweren Kopfverletzungen durch Helme verhindert Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19203

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) werden. Bei vielen gehört der Kopfschutz bereits zur Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Herr selbstverständlichen Sicherheitsausstattung, doch Kollege Otto, es ist eine Schlußfolgerung aus den noch nicht bei der Mehrheit. Eine Kampagne für den vorgelegten Papieren aller Fraktionen, daß die Stra- Helm, ob Soft- oder Hartschale, ist nicht nur hilfreich, ßenverkehrs-Ordnung in dieser Richtung geändert sondern auch erforderlich. Bei Kindern bin ich für die wird. Pflicht. Auch auf Bundesebene sind die Rahmenbedingun- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gen für den Fahrradverkehr weiter zu verbessern. Die Jahr für Jahr werden annähernd 100 von ihnen beim Beschlußempfehlung der Koalition zum Fahrradtou- Radfahren getötet. Es ist unsere Aufgabe, Kinder rismus gehört bereits dazu, in der Maßnahmen wie die Erarbeitung einer einheitlichen Radverkehrswegwei- davor zu schützen. - Zur Realität gehört aber auch, daß der Radfahrer sung und die verbesserte Radmitnahme in Bus und nicht nur der „Gejagte" im Straßenverkehr ist, son- Bahn eingefordert werden. dern oft genug auch „Jäger", wie eine neuere Unter- Bereits in den vergangenen zehn Jahren hat die suchung sie betitelt. Bei jedem dritten Unfall sind Bundesregierung im Rahmen der Aufgabenteilung Radfahrer Hauptverursacher. Die „Piraten der Pe- von Bund, Ländern und Gemeinden, wie ich finde, dale" patzen durch die Benutzung der falschen Stra- Beachtliches für die Attraktivität des Radverkehrs ßenseite, durch Fehler beim Abbiegen, Vorfahrtsver- geleistet. letzung, Verkehrsuntüchtigkeit und überhöhte Ge- Mit einem Kostenaufwand von 1,1 Milliarden DM schwindigkeit. sind insgesamt 3 200 km Radwege entlang den Bun- (Elke Ferner [SPD]: Sie haben so gut ange desstraßen gebaut worden. Bis zum Jahr 2000 werden fangen!) in den alten Bundesländern weitere 3 000 km, in den — Ich komme auch zu einem guten Ende. neuen Ländern 1 500 km Radwege entstehen. Insge- samt sind hierfür 1,5 Milliarden DM veranschlagt. Radfahrer verfügen über keine Knautschzone. Viele Radfahrer leben gefährlich. Grund dafür ist oft eine Auch das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, fehlende Verkehrsmoral nicht nur bei den Autofah- das in diesem Jahr ein Volumen von 6,28 Milliarden rern, sondern auch bei den Radlern selbst. Nicht das DM erreicht, ist geeignet, in den Ländern und Unwissen über die Verkehrsregeln, sondern deren Gemeinden die Anlage von Parkplätzen zum Umstei- Ignorieren steht oft im Vordergrund. gen vom Pkw auf das Fahrrad und den Bau von Experten weisen darauf hin, daß viele Radverkehrs- Radwegen an innerörtlichen Straßen zu fördern. anlagen nicht angenommen werden, weil zu große Ich finde, auch die Deutsche Bundesbahn — jetzt Umwege, zu lange Ampelrotphasen und zu unbe- die Deutsche Bahn AG — hat bereits eine ganze queme Wege zugemutet werden. Häufig sind die Menge für die Förderung des Fahrradverkehrs getan. Bordsteine nicht abgeschrägt, die Wege zu eng und Allein 1992 wurden ca. 45 000 Fahrräder in den zugeparkt. Interregio-Wagen mitgeführt. Noch ist nicht alles (Zuruf von der F.D.P.: Vor allen Dingen hier ausreichend geregelt, noch ist das Mitnahmeangebot in Bonn!) nicht überall vorhanden, noch fehlt es an Park- und Unterstellplätzen für Räder an Bahnhöfen. Dafür ist — Das auch. — Es gilt, die noch oft bestehenden noch viel zu tun. Mängel in der Radverkehrsinfrastruktur zügig zu beseitigen. Bei der föderalen Aufgabenteilung in unserem L and Uns allen liegt an einer Verbesserung des Radver- kann der Bund aber nur den Rahmen schaffen. Länder kehrs. Eine einseitige Verteufelung der Autofahrer und Gemeinden sind aufgefordert, diesen Rahmen mit durch Radfetischisten ist dabei ebenso falsch wie Leben zu erfüllen. Dafür gibt es eine ganze Reihe von umgekehrt eine Desinformation der Autofahrer über Möglichkeiten. die vermeintlichen Radrowdys. 5,7 Millionen Fahrräder wurden 1992 in Deutsch- land verkauft. Der Durchschnittspreis betrug 620 DM. Zubehör, Beleuchtung und Ersatzteile eingeschlossen Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Börn- lag der Jahresumsatz des Wirtschaftsfaktors Rad 1992 sen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen bei 4,6 Milliarden DM. 4,4 Millionen Räder wurden im Otto? vergangenen Jahr in unsrem L and hergestellt. Vom Magdeburger Mega-Rad bis zum Mountainbike ist Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Gern, erstklassige Technik Trumpf. Wir liegen in der Welt- Herr Kollege. produktion an fünfter Stelle. Ich begrüße es, daß unser dem Fahrrad gegenüber aufgeschlossener Verkehrs- minister Wissmann dazu beiträgt, daß in der Produk- Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Herr Kol- tion weiterhin auf Qualität, Komfort und Sicherheit lege. gesetzt wird und nicht Billigprodukte wie z. B. bei Kinderrädern angeboten werden. Da gibt es oft mehr Norbert Otto (Erfurt) (CDU/CSU): Kollege Börnsen, Ramsch als Klasse, mehr Glitzer und weniger solide beispielsweise im Hinblick auf das Problem des Helm- Technik. Das ist das Geld nicht we rt. tragens: Halten Sie es für notwendig oder wünschens- Man darf auch nicht vergessen: In Deutschl and wert, daß wir die Straßenverkehrs-Ordnung im Hin- werden pro Jahr 500 000 Fahrräder von „Klemm und blick auf eine verstärkte Berücksichtigung des Fahr- Klau" abgeräumt. Es ist notwendig, ein zentrales radverkehrs ändern oder ergänzen? Registrierungssystem zu schaffen, damit die Ermitt- 19204 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) langen für die Polizei vereinfacht werden. So geht es könnte man denken, die Fahrradwelt in Deutschland auf jeden Fall nicht weiter. sei in Ordnung. Eigentlich fehlt in dieser Broschüre Wir von der Union finden es notwendig, folgenden überhaupt nichts. Nur ist die Realität leider nicht so, Handlungsbedarf zu bef riedigen: Wir brauchen vom wie sie in dieser schönen Broschüre geschildert wird. Bund den Rahmen für ein Fahrradverkehrskonzept. Ich hoffe, wir schaffen es gemeinsam, das zu Wir brauchen Eckdaten für einen Radwegeplan. Wir ändern. brauchen ein bundesweit einheitliches Radwegenetz, Ich würde trotzdem ganz gern mit zwei Feststellun- das auch den Tourismus berücksichtigt, in Koopera- gen beginnen, die beweisen, daß sich in den letzten tion mit den Ländern und den Gemeinden. 100 Jahren im Bewußtsein der Öffentlichkeit hinsicht- Wir brauchen zur besseren Ermittlung bei Fahrrad- lich des Fahrrades einiges verändert hat. diebstählen ein zentrales Registrierungssystem. Wir In den Oberpolizeilichen Vorschriften für Radfahrer brauchen einen Verbund der verschiedenen Ver- im Königreich Bayern aus dem Jahr 1898 war im § 12 kehrsträger, vom Rad über das Auto bis zum ÖPNV, nachzulesen: bei den Ländern und den Gemeinden. Jeder Radfahrer muß eine von der Ortspolizeibe- Schließlich brauchen wir einen Sicherheits- und hörde seines Wohnortes, falls er seinen Wohnort Qualitätsstandard bei Fahrrädern, der dem Stand von in Bayern nicht hat, seines Aufenthaltortes ausge- Wissenschaft und Technik entspricht. stellte, auf seinen Namen lautende Fahrkarte bei Außerdem sollte — darüber sind wir mit allen sich führen und auf Erfordern den Aufsichtsbe- anderen Fraktionen einig — dem Verkehrsausschuß amten vorzeigen. alle fünf Jahre eine Bestandsaufnahme über die Personen, welche sich nicht im Besitze eines Situation des Fahrradverkehrs in Deutschland vorge- solchen Ausweises befinden, dürfen auf öffentli- legt werden, damit das Parlament nachfragen und chen Wegen, Straßen und Plätzen nicht radfah- vertiefen kann, wo Probleme noch nicht gelöst worden ren. sind. Natürlich war diese Ausweiskarte nicht einmal Ich glaube sehr wohl, daß das Fahrrad, das in der 8. Legislaturperiode noch ein Randthema war, jetzt zu kostenlos. einem wichtigen Thema, zu einem Hauptthema Wenn ich das noch sagen darf, weil ich es ganz nett geworden ist. Das hat das Fahrrad verdient. finde: Im Verbund mit der heute vormittag geführten Es ist — um damit abzuschließen — auch zu Debatte über die Gleichstellung der Frauen kann ich begrüßen, daß sich unser Umweltausschuß mit dem auf den unaufhaltsamen Fortschritt im Sinne der Thema befaßt und jetzt sogar Diensträder für die Frauen verweisen. Bundestagsabgeordneten fordert. Ich glaube, es ist Die Fahrradzeitschrift „Radler und Radlerin" bot im besser, daß wir auf eigenen Rädern aktiv werden, Jahr 1900 eine Alte rnative für die Kleidung der nicht zu Diensträdern zurückgehen. Das Motto: „Fah- sportlichen Frau an. Ich zitiere: ren wir durch Stadt und Mark, denn Radeln macht die An der Innenseite des Rockes der Frau, am Wadeln stark" gilt auch für die Abgeordneten. Es ist Vorderseitenteil des Sitzes des Doppelringes ist hilfreich, wichtig und förderlich. das Zugseil befestigt. Es läuft zwischen den Danke schön. Beinen der Dame hindurch zu dem am hinteren (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und Rockteil etwas tiefer sitzenden einfachen Ring, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) von dort zurück zum zweiten Auge des Ringes und endlich durch eine Öse im Rock nach außen. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Herren, die nächste Rednerin ist unsere Kollegin SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.) Heide Mattischeck. Bevor die Dame das Rad besteigt, zieht sie an der Schnur oder dem Band. Dadurch wird sofort der Heide Mattischeck (SPD): Herr Präsident! Meine hintere Teil des Rockes eingezogen, während die lieben Kollegen und Kolleginnen! Der Herr Börnsen beiden Rückseiten in gleichmäßiger Weise hat es mir Gott sei D ank abnehmen können, den — man kann es sich vorstellen — Übergang von einem so schwierigen zu einem trotz allen Ernstes etwas heiteren Thema zu vollziehen; nach den Seiten verteilt werden. Die Dame kann denn Radfahren macht Spaß. Es ist zwar auch ein ganz nun ihren Sitz im Sattel einnehmen, ohne sich ernstes Thema, das haben wir so eben gehört, und später einmal in den Pedalen erheben oder das dazu will ich auch noch etwas sagen, aber es macht Kleid ordnen zu müssen. auch Spaß. Ich hoffe nur, daß das die meisten von uns Sie erkennen, liebe Kollegen und Kolleginnen: Es hat wissen und täglich erfahren können. sich in 100 Jahren doch einiges im Sinne des Fort- Wenn man den Kollegen Börnsen gehört hat und schritts verändert. sich diese wunderschöne Broschüre der Bundesregie- Nun aber zu den vorliegenden Anträgen, die sich in rung anschaut — ich empfehle ungern Dinge, die die den 90er Jahren dieses Jahrhunderts mit der Förde- Bundesregierung macht, aber diese Broschüre ist rung — nicht mit der Behinderung — des Fahrradfah- wirklich sehr schön —, rens beschäftigen. Es ist vieles von dem, was ich jetzt (Beifall bei der CDU/CSU) zum Teil vielleicht wiederholen werde, schon gesagt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19205

Heide Mattischeck Das zeigt auch die Tatsache, daß wir uns in vielen Mit unserem Antrag „Förderung des Fahrradver- Dingen — zumindest in der Beschreibung — doch sehr kehrs" — der jetzt übrigens bald zwei Jahre alt wird; einig sind, leider aber in den Folgerungen daraus der Antrag der Koalitionsfraktionen ist ein Jahr später, nicht. also im April 1993, gefolgt — wollten wir etwas dazu beitragen, daß das Fahrrad als Alltagsverkehrsmittel Der größte Teil der Verkehre, so hat der Verband seinen hohen Stellenwert und die notwendige Unter- der Automobilindustrie festgestellt, ist nicht substi- stützung dazu erhält. Der Bundesgesetzgeber kann tuierbar. Diese Behauptung ist aus den Erfahrungen und muß entsprechende gesetzliche und finanzielle einiger Modellstädte und auch in der Statistik über- Rahmenbedingungen setzen. Es ist richtig — der haupt nicht nachweisbar. Kollege Börnsen hat das gesagt —, daß vor allem Länder und Kommunen aufgefordert sind, das Ihre für Rund 70 % aller Pkw-Fahrten werden in einem Entfernungsbereich von 0 bis 10 km zurückgelegt. Die die Förderung des Fahrradverkehrs zu leisten. Aber Fahrten mit einer Länge bis zu 2 km machen schon auch der Bund ist gefordert. Nicht umsonst hat der Bundesverkehrsminister diese schöne Broschüre auf- beinahe 25 % aus. Rund die Hälfte aller Fahrten haben eine Länge von bis zu 5 km. Dabei ist gerade der gelegt. Abgasausstoß der Pkw bei niedrigen Temperaturen (Zurufe von der SPD: So ist es!) schädlicher; das wissen wir. Wenn er damit nichts zu tun hätte, hätte er diese Diese Zahlen machen deutlich, welch großes Poten- schöne Broschüre ja auch nicht aufzulegen brau- tial für die Verkehrsarten des sogenannten Umwelt- chen. verbundes, also für den öffentlichen Nahverkehr, für das Zu-Fuß-Gehen, vor allem aber — davon ist heute Die Förderung des Fahrradverkehrs muß im Rah- die Rede — für das Fahrradfahren vorhanden ist, zur men einer umweltgerechten Verkehrspolitik wesent- Erhöhung der Sicherheit im Verkehr, zur Verbesse- lich größere Bedeutung erhalten. Das haben auch Sie, rung unserer Umwelt und, nicht zu vergessen, der Herr Börnsen, betont. Allerdings sind wir der Mei- Gesundheit beizutragen. nung, daß der Bund seine Verantwortung wahrneh- men muß. Zu den Unfallzahlen will ich hier nichts sagen. Wir sollten im Rahmen der europäischen Verkehrs- Natürlich ist es so, wie der Kollege Börnsen gesagt hat, nämlich daß die Unfallzahlen bei den Radfahrern und politik auch unsere Nachbarn beachten. Die nieder- Radfahrerinnen, auch die tödlichen Unfälle, zurück- ländische Regierung hat schon im Jahre 1991 einen gegangen sind. Aber ich meine, auch eine Zahl von sogenannten Masterplan aufgelegt, der in die gesamte Verkehrspolitik integriert ist und der sich 70 000 verletzten Radfahrern und Radfahrerinnen, ein bemüht, die Kompetenzen, die auch in den Niederlan- großer Teil davon Kinder, muß uns durchaus Anlaß den unterschiedlich verteilt sind, zwischen den Kom- geben, noch mehr zu tun. munen, den Bezirken und dem Bund sinnvoll zu Die Behauptung, die immer wieder aufgestellt wird, koordinieren. die Unfälle mit Verletzungs- und Todesfolgen seien Auch bei uns wäre dies eine Aufgabe für den Bund. allein auf das leichtsinnige Verhalten der Radfahrer Wir haben unseren Antrag so verstanden, daß der und auf Übertretungen der Straßenverkehrs-Ordnung Bund die Kompetenzen von Kommunen, Ländern und zurückzuführen, greift zu kurz — nicht, weil es beides Bund zusammenfaßt und in einem integrierten System nicht gäbe, sondern deshalb, weil auch die Mehrzahl sozusagen die Moderationsfunktion übernimmt, um der Autounfälle letztlich auf die Verletzung der Stra- für all das, was notwendig ist und was auch Sie gesagt ßenverkehrs-Ordnung und auf nicht angepaßte haben — von der Schaffung eines Verkehrsleit- Geschwindigkeit, auf menschliches Fehlverhalten, systems über die Durchsetzung eines bundesweiten zurückzuführen ist. Radwegenetzes bis hin zu den Änderungen in der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Straßenverkehrs-Ordnung und der Straßenverkehrs- Zulassungs-Ordnung —, eine Sammelfunktion wahr- Das gilt also für alle Verkehrsteilnehmer, nicht nur für zunehmen, damit in wenigen Jahren vernünftiges die Fahrradfahrer und Fahrradfahrerinnen. Fahrradfahren in der Bundesrepublik insgesamt mög- lich wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir als SPD-Fraktion fordern ein Bund - Länder- Der Schutz der schwachen Verkehrsteilnehmer muß Dringlichkeitsprogramm zur Verbesserung der Si- also weiterhin im Vordergrund stehen. cherheit des Fahrradverkehrs. Wir wissen, was alles dazugehört; ich habe soeben Beispiele genannt. Im Durchschnitt legt jeder Einwohner in der Bun- desrepublik jährlich mehr als 10 000 km zurück, mehr Das Fahrrad muß - auch das gehört in diesen als 80 % davon mit dem Pkw. Wir haben dazu einiges Zusammenhang — technischen Mindestnormen ent- gehört. Diese hohe Verkehrsleistung wird häufig mit sprechen. Die Bundesregierung wird aufgefordert, beruflicher Notwendigkeit begründet. Aber nur bei diese vorzulegen. Dazu gehört genauso, daß die ca. 21 % — das sagt die Statistik — handelt es sich um Straßenverkehrs - Zulassungs - Ordnung zur Vermei- Berufsverkehr. Das sind Durchschnittswerte, inner- dung von schweren und tödlichen Unfällen dahin halb deren natürlich ganz unterschiedliche Lebens- gehend verändert wird, daß bei Kraftfahrzeugen Auf- und Wohnsituationen von Menschen erfaßt sind. prallteile durch konstruktive Maßnahmen, z. B. durch Trotzdem gibt es ein großes Potential zum Umstei- das Versenken der Scheibenwischer und das Abrun- gen. den der Dach- und Seitenkanten, sicherer werden. Da 19206 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Heide Mattischeck gibt es entsprechende Untersuchungen der Bundes- 17. Oktober wieder einbringen. Dann haben wir anstalt für Straßenwesen. sicherlich eine größere Chance. Daß das Fahrrad darüber hinaus einer Imageförde- Ich bedanke mich. rung bedarf, beweisen Beispiele aus Städten, die für (Beifall bei der SPD) ihren guten Ruf als fahrradfreundliche Städte gerühmt werden. Sie beweisen nachhaltig, daß eine Imageför- derung dazu beiträgt, daß das Fahrrad besser und Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- mehr genutzt wird. ten Damen und Herren, das Wort hat jetzt unser Kollege Horst Friedrich. Ich will noch sagen, daß viele Vorschriften der Straßenverkehrs-Ordnung heute realitätsfern- sind und nicht mehr den Bedürfnissen des Fahrradver- Horst Friedrich (F.D.P.): Herr Präsident! Liebe Kol- kehrs entsprechen, z. B. der Zwang, Fahrradwege, leginnen und Kollegen! Es gibt ein altes Sprichwort: auch wenn sie ausreichend breit sind, nur in einer Man soll die Feste nicht feiern, bevor sie tatsächlich Richtung befahren zu dürfen, oder die generelle vorhanden sind. Über die Debatte nach dem 17. Ok- Benutzungspflicht von Radwegen. Ich weiß, daß es bei tober sollten wir zu gegebener Zeit nachdenken. uns unterschiedliche Meinungen darüber gibt. Aber (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Wolf das muß man diskutieren, wobei man auch die Erfah- gang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]) rungen einiger Städte nutzen und sich auf sie berufen Radfahren ist für mich wie langsames Fliegen, sollte. eine sanfte Bewegung. Die Landschaft kannst du Anreize sollten — das will ich zum Schluß sagen — erst auf dem Rad richtig wahrnehmen, wenn alles auch in finanzieller Hinsicht geschaffen werden, z. B. ein wenig langsamer geht. Früher wußte ich gar dadurch, daß die Kilometerpauschale in eine Entfer- nicht so richtig, was Wälder sind, Flüsse, Berge nungspauschale umgewandelt wird. Das ist eine For- und Täler. derung, die die SPD auch in ganz anderen Zusammen- Damit Sie nicht so sehr erschrecken: Das stammt hängen erhoben hat. Das wäre dringend notwendig, nicht von mir, sondern von F ritz Teufel. Das war der um die Nachteile zu beseitigen, die es für umweltbe- bekannte 68er Kommunarde. Aber es ist, glaube ich, wußte Fahrradfahrer und für diejenigen gibt, die wichtig, auch so etwas einmal einzuführen. deshalb Fahrrad fahren, weil sie gar keine andere Die Kontra-Aussage dazu ist die Angst der älteren Möglichkeit haben. Man sollte sie belohnen, wenn sie Bevölkerung vor den — ich versuche, mich sich entsprechend umweltfreundlich und umweltbe- geschlechtsneutral auszudrücken — Pedalrittern und wußt verhalten. Pedalburgfräulein, die sich im innerstädtischen Ver- (Beifall bei der SPD) kehr entgegen jeglichen Regeln verhalten und eine Situation der Bedrohung schaffen. Ich komme damit zum Schluß. Meine Zeit ist abge- laufen, wie ich sehe. Diese Bandbreite ist der Rahmen, in dem wir uns über die Probleme des Fahrradverkehrs unterhalten, (Uta Würfel [F.D.P.]: Nur Ihre Redezeit!) wobei grundsätzlich festzustellen ist, daß ja in der Ich möchte noch einmal betonen: Gerade für kurze generellen Bemühung um die Verbesserung des Entfernungen ist das Fahrrad das geeignete Verkehrs- Fahrradverkehrs eigentlich zwischen allen Parteien mittel. Viele Bürgerinnen und Bürger haben das keine Unterschiede sind. Wie immer liegt der Teufel erkannt. Deshalb muß der Fahrradverkehr durch im Detail, und es wird — wie immer — die Frage sein, Verbesserung der Rahmenbedingungen und durch was nun letztendlich der richtige Weg ist, wobei mehr finanzielle Mittel gefördert werden. allerdings festgestellt werden muß, daß die Bundesre- gierung nicht unbedingt der richtige Adressat für die Förderung des Fahrradverkehrs bedeutet aber auch weiteren Aktivitäten zur Verbesserung des Fahrrad- die Bündelung einer Vielzahl von Maßnahmen. Hier verkehrs ist, weil die Zuständigkeit überwiegend im könnte der Bund initiativ werden. Ich habe vorhin Landesbereich und im kommunalen Bereich liegt. schon darauf verwiesen, daß wir von unseren nieder- ländischen Nachbarn lernen und versuchen sollten, Da hat der Bund zunächst einmal seine Hausaufga- auch bei uns eine Art von Masterplan aufzustellen. ben gemacht. Zum einen unterstützt er seit 1981 mit einem speziellen Radwege-Programm den Bau von Fahrradverkehr muß — damit ist, denke ich, ein Radwegen an Bundesstraßen. Wir haben bis zum Anfang gemacht worden — ein fester Bestandteil von Jahre 1990 knapp 3 000 km Radwege mit einem Verkehrsdiskussionen und Verkehrspolitik werden. Kostenaufwand von rund 1 Milliarde DM gebaut. Es Er darf nicht weiterhin bestenfalls geduldet sein. ist geplant — das ist schon gesagt worden —, weitere Ich habe einiges genannt, was in unserem Antrag 3 000 km mit einem Kostenaufwand von 1,5 Milliar- enthalten ist. Leider hält sich der Antrag der Koali- den DM zusätzlich zu bauen. Das Wesentliche, glaube tionsfraktionen mehr im Allgemeinen und in der ich — und darauf sollte man hinweisen —, sind die Beschreibung. Wir haben keine Veranlassung gese- Änderungen im Gemeindeverkehrsfinanzierungsge- hen, diesem Antrag zuzustimmen. setz, nicht nur die Aufstockung des Finanzrahmens, sondern auch — das ist das Wesentliche für das (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Fahrrad — die Beseitigung von administrativen Schade, schade!) Hemmnissen und von Bagatellgrenzen, die Eröffnung Es sind keine konkreten Forderungen darin enthalten. und Erweiterung des Förderkataloges, in dem es jetzt Wir werden diesen Antrag deshalb ablehnen und möglich ist, auch Fahrradhaltestellen bei Punkten des unseren Antrag, der ja keine Mehrheit findet, am öffentlichen Personennahverkehrs zu fördern. Aber Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19207

Horst Friedrich das muß man vor Ort verwirklichen. Es nützt eben tes Zeichen für das Fahrrad gewesen, während die nichts, dem Bund mit dem Finger zu drohen, wenn heute kontroverse Abstimmung über die Anträge der man die Möglichkeiten, die man hat, nicht umsetzt. Da Sache schaden wird. ist jeder in seiner Gemeinde als Kommunalvertreter Sicher ist der Ausbau des Radwegenetzes entlang gefragt, das, was er darf, zu verwirklichen. der Bundesstraßen auf über 15 000 km bis zum Jahre Die Bundesbahn ist seit 1989 dabei, das Angebot 2000 zu begrüßen. Aber das Schattendasein des von Wägen für die Mitnahme von Fahrrädern auf Radverkehrs innerhalb der Städte scheint bis dahin Reisen zu erhöhen. Das ist mit Sicherheit noch nicht bis auf wenige Ausnahmen, z. B. die Stadt Münster, gänzlich ausreichend. Aber man kann nicht von heute vorprogrammiert zu sein. Verkehrsberuhigung und auf morgen von einer Behördenbahn alles verlangen. Tempolimit 30 — ich weiß nicht, ob es bei der SPD Ich habe große Hoffnung, daß die Bahnreform das angesichts des Programms noch weiter gilt, aber ich noch weiter unterstützt. hoffe es — können die Nutzung des Rads sicherer und Die Problematik der Verteilung des Verkehrs ist damit attraktiver machen. Für die schnelle Auswei- schon angesprochen worden. Einen Aspekt sollte man tung und Verknüpfung des Radwegenetzes werden so nicht überschätzen: Neben dem Nahverkehr wird ein auch kostengünstige optische Hervorhebungen als großer Zuwachs im Fahrradverkehr wahrscheinlich Radweg auf den Straßen ausreichen. Gleichzeitig im Freizeitverkehr stattfinden. Die größten Steige- müssen Bahn- und Gemeindeverkehrsfinanzierung rungsraten finden da statt. Auch das ist in einer ein Investitionsprogramm für sichere Unterstellplätze Betrachtung schon kommentiert worden. Wir haben ermöglichen. weitgehende Radwegenetze ausgeschildert. Doch auch neue finanzielle Anreize werden den Die Grundintention des Antrags der Koalition, den Radverkehr schnell attraktiver gestalten. Warum wir unterstützen, ist, keine neuen Überwachungstat- installieren wir nicht einfach eine neue Entferungs- bestände zu schaffen und keine neuen administrati- pauschale im Berufsverkehr, wie sie z. B. heute schon ven Hemmnisse zu machen, sondern mit Augenmaß in Edinburgh in Schottland praktiziert wird? Dort das umzusetzen, was Aufgabe des Bundes ist. Das ist sollen umgerechnet 65 Pfennig pro Kilometer Radweg in der Beschlußempfehlung des Verkehrsausschusses angerechnet werden können, während gleichzeitig deutlich dokumentiert. Deswegen bitte ich Sie um die Pauschale für das Auto deutlich abgesenkt wird. Zustimmung auch zu dieser Beschlußempfehlung. Ich Die konsequente Neuorientierung der Verkehrspo- habe, liebe Kollegin Mattischeck, die Befürchtung, litik im Nahbereich zugunsten des Rades schafft daß sonst auf europäischem Wege eine Richtlinie Innovationsimpulse und damit letztendlich zusätzli- ergeht, die im Inhalt und in der Schwerverständlich- che Arbeitsplätze. keit dem nahekommt, was Sie uns als Gebrauchsan- weisung aus dem Jahre 1900 vorgelesen haben. Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Vielen Dank. Dr. Feige, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol- legen Krause? (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und NEN): Ja, bitte. Herren, der letzte Redner in dieser Debatte ist unser Kollege Dr. Klaus Feige. Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Herr Kollege Krause.

Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (fraktionslos): Herr NEN): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen Kollege, als ernst zu nehmenden Ökologen möchte ich und Herren! Das realisierbare Potential der Verlage- Sie folgendes fragen: Wie beurteilen Sie die medizi- rung von Auto- und Nahverkehr auf das Fahrrad ist nischen Erkenntnisse, daß auf Radwegen neben Bun- viel größer, als die meisten Autofahrer noch glauben. desfernstraßen wegen des wesentlich längeren Ver- Denn angesichts der Tatsache, daß rund die Hälfte bleibs auf dieser Strecke und der gleichzeitigen aller Autofahrten im Entfernungsbereich von 3 km Hyperventilation beim aktiven Fahrradfahren zum verbleiben, müssen wir die in der Bundesrepublik Bewältigen einer Strecke von 5 km über die Lunge verfügbaren ca. 60 Millionen Fahrräder im Mittel eher etwa das 10- bis 20fache dessen an Schadstoffen als stillgelegt denn als benutzt betrachten. aufgenommen wird, was man aufnimmt, wenn m an (Beifall des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause sich ruhig im Auto verhält und diese Strecke mit dem [Bonese] [fraktionslos]) Wagen fährt? Das ist um so ärgerlicher, als beim Vergleich mit (Lachen bei der CDU/CSU und der SPD) dem Ausbau des ÖPNV eine Vervielfachung des Radverkehrs wesentlich schneller und kostengünsti- Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ger zu erreichen wäre. Ich will dabei allerdings auch NEN): Herr Krause, dieses ist kein Argument, das für die witterungs- und topographiebedingten Nachteile das Autofahren spricht, sondern ganz im Gegenteil: Es des Radfahrens nicht wegideologisieren. Trotzdem ist spricht gegen das Autofahren. Denn es ist doch eben es an der Zeit, das Rad aus der Nische des Freizeitmo- mit Ihren eigenen Worten gesagt worden, daß gerade bils herauszuholen und zu einem vollwertigen Trans- das Auto auf den Radfahrer die Belastung ausübt, daß portmittel zu machen. Eine Einigung der beiden das Autofahren in dieser Auseinandersetzung das Antragsteller auf einen interfraktionellen Antrag negative Moment ist. wäre, glaube ich, in diesem Sinne sicher ein glaubhaf- (Beifall bei der SPD) 19208 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Dr. Klaus-Dieter Feige Damit ist für mich durch Ihre eigenen Worte noch für den Menschen (Bovine Spongiforme einmal ausdrücklich begründet worden, daß Radfah- Enzephalopathie) auf den Menschen ren gesund ist. — Drucksache 12/7154 — (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonesel [fraktions los) meldet sich erneut zu einer Zwischen Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit (federführend) frage) Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenab- Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Abgeordneter schätzung Dr. Feige? EG -Ausschuß ZP4 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ - Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- CSU und F.D.P. NEN): Ich glaube, die eine Frage reicht. Vorbeugende Maßnahmen gegen das Risiko (Zuruf von der SPD: Sehr gut!) der Übertragung der Rinderseuche BSE (Bo- vine Spongiforme Enzephalopathie) auf den Die konsequente Neuorientierung der Verkehrs- Menschen politik im Nahbereich zugunsten des Rades schafft Innovationsimpulse und damit letztendlich zusätzli- — Drucksache 12/7322 - che Arbeitsplätze. Neue Servicestationen und Fahr- Überweisungsvorschlag: radverleiher ziehen daraus ebenso Nutzen wie der Ausschuß für Gesundheit (federführend) Einzelhandel. So können z. B. neue Verkehrsdienste Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten das Einkaufen mit dem Fahrrad mit den bequemen Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenab- Güteranlieferungen nach Hause verbinden. schätzung EG -Ausschuß Fahrradfahren wird darüber hinaus jedoch erst dann sein Kümmerdasein überwinden, wenn schließ- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für lich auch Bundeskanzler und Minister — und nicht nur die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. einige wenige Abgeordnete — bei einer öffentlichen — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das Dienstfahrt auf dem Fahrrad beobachtet werden kön- so beschlossen. nen. Bis dahin ist, glaube ich, noch ein wahnsinnig (Unruhe) weiter Weg. Meine Damen und Herren, ich möchte die Ausspra- Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. che eröffnen und bitte, daß wir dafür die notwendige (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Aufmerksamkeit und Ruhe herstellen. Zunächst SPD und der F.D.P.) erteile ich unserer Kollegin Antje-Ma rie Steen das Wort. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, zu diesen Mutmaßungen möchte ich jetzt keinen Kommentar machen, obwohl mir das auf der Zunge liegt. Antje-Marie Steen (SPD): Herr Präsident! Meine Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß- lieben Kolleginnen und Kollegen! Stinkendes Fleisch empfehlung des Ausschusses für Verkehr zu dem in Kühltruhen, mit Pflanzenschutzmitteln belastete Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. Babykost, Aflatoxin auf Pistazien, Krebsgifte im Oli- zu einer höheren Attraktivität des Fahrradverkehrs, venöl, Salmonellenvergiftung durch Eier und Geflü- Drucksache 12/5725 Nr. 1. Der Ausschuß empfiehlt, gelfleisch — es kann und muß einem den Appetit den Antrag auf Drucksache 12/4816 anzunehmen. verschlagen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Die Zu einem erheblichen Anteil an der Zunahme der Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Mit den Stim- Risiken, durch Lebensmittel in der Gesundheit men der Koalitionsfraktionen ist die Beschlußempfeh- gefährdet zu werden, tragen wir allerdings alle lung angenommen. gemeinsam durch unsere EB- und Ernährungsge- Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr wohnheiten bei. Wir erwarten preiswerte Lebensmit- zum Antrag der Fraktion der SPD zur Förderung des tel, den täglichen Genuß von Fleisch, das ständige Fahrradverkehrs, Drucksache 12/5725 Nr. 2: Der Aus- Angebot von Früchten und Gemüse auch außerhalb schuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/2493 ihrer üblichen Wachstumsperiode. Also nehmen wir abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfeh- z. B. Massentierhaltung in Kauf, dulden quälerische lung des Ausschusses? — Gegenprobe! — Stimment- Tiertransporte, verschließen die Augen vor den haltungen? — Mit der gleichen Mehrheit ist diese Gefahren der Verfütterung von Tiermehl an Pflanzen- Beschlußempfehlung angenommen. fresser, lassen höhere Grenzwerte im Trinkwasser durch Pflanzenschutzmittel zu. Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 8 Das können und dürfen wir nicht vergessen, wenn und zum Zusatzpunkt 4: wir über Lebensmittelskandale diskutieren. Wenn wir 8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Antje diese unsere Lebensgewohnheiten nicht verändern, Marie Steen, Karl Hermann Haack (Extertal), motivieren wir auch die Erzeuger dieser Produkte Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der nicht zu umweltverträglichen Herstellungsverfahren, Fraktion der SPD geben ökologisch ausgerichteten Landwirtschaftsbe- Eindämmung der mit der Tierseuche Rinder trieben keine Perspektive, mit ihren weniger belaste- wahnsinn verbundenen Gesundheitsgefahren ten, unter Beachtung des größtmöglichen Schutzes Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19209

Antje-Marie Steen der Umwelt erzeugten Lebensmitteln auch wirtschaft- lassen, daß Sie Warnungen nicht sofort aufgenommen lich erfolgreich zu sein. haben, ihnen nicht konsequent nachgegangen sind. (Beifall bei der F.D.P. — Siegfried Hornung (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Na!) [CDU/CSU]: Jetzt kommen Sie doch mal zum Bereits 1990 — nur zur Erinnerung — warnte der Thema!) Bundesverband praktischer Tierärzte in einem Schreiben an den damaligen Ausschuß für Jugend, — Ich denke, das ist ein Thema, das uns alle berührt; Familie, Frauen und Gesundheit: denn wir sind nicht unschuldig an den Skandalen, die wir als solche bezeichnen. Ich werde schon zum Eine Übertragung der Krankheit auf den Men- Thema kommen; Sie werden schon Ihre Freude schen ist bis heute nicht mit Sicherheit auszu- haben. schließen. Allerdings muß auch die Politik ihre Verantwortung Da gibt es in Großbritannien bereits ein generelles zum Schutz der menschlichen Gesundheit überneh- Verbot spezifizierter Rinderinnereien von Kälbern men. Wir haben im Zusammenhang mit der heutigen über sechs Monaten für den menschlichen Genuß. In Thematik großen Zweifel daran und an der schnellen Deutschland besteht lediglich ein Importverbot für Handlungsbereitschaft der Bundesregierung. Gehirn und spezielle innere Org ane; der Verzehr, die Verwertung bleiben allerdings möglich, und das bei (Editha Limbach [CDU/CSU]: Wir nicht!) den bekannten Tatbeständen der illegalen Praktiken Schwierig genug war es bereits bisher, die Bundesre- der Verbringung. Zu deutlich werden hier auch Par- gierung zum aktiven Handeln zu bewegen. Sehr allelen zur Blutprodukteproblematik. Mein Kollege befriedigend sind die Ergebnisse bis heute auch Knaape wird noch darauf eingehen. nicht. BSE ist bis heute eine Krankheit mit vielen Unbe- kannten. Vor allem trägt der noch immer nicht iden- (Uta Würfel [F.D.P.]: Na! Na!) tifizierte Erreger zur Verunsicherung der Bevölke- Seit Bekanntwerden der Gefährdung — spätestens rung bei. seit 1989 —, die von der als Rinderwahnsinn bezeich- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber Sie neten Tierseuche ausgeht, ist diese Bundesregierung wissen alles!) ständig, gerade von seiten der SPD-Fraktion, zu Nachgewiesen ist bis heute die Übertragbarkeit auf 50 Maßnahmen aufgefordert worden, die sicherstellen verschiedene Tierarten, darunter auch solche, die der sollten, daß ein Übergreifen der Seuche auf deutsche menschlichen Spezies sehr ähnlich sind. Kürzliche Tierbestände vermieden wird und der Schutz der Meldungen über die Häufung der Jacob-Creutzfeldt- Verbraucher vor der Infektion mit der Jacob-Creutz- Erkrankungen im Raum Trier, aber auch in anderen gewährleistet ist. feldt-Erkrankung europäischen Ländern lassen die Vermutung zu, daß Aber unzureichende und dann auch abwiegelnde ein kausaler Zusammenhang zwischen BSE und Erklärungen und Aktionen bestimmten die Politik der Jacob-Creutzfeldt-Syndrom besteht. Bundesregierung. Zum Beispiel erfolgte in England Wir fordern Sie, Herr Minister Seehofer, deshalb ein Fütterungsverbot von Tiermehl an Widerkäuer auf, endlich wirkungsvolle Maßnahmen zum Schutz bereits 1988, Frau Limbach. Der Landwirtschaftsmini- der menschlichen Gesundheit, aber auch der Tierge- ster Jürgen Borchert erläßt eine Eilverordnung zum sundheit zu ergreifen. Unser Antrag formuliert dazu Fütterungsverbot von Tierkörpermehl im März 1994. konkrete Maßnahmen. Unter anderem muß neben Und noch im Oktober 1993 hält der Berichterstatter dem sofortigen Verbot der Einfuhr, Ausfuhr und der EU-Kommission alle Maßnahmen für ausreichend Verarbeitung von Rindern und Kälbern sowie der und sieht keinen weiteren Handlungsbedarf. daraus stammenden Erzeugnisse auch die Einfuhr von Während Presse und Fernsehen über die möglichen Rinderembryonen und Spermen aus Großbritannien Umgehungswege der Kontrollen für Fleischimporte untersagt werden. Ziel dieses Verbotes muß einerseits aus England berichten und somit deutlich machen, die Vermeidung der Ausbreitung einer Tierseuche daß Tiermehle und BSE-kontaminiertes Fleisch sein, andererseits muß eine Übertragung von BSE auf durchaus den Weg in die Bundesrepublik über andere den Menschen durch die Nahrung weitgehend ausge- EU-Länder oder Drittländer finden können, beharrt schlossen sein. der Bundesgesundheitsminister auf seiner Erkennt- nis, daß ein genereller Importstopp nicht vonnöten sei. Vizepräsident Frau Kollegin Dabei unterläßt er es, auf einen Be richt des BGA vom Helmuth Becker: Steen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Juni 1993 hinzuweisen, in dem u. a. genau dieses Krause (Bonese)? generelle Importverbot für britisches Rindfleisch gefordert wird. Ich frage Sie, Herr Minister, warum Sie erst ein Antje-Marie Steen (SPD): Nein. halbes Jahr später — und das auch nur durch den Da in Einzelfällen Hinweise bestehen auf eine verstärkten Druck der Öffentlichkeit und unser stän- horizontale bzw. vertikale Übertragung von Kühen diges Nachfragen — endlich ein Symposium zur BSE auf das Kalb, müssen neben einer generellen Kenn- veranstalten und eingestehen, daß die angebotenen zeichnung der Tiere aus kontaminiertem Bestand Maßnahmen, den Schutz der Bevölkerung vor den auch deren Entfernung und Ausmerzung im Ver- möglichen Risiken einer BSE-Übertragung wirksam dachtsfalle sofort erfolgen. Nur so sind Verbraucher zu gewährleisten, nicht ausreichen; so Ihre Erklärung vor einer unklaren Infektionslage zu schützen und ist am 31. März 1994. Sie müssen sich schon nachsagen ein schneller Zugriff auf die Erzeugerbetriebe mög- 19210 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Antje-Marie Steen lich. Bei der sehr langen Inkubationszeit von bis zu angebracht, eine Überprüfung der Fleischlager auf zehn Jahren kann auch ein späteres Erkranken der aus England importiertes Rindfleisch anzuordnen, um Kälber durchaus erfolgen. auszuschließen, daß durch diese eingelagerte Ware eine Gefahr für die Verbraucher ausgeht. Der Antrag der CDU/CSU und der F.D.P. greift nach meiner Einschätzung in dem Punkt „Einschränkung (Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.]) des Verbringens von Rindfleisch aus England" zu Bestätigt sich der Verdacht auf BSE-verseuchtes kurz. Wenn Sie fordern, nur Fleisch von Rindern, die Fleisch, muß es entsorgt werden. jünger als 3 Jahre sind und aus BSE-freien Beständen seit mindestens 4 Jahren stammen, auf dem deutschen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Markt zuzulassen, dann ist das zur heutigen Situation der F.D.P.) nur eine zeitliche Verlängerung der Lebenszeit dieser Ein dringender Handlungsbedarf zur Vermeidung Kälber, aber es sagt nichts über die Ungefährlichkeit gesundheitlicher Risiken ergibt sich für den Bereich des Fleisches aus. Es gibt bis heute keine gesicherten der aus Organen von Rindern und Schafen hergestell- Nachweisverfahren, die eine Kontrolle durch die ten Arznei- und Kosmetikmittel. Es genügt keines- Lebensmittelprüfämter ermöglichen; auch reichen wegs, Verfahren einzuleiten, um sicherzustellen, daß anscheinend Inaktivierungsverfahren von z. B. Arzneimittel, Kosmetika, Sera und Impfstoffe ohne 133 Grad bei Tiermehlen nicht aus. Es gibt zuverläs- Produkte von Rindern aus britischen Beständen her- sige Erkenntnisse, daß die Viren auch eine Hitzebe- gestellt werden. Es ist auch für bereits im Handel handlung von 350 Grad überleben. befindliche Produkte im Nachprüfverfahren diese (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Welche? Sicherheit herzustellen. Besonders alarmierend ist Die kennt man doch noch gar nicht! Die dabei der Bereich der sogenannten Altpräparate, für behauptet da Dinge, die noch kein Mensch die keine Deklarationspflicht bestand und die noch im weiß!) Handel sind. Man kann ja verstehen, daß Sie als Regierungs- Es ist übrigens mehr als befremdlich, daß es bis koalition nicht Ihre Minister im Regen stehen lassen heute bei der Herstellung von Frischzellenpräparaten wollen; aber in Kenntnis der ganzen Verbringungs- keine Nachweispflicht des Herstellers gibt, die eine möglichkeiten von BSE-kontaminiertem Fleisch und Organentnahme von BSE-unverdächtigen Tieren Fleischprodukten bei Unterlaufen der Kontrollen belegt. Wir fordern auch hier eine Zulassung dieser nutzt uns auch eine amtliche Bescheinigung, wie Sie Präparate nach dem Arzneimittelgesetz. sie fordern, nichts, zumal wenn sie vom entsendenden Unser Antrag sieht noch weiteren Regelungsbedarf Land ausgestellt wird. vor; wir werden dazu im beratenden Gremium, dem Ganz und gar unverständlich erscheint uns, Herr Gesundheitsausschuß, vortragen. Minister, Ihre Untätigkeit im Bereich der Einrichtung Es liegt uns fern, mit der Beschreibung der Risiken, einer international arbeitenden Koordinierungsstelle die sich aus dem Verzehr und der damit möglichen und der ausreichenden Aufstockung der Forschungs- Ausbreitung der BSE ergeben, Panik bei den Verbrau- mittel für die Finanzierung der angewandten und chern und Verbraucherinnen zu erzeugen. Allerdings begleitenden Forschung. Bereits 1993 forderten wir muß sich die Regierung schon den Vorwurf gefallen Sie auf, hier sicherzustellen, daß die erforderliche lassen, viel zu zögerlich und dann auch noch kontro- Forschung langfristig finanziell gesichert wird. Not- vers zwischen den verantwortlichen Ministerien, dem wendig sind vor allem die Entwicklung und Erpro- Landwirtschafts- und dem Gesundheitsministerium, bung von Nachweisverfahren für BSE, die Durchfüh- auf die berechtigten Bedenken von seiten der Öffent- rung von Inaktivierungsstudien, die Entwicklung und lichkeit und der Wissenschaft eingegangen zu sein Überprüfung von Präventionsmaßnahmen sowie die und damit ein Stück weit zur Verunsicherung aller Erregerisolierung. beigetragen zu haben. Selbst in Ihrem Haus bestehen Zweifel an der Ihre Ankündigungen, Herr Minister, nun aber end- Zuverlässigkeit der Prüfverfahren des Entsenderlan- lich handeln zu wollen, erscheinen uns, wie so oft, als des, hier England; deshalb ist es um so wichtiger, daß Aktionismus. Wie anders soll man es bezeichnen, eine außerhalb von Großbritannien tätige internatio- wenn Sie im Februar im Agrarausschuß ankündigen, nale Kontrollstelle die Datenlage in Großbritannien nun ohne Erwägung der Konsequenzen notfalls einen und der EU einer kritischen Überprüfung unterzieht nationalen Alleingang für ein Einfuhrverbot zu und durch ein Monitoringsystem die Verbraucher vor machen, gleichzeitig aber in Ihrem Bericht an den Rat gesundheitsgefährdenden Produkten schützt. der EU vom 15. März 1994 die Kommission ersuchen, innerhalb von drei Monaten einen Be richt zu erstatten Angesichts der Tatsache, daß seit Anfang der 80er bzw. geeignete Vorschläge vorzulegen? Nehmen Sie Jahre bis zum Importverbot 1989 ca. 5 000 lebende hier nicht bewußt Risiken in Kauf, die für die Verbrau- Rinder aus England nach Deutschland importiert cher unabsehbare gesundheitliche Folgen nach sich wurden und hier auch noch zur Zeit leben, da es sich ziehen können? überwiegend um Highland- oder Gallowayrinder handelt, müssen die Verbraucher geschützt und durch Im Abwägungsprozeß zwischen gesundheitlichen die Kennzeichnung der Tiere vor einer unklaren und ökonomischen Interessen kann es nur zu einem Infektionslage bewahrt werden. Das gilt vor allen sofortigen Importverbot als nationalem Alleingang Dingen für in dieser Zeit eingeführtes und eingelager- kommen. Wenn die EU es deutschen Landwirten tes Fleisch, dessen Weiterverwendung und Vertrieb zumutet, zur Eindämmung der Schweinepest ihre verhindert werden muß. Zumindest erscheint es uns Bestände vom Markt zu nehmen, obwohl von diesem Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19211

Antje-Marie Steen Fleisch keine Gefahr für die menschliche Gesundheit des Deutschen Bundestages anhand der vorliegenden bekannt ist, ist es auch britischen Rinderzüchtern Entschließungsanträge diskutieren können. Ich zuzumuten, auf Exporte nach Deutschland zu verzich- denke, in einem sind wir uns alle einig: Wir fordern ten. 1990 ist das bereits im Verbund mit Frankreich zusätzliche Maßnahmen. versucht worden, allerdings auf massiven Druck der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Engländer nach zwei Monaten wieder aufgegeben worden. Im Namen meiner Fraktion möchte ich allerdings Handeln Sie jetzt! Machen Sie Gebrauch von den dem Bundesgesundheitsminister und auch dem Land- Möglichkeiten des Kabinetts zur Abwehr gesundheit- wirtschaftsminister danken, daß sie bereits auf euro- licher Gefahren für die Menschen in der Bundesrepu- päischer wie auf nationaler Ebene die Initiative ergrif- fen haben. Man mag darüber streiten, ob das sechs blik, und sprechen Sie ein Importverbot- aus. Die SPD-Fraktion ist bereit — das kann ich Ihnen zusi- Wochen vorher oder vielleicht auch zwei Monate chern —, mit Ihnen gemeinsam über Wege und vorher hätte sein können. Eindeutig ist jedenfalls: Es Vorgehensweisen nachzudenken und diese zu prakti- wurden Initiativen ergriffen. zieren. Eines aber können wir uns angesichts der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) jüngsten Lebensmittelskandale auf keinen Fall lei- sten, nämlich die Bürger und Bürgerinnen mit ihren Es war z. B. auch nicht ohne deutschen Einfluß, daß Verunsicherungen allein zu lassen. die EG-Kommission seit 1990 ein Importverbot für über sechs Monate alte lebende Rinder und Ein- Wir werden Sie bei allen Maßnahmen zum vorbeu- schränkungen für den Import von Rindfleisch aus dem genden Gesundheitsschutz unterstützen. Vereinigten Königreich ausgesprochen hat. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Es ist in der Tat auch richtig, daß die Engländer (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja schon seit 1988 die Verfütterung von Tiermehl an Seifert [PDS/Linke Liste]) Wiederkäuer und seit 1990 auch die Ausfuhr von Tiermehl in die EU untersagen. Man darf aber nicht übersehen, daß bei uns für die Herstellung von Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Tiermehl andere Vorschriften gelten als in England. Herren, nächste Rednerin ist unsere Kollegin Editha Limbach. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist es, und das will niemand glauben!) Editha Limbach (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Ich habe ein paar kurze Maßnahmen genannt. Ich Damen und Herren! Als Mitte der 80er Jahre BSE, sage auch offen: Das genügt uns nicht. Wir, die Rinderwahnsinn, in Großbritannien auftrat, schien CDU/CSU-Fraktion, bedauern zutiefst, daß die euro- noch sicher zu sein, daß ein Risiko der Übertragung päischen Gesundheitsminister den Vorschlägen, die auf den Menschen nicht zu befürchten sei. Selbst die Bundesminister Seehofer gemacht hat, nicht folgen Übertragung auf andere Tierarten schien ausge- wollten und noch keine Beschlüsse gefaßt haben. schlossen zu sein. Heute wissen wir — das haben wir Deshalb unterstützen wir auch die Bemühungen der auch bei dem internationalen Symposium Anfang Bundesregierung im Agrarrat, der am 25. Ap ril tagt, Dezember 1993 in Berlin wie schon vorher im Gesund- weitere Regelungen zum vorsorgenden Gesundheits- heitsausschuß im Oktober 1993 durch die Fachleute und Verbraucherschutz zu erreichen. gehört —, daß mit letzter Sicherheit die Übertragung (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Sehr rich der Krankheit auf den Menschen nicht ausgeschlos- tig!) sen werden kann. Ich verhehle nicht, daß ich ein bißchen skeptisch bin, Nachdem nachgewiesen wurde, daß die Bar riere obwohl auch der Verbraucherrat beim Bundesmini- zwischen Wiederkäuern und anderen Tierarten sterium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten — Nager, Großkatzen — durch den BSE-Erreger Entsprechendes gefordert und unterstützt hat. überschritten werden kann, darf niemand außer acht lassen, daß auch die Infektion vom Rind zum Men- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Sehr rich schen möglich sein könnte; nicht nachgewiesen ist, tig!) aber möglich sein könnte. Auf nationaler Ebene gibt es auch schon eine Reihe Wir wissen auch, daß die Creutzfeldt-Jacob-Krank- von Initiativen und Maßnahmen. So sind z. B., weil heit, die entsprechende Krankheit beim Menschen viele Arzneimittel Ausgangsstoffe vom Rind enthal- mit einer sehr langen Inkubationszeit und leider noch ten, schon 1991 Empfehlungen an die Hersteller von keiner Heilbehandlung, im Versuch von Menschen Arzneimitteln gegangen. Diesen Empfehlungen hat auf Tiere übertragbar ist. Wer würde da wagen, sich die EU übrigens 1992 angeschlossen. auszuschließen, daß auch der umgekehrte Weg mög- Seit dem vergangenen Jahr wurden die Vorarbeiten lich ist? für die Verordnungen aufgenommen, die die Sicher- Diese neue Risikobewertung durch Fachleute heit bei Säuglings- und Kleinkindernahrung erhöhen — nicht durch die Politik; dafür sind wir auch nicht sollen. Diese liegen jetzt beim Bundesrat und bei der kompetent — Europäischen Union zur Notifizierung. Wir haben (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sehr rich ferner die Meldepflicht für die Creutzfeldt-Jacob- -tig!) Krankheit in Vorbereitung. erfordert zusätzliche Vorsorgemaßnahmen. Deshalb Das Bundesgesundheitsamt hat den Auftrag, ent- bin ich auch dankbar dafür, daß wir heute im Plenum sprechende Empfehlungen auch für die Herstellung 19212 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Editha Limbach von Kosmetika zu erarbeiten. Auf die erlassene Ver- Übrigens werde ich in dieser Haltung auch durch die ordnung, die das Verbot, Tiermehl und tiermehlent- Entschließung des Europäischen Parlaments bestärkt, haltende Futtermittel an Wiederkäuer zu verfüttern, das schon Anfang des vergangenen Jahres die dama- sichert, ist schon hingewiesen worden, wenn auch ligen Schritte der EG-Kommission gegen die Verbrei- kritisch. Ich sehe es positiv, daß das erfolgt ist. tung von BSE für nicht ausreichend erklärt hat. Damit Allerdings habe ich persönlich Zweifel, ob wir nicht ist für mich deutlich, daß jedenfalls im parlamentari- auch an den Punkt kommen, wo wir nicht nur Wieder- schen Raum nicht nur bei uns in der Bundesrepublik, käuer, sondern auch andere Tierarten bei der Verfüt- sondern auch in Europa Handlungsbedarf gesehen terung im Auge behalten müssen. wird. Wir begrüßen alle diese Maßnahmen ausdrücklich, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) stellen aber gleichzeitig fest, daß darüber hinaus Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt hinwei- weitere Schritte erforderlich sind. Wir wollen, daß sich sen. Wir brauchen wirklich dringend mehr Erkennt- unsere Menschen darauf verlassen können, daß sie nisse über Ursachen, Auswirkungen, Verbreitung und nur Rindfleisch aus gesunden Beständen angeboten auch über denkbare Vorsorgemaßnahmen im Zusam- bekommen. menhang mit dieser Hirnerkrankung, mit dem Rinder- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wahnsinn. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, durch Umschichtung ausreichend Forschungs- Deshalb fordern wir auch die Bundesregierung auf, mittel für diesen Zweck zur Verfügung zu stellen und bei der Europäischen Union ein Exportverbot von sich auch bei der Europäischen Union für eine Ver- Fleisch von Rindern aus England, die vor dem 1. Ja- besserung der Koordinierung und Mittelverteilung zu nuar 1990 geboren wurden, zu verlangen. Darüber bemühen. hinaus sollte Fleisch von jüngeren Tieren nur dann in die übrigen EU-Staaten verbracht werden dürfen, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wenn die Tiere aus Beständen stammen, in denen seit Wir reden auch über die notwendige Eindämmung mindestens vier Jahren kein einziger BSE-Fall aufge- einer Tierseuche, wenn wir heute miteinander disku- treten ist. Das ist eine Voraussetzung, die durch eine tieren; aber wir reden natürlich vor allem über den amtliche Bestätigung nachzuweisen ist. gesundheitlichen Verbraucherschutz. Deshalb halte Natürlich kann man Zweifel haben, ob es immer ich auch in vollem Bewußtsein des Diskriminierungs- gelingt, jeden Mißbrauch zu verhindern. Die haben verbots in der Europäischen Union den Gedanken wir aber bei unserem eigenen Handel auch. Da sollten eines Qualitätssiegels der deutschen Fleischprodu- wir gegenüber englischen Behörden nicht mißtraui- zenten für durchaus überlegenswert. Die Verbrau- scher sein als gegenüber unseren eigenen. cherinnen und Verbraucher müssen sich allerdings darauf verlassen können, daß solch ein Siegel nicht Ich denke allerdings auch, daß ein vollständiges nur dem Marketing, sondern in erster Linie der und wirksames Ausfuhrverbot für britisches Tier- gesunden Ernährung dient. mehl in Drittstaaten wichtig ist, mindestens solange nicht Verfahren angewandt werden, die die Abtötung (Beifall bei der SPD) möglicher Erreger auch sichern. Für uns selbst werden Sonst würden sie auch nichts um diesen Qualitätshin- wir auch ein Schlachtverbot für aus England nach weis geben. Ich bin aber davon überzeugt, daß unsere Deutschland verbrachte Rinder brauchen, die zwi- Landwirtschaft und unsere Fleischproduzenten in der schen 1986 und 1990 eingeführt wurden. Wir brau- Lage sind, ein solches Siegel zu vereinbaren und auch chen eine lückenlose Registrierung dieser Bestände, zu garantieren. Denn es liegt auch im Interesse der auch um die eigenen Bestände und den Verbraucher betreffenden Produzenten, daß trotz der Sorge vor zu schützen. Erkrankung gesunde Produkte weiterhin vom Markt angenommen werden. Natürlich ist mir bekannt, daß die BSE-Problematik in manchen unserer Partnerländer in der Europäi- Abschließend — ich habe bewußt etwas Zeit für den schen Union weniger gravierend gesehen wird. Das Kollegen Michels gespart — möchte ich feststellen: darf uns aber nicht daran hindern, die notwendigen Die Bürgerinnen und Bürger können sich darauf Schritte zum vorbeugenden gesundheitlichen Ver- verlassen, daß wir unsere Verantwortung für den braucherschutz zu tun. vorsorgenden Gesundheitsschutz sehr ernst neh- men. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deshalb erkläre ich hier ausdrücklich, daß wir Mini- ster Seehofer voll unterstützen, daß wir Minister Borchert allen Erfolg bei den Verhandlungen im Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Agrarministerrat wünschen, daß wir aber auch beim Herren, jetzt erhält unser Kollege Dr. Dieter Thomae Nichtzustandekommen europäischer Regelungen auf das Wort. nationale Maßnahmen bestehen müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deshalb fordere ich, falls auf EU-Ebene kein ein- Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Herr Präsident! Meine heitliches Vorgehen erreicht werden kann, auch die sehr geehrten Damen und Herren! Oberste Priorität Bundesregierung sehr nachdrücklich auf, das Not- muß die Gesundheitsvorsorge gegenüber ökonomi- wendige notfalls im Alleingang zu veranlassen. schen Interessen haben. Wir alle wissen: Seit 1989 gibt es BSE-Fälle in Engl and, und diese Fälle haben sich (Beifall bei der CDU/CSU) gehäuft. Heute sind 120 000 solcher Fälle bekannt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19213

Dr. Dieter Thomae Wir stellen auch in der Bundesrepublik Deutschland Fernerhin: Wenn wir Sicherheit bekommen wollen, solche Fälle fest. Frau Limbach sagte schon, das müssen wir forschen. Wir müssen finanzielle Mittel Erstaunliche sei, daß sich der Virus vom Schaf über die zur Verfügung stellen. Ich denke, hier sind die Uni- Katzen auf die Rinder weiter ausbreite. Hier wird es versitäten und das Bundesgesundheitsamt gefordert. bedenklich, weil alle Erkenntnisse der Vergangenheit Es wird gegenwärtig schon geforscht, aber es geht zeigen, daß Viruserkrankungen immer vom Tier auf darum, die Forschung zu intensivieren. Wir können ja den Menschen übergegangen sind. Hier müssen wir nicht sagen, daß in diesem Bereich nichts passiert ist, Gesundheitspolitiker jetzt mit aller Macht achtgeben, sondern in der Anhörung des Ausschusses haben uns daß wir die richtigen Entscheidungen fällen. Denn wir die Experten gesagt, welche Ergebnisse sie schon in alle keimen das Stichwort Aids. Das können wir uns in der Vergangenheit erzielt haben. diesem Lande nicht mehr leisten. Daher stellen- wir Vorletzter Punkt: Die Bundesrepublik Deutschl and folgende Forderungen auf: übernimmt bald in der Europäischen Union wieder (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) eine entscheidende Funktion. Dies sollte, denke ich, Erstens. Mit aller Konsequenz muß ein Verbot von auf die höchste Ebene gehoben werden, damit hier Tiermehl in der Europäischen Gemeinschaft durchge- eine europäische Regelung herbeigeführt werden setzt werden. Hier bitte ich wirklich alle Minister, die kann. dafür zuständig sind, aktiv zu werden und dafür zu Letzter Punkt: Die deutschen Verbraucher, meine sorgen, daß diese Importverbote auch wirk lich einge- Damen und Herren, entscheiden letztlich, welches halten werden. Fleisch sie verzehren. Zweitens muß, wie der Entschließungsantrag dies (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) vorsieht, festgehalten werden: Importe von Rind- Ich bin auch der Meinung, ein Qualitätssiegel wäre fleisch nur mit Qualitätsbescheinigungen. ein positives Ergebnis in dieser Thematik. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Die Ver Vielen Dank. braucher können doch deutsches Fleisch kaufen!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Mir als Gesundheitspolitiker liegt besonders am Herzen, daß die Bevölkerung nicht durch Arzneimit- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und tel gefährdet wird, die aus Rinderteilen hergestellt Herren! Jetzt erteile ich das Wort unserer Frau Kolle- werden. gin Dr. Ursula Fischer. (Uta Würfel [F.D.P.]: Das gilt auch für Lebensmittel!) Diese Arzneimittel müssen einer stärkeren Kontrolle Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- unterzogen werden. Ich schlage vor, wir orientieren dent! Kolleginnen und Kollegen! Der Verdacht, daß uns an der Schweizer Gesetzgebung und eventuell an die Rinderseuche BSE auch für Menschen eine reale der französischen Gesetzgebung; denn in diesen Län- Gefahr darstellt, ist dicht, und wir sollten uns deshalb dern sind schon eindeutige Maßnahmen zur Sicher- tunlichst so verhalten, als wäre er bewiesen. heit der Patienten ge troffen worden. (Vorsitz: Vizepräsident Dieter-Julius Cro nenberg) Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Tho- Die Hauptursache für die Ausbreitung der Seuche mae, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen war die systematische Vergabe von Tiermehlen an Kalb? Rinder — gewonnen auch von erkrankten Tieren — als zusätzlichem Proteinträger, die sich natürlicher- Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Bitte schön. weise — auch daran sollte man an dieser Stelle erinnern — von Grünfutter ernähren. Diese unphysio- Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Herr Kollege logische Art und Weise der Ernährung hat nun zu Kalb. unerwarteten und zum Teil verheerenden Folgen geführt. Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Herr Kollege, darf (Zuruf von der CDU/CSU: In England!) ich Sie zur Klarstellung fragen, weil Sie das gerade in freier Rede vorgetragen haben: Sie fordern ein Verbot — Gut, vorläufig in England. Grund für diese Art der von Tiermehl? Oder meinten Sie ein Verbot der Tierhaltung ist ein Geschäftsgebaren, das vor allem an Verfütterung von Tiermehl? Profit orientiert ist, ohne schwerwiegende Gesund- heitsgefahren für den Menschen zu bedenken. Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Ja. Seit 1985 sind in England mehr als 100 000 Rinder Eine weitere Forderung ist die Erfassung der an dieser für diese Tierart neuen Erkrankung durch Bestände in Deutschland, damit man in der Tat den Genuß von infiziertem Fleisch zugrundegegan- schnellstens reagieren und eventuelle Zusammen- gen. hänge herbeiführen kann. Sie kennen das Problem Inzwischen wird das im Volksmund als Rinder- Trier. Hier gibt es Unsicherheiten. Man vermutet, man wahnsinn bezeichnet, und die Erkrankung verbreitet spekuliert. Aber eine absolute Verbindung zwischen Erschrecken. Das erfolgt nicht ohne Grund, h andelt es der BSE und der Creutzfeldt-Jacob-Krankheit, meine sich doch dabei um eine Erkrankung, die ungewöhn- Damen und Herren, ist noch nicht mit hundertprozen- lich gefährlich und momentan unheilbar ist und deren tiger Sicherheit festgestellt worden. Aber der Spiel- Erreger nicht bekannt und damit auch nicht nachweis- raum verengt sich immer mehr. bar ist. 19214 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Dr. Ursula Fischer Ich erinnere an dieser Stelle daran, daß sich Gefah- ganz reale Gefahr. Eine in vieler Hinsicht konse- ren für den Menschen sehr oft zuerst bei Tieren quente Gesundheitsberichterstattung hätte uns — das zeigen; denn die Replikationszeiten der Tiere sind möchte ich an dieser Stelle wirklich anführen — kürzer. Die Auswirkungen — auch für den Men- möglicherweise sehr viel schneller zu entsprechenden schen — sind sehr oft dort ablesbar. Beispielsweise Konsequenzen gebracht. Heutige Versäumnisse wer- war sehr viel früher die Retrovirusgenese bei Hühner- den später entweder gar nicht mehr oder nur noch leukose bekannt. Eine Gefahr für den Menschen nach schrecklichen Opfern korrigierbar sein. Aids wurde damals auch lange Zeit von der Hand gewie- könnte sich im Vergleich dazu als geradezu harmlos sen. Mehrere Beispiele wären an dieser Stelle zu erweisen. Sollten sich dagegen jetzt ge troffene nennen. Sicherheitsmaßnahmen im Lichte genauerer Erkennt- Die bisherigen in England selbst und im Rahmen nisse nach einiger Zeit als nicht notwendig herausstel- len, wäre ihre Aufhebung vergleichsweise problem- der EU getroffenen Schutzmaßnahmen gegen die Ausbreitung der Krankheit gingen und gehen davon los. Deswegen verstehe ich auch nicht, wieso Ver- aus, daß eine Übertragung auf den Menschen nicht zu dachtsfälle, die irgendwo mit der Gefahr für den befürchten ist. Allerdings wurde von Wissenschaftlern Menschen untermauert sind, nicht sehr viel schneller schon immer — auch vom BGA seit 1989 — einge- zu Reaktionen führen. räumt, daß, wenn eine solche Ansteckung wider Es ist deshalb auch richtig, daß Gespräche mit der Erwarten doch möglich sein sollte, die Folgen für den EU und speziell auch mit der britischen Seite mög- Menschen katastrophal seien. Die Ansteckung würde lichst fortzusetzen sind. Ich denke, man sollte in dann, wie gesagt, über den Genuß von infiziertem diesen Verhandlungen sehr fair sein, denn natürlich Rindfleisch oder durch den Umgang mit anderen ist es einleuchtend, daß primär Lösungen angestrebt Produkten vom Rind — wie Arzneimitteln oder Kos- werden müssen, die die Europäische Union als Gan- metika — erfolgen. zes, aber auch andere Länder und Kontinente in die Betrachtungen einbeziehen. Wenn das nicht möglich Inzwischen hat sich dieser Verdacht auch in dieser ist — die jüngsten Ereignisse geben zu dieser Sorge Hinsicht in bedrohlicher Weise verdichtet. Der Erre- bekanntlich Anlaß, auch wenn ich nach den heutigen ger hat offensichtlich seine Eigenschaften gewandelt Nachrichten doch etwas optimistischer gestimmt — wie das diese Erreger ja so an sich haben — und ist bin —, dann sollte in diesem Fall auch ein Alleingang nun in der Lage, die Krankheit bei weiteren Tierarten, Deutschlands unsere Unterstützung finden. die bisher ebenfalls als nicht bedroht galten, hervor- zurufen. Besonders alarmierend ist für mich dabei, (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das war daß nunmehr mit Hauskatze, Puma und Gepard auch ausnahmsweise einmal eine sachliche solche Tiere über die Nahrungsaufnahme erkrankten, Rede ! ) die stammesgeschichtlich weit von den Wiederkäuern entfernt sind. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer Auch wenn andere Indizien durchaus noch für die Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Hoffnung sprechen, daß die Bar riere vom Rind zum Dr. Krause (Bonese) das Wort. Menschen doch nicht überwunden wird, kann dies nach den Erfahrungen der Wissenschaft schon lange nicht mehr mit gebotener Sicherheit ausgeschlossen Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (fraktionslos): werden. Nachdem die SPD-Kollegin mich nicht hat fragen Hinzu kommt, daß das gleiche inzwischen auch für lassen, möchte ich doch darauf hinweisen, daß Nr. 5 den Übertragungsweg vom Muttertier zum Kalb des SPD-Antrags zumindest epizootiologisch wider- gesagt werden muß, der bisher ebenfalls nicht für sprüchlich ist. Der letzte Beitrag war im Gegensatz möglich gehalten wurde. Damit besteht in der Tat ein zum ersten schon von Fachkenntnis gekennzeich- neuer und höchst dringlicher Handlungsbedarf; denn net. es ist eine Situation entstanden, mit der es nicht mehr Ich möchte doch sagen: Es gibt keine Beweislastum- zu vereinbaren ist, daß nach wie vor, wenn auch an kehr. Wenn man weder Erreger noch Antikörper bestimmte Bedingungen gebunden, sowohl lebende nachweisen kann, ist das noch lange kein Hinweis Rinder als auch Fleisch aus England in die EU und in darauf, daß sich kein infektiöses Agens im Fleisch andere Staaten auf dem Kontinent verbracht werden. befindet. Gerade bei so einem Erreger, der nur aus Nerven,. Lymphgefäße usw. lassen sich — das ist wenigen Oligoproteiden besteht und bei dem keine bekannt —niemals völlig von Fleisch trennen. Es speziesspezifische Anfälligkeit angenommen werden müssen spätestens jetzt alle Maßnahmen von der kann, muß auf Grund von industriellem Mischfutter- Annahme ausgehen, daß die BSE doch den Menschen kannibalismus schon mit einer vielleicht sogar jahr- betrifft. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, wir zehntelangen Infektion in Beständen rechnen. sind nun einmal ein Teil der Natur und ihren Gesetzen Zweitens. Das Einfuhrverbot und der Vergleich mit unterworfen. Spätestens jetzt muß der Grundsatz der Schweinepest beides hätte von mir stammen gelten und auch durchgesetzt werden: im Zweifels- können. Ich kann das natürlich nur unterstützen. falle Priorität für die gesundheitliche Vorsorge und Gerade angesichts der Schweinepest, bei der Men- nicht für die ökonomischen Interessen einer europäi- schen nicht gefährdet sind und bei der in der ehema- schen Agrarlobby. ligen DDR Pestfleisch in die Büchse kam und Haupt- Meine Damen und Herren, wir haben in der Tat abnehmer westdeutsche H andelsketten waren, ohne keine andere Wahl, als alle Vorkehrungen so anzule- daß sich hier einer auch nur hätte kratzen müssen, gen, als wäre die Übertragung auf den Menschen eine muß man sich wirklich fragen, inwieweit hier, wo es Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19215

Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) sich um englisches Rindfleisch h andelt, ein anderer teile voll die Einschätzung: Im Zweifel immer für die Maßstab angelegt wird als dann, wenn es sich um für Sicherheit. Menschen unbedenkliches Schweinefleisch aus Nie- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dersachsen handelt. Im Fall der BSE ist es die Pflicht zur Vorsorge. Ich Ein letztes. Herr Kollege Thomae und Frau Dr. verweise hier auf die Aussagen führender Experten, Fischer, Sie haben den Vergleich zu Aids gebracht. Es daß eine Fehleinschätzung der BSE verheerende ist wirklich beschämend, daß epizootiologisch ge- rechtfertigte Maßnahmen — ich meine, Sie haben Folgen haben könnte. recht — ergriffen werden, um die Tiere zu schützen, Halbheiten sind deshalb fehl am Platze. Konse- aber im Zusammenhang mit Aids bei Blutkonserven quente Politik ist gefordert. Ich begrüße die bereits oder auch bei der Infektion in einer fahrlässigen Weise getroffenen Maßnahmen der Minister Seehofer und verfahren wird, als wäre die menschliche Gesundheit Borchert. Beide waren in Europa nicht nur die ersten, weniger wert als die unserer Tiere. sondern auch die, die sich am gründlichsten für die (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wir haben Interessen der Verbraucher eingesetzt haben. über die Gesundheit der Menschen gespro- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) chen und nicht über die Gesundheit der Unser Antrag zielt jetzt darauf ab, den Verbrau- Tiere, die uns aber auch etwas wert ist!) cherschutz in Deutschland zu verstärken und diesen Schutz EU-weit zu praktizieren. Die Minister Seehofer und Borchert haben dabei unsere volle Rückendek- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile kung. Sollte sich die Kommission nur zu Halbheiten dem Abgeordneten Meinolf Michels das Wort. bewegen lassen, ist der nationale Alleingang als zweitbester Weg unbedingt und unverzüglich einzu- schlagen. (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Meinolf Michels (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) lieben Kolleginnen und Kollegen! Meldungen über Gesundheitsgefährdungen durch Lebensmittel sind Wenn BSE auch in erster Linie ein gesundheitspoli- dank unseres Überwachungssystems zwar nicht unser tisches Problem ist, so betrifft es natürlich auch die täglich Brot, treten aber — das ist leider so — hin und Landwirtschaft. Undifferenzierte Bedenken gegen wieder auf. den Verzehr von Rindfleisch allgemein bringt unseren Bei der BSE ist aber alles anders. Man beobachtet deutschen Landwirten wirtschaftlichen Schaden. die Tierseuche BSE jetzt schon seit sieben Jahren in (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Und auch England. Das vorhandene Wissen ist mehr als unbe- den Menschen nichts!) friedigend. Die Liste der ungeklärten Fragen ist länger als die der gelösten. Ich will hier nur einige Fragen Sie, die deutschen Landwirte, sind noch nie auf die ansprechen. Idee gekommen, Rinder mit Tierkörpermehl zu füt- tern. Es besteht keinerlei Risiko beim Verzehr heimi- Der Erreger ist bisher noch nicht bekannt. schen Rindfleisches. Deshalb muß die Herkunft von (Editha Limbach [CDU/CSU]: Stimmt!) Fleisch insgesamt kenntlich gemacht und seine Anonymität beendet werden. Sollte sich die jüngste Meldung bestätigen, daß es sich um ein Prion-Eiweiß und nicht um ein Virus handelt, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und macht dies die Lage nicht einfacher. Es gibt bis heute der F.D.P.) keinen verläßlichen und praktikablen Test zum Nach- Ich halte es für ein schweres Defizit, daß auf Grund weis des Erregers. Der Übertragungsweg ist nicht des derzeitigen Bescheinigungssystems der EU der geklärt; allein die Möglichkeit der Übertragung des Ursprung des Fleisches nicht mehr erkennbar ist. BSE-Erregers auf andere Tierarten ist aber höchst bedenklich. (Editha Limbach [CDU/CSU]: Das stimmt!) Zur Risikoabschätzung gehört auch die Tatsache, Der Verbraucher muß endlich wissen, woher das daß die lange Inkubationszeit von in der Regel Fleisch kommt. Er muß sich über die Qualität und das zwischen vier bis acht, ja bis zu zwölf Jahren vor Ende eventuell vorhandene BSE-Risiko selbst informieren dieses Jahrzehnts keine gesicherten Erkenntnisse können. über eine mögliche Beziehung von BSE zur Creutz- feldt-Jacob-Krankheit des Menschen ermöglicht. Ich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) lehne es ab, daß, wie jüngst auf Grund der Krankheits- Aus der Sicht der Landwirtschaft kann ich die Ver- fälle in Rheinland-Pfalz geschehen, ungeprüft ein braucher nur dazu aufrufen, an der Fleischtheke Zusammenhang zwischen BSE und der menschlichen Angaben über die regionale Herkunft des Fleisches zu Erkrankung hergestellt wird. verlangen. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist es!) (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist es!) Ich stelle aber fest: Das Restrisiko ist zwar auch nach Die Landwirtschaft leistet bundesweit dazu ihren naturwissenschaftlichen Regeln nie auszuschließen; Beitrag durch Markenfleischprogramme, bei denen hier aber haben wir ein Risiko von besonderer Quali- die Tiere unter kontrollierten Bedingungen aufgezo- tät. gen und auch vermarktet werden. Dieses Angebot der Was ist zu tun? Die Politik hat die Pflicht zur Landwirtschaft sollte die Bevölkerung nicht zuletzt im gesundheitlichen Fürsorge für die Bevölkerung. Ich Interesse ihrer eigenen Sicherheit nutzen. 19216 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Meinolf Michels Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor einiger Zeit Die aufwendigen Analysen des HIV-Untersu habe ich mich zwei Tage in England aufgehalten, um chungsausschusses lehren uns ebenso wie jetzt bei der das Auftreten dieser Krankheit in einem landwirt- Bovinen Spongiformen Enzephalopathie, daß nam- schaftlichen Betrieb sowie die Maßnahmen zur hafte Wissenschaftler ihr Spezialgebiet zwar umfas- Bekämpfung vor Ort kennenzulernen. Das Resultat send überblicken aber das heißt gleichzeitig auch: dieses Besuchs möchte ich zusammenfassen: Unein- meist nur äußerst eingeengt. Der Informationsfluß geschränkte Vorsicht muß für uns Priorität haben. von diesen Wissenschaftlern zur koordinierenden Schönen Dank. Oberbehörde, dem Bundesgesundheitsamt, und von (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. dort zum Bundesministerium für Gesundheit muß sowie bei Abgeordneten der SPD) durch regelmäßige Berichterstattung an das Parla- - ment seitens des Bundesgesundheitsamtes und des Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Bundesgesundheitsministeriums über anstehende so- nunmehr dem Abgeordneten Dr. Hans-Hinrich wie latente und mögliche Risiken im Interesse eines Knaape das Wort. vorbeugenden Gesundheitsschutzes für den Verbrau- cher ergänzt werden. Dr. Hans-Hinrich Knaape (SPD): Herr Präsident! Das Fazit ist doch, daß unsere Fühler unter Einbe- Meine Damen und Herren! Das brisante Problem, das ziehung des Parlaments zur Erfassung von gesund- heute erneut das Parlament beschäftigt, ist ein lange heitsgefährdenden Risiken sensibiliert werden müs- bekanntes, aber auch wieder unterschätztes Risiko sen. des Gesundheits- und des Verbraucherschutzes. Wur- den die Virushepatitiden sowie HIV durch Mängel Drittens. Im Februar 1989 formulierte eine Untersu- und Fahrlässigkeit und wahrscheinlich auch durch chungskommission in Großbritannien: Vorsatz im pharmazeutisch-ärztlichen Bereich und Nach heutiger Erkenntnislage ... wird BSE für nicht nur durch Sexualpraktiken übertragen, so die menschliche Gesundheit keine Folgen haben. begegnet uns jetzt bei der Bovinen Spongiformen Dennoch, sollten unsere Abschätzungen dieser Enzephalopathie eine neue Qualität, deren Dimen- Wahrscheinlichkeiten falsch sein, wären die Fol- sion noch nicht abzuschätzen ist. Ebenso wie bei HIV gen äußerst ernsthaft. ist die Wirkung des unbekannten Erregers nach Das Wissen ist gewachsen. Die Gefahr besteht jetzt. Übertragung auf den Menschen tödlich. Aber hier Aber seit dieser Erkenntnis sind fünf Jahre verstri- findet die Übertragung nicht auf dem Blutwege statt, chen. In den seit dieser Zeit getroffenen Sicherheits- sondern — das ist das Neue — durch die Nahrungs- maßnahmen wiederholen sich Fehler, die auch bei der kette. HIV-Übertragung durch Blut und Blutprodukte vorlie- Sehr kritisch müssen wir uns diesem Problem stel- gen. len, Fehler im Handeln auf verschiedenen Ebenen Das Fazit ist, daß eingefahrene Denk- und H and- aufdecken und uns dazu bekennen und sie verän- lungsschablonen korrigiert werden müssen und dern. schnelleres Handeln in kürzerer Zeit notwendig ist. Erstens. Nicht erst seit 1985, als die Bovine Spongi- forme Enzephalopathie im Vereinigten Königreich Zum Schluß: Als Opposition gehen uns die Maßnah- men des Gesundheitsministers natürlich nicht weit ausbrach, wird Tierkörpermehl — bis zum Verbot 1988 — an Wiederkäuer, also an Pflanzenfresser, genug, wie unserem Antrag zu entnehmen ist. Trotz- verfüttert. Warum, aus welcher Motivation heraus, dem müssen wir anerkennen, daß der Gesundheitsmi- müssen wir Menschen eigentlich natürliche Nah- nister hier und vor dem Rat der Europäischen Union rungsketten von Tier und Mensch verändern? vorbeugende Maßnahmen durchsetzen wi ll bzw. schon veranlaßt hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Bereits 1980 wurden im betroffenen Land die virus- CSU und der F.D.P.) inaktivierenden Maßnahmen durch Hitze bei der Sie spiegeln sich im Entschließungsantrag der Koali- Tierkörpermehlgewinnung verändert. Die an Scrapie tion wider und werden weitgehende Sicherheit für verendeten Schafe wurden schon lange vorher und den Verbraucher von Rindfleischprodukten — aber werden auch noch heute in die Tiermehlproduktion nur vor bekannten mit BSE durchseuchten Tierbe- einbezogen. Sie durften von 1990 bis 1991 in England ständen — bieten. zwar nur als Dünger verwendet werden. Aber wer Eine konstruktive Zusammenarbeit seitens der SPD garantiert, daß sie nicht auf dem internationalen wird signalisiert; denn die Verantwortung müssen wir Markt zu erlangen sind und von do rt Fleisch von alle tragen, trotz unterschiedlicher Auffassungen im Tieren, an die dieses Mittel verfüttert wurde, nach Detail. Deutschland kommt? Die analoge Erkrankungsform Ich danke Ihnen. beim Menschen, die Creutzfeldt - Jacob - Erkrankung, hat eine lange Latenzzeit von 5 bis 35 Jahren. Wenn (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der das, was wir vermuten, eintritt: Was steht uns dann F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS/ bevor? Linke Liste) Zweitens. Die übertragbaren Spongiformen Enze- phalopathien belehren uns, daß sie ebenso wie die HIV-Infektionen des Menschen nicht nur für unsere, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile sondern auch für die folgende Generation eine ernst- nunmehr dem Bundesgesundheitsminister Horst See- zunehmende Bedrohung sein können. hofer das Wort. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19217

Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: Bundesgesundheitsamtes nach einem internationalen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Symposium am 2. Dezember 1993 erfolgt ist. Herr Kollege Dr. Knaape, ich möchte Ihnen als Oppo- Noch im gleichen Monat habe ich im EG - Gesund- sitionspolitiker ausdrücklich für diese sehr verantwor- heitsministerrat in Brüssel das Thema angespro- tungsvolle Rede danken. chen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) Ich glaube, sie war angemessen gegenüber dem Damals wurde vereinbart, daß die Deutschen mit den Problem, mit dem wir es zu tun haben. Ich hätte mir die Briten bilateral versuchen, einen Vorschlag für gleiche Rede auch von der Frau Kollegin Steen Europa zu erarbeiten, der zu zusätzlichen Sicherheits- gewünscht. maßnahmen führt. Diese bilateralen Gespräche (Siegfried Ho rnung [CDU/CSU]: So ist es!) haben zweimal ergebnislos stattgefunden. Nach dem zweiten ergebnislosen Gespräch habe ich in Brüssel Das Problem ist nämlich ohnehin schwierig, und es ist eine Sondersitzung des EG-Gesundheitsministerrates in den letzten Tagen noch ernster geworden. beantragt. Am 30. März hat diese Sitzung stattgefun- Ich habe vor drei Stunden eine Agenturmeldung mit den. Normalerweise hätte sie erst Mitte des Jahres der Überschrift bekommen: „Hirnerkrankung führte stattgefunden. in Großbritannien zum Tod von 48 Katzen". Ich Mit dem Kollegen Borchert — Frau Steen, auch das, zitiere: was Sie dazu gesagt haben, war völlig falsch — haben An einer dem Rinderwahnsinn vergleichbaren wir im übrigen eine totale Übereinstimmung in allen Hirnerkrankung sind in den vergangenen vier einzelnen Maßnahmen und Vorgehensweisen. Jahren in Großbritannien 48 Katzen gestorben. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Der Tod der Tiere sei seit Mai 1990 in unter- schiedlichen Abständen bekanntgeworden, be- Wenn Ihnen vielleicht irgendein Pförtner in einem stätigte am Donnerstag Ministerium etwas Abweichendes sagt, ist das nicht die Haltung der Bundesregierung. Auch das möchte — also heute — ich einmal sagen. in London ein Sprecher des Landwirtschaftsmini- Wir haben eine total übereinstimmende Meinung. steriums. Die Katzenkrankheit wird in Anleh- Auch der Kollege Borchert hat es im Agrarrat wieder- nung an den Rinderwahnsinn BSE ... als FSE holt angesprochen; er wird es auch nächste Woche (Feline Spongiforme Enzephalopathie) bezeich- wieder ansprechen. net. Ich möchte aber unmißverständlich sagen: Wenn Da es sich bei FSE nicht um eine meldepflichtige uns die Europäische Union in der nächsten Woche Erkrankung handele, könne nicht mit Bestimmt- nicht die feste Zusage gibt, daß es zu einem gemein- heit gesagt werden, daß alle Todesfälle registriert samen europäischen Handeln kommt — auch mir wurden, so das Ministerium. Es gehe davon aus, wäre es lieber, wenn alle zwölf Länder gemeinsam daß verseuchtes Tierfutter die Erkrankung über- handeln, tragen habe. (Editha Limbach [CDU/CSU]: Es wäre auch Meine Damen und Herren, damit ist auch in der besser!) Praxis eine Befürchtung, die in der Wissenschaft ohnehin vorhanden war, leider bestätigt worden, daß weil dies für die Sicherheit der Bevölkerung und nämlich nicht nur die Übertragung der bekannten für die Tiere immer besser ist als nationale Allein- Scrapie-Krankheit auf das Rind erfolgt ist — was vor gänge —, zehn Jahren niemand angenommen hat; vor zehn (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Jahren wäre man ausgelacht worden —, sondern daß dann ist lange genug verhandelt, lange genug geredet zunehmend auch die Barriere zwischen Rind und worden, dann werde ich national handeln. anderen Tierspezies, und zwar Tierspezies, die den Menschen näher stehen, übersprungen worden ist. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Deshalb geht es bei diesem Thema natürlich um den SPD) Schutz von Tierbeständen, aber es geht zunehmend Das heißt im Klartext, daß ich dann dem Bundes- auch um den Schutz der Menschen. kanzler unverzüglich eine Verordnung, die im Bun- desrat zustimmungspflichtig ist, zuleiten werde mit (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Keine der Bitte, daß im Mai die Entscheidung dazu im Frage!) Kabinett herbeigeführt wird. Wer die Verabschiedung Kein verantwortungsvoller Politiker kann auf diesem dieser Verordnung verhindert oder verzögert, der Gebiet auch nur das geringste Risiko eingehen. muß dann auch die gesundheitspolitische Verantwor- tung übernehmen. Wer mich überhaupt an der Ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. scheidung hindert — auch das sage ich in aller sowie bei Abgeordneten der SPD) Öffentlichkeit —, der muß mir die Verantwortung für Frau Kollegin Steen, wenn wir uns schon auf das diesen Bereich nehmen. kleinkarierte, typisch parteipolitische Gewäsch ein- lassen, wer jetzt wann zu früh oder zu spät gehandelt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) hat — ich hätte es nicht getan —, möchte ich einmal Ich bin nach diesen Verhandlungen seit Dezember darauf hinweisen, daß die neue Risikobewertung des 1993 nicht bereit, noch länger zuzuwarten. Auch bin 19218 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Bundesminister Horst Seehofer ich nicht bereit, Entscheidungen unter dem Blickwin- richten, als wäre die Krankheit übertragbar. Das ist kel der Europawahl am 12. Juni unter sachfremden Gesundheitsvorsorge. Bei der Frage „Gesundheits- Gesichtspunkten zu treffen. Wir müssen für die Men- vorsorge" kommt es nämlich nicht allein darauf an: schen entscheiden! Wie wahrscheinlich ist die Übertragung auf den (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Menschen? — das ist ein Argument, sondern wir sowie bei Abgeordneten der SPD) müssen auch die Frage beantworten: Wie groß ist der potentielle Schaden, wenn denn die Übertragbarkeit Das zum Verfahren. tatsächlich gegeben sein sollte? Nun, meine Damen und Herren, zur Konkurrenzsi- Hier ist von Herrn Dr. Knaape schon die Einschät- tuation „Gesundheitsschutz für die Bevölkerung und zung der britischen Wissenschaftler geäußert worden, Auswirkungen auf den Rindfleischmarkt". Ich sage die gesagt haben: Ja, wenn wir uns mit unserer dies gerade vor dem Hintergrund, daß hier ein füh- Einschätzung täuschen, dann bedeutet das eine Kata- render Mittelständler, Ernst Hinsken, anwesend ist. strophe für die Menschen. Das zeigt wieder einmal das große Interesse auch des Mittelstandes an diesem Thema. Wer dieses Risiko eingehen will, dem sage ich in aller Deutlichkeit: Das wäre ein nicht zu verantwor- (Zuruf von der CDU/CSU: Auch Bäcker tendes Experiment am Menschen, essen Fleisch!) (Beifall bei der CDU/CSU und F.D.P. sowie Meine Damen und Herren, ich bin zutiefst über- bei Abgeordneten der SPD) zeugt: Wenn wir nicht handeln, setzen wir Mißtrauen und zerstören Vertrauen. und zwar ein nicht zu verantwortendes Expe riment am Menschen mit allen Konsequenzen für die Staats- (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: In der Tat!) haftung und auch strafrechtlich. Das hat für den Rindfleischmarkt in der Bundesrepu- Ich wiederhole hier: Ich habe keine Lust, in einigen blik Deutschland und in Europa insgesamt weitaus Monaten oder in einigen Jahren vor einem Untersu- verheerendere Wirkungen, als wenn wir die Öffent- chungsausschuß oder vor dem Staatsanwalt zu lichkeit mit Argumenten, mit Fakten aufklären, erscheinen, um mich zu rechtfertigen, warum wir unsere Handlungskompetenz unterstreichen und der vielleicht nicht rechtzeitig gehandelt haben, mögli- Bevölkerung nach erfolgter Tat sagen können, daß sie cherweise wegen einer Europawahl am 12. Juni oder beruhigt das Rindfleisch essen kann, das in der weil wir national nicht die Kraft dazu hatten. Bundesrepublik Deutschland auf den Markt kommt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich sage noch einmal: Der potentielle Schaden wäre Wir haben in vielen Sektoren eine ähnliche Ent- gewaltig, wenn sich die Restzweifel bestätigen soll- wicklung; ich erinnere nur an die Nematoden im ten, daß diese Krankheit auf den Menschen übertrag- Fisch. Solange die Politik nicht gehandelt hatte, gab es bar ist. Deshalb muß die Gesundheitsvorsorge ohne rapide Abstürze am Markt. Nach dem politischen Wenn und Aber absolut Vorrang haben. Handeln hat sich der Markt wieder sehr schnell erholt. Deshalb ist die sicherste Maßnahme für den Rind- Herr Kollege Krause, Herr Dr. Thomae hat schon fleischmarkt — wenn man eine solche Maßnahme recht, wenn er den Vergleich mit HIV und Aids überhaupt unter Marktgesichtspunkten beurteilen anstellt, und zwar nicht, weil die beiden Krankheiten kann — eindeutiges Handeln. Das wird Beruhigung, in ihrem Verlauf, in ihrer Auswirkung und ähnlichem Vertrauen und Sicherheit in der Bevölkerung wieder- vergleichbar wären, sondern weil die wissenschaftli- herstellen. Deshalb ist es höchste Zeit, daß wir natio- chen Erkenntnismuster Anfang der 80er Jahre bei nal handeln, wenn Europa es nicht tut. HIV und jetzt Anfang der 90er Jahre bei BSE beinahe deckungsgleich sind; die wissenschaftlichen Erkennt- Unabhängig von dem Marktargument aber müßte nismuster insofern, als man sagt: Man kann es zwar die Gesundheitsvorsorge ohnehin Priorität vor wirt- nicht beweisen, aber man kann es auch nicht aus- schaftlichen Gesichtspunkten haben. schließen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Während es Anfang der 80er Jahre über lange Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist ganz Strecken so war, daß m an gesagt hat, solange man es klar!) nicht beweisen kann, können wir auch keine Eingriffe Meine Damen und Herren, wir müssen dafür sorgen und politische und gesetzgeberische Maßnahmen — das ist vom Landwirtschaftsminister schon perfekt rechtfertigen, wird heute wieder so argumentiert, und und umfassend geregelt —, daß diese Tierseuche aus zwar auf der europäischen Ebene, daß man uns Großbritannien exportiert wird. entgegenhält: Weil es noch nicht bewiesen ist, können wir zusätzliche Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge (Zuruf von der CDU/CSU: Nicht!) nicht verantworten. — Nicht exportiert wird! Ich bin für den Zwischenruf Meine Damen und Herren, das ist der grundsätzli- dankbar. Es ist 19.30 Uhr; da ist die Konzentration che Dissens zwischen Deutschland und der Europäi- nicht so wie um 6.30 Uhr. schen Union, und dabei ist hier der Rinderwahnsinn Meine Damen und Herren, daneben müssen wir nur ein Beispiel; denn ich bekomme in dieser Woche sehen, daß heute niemand eindeutig ausschließen die Nachricht, daß sich die Europäische Union — was kann, daß diese Krankheit auf den Menschen über- die Rückstände von Pflanzenschutzmitteln in Baby- tragbar ist. Ich stimme allen Rednern zu, die sagen: nahrung betrifft — auf den Standpunkt stellt, daß Wir müssen unsere politischen Maßnahmen so aus- unser nationaler Sicherheitsstandard nicht Maßstab Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19219

Bundesminister Horst Seehofer für die europäische Harmonisierung sein kann, weil Die Maßnahme, die wir treffen, ist eine Vorsorgemaß- der Grenzwert von 0,01 Milligramm pro Kilogramm nahme. wissenschaftlich nicht fundiert ist. Die Bevölkerung kann sich darauf verlassen, daß Ja, meine Damen und Herren, wenn wir uns in der wir, wenn Europa nicht mitmacht, national alle Mög- Europäischen Union jetzt einmal auf diese Regel lichkeiten ausschöpfen, um der Bevölkerung guten einlassen, daß allein der wissenschaftliche Beweis für Gewissens sagen zu können: Wir haben das Notwen- Sicherheitsstandards maßgeblich ist, dann müssen wir dige getan, um Gesundheitsgefahren abzuwehren. natürlich — wenn wir hier bei BSE nachgeben — bei Ich bin bestimmt kein Nationalist, sondern sehr für der Babynahrung, bei verstrahlten Lebensmitteln, bei den Binnenmarkt und für freien H andel. Aber solange diese Entscheidungen in Europa in der Schwebe sind, neuartigen Lebensmitteln, bei Gentechnik-Lebens-- mitteln usw. auch nachgeben. Wir können nicht beim solange nicht klar ist, zu welchen gemeinsamen Rinderwahnsinn sagen, wir brauchen uns nicht nach Kraftanstrengungen wir in Europa imstande sind und der Gesundheitsvorsorge zu richten, bei der Babynah- solange wir national noch nichts Ausreichendes unter- rung ist es plötzlich wieder der Wert von 0,01, obwohl nommen haben, bleibt die eindeutige Empfehlung an er natürlich wissenschaftlich nicht eindeutig eine den deutschen Verbraucher, daß er gut beraten ist, Gesundheitsgefährdung beinhaltet. Das, meine Da- wenn er sich im Markt auf deutsche Produkte konzen- men und Herren, ist eine Nagelprobe für den Gesund- triert. heitsschutz in der Europäischen Union. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause [Bo (Beifall bei der CDU/CSU und F.D.P. sowie nese] [fraktionslos]) bei Abgeordneten der SPD) Vorsicht und Umsicht sollten hier die Marksteine Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine unseres Vorgehens sein. Vorsicht ist, wie von den Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Vorrednern der Koalition und von Herrn Dr. Knaape Aussprache. ausgeführt, daß wir von der Übertragbarkeit der Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Krankheit ausgehen und alles tun, daß diese Tierseu- den Drucksachen 12/7154 und 12/7322 an die in der che aus dem Vereinigten Königreich nicht auf den Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- Kontinent exportiert wird. gen. Der Antrag der Fraktion der SPD — er liegt Ihnen Wir haben Gott sei Dank in der Bundesrepublik auf Drucksache 12/7154 vor — soll zusätzlich an den Deutschland nur zwei Rindererkrankungen, und EG-Ausschuß überwiesen werden. Ist das Haus damit dabei handelt es sich um Rinder, die aus Großbritan- einverstanden? — Andere Vorschläge werden nicht nien stammen. Wir haben also Gott sei Dank dieses gemacht. Dann ist das so beschlossen. Problem hier nicht, und wir sollten alles tun, daß es bei uns nicht zum Problem wird. Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 9 auf: (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Beratung des Berichts des Ausschusses für Frauen und Jugend (14. Ausschuß) gemäß § 62 Deshalb ist das keine Panikmache und keine Hyste- Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem Antrag rie, sondern verantwortungsvolle Vorsicht, und der Abgeordneten Dr. Marliese Dobberthien, gleichzeitig müssen wir auch Umsicht walten lassen. Hanna Wolf, Angelika Barbe, weiterer Abge- Wir müssen hier mit Argumenten, mit Fakten arbei- ordneter und der Fraktion der SPD ten. Bei diesem schwierigen Thema kann m an ja wirklich nicht mit gutem Gewissen irgendeiner Seite Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung für Versäumnisse vorwerfen, auch den Bundesländern Hausangestellte im Rahmen des Mutterschutz- nicht, sondern es ist auf allen Ebenen sofort nach dem gesetzes neuen wissenschaftlichen Erkenntnisstand vom De- — Drucksachen 12/3625, 12/7316 — zember gehandelt worden. Wir als Politiker sollten Berichterstattung: einmal die Kraft aufwenden, nicht in diese kleinka- Abgeordnete Dr. Edith Niehuis rierte parteipolitische Auseinandersetzung zu fallen, Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von Frau Steen, einer halben Stunde vor. Ist das Haus damit einver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) standen? — Auch das ist offensichtlich der Fall. Dann kann ich der Abgeordneten Frau Ma ria Eichhorn das sondern mit Fakten und Argumenten zu arbeiten. Wort erteilen. Ich möchte mich hier einmal in aller Öffentlichkeit bei allen Journalisten der Bundesrepublik Deutsch- Maria Eichhorn (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine land bedanken, die in diesem Fall BSE, im Gegensatz Damen und Herren! Eigentlich hatte ich nicht damit zu manchen Berichten im letzten Herbst zu HIV und gerechnet, die Debatte zu beginnen. Aber selbstver- Aids, die Öffentlichkeit außerordentlich korrekt und ständlich tue ich das sehr gerne. mit Fakten gefüttert informiert haben. Das ist Bei der ersten Lesung zum Thema „Kündigungs- Umsicht. schutz und Lohnfortzahlung für Hausangestellte im (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Rahmen des Mutterschutzgesetzes" wurde von mei- ner Fraktion deutlich gemacht, daß sie einer Lösung Auch wir als Politiker müssen umsichtig umgehen. des Problems sehr aufgeschlossen gegenübersteht. Wir müssen der Bevölkerung sagen: Es gibt keinen Gleichzeitig wurde aber auch festgestellt, daß es dazu Grund für Panik, es gibt keinen Grund zur Hyste rie. unterschiedliche Positionen gibt. 19220 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Maria Eichhorn Um mehr Klarheit zu bekommen, hat das Bundes- Für eine Änderung der mutterschutzrechtlichen ministerium für Frauen und Jugend bei den betroffe- Sondervorschriften für Hausangestellte sprechen: nen Verbänden eine Umfrage gestartet. Die Fragebo- Erstens. Bessere Sicherung des Arbeitsplatzes für genaktion richtete sich an Berufs- und Frauenver- die Hausangestellte während des Mutterschutzes und bände sowie weitere Interessenvertretungen. Ziel des anschließenden Erziehungsurlaubs. Die Schw an war, sowohl statistische Aussagen und Grundlagen als -gere bleibt im Arbeitsverhältnis und muß sich nicht auch eine Bewertung der gegenwärtigen und zukünf- mit Arbeits- und Wohnungsproblemen befassen. tigen möglichen gesetzlichen Ausgestaltung des Kün- digungsschutzes zu erhalten. 16 Verbände haben Zweitens. Vermeidung materieller und immateriel- reagiert; die Mehrzahl von ihnen jedoch nur allge- ler Konfliktlagen mit Gefahren für Mutter und Kind. mein dergestalt, daß sie kaum über Zahlen verfügen. Damit wird dem verfassungsrechtlichen Schutzauf- Die Angaben basierten oft auf Einzelfällen. Daher trag des Art. 6 Grundgesetz und den Auflagen des konnten keine verwertbaren Aussagen über Zahlen, Bundesverfassungsgerichts in seiner Entscheidung Situationen und Interessen der Hausangestellten zum Schwangerschaftsabbruch vom Mai letzten Jah- zusammengestellt werden. res Rechnung ge tragen. Drittens. Aufhebung der Benachteiligung von Allerdings wurde von den Verbänden pauschal Hausangestellten gegenüber anderen Arbeitnehme- gefordert, schwangere Hausangestellte im Kündi- rinnen. Besonders der Berufsverband katholischer gungsschutz den anderen Arbeitnehmern gleichzu- Arbeitnehmerinnen in der Hauswirtschaft sieht im stellen. In der Tendenz haben sich die Verbände mit fehlenden Kündigungsschutz für vollzeitbeschäftigte Mehrheit für eine Änderung des § 9 Abs. 1 Mutter- Schwangere eine Diskriminierung der Arbeitnehme- schutzgesetz ausgesprochen, zum Teil jedoch mit rinnen im Privathaushalt. Daneben besteht eine Einschränkungen. So wurde z. B. auf den geringen Benachteiligung für Teilzeitbeschäftigte in der Vor- Spielraum der Organisation des Familienhaushalts enthaltung des Mutterschutzlohnes bei schwanger- hingewiesen. Daraus läßt sich folgern, daß möglicher- schaftsbedingten Beschäftigungsverboten. weise eine höhere Anzahl genehmigter Kündigungen nach § 9 Abs. 3 Mutterschutzgesetz, also der Kündi- Eine Benachteiligung besteht besonders da rin, daß gungen in besonderen Fällen, zu erwarten ist. nur die teilbeschäftigte Arbeitnehmerin, die im Haus- halt tätig ist, keinen Lohnersatz erhält, während für Auf Grund der Umfrage lassen sich aber verläßliche erzieherische und pflegerische Tätigkeit Lohnersatz Zahlen weder für Kündigungen noch für Ausnahme- gewährt wird. kündigungen feststellen. Wir kennen allerdings die vom Bundesversicherungsamt registrierten Kündi- Viertens. Einschaltung des zuständigen Gewerbe- gungsfälle, die mit 261 im Jahr 1991 relativ gering aufsichtsamtes im Falle einer Kündigung nach § 9 sind. Abs. 3 Mutterschutzgesetz. Die derzeitige Regelung sieht für hauswirtschaftliche Arbeitnehmerinnen Es ergeben sich auch keine zuverlässigen Zahlen keine Einschaltung des Gewerbeaufsichtsamtes vor. hinsichtlich des Anteils der Hausangestellten, die in Die Arbeitnehmerin ist auf sich gestellt und muß ihre häuslicher Gemeinschaft mit der Familie leben. Rechte allein durchsetzen. Zumindest differieren sie sehr stark zu den Zahlen der Sonderauswertung der Volkszählung von 1987, nach Aber es gibt natürlich auch gewichtige Argumente der nur 10,4 % aller Hausangestellten eine Woh- gegen eine Änderung insbesondere von § 9 Mutter- nungseinheit mit der Arbeitsstätte bilden. Diese Zah- schutzgesetz. Auch diese Argumente möchte ich len sind nicht unwichtig, da die Kündigung des anführen: Arbeitsplatzes oft auch mit der Kündigung der Woh- Erstens. Nachteile für die schwangere Hausange- nung verbunden ist. stellte wegen des Wegfalls der Sonderunterstützung im Falle einer Änderung von § 9 Mutterschutzge- Da die Umfrage keine eindeutigen Ergebnisse setz. brachte und weil wir uns um die Sache sehr bemüht haben, meine Damen und Herren von der Opposition, Zweitens. Zunehmende Ausnahmekündigungen hat die Arbeitsgruppe Frauen und Jugend meiner der Arbeitgeber in Familienhaushalten beim Gewer- Fraktion, der Fraktion der CDU/CSU, im Januar beaufsichtsamt. Im Falle der dann zulässigen Kündi- dieses Jahres noch eine zusätzliche Anhörung zum gung wird nur noch Arbeitslosengeld an Stelle der Thema Kündigungsschutz für Hausangestellte veran- bisherigen Sonderunterstützung für Hausangestellte staltet. Bei der Anhörung, zu der sechs Verbände gezahlt. anwesend waren, war auch eine Tendenz zur Ände- Drittens. Künftige Beschäftigungshindernisse für rung des Kündigungsschutzes für Hausangestellte die Hausangestellten und daher verstärktes Auswei- sichtbar. chen in illegale Beschäftigungsverhältnisse ohne Es wurden jedoch auch Zweifel und insbesondere jeden Schutz für die betroffenen Frauen. von der Arbeitgeberseite Bedenken geäußert. Un- Schließlich viertens. Materielle und immaterielle überhörbar war bei dieser Anhörung die Forderung Belastung der Arbeitgeber durch die Änderung der nach der Anerkennung des Privathaushalts als Vorschriften. Die teilweise finanzielle Entlastung Betrieb. durch die Beteiligung am Umlageverfahren nach dem Lohnfortzahlungsgesetz für Kleinbetriebe heben Sie sehen also, wir haben uns sehr gründlich um das diese Belastung nicht auf. Thema bemüht. Ich möchte nun noch einmal alle Für und Wider in bezug auf eine Änderung des Mutter- Das Bundesministerium für Frauen und Jugend hat schutzes einander gegenüberstellen. mittlerweile einen Entwurf zur Änderung des Mutter- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19221

Maria Eichhorn schutzgesetzes vorgelegt. Er befindet sich zur Zeit in beraten zu können. Unsere Bemühungen blieben der Abstimmung und wird demnächst in den Aus- jedoch erfolglos. Eine Beratung kam nicht zustande. schüssen beraten. Sowohl im federführenden Ausschuß als auch in den Meine Damen und Herren, die Mutterschutzrege- mitberatenden Ausschüssen wurde der Antrag zwar lungen für Hausangestellte stammen aus den 50er mehrfach auf die Tagesordnung gesetzt, aber genauso Jahren. Damals kannte man noch keine moderne häufig wieder abgesetzt. Nun haben wir das Mittel der Technik. Nach mehr als 40 Jahren hat sich die Arbeits- Debattenerzwingung ergreifen müssen. Wir fragen und Beschäftigungssituation im Privathaushalt deut- uns natürlich: Warum diese x-fache Vertagung? CDU/ lich verändert. Das Dienstmädchen und das Kinder- CSU und F.D.P. haben ihre Mehrheit wiederholt dazu mädchen gehören der Vergangenheit an. Heute benutzt, eine parlamentarische Beratung zu blockie- ren. Eine sachliche Begründung für dieses Verhalten beschäftigen wir im Privathaushalt die Zugehfrau,- die Tagesmutter, die Hauswirtschafterin und die Haus- lag nicht vor und vermochte daher auch nicht zu hälterin mit ganz unterschiedlichen Beschäftigungs- überzeugen. Vielmehr scheint es nur um taktische zeiten. Nur noch eine kleine Zahl der Hausangestell- Fragen zu gehen. Das Problem ist weiß Gott kein ten sind Vollzeitbeschäftigte, die überwiegende Zahl großes Problem. Ich frage mich: Wieviel Zeit braucht der Haushalte beschäftigt Teilzeitkräfte. Für Frauen, diese Bundesregierung noch, um ein vergleichsweise die einen qualifizierten Abschluß im hauswirtschaftli- einfaches Problem zu regeln? chen, erzieherischen oder pflegerischen Bereich (Beifall bei der SPD) nachweisen können, ist der Arbeitsplatz Privathaus- halt kaum noch interessant. Deswegen arbeiten sol- Dieser Debatte vorausgegangen ist eine sehr zöger- che Frauen lieber in einem Hotel oder in einem Heim. liche erste parlamentarische Behandlung unseres Gerade für jüngere Frauen aber muß der Arbeitsplatz Anliegens. Zwischen Einbringung und erster Debatte Privathaushalt wieder attraktiver werden. lag ein halbes Jahr. Bei anderen Problemen geht das (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) viel schneller. Dabei ist das Thema nicht neu, und ein Handlungsbedarf wurde auch von der Bundesregie- Meine Damen und Herren, weil wir der Meinung rung schon seit längerem konstatiert. Der damalige sind, daß wir uns dieses Themas annehmen müssen Parlamentarische Staatssekretär räumte und dies nicht einfach im Schnellverfahren lösen bereits im Februar 1992 die Reformbedürftigkeit der können, haben wir diese Dinge in unserer Arbeits- fraglichen Mutterschutzbestimmungen ein. Anläß- gruppe und auch im Rahmen der Umfrage des Mini- lich der ersten Lesung unseres Antrages berichtete steriums sehr intensiv behandelt. Ich denke, es war Frau Dr. Böhmer über einschlägige Aktivitäten von richtig und notwendig, weil die Argumente von den Frauen ihrer Fraktion, die aber offenbar bisher nicht verschiedenen Seiten zu vielfältig sind. Ich meine, zum Erfolg führten. Und meine F.D.P.-Kollegin Frau unsere Aufgabe ist es jetzt, in den nächsten Wochen Dr. Semper hat interessanterweise für das BMFJ den veränderten Bedingungen bei der Änderung des angekündigt, daß bis Ende Mai 1993 die Fachver- Mutterschutzgesetzes Rechnung zu tragen. Dazu bitte bände gefragt seien und im Juni ergänzende statisti- ich Sie alle um Ihre Mitarbeit. sche Unterlagen vorliegen sollten. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Doch was ist geschehen? Gesetzgeberisch haben wir nichts in der Hand. Und sonst? Frau Eichhorn, Sie Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort sagen, es gäbe einen Entwurf. Na schön. Es freut mich, hat nunmehr Frau Dr. Marliese Dobberthien. wenn es einen Entwurf gibt. Aber die Legislaturpe- riode neigt sich dem Ende zu. Ich hoffe, wir kommen Dr. Marliese Dobberthien (SPD): Herr Präsident! noch dazu, nicht nur zu beraten, sondern auch zu Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Eichhorn! Die verabschieden. Mitarbeitszusicherung sollen Sie von uns gerne (Zuruf von der SPD: Es ist immer sehr gefähr haben. An uns hat es bisher nicht gelegen, daß der lich, wenn es bei denen nur einen Entwurf Antrag ständig verzögert wurde. gibt!) (Beifall bei der SPD — Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr!) — Wir wissen, was es heißt: „Entwürfe". Die sind bei Ihnen meist sehr strittig. Ich fürchte, nach bewährter Die Bundesministerin für Frauen und Jugend hat im Manier wird letztlich wieder alles einmal fröhlich Zusammenhang mit dem § 218 hervorgehoben, daß es ausgesessen, und das ist nicht hinzunehmen. eine Gesamtverantwortung aller zum Schutze wer- dender Mütter gibt. Dazu will Frau Merkel Schutzbe- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) stimmungen, wie das Mutterschutzgesetz, möglichst konsequent angewendet wissen. Im Mai 1993 wurde Die betroffenen Schwangeren müssen sich verlas- ein Antrag von uns zur Erweiterung des Mutter- sen und verraten vorkommen. Glaubt die Bundesre- schutzgesetzes und zur Lohnfortzahlung debattiert. gierung etwa, daß die Frauen es nicht merken, wenn Dieser Antrag enthält nichts anderes als die Forde- sie an der Nase herumgeführt werden? rung nach jener von der Ministerin selbst verlangten Worum geht es? Es geht darum, schwangeren konsequenten Geltung von Mutterschutzbestimmun- Hausangestellten den gleichen Schutz zu gewähren gen für alle Arbeitnehmerinnen. wie allen anderen schwangeren Arbeitnehmerinnen. Seit fast einem. Jahr aber schmort dieser Antrag in Das ist der beste Schutz des Lebens. Werdenden den Ausschüssen. Wiederholt haben wir darauf Müttern muß die Möglichkeit eröffnet werden, ohne gedrungen, endlich ordnungsgemäß im Ausschuß existentielle Sorgen ein Kind zu erwarten. Dazu 19222 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Dr. Marliese Dobberthien bedarf es entsprechender gesellschaftlicher Rahmen- Art, Politik zu machen. Eine solche Verzögerungsstra- bedingungen, wie auch Frau Merkel weiß. tegie ist auch kein Politikersatz. Ihre Hinhaltepolitik hat böse Auswirkungen. Jähr- Reformen sind überfällig. Es paßt einfach nicht lich verlieren zwischen 2 500 und 3 000 schwangere mehr in die Zeit, wenn schwangeren Hausangestell- Hausangestellte ihren Arbeitsplatz; das sind die ten nach Ablauf des fünften Monats gekündigt wer- Angaben des katholischen Berufsverbandes. Sie wer- den darf und sie Gefahr laufen, obendrein auch noch den in die Unsicherheit entlassen, trotz Erwartung ihre Bleibe im Privathaushalt zu verlieren. Es paßt eines Kindes. Was dies für Alleinerziehende bedeutet, einfach nicht in die Zeit, wenn sie von der Lohnfort- speziell was diese Aussicht für Frauen in einem zahlung ausgeschlossen werden, wenn sie schwanger Schwangerschaftskonfliktfall heißt, brauche ich hier und teilzeitbeschäftigt durch Hausarbeit gefährdet hoffentlich nicht näher zu erklären. sind. Und es paßt nicht in die Zeit, eine Lohnersatzlei- stung zwar bei erzieherischer und pflegerischer Tätig- Diese Art der Politik ist weder christlich noch sozial. keit, nicht aber bei gesundheitsgefährdenden Formen Darum fordere ich Sie auf, endlich zu handeln. der Hausarbeit zu gewähren. (Beifall bei der SPD) Eine Begründung für diese verwirrende und unter- schiedliche Behandlung gibt es nicht. Sie ist nicht nur sozialpolitisch verfehlt, sondern überdies auch frauen- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort feindlich. Darum frage ich: Wie lange glauben Sie erteile ich nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Sig rid denn eigentlich eine solche Diskriminierung auf- Semper. rechterhalten zu können, statt sie zügig zu ändern? Finanziell ist dank der U-2-Umlagefinanzierung für Kleinbetriebe kein wesentliches Hindernis mehr vor- Dr. Sigrid Semper (F.D.P.): Herr Präsident! Meine handen, wenngleich es hier doch Probleme gibt. Damen und Herren! Der von der SPD eingebrachte Antrag, den Kündigungsschutz und die Lohnfortzah- Darum frage ich: Warum dulden Sie, daß schwan- lung im Fall der Schwangerschaft einer Hausange- gere Hausangestellte weiterhin von dieser Fonds- stellten neu zu gestalten, wird durch eine Änderung Regelung ausgegrenzt bleiben? Die Bundesregie- des Mutterschutzgesetzes erfolgen müssen. Da aber rung, die von der Verantwortung gegenüber werden- auch in diesem Bereich die einzelnen rechtlichen den Müttern redet, hätte hier Gelegenheit, sie zu Regelungen in einem engen Zusammenhang stehen, beweisen. Aber Taten läßt sie bisher vermissen. muß darauf geachtet werden, daß eine einzelne Ände- rung nicht zu einem Ungleichgewicht führt, das in Der gravierende Unterschied zwischen den Regie- keiner Weise beabsichtigt worden ist. rungsfraktionen und der SPD ist es: Während sie das Problem schönreden und sich hinter Zahlen verstek- Änderungen in der Position der Arbeitnehmerinnen ken, wollen wir diese Reformen. Frau Merkel — sie ist bedeuten gleichzeitig neue Bedingungen für den leider nicht da, aber ich bitte, es ihr auszurichten— : Arbeitgeber, hier: den Privathaushalt. Die Liberalen Ein berechtigtes Anliegen läßt sich doch nicht durch stehen dazu, daß die Frage der Anerkennung des Aussitzen wegdrücken! Die Ministerin muß doch in Haushalts als Betrieb gründlich diskutiert wird, diesem Punkt nicht dem Kanzler nacheifern. wobei, wenn möglich, die steuersystematischen Pro- bleme einer positiven Lösung zugeführt werden kön- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nen. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Warme öffentliche Worte zu verlieren und neue Überlegungen über eine Tausend-Mark-Begrü- Die von dem Bundesministerium für Frauen und ßungsprämie für Neugeborene anzustellen — heute Jugend durchgeführte Befragung der für dieses Pro- von Frau Rönsch und Frau Merkel angekündigt — blem zuständigen Verbände hat kein einheitliches oder das Loblied der Mutterschaft zu singen, das ist Bild ergeben. Es ist sicherlich für einige Verbände preiswert, aber leider nicht genug. So sieht das auch besonders zu bedenken, inwieweit die geltende Rege- der Bundesverband katholischer Arbeitnehmerinnen. lung mit der Möglichkeit des Beschäftigungsverbotes Er verlangt die Beendigung der Benachteiligung nach dem fünften Schwangerschaftsmonat im Sinne schwangerer Hausangestellter. Gleiches fordert auch einer Angleichung an die allgemeinen Regelungen die Gewerkschaft Nahrung — Genuß — Gaststätten. für schwangere Arbeitnehmerinnen aufgegeben wer- Genau diesen Forderungen kommt unser Antrag den müßte. Damit entfiele gleichzeitig die Zahlung nach. des bisherigen durchschnittlichen Nettoarbeitsent- gelts bereits nach dem fünften Schwangerschaftsmo- In diesem Sinne ist auch die gemeinsame Erklärung nat. der Sozial- und Tarifpartner zum Mutterschutzgesetz Jedoch ist sicherlich zu überprüfen, ob der Privat- gehalten, welche die Katholischen Frauenverbände haushalt in früheren Zeiten in jedem Fall mit großen jüngst an die Frauenministerin gerichtet haben. Aber körperlichen Anstrengungen in Verbindung zu setzen all dies scheint nichts zu nützen. ist. Die technischen Entwicklungen der letzten Jahr- zehnte — wie schon von meinen Vorrednern gesagt — Ein seltener Fall: Eine Ihnen zweifelsohne näherste- haben auch in diesem Bereich zu großen Erleichterun- hende katholische Klientel stellt Forderungen auf, die gen geführt. Für viele ist der Privathaushalt ein nach dem Willen der SPD längst erfüllt worden wären. äußerst angenehmer und humaner Arbeitsplatz. Es drängt sich der Eindruck auf: Sie bleiben untätig, nur weil der Antrag von der SPD kommt. Dies ist keine (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19223

Dr. Sigrid Semper Die Probleme hinsichtlich der Ausnahme vom allge- Danke. meinen Kündigungsschutz für schwangere Arbeit- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — nehmerinnen sind neu zu überdenken. Eine Neurege- Zuruf von der F.D.P.: Das war eine gute lung des Kündigungsschutzes im Sinne einer Anglei- Rede!) chung an den allgemeinen Kündigungsschutz für schwangere Arbeitnehmerinnen schützt vor dem Ver- lust des Arbeitsplatzes bis zum vierten Monat nach der Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Entbindung. Ob eine derartige Regelung mit den nunmehr der Abgeordneten Frau Dr. Barbara Höll das Bedürfnissen des Privathaushalts vereinbar ist und Wort. wie die Situation der Arbeitnehmerin, die einen neuen Arbeitsplatz sucht, zu beurteilen ist, muß intensiv Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! beraten werden. Auch hier gilt, daß zuviel Schutz das Meine Damen und Herren! Das heute zur Beratung Arbeitsplatzangebot eher negativ beeinflußt. stehende Problem des unzureichenden Kündigungs- Schon jetzt müssen wir davon ausgehen, daß viele schutzes für Hausangestellte wirft auf mehrere Berei- Arbeitsplätze in Privathaushalten nicht offiziell che des gesellschaftlichen Lebens, in denen Frauen besetzt werden. Es werden keine Arbeitsverhältnisse nach wie vor benachteiligt werden, Schlaglichter. begründet, die den Frauen eine rentenversicherungs- Es ist ein nicht mehr zu begreifender Anachronis- rechtliche Absicherung ermöglichen. Nach Schätzun- mus, daß in deutlichem Gegensatz zum grundgesetz- gen ist davon auszugehen, daß ca. 100 000 Arbeits- lichen Gleichheitsgebot Frauen nur deshalb, weil sie plätze in Privathaushalten angeboten werden könn- eine bestimmte Tätigkeit, nämlich Hausarbeit, ver- ten. Gerade im Hinblick auf die zunehmende Berufs- richten, deutlich schlechter gestellt sind als alle ande- tätigkeit von Frauen ist der Bedarf an Arbeitsplätzen ren berufstätigen Frauen. für den privaten Haushalt von besonderer Bedeu- Die Tatsache, daß bis heute in diesem Hause und in tung. seinen Ausschüssen versucht wurde — oder eben (Beifall bei der F.D.P.) auch nicht —, einer Lösung dieser Frage mit Nichtbe- fassung aus dem Wege zu gehen, zeigt doch schon, Eine Entlastung der Frauen, die eine Berufstätigkeit daß selbst diejenigen, die noch am ehesten vom aufnehmen wollen, ist in vielen Fällen eine absolute sogenannten Dienstmädchenprivileg unseres Steuer- Notwendigkeit. Die so oft beschworene Doppelbela- rechts profitieren — ich gehe davon aus, daß eine stung der berufstätigen Mutter ist eine Folge ihrer ganze Reihe von Kolleginnen und Kollegen dieses mangelhaften Entlastung. Wer bereit ist, einen Teil Hauses das tun —, Haus- und Familienarbeit als seines Einkommens für die Übernahme von häusli- minderwertig und deshalb auch nicht voll schutzwür- chen Tätigkeiten durch Dritte zu verwenden, der hat dig ansehen. für seine eigene berufliche Tätigkeit den Rücken frei Der alte patriarchale Arbeitsbegriff, der die gesell- und wird den weitverbreiteten Vorurteilen entgegen- schaftlich notwendige Arbeit willkürlich in wichtige, treten können, daß die beruflichen Leistungen von wertschaffende, männliche Produktions- und unwich- Frauen durch die zusätzlichen familiären Belastungen tige, weibliche Reproduktionsarbeit unterteilte und gemindert sind und Frauen deshalb in qualifizierten den zu ändern wir ständig fordern, ist nach wie vor Berufen mit entsprechenden Leistungsaufgaben nicht gesellschaftlicher Konsens. Deshalb ist es längst an eingesetzt werden können. der Zeit, daß wir deutliche Zeichen für die Verände- (Zustimmung bei der F.D.P.) rung dieser Praxis setzen. Solche Schritte wären z. B. die Änderung des Kündigungsschutzes und der Lohn- Die Familienarbeit, die von uns allen als wichtig fortzahlungspraxis für Hausangestellte, die Beseiti- angesehen wird, darf nicht, wenn sie durch Dritte gung der steuerlichen Absetzbarkeit für Hausange- erledigt wird, herabgewürdigt werden. Es ist nicht stellte, das Verbot ungeschützter Beschäftigungsver- ehrenrührig, Dienste in seinem eigenen Haushalt zu hältnisse, die Vergesellschaftung und existenzsi- erbringen, anscheinend aber wohl für einige ideolo- chernde Bezahlung von Familien- und Hausarbeit gisch Festgelegte, wenn diese durch Dritte ge- und die stärkere Heranziehung der Männer zur schieht. Reproduktionsarbeit. Etwas kann doch sozial positiv nicht nur dann sein, Sehr verwundert, muß ich sagen, bin ich über die wenn soziale Transferleistungen beschlossen werden. Haltung der Koalition speziell in dieser Frage heute. „Sozial" sollte es vielmehr genannt werden, wenn Schließlich geht es ja nicht nur um die Frage eines Arbeitsplätze geschaffen werden, mit denen andere Ausbaus von Arbeitnehmerinnenrechten, sondern ein Einkommen erzielen, das ihnen eine individuelle auch um die Frage, ob die bisherige Regelung mit den Lebensmöglichkeit gestattet. Leitsätzen des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch vereinbar ist. Für Hausan- (Beifall bei der F.D.P.) gestellte stellt allein die Tatsache der Schwanger- Abschließend möchte ich feststellen: Die F.D.P. ist schaft ja bereits eine so einschneidende Verschlech- für eine umfassende Beratung aller Punkte, die mit terung ihrer Lebensverhältnisse dar, daß sich die den Privathaushalten als Arbeitgebern und den Haus- Frage der zumutbaren Belastungen sehr viel schärfer angestellten als Arbeitnehmern zusammenhängen. als für andere Frauen stellt. Außerdem würden p rivate Gesetzliche Neuregelungen dürfen nicht zu mehr Arbeitgeberinnen in Zukunft Gefahr laufen, sich bei Bürokratie und Unübersichtlichkeit führen und müs- Kündigung einer schwangeren Hausangestellten der sen in ihren Folgewirkungen genau abgeschätzt wer- Nötigung im besonders schweren Fall — Drohen mit den. einem erheblichen Nachteil — oder der Mitverursa- 19224 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Dr. Barbara Höll chung eines Abbruchs schuldig zu machen. Ich denke, Dr. Ilja Seife rt (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! das wollten Sie ja gerade nicht. Aber Ihre konkrete Meine Damen und Herren! In Deutschland herrscht Praxis sieht eben anders aus. Wohnungsnot, keine Not an Wohnungseigentum. Bei all diesen Ungereimtheiten stellt sich wirklich Seitdem die staatlichen Fördermittel der DDR für den die Frage, weshalb hier eine Änderung offensichtlich kommunalen und genossenschaftlichen Wohnungs- nicht gewollt ist. Wer sind die 6 %, die in den Genuß bau durch den politischen Willen von CDU/CSU, der steuerrechtlichen Absetzbarkeit kommen, und F.D.P. und SPD in Ost und West seinerzeit mit dem über welche Lobby verfügen sie im Bundestag? Offen- ersten Staatsvertrag zur Währungsunion zu privat- sichtlich über eine einflußreichere als die betreffen- wirtschaftlichen Altschulden mutierten, haben die den Frauen. Wenn es nicht die Persönlichkeitsrechte Menschen in Ostdeutschland ein zusätzliches Pro- so vieler Frauen beträfe, könnte man über- diese blem: die sogenannten Altschulden. Die regierungs- Situation eigentlich nur lachen. Die Regierungskoali- amtlichen Lösungen sind bekannt, machbare Vor- tion weigert sich, klar zutage liegende Ungerechtig- schläge der PDS wurden unisono abgelehnt. keiten für die Hausangestellten zu beseitigen, obwohl Dafür kam das im Rahmen des sogenannten Soli- sie mit der Steuerreform 1990 das unrühmliche darpakts leider auch mit der SPD ausgekungelte Dienstmädchenprivileg erst wieder eingeführt und Altschuldenhilfegesetz. Im Mittelpunkt der Kritik damit das Problem geschaffen hat. daran steht der Zwang zur Veräußerung von minde- Die Opposition, die sich ausdrücklich gegen die stens 15 % des Wohnungsbestandes. steuerliche Absetzbarkeit dieser Tätigkeiten aus- (Uwe-Bernd Lühr [F.D.P.]: Eine sehr sinn spricht, ist im Interesse der Frauen als einzige tatsäch- volle Maßnahme!) lich bereit, sich auch mit diesen Folgen auseinander- Das betrifft praktisch alle kommunalen und genossen- zusetzen. schaftlichen Wohnungsunternehmen. Aus diesen Gründen unterstützt die PDS/Linke Liste Diese Privatisierungspflicht zwingt unter großem ausdrücklich den Antrag der SPD. zeitlichen Druck zur Veräußerung von Wohnungen Ich danke Ihnen. unabhängig von den örtlichen Gegebenheiten und (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei der sozialen Situation der Mieterinnen und Mieter Abgeordneten der SPD) bzw. der Genossenschaftsmitglieder. Sie werden dadurch verängstigt, unter Entscheidungszwang ge- stellt oder der Gefahr der Überschuldung und des Verlustes der Wohnung durch unseriöse Beratung und Meine Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: durch unseriöse Verkaufspraktiken ausgesetzt. Sa- Damen und Herren, damit sind wir am Ende der nierungs- und Modernisierungsarbeiten werden nach Aussprache über diesen Tagesordnungspunkt. dem Gesichtspunkt des verordneten Wohnungsver- kaufs und nicht nach baulichen Aspekten durchge- führt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Die Wohnungsprivatisierung infolge des Altschul- a) Erste Beratung des von dem Abgeordneten denhilfegesetzes bindet umfangreiche personelle, Dr. Ilja Seifert und der Gruppe der PDS/Linke materielle und finanzielle Kräfte in Wohnungsunter- Liste eingebrachten Entwurfs eines Ersten nehmen, Kommunen, in den Ländern und beim Bund, Gesetzes zur Änderung des Altschuldenhilfe und zwar Kräfte, die eigentlich für die Lösung der (Erstes Altschuldenhilfe-Änderungs- Gesetzes dringenden Wohnungsprobleme fehlen. Der Druck gesetz — 1. AHÄndG) auf schnelle Privatisierung führt zudem zum verstärk- — Drucksache 12/7054 — ten Streben nach dem Verkauf an Dritte. Überweisungsvorschlag: Statt also die Bildung von selbstgenutztem Wohnei- Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (fe- gentum zu fördern — Herr Dr. Hitschler, das ist immer derführend) Ihre Hauptforderung —, verhindert die Regierung mit Rechtsausschuß Haushaltsausschuß gemäß j 96 GO dem Altschuldenhilfegesetz das gerade. 10 000 hinter dem Rücken der Mieterinnen und Mieter an Großin- Beratung des Antrags der Abgeordneten b) vestoren verscherbelte Wohnungen in Ost-Berlin, und Achim Großmann, Iris Gleicke, Dr. Ulrich Jan- das alles völlig legal, zeigen deutlich, wohin der Hase zen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion läuft. der SPD Novellierung des Altschuldenhilfegesetzes Unser Vorschlag ist nun, nachdem Sie alle anderen weitergehenden abgelehnt haben, daß Wohnungsun- — Drucksache 12/6746 — ternehmen, die Altschuldenhilfe nun einmal in Überweisungsvorschlag: Anspruch nehmen, von der Verpflichtung zur Privati- Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (fe- sierung bzw. Veräußerung entbunden werden. derführend) Finanzausschuß (Uwe-Bernd Lühr [F.D.P.]: Das könnte euch Haushaltsausschuß so passen!) Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von Deshalb soll jetzt wenigstens § 5 des Altschulden- einer halben Stunde vor. — Das Haus ist offensichtlich hilfegesetzes, also die Privatisierungs- und Veräuße- damit einverstanden. rungspflicht und die Abführung von Erlösen, gestri- Dann erteile ich zunächst dem Abgeordneten chen werden. Damit sind die kommunalen und genos- Dr. Ilja Seifert das Wort. senschaftlichen Wohnungsunternehmen sowie die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19225

Dr. Ilja Seifert Kommunal- und Länderverwaltungen in Ostdeutsch- natürlich genauso albern wie das von Ihnen vorge- land wenigstens wieder in der Lage, ihre finanziellen, brachte Argument; das liegt ja schließlich auf der materiellen und personellen Kräfte auf die zügige Hand. Sanierung und Modernisierung des vorhandenen Daß es in deutschen Städten seit über 150 Jahren Bestandes zu konzentrieren, ohne die Menschen zu charakteristisch ist, zur Miete zu wohnen, scheint überfordern. diese Regierung völlig vergessen zu haben. Die Gesetzgeber des Altschuldenhilfegesetzes be- Übrigens: Ich lebte schon einmal unter einer Regie- gründeten die Zwangsprivatisierung u. a. auch damit, rung, die immer glaubte, alles besser zu wissen, die daß sich die Wohnungsunternehmen für diese Ent- immer glaubte, besser zu wissen, was für das Volk gut schuldung durch die Abführung an den sogenannten ist. Auch diese Besserwisser erließen selbstherrlich Erblastentilgungsfonds zu beteiligen haben.- Diese Gesetze und betrieben einen gewaltigen propagan- Abführung würde mit unserem Vorschlag entfallen. distischen Aufwand, uns Bürgerinnen und Bürgern Von den Einnahmeverlusten von ungefähr 1 bis die Gesetze anschließend schmackhaft zu machen. 3 Milliarden DM — auch das Bauministerium spricht Bekanntermaßen weiß jeder, was aus dieser Regie- inzwischen von höchstens 4 Milliarden DM in zehn rung geworden ist. Jahren — stehen geringere Ausgaben zur Propagie- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das waren Ihre rung der Privatisierung, geringere Steuerabschrei- Väter und Großväter!) bungen für den Erwerb von Wohnungen aus dem — Es gibt Menschen, die lernen können. Und es gibt Bestand und geringere Ausgaben für den kommuna- Menschen, die können es nicht, sehr verehrter Herr len Erwerb von Sozialwohnungen und von Bele- Kollege. gungsrechten als Ausgleich für den veräußerten Ich möchte mich nun aber den Kolleginnen und — ehemals volkseigenen — Bestand gegenüber. Kollegen zuwenden. Ihr Novellierungsantrag ist zwar In der Gesamtrechnung — das müßte eigentlich der halbherzig, aber immerhin wollen Sie den pauschalen Finanzminister hören und sich darüber freuen — ist Privatisierungszwang etwas mildern. Das findet ohne also sogar ein positiver Saldo zu erwarten, wenn Sie weiteres meine Zustimmung. Aber sagen Sie mir bitte unserem Antrag — wie immer zu erwarten ist — einmal, warum Sie diesem unsäglichen Altschulden- zustimmen werden. hilfegesetz erst zugestimmt haben. Sagen Sie mir bitte Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine einmal, warum Sie noch immer nur geringfügige sinnvolle Bildung von selbstgenutztem Wohneigen- Veränderungen im Sinne von Härtefallregelungen tum durch Mieterinnen und Mieter in Ostdeutschland wollen. wird durch unser Erstes Altschuldenhilfe-Änderungs- (Zuruf des Abg. Achim Großmann [SPD]) gesetz nicht behindert. Wir sind seit eh und je im — Eben, Sie haben doch dem Solidarpakt zugestimmt Gegenteil dafür, daß Eigenheime, Reihenhäuser und und damit diesem Quatsch. andere überschaubare Wohnungseinheiten von den Sagen Sie mir bitte, warum Sie immer noch nicht die Nutzerinnen und Nutzern in Eigenverantwortung Kraft aufbringen, den Fehler, den Sie ja inzwischen errichtet werden können, und zwar von denjenigen, selbst erkannt haben, zu korrigieren. Sagen Sie mir die für sich und ihre Familien einen solchen Lebens- bitte, warum Sie nicht gemeinsam mit uns den Men- mittelpunkt wünschen. schen in Ostdeutschland die Angst vor dieser unsinni- Es ist doch schließlich eine Tatsache, daß die gen Zwangsprivatisierung nehmen wollen. Wohneigentumsquote schon jetzt sehr stark differiert. Angesichts der herrschenden Wohnungsnot und So waren beispielsweise 1989 in der ehemaligen DDR der knappen Kassen in den öffentlichen Haushalten 17,6 % der Wohnungen genossenschaftliches und müssen vorhandene Kapazitäten auf wohnungspoliti- 25,9 % privates Eigentum. In der ehemaligen BRD sche und nicht auf vermögensbildende Maßnahmen dagegen waren nur 4 % der Wohnungen genossen- konzentriert werden. Die Annahme unseres Gesetzes- schaftliches und 41,5 % privates Eigentum. Das sind vorschlages wäre ein Schritt in diese Richtung. Ich wohlgemerkt Zahlen von 1989. bitte Sie, diesen Schritt gemeinsam mit uns zu In Ballungsräumen Westdeutschlands liegt der gehen. Eigentumsanteil deutlich unter der Wohneigentums Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. quote manch anderer Regionen in Ostdeutschland. So (Beifall bei der PDS/Linke Liste) ist die Quote in Thüringen höher als die in Nordrhein- Westfalen. Folgt man der Logik der Bundesregierung — Herr Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Staatssekretär Günther, Sie können nachher vielleicht Damen und Herren, ich erteile nunmehr dem Abge- ordneten Rolf Rau das Wort. etwas dazu sagen —, daß die Zwangsprivatisierung mittels des Altschuldenhilfegesetzes notwendig sei, weil die Menschen in Ostdeutschland ihre Wohnun- Rolf Rau (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr gen kaufen wollen, sich aber die Kommunen und verehrten Damen und Herren! Das Altschuldenhilfe- Unternehmen dagegenstellen, so müßte als nächstes gesetz hat am 31. Dezember 1993 seine Feuertaufe die Regierung ein Gesetz auf den Tisch legen, mit dem insofern bestanden, als allein rund 90 % der über 4 200 alle kommunalen und genossenschaftlichen Unter- Antragsberechtigten im Sinne des Altschuldenhilfe- nehmen, und zwar in Ost- und Westdeutschland, gesetzes - Wohnungsunternehmen, Kommunen, gezwungen werden, Wohnungen zu verkaufen, falls Genossenschaften und private Vermieter — einen die Mieterinnen und Mieter das möchten. Das ist Antrag auf Altschuldenhilfe gestellt haben. Nur gut 19226 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Rolf Rau die Hälfte davon hat neben der Zinshilfe auch die Stückchen Weg ist, um Kapital für unsere Bürger in Teilentlastung beantragt und unterliegt damit der den neuen Bundesländern zu bilden, was es vorher Privatisierungsauflage nach dem Altschuldenhilfege- nicht gab. Ich glaube, das ist ein guter Weg. setz. (Beifall bei der F.D.P.) Herr Kollege Seifert, einen Gesetzeszwang kann ich nicht feststellen. Unabhängig von den noch ausstehenden Reisen konnten wir erste Erfahrungen sammeln. Insofern, (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Da müssen meine sehr verehrten Damen und Herren der Opposi- Sie mal richtig lesen!) tion, verstehe ich Ihre Eile nicht, daß mit den Anträgen — Es kommt darauf an, aus welcher Ecke man liest. vom 9. März 1994 die PDS/Linke Liste und vom Am 20. Oktober 1993 haben wir im Ausschuß für 3. Februar 1994 die SPD schon Korrekturen und Raumordnung, Bauwesen und Städtebau einen ein- Neuerungen auf den Weg bringen wollten. stimmigen Beschluß gefaßt und den Unterausschuß Wie Sie selber und wie wir gemeinsam erfahren zur Privatisierung des Wohnungsbestandes in den konnten — ich nenne jetzt konkrete Beispiele —, neuen Ländern aus der Taufe gehoben. Zahlreiche haben wir herausragende Ergebnisse erleben kön- Aktivitäten, Gespräche, Sitzungen und Informations- nen, ob in Syrau, in Frohburg oder Neukieritzsch. Wir reisen wurden durchgeführt, um der Gesamtproble- haben praktikable Lösungen in anderen Städten und matik des Altschuldenhilfegesetzes auf die Spur zu Gemeinden erfahren können, haben in Halle-Neu- kommen. stadt, besonders bei den großen Scheiben der Platten- Dieser Unterausschuß ist gebildet worden, damit bauweise, Probleme erfahren dürfen, haben die wirt- die Begleitung der Privatisierung in den neuen Län- schaftlich unterschiedlichen Auffassungen in Erfurt dern unter wohnungspolitischen Gesichtspunkten erlebt und haben Gutes über Seebach gehört. Aber erfolgt. Insbesondere sollten Erfahrungen und Pro- wir mußten auch sehen, daß es unterschiedliche bleme bei der Anwendung des Altschuldenhilfegeset- Auffassungen in Fragen der Privatisierung im Zusam- zes aufgenommen werden. menhang mit Sanierung und Modernisierung gibt. Ich sage schlicht und einfach: Dies ist allen Betei- All diese Dinge machen deutlich, daß die Strukturen ligten gelungen. Mit dem heutigen Datum stehen und die regionalen Gegebenheiten, aber auch die noch die Bereisung von Rostock in Mecklenburg- Herangehensweise zu unterschiedlichen Effekten Vorpommern und von Spremberg in Brandenburg führen. Festzustellen ist allerdings — und das ist auch aus. nachweisbar —, daß bei der KfW, beim Bauministe- rium und bei den Länderministerien eine gute und Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- ausreichende Aufklärung für die Altschuldenhilfe geordneter Rau, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage vorhanden war, die Ausschlußfrist nach dem 31. De- des Abgeordneten Dr. Seifert zu beantworten? zember 1993 bei allen Veranstaltungen, Verlautba- rungen und Presseerklärungen deutlich unterstrichen Rolf Rau (CDU/CSU): Ja, bitte. wurde und insofern hier eine Verlängerung — auch (Dr. Walter Hitschler [F.D.P.]: Geben Sie dem aus heutiger Sicht — absolut nicht erforderlich ist, doch keine Gelegenheit!) sondern daß wir damit nur Irritationen den Weg ebnen würden. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte sehr, Insofern will ich auch keine Zeit mit meinem Beitrag Herr Dr. Seifert. verschwenden und dem Antrag der PDS/Linke Liste eine klare Absage erteilen. Es ist weder wirtschaft lich Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Aber Herr noch in der Verantwortung der gesamtdeutschen Hitschler, seien Sie heute doch nicht so böse mit Entwicklung verantwortbar, hier in diesem Sinne zu mir. verfahren. Herr Kollege Rau, können Sie als Vorsitzender (Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke dieses Unterausschusses mir bestätigen, daß in den Liste]) bereisten ostdeutschen Bundesländern überall, je- denfalls in den Ballungszentren, deutlich wurde, daß Unser politisches Ziel, den Bürgern in den neuen es sehr schwierig ist, den geforderten 15%igen Anteil Bundesländern bei der Privatisierung ihrer Wohnung an die Mieterinnen und Mieter zu verkaufen, daß es in auch die Möglichkeit einzuräumen, Kapital anzule- einigen Gegenden, insbesondere in Berlin, unmöglich gen — ich wiederhole mich jetzt —, muß vorrangig war und daß deswegen doch ein gewisser nicht berücksichtigt werden, und es steht in der Verantwor- unbedeutender Zwang auf die Unternehmen ausge- tung der Genossenschaften und Gesellschaften, die übt wurde — einfach durch das Vorhandensein dieses Bürger umfangreich und qualitativ gut aufzuklären Gesetzes, bei dem sie nicht die Wahl hatten, es und sie bei der Privatisierung sinnvoll zu begleiten. anzunehmen oder nicht? (Clemens Schwalbe [CDU/CSU]: Das ist nämlich das Entscheidende!) Rolf Rau (CDU/CSU): Wir haben gemeinsam fest- gestellt, daß es viele gute Beispiele gibt; ich kann nur Wir sprechen bei Genossenschaften von Veräußerun- darauf verweisen. Sie haben in Ihrer Frage schon gen und nicht von Privatisierung. relativiert, daß es einen „gewissen Zwang" gibt. Ich Andere Formen der Privatisierung — mieternahe schließe nicht aus, daß man Menschen manchmal zu Lösungen wie die Gründung von Genossenschaften, ihrem Glück etwas zwingen muß. Ich gehe davon aus, Investorenfonds oder auch Verkäufe an Dritte — sind daß gerade die Frage der Privatisierung auch ein auf diesem Weg natürlich nicht auszuschließen, um Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19227

Rolf Rau die Liquidität der Unternehmen auf der einen Seite zu gramms und der Ergebnisse der Privatisierung zu gewährleisten und andererseits aber auch den Mög- berichten haben, um auch denen Rechnung zu tragen, lichkeiten Rechnung zu tragen, die sich aus der die gegebenenfalls auf eine 15%ige Quote in zehn Einkommensentwicklung sowie aus regionalen und Jahren nicht hinarbeiten konnten. strukturellen Möglichkeiten ergeben. Sie sehen, meine Damen und Herren, daß das (Zuruf von der SPD: Ja, sie bewegen sich ja Altschuldenhilfegesetz in seiner jetzigen Form — un- schon!) tersetzt durch begleitende Entscheidungen im Len- kungsausschuß — durchaus in der Lage ist, die Hier läßt § 5 des Altschuldenhilfegesetzes Spiel- Probleme zu fassen und sie im Sinne unserer Mitbür- raum. Ich halte es für legitim, es in die Hände des ger zu bewegen. Dazu zähle ich auch die erforderliche Lenkungsausschusses zu legen, daß zwischen den Beschleunigung der Kreditvertragsabstimmung zwi- Ländern und dem Bund hier klare Schritte vereinbart- schen der DKB und den Wohnungsunternehmen. werden, so daß auch in dieser Frage eine Gesetzesän- derung nicht erforderlich ist und durch Transparenz Wenn es nach unseren weiteren Erfahrungen trotz- und geradlinige Aussagen Fragen, die uns die Genos- dem noch Dinge geben sollte, die sich gegebenenfalls senschaften und Gesellschaften gestellt haben, Beant- im Zusammenhang mit der Privatisierung an Mieter wortung finden. und der Privatisierung an Dritte bezüglich der Fül- lung des Erblastfonds ergeben, so würde ich dieses (Zurufe von der SPD: Da sollten wir uns aber Thema gern im Ausschuß ausführlich beraten, und nicht aus der Verantwortung stehlen! Das zwar nachdem unsere Erfahrungen abgeschlossen stimmt leider nicht!) sind, um dann eventuell weitere Schritte zu unterneh- Ich habe volles Verständnis dafür, daß die Mieter- men. privatisierung oder Mieterveräußerung eine Menge Ich glaube aber, daß wir im Rahmen der Möglich- Arbeit und Aufwand in den Wohnungsunternehmen keiten nach nunmehr vier Monaten Arbeit mit diesem erfordert. Eine umfassende Aufklärung zum Objekt, Gesetz schon auf einen guten Weg gekommen sind zum Umfeld, zur Modernisierung und Sanierung, zur und daß wir auch ein bestimmtes Maß an Ruhe Finanzierung und zu den späteren Aufwendungen im brauchen und nicht ständig Novellierungen und Kor- Vergleich zu den Mieten und Ähnlichkeiten muß rekturen erforderlich sind. Das schließt nicht aus, daß sorgfältig erfolgen. neue Erkenntnisse später auch zu neuen Ergebnissen (Zuruf von der F.D.P.: Sehr richtig!) führen. So wären Unmut und Verunsicherung kein Argument Ich möchte aber noch einen Punkt dringend anspre- mehr. chen. Der schlechte Zustand der Wohnungen in den neuen Bundesländern erfordert — zur maßvollen Die gewünschten Genossenschaftsneugründungen Mietanhebung nach Sanierung und Modernisie- müssen wirtschaftlich sorgfältig geprüft und beraten rung — auch neue Schritte. Dieser Wunsch geht sein und sollten meiner Ansicht nach dort erfolgen, wo besonders von hier aus an die jungen Länder und ist auch hier die Mieter vorher zum Erwerb von Eigen- heute nicht das erste Mal geäußert, sondern für die tumswohnungen ausführlich befragt und beraten Stabilisierung des Wohnungsmarktes ein dringendes wurden. Dort, wo sie teilweise zugestimmt haben, Erfordernis. ergibt sich eine gute Mischung von p rivatem und genossenschaftlichem Eigentum. Das heißt also: (Beifall des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause Gemischte Nutzung der Wohnhäuser und Misch- [Bonese] [fraktionslos]) wohngebiete wären auch aus der sozialen Struktur Wir brauchen Länderförderprogramme, gespeist aus heraus ein zukunftsträchtiges Unternehmen. Dabei der 1 Milliarde DM des Bundes für den sozialen sind Beträge erforderlich — so denke ich, und ich will Wohnungsbau, die vorrangig für die Wohnungsbau- diese Meinung ruhig äußern —, die pro Wohnung bei modernisierung einzusetzen sind, um dort auch miet rund 10 000 DM Kaufpreis liegen müßten. preisgebunden Wohnraum bereitstellen zu können. (Zurufe des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Diese Position ist zwar nicht direkt mit dem Altschul- Liste]) denhilfegesetz in Zusammenhang zu bringen, ist aber im Rahmen der Privatisierung besonders dort, wo Poolverkäufen oder Investorenlösungen ist bei Mischeigentum entsteht, erforderlich. Punkthochhäusern oder extrem großen Wohnschei- ben schon jetzt zuzustimmen; denn hier sind das Vielen Dank. Privatisierungsinteresse und die Privatisierungsmög- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. lichkeit auf Grund der Gegebenheiten sehr gering. sowie des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause [Bo Hier sollten wir die Möglichkeiten zur Sonderab- nese] [fraktionslos]) schreibung für Investoren in den neuen Bundeslän- dern bis 1996 ausnutzen.

(Achim Großmann [SPD]: Die vielen Schnei Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile ders! — Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/ dem Abgeordneten Dr. Ulrich Janzen das Wort. Linke Liste]) — Es gibt, glaube ich, auch solide Unternehmer. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch an § 4 Dr. Ulrich Janzen (SPD): Herr Präsident! Meine Abs. 7 erinnern, dem gemäß die Wohnungsunterneh- Damen und Herren! Herr Dr. Seife rt, ich möchte Sie men jährlich über den Stand ihres Investitionspro bitten, jetzt einmal sehr genau hinzuhören, damit Sie 19228 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Dr. Ulrich Janzen die Unterschiede zwischen meiner kritischen und schen als Zeitzünderbomben entpuppt, die sich bei Ihrer fundamentalistischen Haltung erkennen. frühzeitiger Analyse der Ausgangssituation hätten (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Ich höre vermeiden lassen können. Wo liegen denn die Ursa- immer gut zu!) chen für die heutige Situation? Wir haben uns hier zu einer kurzen Debatte zusam- Erstens: die Wohnung als Ware. mengefunden, um über die Folgen von Schulden, die (Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke sogenannten Altschulden, zu beraten, die auf das Liste]) Konto finanzpolitischer Fehler der früheren DDR- Regierung zurückgehen und im vergangenen Jahr zu Ich liege sicher nicht falsch mit der Behauptung, daß dem Altschuldenhilfegesetz geführt haben. der eigentliche Lebensraum des Menschen, gewisser- - maßen die Privatsphäre, seine Wohnung ist. „My (Lisa Peters [F.D.P.]: So ist es!) home is my castle", heißt es so schön. Ich behaupte Es wäre sicherlich sinnvoller, sich mit dem Schulden- deshalb weiter, daß gerade in der ehemaligen DDR berg zu befassen, den die jetzige Bundesregierung die Wohnung zum Rückzugsort vor unerträglicher finanzpolitisch zu verantworten hat, oder mit den politischer Bevormundung wurde. Schulden, die täglich in der Zeitung stehen. Aber eine (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions halbe Stunde Debattenzeit würde dabei nicht reichen, los]: So schlimm war es auch nicht!) um aus dem Schneider zu kommen. (Beifall bei der SPD) Dort fanden die offenen Gespräche mit den Freunden statt. Dort richtete man es sich trotz aller Schwierig- Eine solche Debatte würde sicherlich ein abendfüllen- keiten so ein, wie man es konnte oder es sich des Trauerspiel werden. wünschte. Dort war man noch Mensch. Dies war auch (Lisa Peters [F.D.P.]: Wir müssen die Länder so mitten in den Großsiedlungen oder gerade dort auch noch nehmen, Herr Janzen!) besonders. Diese Teilgeborgenheit war begleitet und geschützt von der nahezu unmöglichen Kündbarkeit, wenn man die Wohnung einmal zugeteilt erhalten Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr hatte. Falls die persönlichen Lebensziele keinen Orts- Dr. Janzen, der Abgeordnete Hitschler möchte wechsel erforderten, richtete man sich in ihr in der daraufhin eine Frage stellen. Regel auf Lebenszeit ein. Das Wissen um diese Gegebenheiten halte ich für Dr. Ulrich Janzen (SPD): Herr Dr. Hitschler, ich außerordentlich wichtig. würde bitten, daß wir uns darüber gelegentlich einmal austauschen. (Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]) Ich möchte mich auf einige wenige Bemerkungen beschränken, die sich ausschließlich mit den Folge- Sie wurden jedoch bei der Gesetzesformulierung in und Randerscheinungen des Altschuldenhilfegeset- all jenen Passagen, die vom Verkauf an Dritte han- zes befassen. deln, völlig ignoriert. Eine erste Feststellung: Da gibt es zunächst einmal (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ru zwei Ausschüsse für dieses Gesetz. Das sind der dolf Karl Krause [Bonese] [fraktionslos]) Lenkungsausschuß als Regierungsgremium und der Deshalb ist auch für viele Mieter das plötzliche Erwa- Unterausschuß „Privatisierung des Wohnungsbestan- chen gekommen, indem sie feststellen müssen: Ihre des in den neuen Ländern" des Bundestages mit Wohnung ist ja nichts weiter als eine Ware und nicht, Beobachterfunktion. Beide Ausschüsse wurden nicht wie sie bisher glaubten, ihr persönlicher unantastba- etwa von der Opposition gefordert, was von der Sache rer Lebensraum. her sicherlich verständlich gewesen wäre, nein, sie sind Kinder der Regierung und ihrer Koalitionsfraktio- Zweitens. Die völlig gegensätzlichen gesellschaftli- nen. Sagen Sie mir bitte: Bei welchem Gesetz hat es chen Entwicklungen in Ost und West drücken sich das schon einmal gegeben, und warum ist dies gerade besonders in der Raumordnungs-, speziell jedoch in jetzt erforderlich? Die Antwort liegt auf der Hand: der Wohnungspolitik aus: maximale Individualisie- Unsicherheit, ein schlechtes Gewissen oder sogar der rung mit Eigentumsbildung auf der einen Seite und Glaube, mit der Vortäuschung des Einsatzes zusätzli- Kollektivierung unter staatlicher Hülle auf der ande- cher demokratischer Elemente dem angestrebten Ziel ren, Einfamilienhäuser hier, Großsiedlungen dort. leichter näherzukommen. Jetzt wird versucht, per Gesetz einen Wandel herbei- zuführen. Das ist der gedankliche Fehler der Verfas- (Beifall bei der SPD) s er. Soweit eine einleitende analysierende Bemerkung zur Methode der Gesetzesumsetzung. (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Richtig!) Ich möchte nun einige Gedanken zur Fehleinschät- Selbstverständlich kann man sich Ziele setzen, auch zung der Gesamtsituation in den neuen Ländern Programme entwickeln, um diese Ziele zu erreichen. folgen lassen. Sie drückt sich in den einzelnen Festle- Aber über Druck gleiche Verhältnisse auf der Grund- gungen des Gesetzestextes aus und wird übrigens lage unterschiedlicher Voraussetzungen herstellen zu auch in den Protokollen des Unterausschusses klar wollen, das kann nicht funktionieren. ablesbar. Im übrigen ist das auch sehr teuer. Vergessen Sie Die im Altschuldenhilfegesetz zum großen Teil bitte nicht, daß in den alten Ländern Eigentumswoh- wenig sinnvollen Festlegungen haben sich inzwi nungen mit den ihnen innewohnenden Qualitäts- und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19229

Dr. Ulrich Janzen Quantitätsansprüchen fast ausschließlich schon als Drittens. Die Wohnungsunternehmen müssen ihre solche konzipiert und gebaut wurden. Nun soll im Realisierungskonzepte ohne zeitlichen Druck durch- Osten versucht werden, die dortigen Wohnungen, die führen können, d. h. die progressiven Abführungen in Qualität und Größe den Status einer Sozialwoh- an den Erblastenfonds sind durch eine einheitliche nung besitzen, administrativ zu verwandeln. Wohlge- Abgabenhöhe im gesamten Privatisierungszeitraum meinte Aufwertungen durch Modernisierungen ha- zu ersetzen. ben vergleichsweise natürlich den Pferdefuß, daß Viertens. Die Privatisierungspflicht wird bei Genos- durch die inzwischen erheblich gestiegenen Bau- senschaften auf ihre Mitglieder beschränkt. preise die Schere zwischen Preis und Wert gleicher Wohnungen in West und Ost in Zukunft weiter aus- Fünftens. Die Aus- und Neugründung von Genos- einandergehen wird — senschaften ist der Einzelprivatisierung gleichzuset- zen. (Beifall des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause Es muß der Druck weg. Die Mieter müssen ihre [Bonese] [fraktionslos]) innere Ruhe und Sicherheit wiedererlangen. Vor eine nochmalige zusätzliche späte Nachkriegsbe- allem bedarf es für die Wohnungsgenossenschaften in nachteiligung für die ostdeutsche Bevölkerung. der Behandlung des Gesetzes, besonders aber in der Drittens. Besonders schwerwiegend ist die pauscha- Gleichstellung bei den Komplexen Eigentum und lisierte Forderung an alle Wohnungsunternehmen Wohnungsbauförderungssysteme eines Umdenkens. gleichermaßen, 15 % des Bestandes zu veräußern, Die SPD wird verhindern, daß es in Ostdeutschland trotz unterschiedlicher Bedingungen. Es ist gleich, ob wegen der Altschuldenregelung zu Privatisierungen es sich um eine Kleinstadt in Sachsen, um Ballungs- mit zerstörerischen, sozial unverträglichen Wirkun- gebiete wie Halle-Neustadt oder Berlin-Marzahn oder gen kommt. Unser Antrag ist der erste Schritt auf gar um Kommunen in Grenzregionen zu Polen, wo diesem Weg. schon jetzt viele Wohnungen leerstehen und demzu- Ich danke Ihnen für das anstrengende Zuhören. folge wohl kaum Kaufbedarf besteht, handelt. Das (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke kann nicht funktionieren, und das wird auch nicht Liste) funktionieren, jedenfalls nicht mit den Paragraphen des jetzigen Gesetzes. Viertens. Mit dem Unterausschuß haben wir gemäß Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort seines Auftrags den Beginn der Umsetzung des Geset- hat nunmehr die Abgeordnete Lisa Peters. zes begleitend beobachtet. Der Entwurf des Zwi- schenberichts über die bisherige Tätigkeit bestätigt (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr die Folgen der von mir hier dargelegten Ursachen und Lisa Peters geehrten Herren! Meine Damen! Wir haben hier im damit auch den gegenwärtigen Ist-Zustand. Ich warne Moment leider nur eine Kurzrunde. Das bedaure ich deshalb in diesem Zusammenhang vor jeglicher außerordentlich. Wir haben den Antrag der PDS und Schönfärberei. Ich warne ebenso vor der Verunglimp- den Antrag der SPD auf Novellierung des Altschul- fung des Frustes der Bevölkerung mit dem schon oft denhilfe-Gesetzes zu beraten. Ich möchte hier die gehörten Wort Unruhestiftung. Meinung unserer Fraktion sagen, die sicher in einigen Beides bringt uns keinen Schritt weiter. Punkten von der Ihrer Fraktion, Herr Janzen, (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Richtig!) abweicht. Meine Damen und Herren, bis zum 31. Dezember Nur sachliche Analysen, wenn auch verspätet und 1993, also vor rund dreieinhalb Monaten, mußten die nachträglich, und die daraus abgeleiteten realen Wohnungsunternehmen ihre Anträge auf Altschul- Möglichkeiten können uns helfen. Ich glaube, daß denhilfe stellen. Diese Anträge mußten noch nicht mit dies auch die Meinung der Koalition ist, diese aber allen erforderlichen Unterlagen befrachtet sein. Sie bisher noch nicht weiß, wie sie sich aus der gegenwär- konnten nachgereicht werden. Wir konnten uns im tigen Klemme befreien kann. eingerichteten Unterausschuß davon überzeugen, (Beifall bei der SPD) daß auch so verfahren wurde. Das Altschuldenhilfe- Wir haben deshalb auch für Sie ein erstes Hilfsmittel in Gesetz ist im Rahmen des Solidarpakts als Kompro- Form eines Novellierungsantrags zum Altschulden- miß ausgehandelt worden, als politische Lösung der hilfe-Gesetz vorgelegt und hoffen besonders im Inter- Altschuldenfrage für die Wohnungswirtschaft in den esse der Betroffenen auf kurzfristige Entscheidungen neuen Bundesländern. Der Bundestag und die Bun- in den verantwortlichen Gremien. desländer haben zugestimmt. Ich betone das hier ausdrücklich. Hier kurz die Schwerpunkte des Antrages: Bereits kurze Zeit, nachdem das Gesetz zur Anwen- Erstens. Wohnungsunternehmen in Ballungsgebie- dung kam, wurden der Gesetzentwurf der PDS am ten und in strukturschwachen Regionen, die eine für 9. März und der Novellierungsvorschlag der SPD am Privatisierungen nicht geeignete Mieterstruktur besit- 3. Februar 1994 eingebracht. Ich gehe davon aus, daß zen, sollen ein Anrecht auf gesonderte Prüfung diese Papiere einige Zeit der Bearbeitung verlangen. haben. Wenn ich das voraussetze, kann ich einfach feststel- Zweitens. Bei Privatisierung an Dritte sind ein len, daß Sie dem erzielten Kompromiß keine Chance langfristiges Wohnrecht der Betroffenen und Kap- lassen. Das jedenfalls ist meine Meinung und auch die pungsgrenzen für Mieterhöhungen vertraglich zu ver- meiner Fraktion. einbaren. (Beifall des Abg. Jürgen Timm [F.D.P.]) 19230 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. Ap ril 1994

Lisa Peters Wir alle sind uns einig, meine Herren und meine Eine Novellierung ist deshalb heute nicht ins Auge Damen, daß in die Wohnungswirtschaft Ruhe kom- zu fassen. Das Gesetz muß erst einmal zur Anwen- men muß. Herr Janzen, da stimme ich Ihnen zu. Denn dung kommen. Dann, wenn das Unternehmen über- der Wohnungsbau und damit auch die Wohnungswirt- wiegend große Wohnblocks hat, ist auch dies mög- schaft sind derzeit das Rückgrat der Wirtschaft in Ost lich. und West. Ich meine, man sollte einmal in die alten Bundes- länder gucken. Dort gibt es außerordentlich viele Mietshäuser, die halb privatisiert sind, in denen es zur Frau Ab- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Hälfte Wohnungseigentümer und zur Hälfte Mieter geordnete Peters, Entschuldigung, wenn ich Sie gibt. So etwas kann man in den großen Wohnblocks unterbreche. Der Abgeordnete Dr. Seifert würde - gut in die Wege leiten. gerne eine Zwischenfrage von Ihnen beantwortet sehen. Sind Sie einverstanden? (Beifall bei der F.D.P.) Zu den neuen Bundesländern habe ich eine andere kleine Zahl: 22 % der Bürger und Bürgerinnen im Lisa Peters (F.D.P.): Herr Seifert, vielleicht warten Alter um die 40 sind Eigentümer einer Wohnung. Wir Sie noch ein bißchen ab und stellen anschließend die meinen, daß diese Rate in beiden Teilen vergrößert Zwischenfrage. Ich wi ll sie dann gerne beantwor- werden muß. Eigentum an einer Wohnung ist ein ten. Stück Sicherheit, ein Stück Geborgenheit; sie bedeu- Noch nie wurden so viele neue Wohnungen gebaut tet auch Wertzuwachs. wie im Jahre 1994. Noch nie wurden so viele Woh- Die F.D.P.-Fraktion bringt deswegen klar zum Aus- nungen instand gesetzt und saniert wie derzeit in den druck, daß sie dafür eintritt, daß möglichst viele neuen Bundesländern. Bürger und Bürgerinnen eine Wohnung als Eigentum (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions erwerben können. Darauf ist unsere Politik abgestellt. los]: Das stimmt nicht!) Wir sind davon überzeugt, daß das Altschuldenhilfe- — Das stimmt, Herr Dr. Krause. — 87 % aller Woh- Gesetz dazu viele Möglichkeiten bietet. Es muß nur nungsunternehmen, Kommunen, Genossenschaften zügig, aber ganz besonders mit einfühlsamer Hand usw. haben einen Antrag auf Zinshilfe und Teilentla- (Zuruf von der F.D.P.: Ohne Demagogie!) stung gestellt. angewendet werden. Das ist auch bei den Wohnungs- (Jürgen Timm [F.D.P.]: Die kennt Herr genossenschaften möglich. Krause nur nicht!) Wir werden uns deshalb weiterhin aktiv dafür Es ist bekannt, daß die Unternehmen, die keinen einsetzen, wir werden das Ganze unterstützen, und Antrag gestellt haben — auch das wurde uns bei wir sind auch von der Richtigkeit voll überzeugt. unseren Reisen beantwortet —, in der Regel eine Danke schön. Schuldenbelastung von unter 150 DM pro Quadrat- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) meter oder nur geringfügig mehr haben. Deshalb, meine Herren und meine Damen, sagen Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Ab- wir, daß das Gesetz jetzt nicht novelliert werden muß. geordnete Peters, Sie haben jetzt die Möglichkeit, von Man muß immer ganz deutlich sagen, daß nur 15 % Dr. Seifert eine Frage gestellt zu bekommen und von des Wohnungsbestands privatisiert werden sollen, Herrn Hitschler, wenn Sie das wollen. nicht 85 %. Dazu hat man zehn Jahre Zeit, bis zum Jahre 2003. Man muß sich also nicht unter Druck Lisa Peters (F.D.P.): Erst die Frage von Herrn setzen lassen. Wer bis zum 31. Dezember 1995 priva- Dr. Seifert, wenn ich diese noch beantworten darf und tisiert, also in den nächsten eindreiviertel Jahren, muß kann. nur 30 % des Erlöses an den Erblastentilgungsfonds abführen. Wer bis zum 31. Dezember 1996 privatisiert, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte muß 40 % abführen. schön, Herr Dr. Seifert. Es muß noch einmal deutlich gesagt werden, daß diese Regelung von den Ländern gewollt war. So ist es Lisa Peters (F.D.P.): Entschuldigung, Herr Seifert. uns gesagt worden. Von der Bundesregierung waren In fünf Minuten muß man das leider so runterrasseln. andere Vorschläge gemacht worden. Ich hätte gerne auch acht Minuten Zeit gehabt. (Achim Großmann [SPD]: Die Bundeshilfen laufen früher aus!) Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Frau Peters, ich Jetzt kommt es darauf an, daß sich alle Wohnungs- kenne die Situation, nur wenig Redezeit zu haben. — unternehmen dieser Aufgabe annehmen, daß den Ich hoffe, daß Sie keine Schwierigkeiten in Ihrer Mietern keine Angst gemacht wird und eine gute, Fraktion bekommen, wenn Sie mir meine Frage umfassende und individuelle Beratung der einzelnen beantworten. Herr Hitschler hat Ihnen ja zugerufen, Mieter erfolgt. Das kann man in großen Unternehmen Sie sollten es bleibenlassen. nicht nebenher machen. Dazu müssen Mitarbeiter Trotzdem die Frage: Wollen Sie bitte bestätigen, und Mitarbeiterinnen mit Sachkenntnis und mit gro- daß wir nicht erst im März unseren ersten Altschul- ßem Einfühlungsvermögen ausgewählt werden. Ich denhilfe-Änderungsantrag eingebracht haben, son- weiß, daß dies den kleinen Unternehmen manchmal dern bereits im Herbst vergangenen Jahres den Vor- leichter fällt und daß sie sich dieses Gesetzes eher schlag unterbreitet haben, ein Altschuldenübernah- angenommen und sich zügig informiert haben. megesetz zu verabschieden, das diesen Zwang von Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19231

Dr. Ilja Seifert den Genossenschaften und von den Gesellschaften den, werden Käufer in den neuen Ländern sicher nicht nehmen und den Kommunen Belegungsrechte und mehr an eine Wohnung kommen. Mietpreisbindungen verschaffen würde? (Beifall bei der F.D.P.) Das hat verschiedene Gründe. Lisa Peters (F.D.P.): Herr Seifert, das mag gerne sein. Aber wir reden jetzt über die Dinge, die seit dem Ich würde den Bürgern und Bürgerinnen dort emp- 1. Januar dieses Jahres gelten, und darauf habe ich fehlen, sich das sehr sorgsam zu überlegen, sich gut abgehoben. Dazu haben Sie heute einen Antrag und beraten zu lassen und dann einen Vertrag abzuschlie- die SPD einen Novellierungsvorschlag eingebracht. ßen, wenn sie das irgendwie schaffen können. Das sind schon ordentliche Preise, wenn die Gemeinden (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Sehr gut!) - und Städte den Grund und Boden nur mit einem ganz Es ist klar ersichtlich, daß das, was im Solidarpakt kleinen Aufschlag zu dem, wie sie ihn erworben ausgehandelt wurde, die unterste Grenze war. Denn haben, weitergeben. die Wohnungen mit 150 DM pro Quadratmeter zu belasten, ist nach meiner Ansicht, Herr Seifert, eine Danke schön. einmalige Chance. Das ist auch tragbar, wenn man (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) das alles in Ordnung bringt. Das ist machbar; man muß es auch ein bißchen wollen. Keiner hatte doch damit gerechnet, daß die Woh- nungen plus/minus null übergeben worden wären. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- Das wäre dem Westen gegenüber ungerechtfertigt teile ich dem Parlamentarischen Staatssekretär gewesen, wo jeder, der gebaut hat — wohnt er nun Joachim Günther das Wort. selber in seinem Haus oder ist er der Vermieter —, mit einer Schuldenlast dasitzt. Joachim Günther, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun desministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städ- kommt Herr Dr. Hitschler mit seiner Frage. tebau: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein Jahr liegt der Solidarpakt hinter uns. (F.D.P.): Verehrte Frau Kollegin Ich glaube, daß nach damals zähen Verhandlungen Dr. Walter Hitschler die Lösung der Altschuldenfrage, die doch alle sehr Peters, wie beurteilen Sie denn die Chancen unserer bedrängt hat, geschafft wurde. Wir müssen ganz Mitbürger in den neuen Bundesländern eindeutig sagen, daß diese großzügige Teilentlastung (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions von 31 Milliarden DM und die 7 Milliarden DM los]: Bundesbürgern!) Zinshilfe zur damaligen Zeit von allen Beteiligten — der Bundesbürger —, in den nächsten 100 Jahren anerkannt wurde. zu kommen noch einmal so günstig zu Wohneigentum (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Nicht von wie durch die Möglichkeit, diese Wohnungen jetzt zu allen!) erwerben, vorausgesetzt, daß die Kommunen keine Mondpreise von ihren Mietern verlangen, sondern Genauso klar muß man sagen: Ich bin mir nicht sicher, sie, wie es der Einigungsvertrag auch vorsieht, zu ob heute noch einmal eine so großzügige Entlastung sozialverträglichen Preisen an die Mieter veräußern? erreicht werden könnte, wie es vor einem Jahr der Fall Das Altschuldenhilfegesetz sieht ja gottlob einen gewesen ist. Verkauf vorrangig an die Mieter der Wohnungen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — vor. Achim Großmann [SPD]: Inzwischen haben Sie die Finanzen so ruiniert, daß es nicht Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr mehr möglich ist!) Dr. Hitschler, ich hatte Ihnen das Wort nicht zu einer Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir Kurzintervention, sondern zu einer kurzen Frage wissen inzwischen — das wurde von verschiedenen gegeben. — Bitte schön. Rednern dargestellt —, wie viele der kommunalen Genossenschaften und Gesellschaften einen Antrag Lisa Peters (F.D.P.): Nachdem der Präsident seine auf Teilentlastung und Zinshilfe gestellt haben: rund Meinung gesagt hat, will ich das, Herr Kollege 90 % allein auf die Zinshilfe, über 50 % auf die Hitschler, kurz beantworten. Teilentlastung. Das bedeutet im Endeffekt, daß bei (Heiterkeit) diesen 50 % eine 15 %ige Privatisierung in Frage kommt. Ich bin ganz sicher, daß diese 15%ige Priva- — Entschuldigung, man darf einen Präsidenten über- tisierung auch im Interesse der Bürger in den neuen haupt nicht rügen. Ich nehme das alles zurück, Herr Bundesländern ist. Cronenberg; das war nicht so gemeint. rich Ich kann nicht ganz 60 Jahre zurückdenken, Herr (Martin Göttsching [CDU/CSU]: Sehr Dr. Hitschler, aber 55 Jahre. Das ist mir alles noch sehr tig!) geläufig, und das waren wirklich bewegte Zeiten. Wir wissen, daß diese Privatisierung bereits ein Aber 100 Jahre im voraus zu denken, das vermag ich Auftrag des Einigungsvertrags gewesen ist. Wir wis- ebenfalls nicht. Also betrachten wir einmal die näch- sen auch — das war die Frage, die Herr Dr. Hitschler sten zehn oder 20 Jahre. Da würde ich einfach sagen: eben gestellt hat —, daß sich jetzt die einmalige So günstig, wie derzeit Wohnungen angeboten wer Chance bietet, diese Wohnungen zu günstigen Bedin- 19232 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Parl. Staatssekretär Joachim Günther gungen an den Mieter als Eigentümer weiterzuver- Joachim Günther, Parl. Staatssekretär bei der Bun- kaufen. desministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städ- tebau: Ja, bitte. (Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte — Erzählen Sie doch nicht so etwas. Ich glaube, Herr schön, Herr Abgeordneter Großmann. Dr. Seifert, wir sind uns doch, wenn Sie ehrlich sind, von der Sache her einig. Sie sind zum Teil bei den (SPD): Herr Staatssekretär, damit Besuchen im Osten Deutschlands dabei gewesen: Achim Großmann wir uns hier nicht zerstreiten: Sind Sie bereit zuzuge- Wenn eine Kommune oder auch ein Unternehmen ben, daß in unserem Antrag diese 15 % nicht generell verantwortungsbewußt handelt, dann können Sie für - in Frage gestellt werden, daß es also nicht um die 1200 DM pro Quadratmeter modernisierte und Frage „Privatisierung — ja oder nein?" geht, sondern instandgesetzte Eigentumswohnungen erhalten. Das nur darum, daß es unter Umständen — oder sogar werden Sie in Zukunft nicht mehr erreichen. Das finde höchstwahrscheinlich — einige Wohnungsunterneh- ich sozialverträglich, nicht das andere. men gibt, die auf Grund der Struktur ihres Wohnungs- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) bestandes diese 15 % auch in zehn Jahren nicht Zwei Worte noch, weil ich nun einmal bei den privatisieren können? Wohnungen bin. Herr Dr. Janzen, Sie sagen: Die Wohnung war zu Zeiten der DDR ein Rückzugsort, um Joachim Günther, Parl. Staatssekretär bei der Bun- sich eine gewisse Nische zu erhalten. Ich möchte desministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städ- Ihnen vom Prinzip her nicht widersprechen. Ich tebau: Herr Großmann, das erkenne ich vollkommen glaube, über eines sind wir uns doch einig: Wir wollen an. Sie wissen, daß ich keiner bin, der ständig auf diesen Rückzug auf keinen Fall in Wohnungen, wie bestimmten Ritualen herumreitet. Dort, wo sich abso- sie zu DDR-Zeiten bestanden: mit Trockenklo auf lut keine Lösungen anbieten, muß es zu Ausnahmelö- halber Etage und fließendem Wasser an den Wänden. sungen kommen. Deshalb müssen wir im Wohnungsbereich etwas tun. Ich glaube aber, im Moment hat die Privatisierung Dazu leistet im Endeffekt auch die Privatisierung zu den Konditionen für den Mieter den Vorrang, und einen wesentlichen Beitrag. dann reden wir über die Ausgangslösung, die das Gesetz vorsieht. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Die Fakten Die Mieterprivatisierung ist sicher ein nicht einfa- sprechen doch gegen Sie!) ches Unterfangen. Eines wird immer wieder verges- sen: Wir haben zehn Jahre Zeit, um das Ganze Ein Wort zum Schluß. Meine Damen und Herren, es durchzuführen. Wir wollen, daß es schneller geht, um nützt nichts, diese Anträge wieder auf den Weg zu diese Chance im gegenwärtigen Augenblick zu nut- bringen. Sie würden zusätzliche Verunsicherungen zen. bei den Mietern und bei den Vermietern bringen. Sie würden die Unternehmen warten lassen, diese Umset- Herr Großmann, Sie selbst kennen doch Genossen zung zügig voranzutreiben. Wir wissen, wie lange sie Ihrer Partei, die große Wohnungsunternehmen im in der Hoffnung gelebt haben, daß die Schulden Osten führen und uns vormachen, daß dies in kurzer generell erlassen werden. Das bringt uns nicht voran. Zeit umsetzbar ist, wenn der Wille im jeweiligen Die klaren Entscheidungen liegen jetzt vor, und wir Unternehmen vorhanden ist. wollen sie umsetzen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Zuruf von der F.D.P.: Es gibt aber gute Ausnahmen! — Achim Großmann [SPD]: Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Nicht in Halle-Neustadt und nicht in Mar Damen und Herren, damit sind wir am Ende der zahn! Das ist das Problem!) Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung Meine Damen und Herren, der Privatisierungser- der Vorlagen auf den Drucksachen 12/7054 und folg hängt davon ab, wie man an diese Aufgabe 12/6746 an die in der Tagesordnung aufgeführten herangeht und wie die Unternehmen mit den jeweili- Ausschüsse vor. Ist das Haus damit einverstanden? — gen Mietern das Gespräch führen. Da nützen Emotio- Das ist offensichtlich der Fall, und ich kann das als nen und Verunsicherungen nichts, sondern nur detail- beschlossen feststellen. lierte Auskünfte. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Ein Wort — ich habe nur noch eine Minute — zu den Genossenschaften. Ich glaube, die Genossenschaften Beratung des Antrags der Abgeordneten Vera sind eigentlich diejenigen Unternehmen, die zu gün- Wollenberger, Dr. Klaus-Dieter Feige, Ingrid stigsten Konditionen auf Grund der Zuordnung des Köppe, weiterer Abgeordneter und der Gruppe Grund und Bodens per Gesetz ihre Ausgangssituation BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Osten erhalten haben. Gleichstellung von Menschen mit Behinderun- gen — Drucksache 12/6981 — Überweisungsvorschlag: Herr Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Staatssekretär, sind Sie bereit, eine Frage zu beant- Rechtsausschuß worten? Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19233

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von treter der Regierungsfraktionen am 4. Februar 1994 im einer halben Stunde vor. Ist das Haus damit einver- Deutschen Bundestag. standen? — Das ist der Fall. Dann kann ich dem Der Kollege Dr. Hitschler fragte in dieser Debatte, Abgeordneten Konrad Weiß das Wort erteilen. ob man bei diesem Verfassungsverständnis dann nicht nur sozial benachteiligte Gruppen aufnehmen müßte, sondern auch — ich zitiere — „andere Grup- Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): pen, die in unserer Gesellschaft im Alltagsleben in Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Menschen gewisser Weise benachteiligt sind, beispielsweise mit Behinderungen werden in unserem L and noch Linkshänder und Brillenträger". immer in vielen Lebensbereichen diskriminiert. Auch Herr Irmer, gleichfalls F.D.P., ergänzte — ich zitiere der Deutsche Bundestag nimmt sich erst zu- später wiederum —: „Das wäre folgerichtig. Man könnte da Stunde Zeit, um den Problemen von Behinderten in die einzelnen Verästelungen gehen, und dann Gehör zu schenken. könnte jemand kommen und sagen, daß das dann (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist noch eine auch die Kleinwüchsigen oder die Glatzköpfigen christliche Zeit!) sind. " Die Diskriminierung beginnt bei der neuerdings an Gerade dieser kurze Dialog im Deutschen Bundes- deutschen Universitäten wieder diskutierten Frage, tag war ein typisches Beispiel für die allgegenwärtige ob schwerbehinderte Neugeborene überhaupt ein Diskriminierung von Behinderten in unserer Gesell- Lebensrecht haben. Ich unterstütze nachdrücklich die schaft. Wer bis dahin nicht von der Notwendigkeit soeben gestellte Forderung des Forums der behinder- eines im Grundgesetz verankerten Diskriminierungs- ten Juristinnen und Juristen, das Lebensrecht für verbots überzeugt war, mußte es nach den Auslassun- Behinderte ausdrücklich in das Grundgesetz aufzu- gen der Kollegen Dr. Hitschler und Irmer sein. Das nehmen. — erlauben Sie mir diese persönliche Bemerkung (Beifall des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause — war wirklich keine Sternstunde des Liberalismus. [Bonese] [fraktionslos]) Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat im Angesichts der Erfahrung mit der massenhaften vorliegenden Antrag die Mindestanforderungen an Ermordung Behinderter im Dritten Reich wissen wir, ein Antidiskriminierungsgesetz für Menschen mit wie leicht aus einer akademischen Debatte verbre- Behinderungen skizziert. Kernbereiche sind dabei cherisches Handeln werden kann. Beschäftigung und berufliche Rehabilitation, insbe- sondere die Förderung behinderter Frauen, behinder- Ich habe in der DDR einen Film über körperbehin- tengerechtes Bauen und Wohnen, öffentlicher Perso- derte Kinder gedreht. Der Protagonist meines Filmes nennahverkehr und Telekommunikation. Auch im war ein Junge, der mit offenem Rückgrat geboren Sozialrecht soll nicht weiterhin einseitig in Beton und worden war. Die Ärzte hatten ihn aufgegeben und den ausgrenzende Einrichtungen investiert werden. Statt Eltern geraten, den Jungen nicht am Leben zu lassen. dessen sind Unterstützungsangebote für die einzel- Die Eltern haben das nicht akzeptiert. Der Vater ist, nen Behinderten, vor allem durch Betroffene selbst, zu weil kein Krankenwagen zur Verfügung stand, mit fördern. Dazu gehört für uns unabdingbar die Einfüh- dem Neugeborenen auf dem Arm mit der Eisenbahn rung einer bedarfsangemessenen und solidarischen von Vetschau nach Leipzig gefahren, wo der Junge Pflegeabsicherung. operiert wurde. Ende 1991 gab es in den alten Bundesländern Ich habe ihn zwölf Jahre später als einen lebensfro- 5,37 Millionen amtlich anerkannte Schwerbehin- hen, glücklichen Menschen kennengelernt, der zwar derte, davon etwa ein Viertel mit einem Behinde- sein Leben lang auf den Rollstuhl angewiesen ist, aber rungsgrad von 100 %. Die Sozialkürzungen der ver- von einer Lebensfreude und Lebenskraft war, die gangenen Jahre, insbesondere in den Bereichen des mich beschämt hat. Gesundheitswesens und der Arbeitsförderung, trafen (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Das ist er Behinderte hart. immer noch!) Die soziale Lage von Menschen mit Behinderungen — Und ist. So ist es. — In vielem war und ist er wird jedoch auch mehr und mehr durch Maßnahmen Gleichaltrigen überlegen. Später hat er studiert, hat unterhalb der Gesetzesebene beeinträchtigt. So geheiratet und sich aktiv für die Belange Behinderter zeichnet sich seit einiger Zeit ab, daß — in der Folge eingesetzt, und er tut dies auch heute noch. einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts Unsere gemeinsame Aufgabe muß es sein, alle, aber vom 29. April 1993 — die Sozialhilfeträger auf die auch alle nur denkbaren Voraussetzungen zu schaf- Ersparnisse von Menschen zurückgreifen, die in fen, damit Behinderten ein gleichberechtigtes Leben Werkstätten für Behinderte beschäftigt sind. in unserer Gesellschaft möglich wird. (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Das ist ein Die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat daher Skandal ersten R anges!) von Anfang an die Forderung unterstützt, ein Verbot — Sie haben recht, Herr Kollege Seifert. — Mir ist u. a. der Benachteiligung von Behinderten ins Grundge- ein Fall bekanntgeworden, in dem sogar eine Schmer- setz aufzunehmen. Die Regierungsparteien verwei- zensgeldabfindung eingesetzt werden mußte. gern dies u. a. mit der Begründung, dadurch würden ungerechtfertigte Hoffnungen erweckt. Durch die (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Pfui!) Aufnahme Behinderter in die Verfassung verkomme Diese völlig verfehlte Sparpolitik steht im Wider- diese zu einem „Warenhauskatalog", erklärten Ver spruch zu den Grundgedanken und Zielen der Ein- 19234 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Konrad Weiß (Berlin) gliederungshilfe. Betroffen sind potentiell 140 000 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verstehen Behinder- Menschen, die noch immer für einen Lohn von ca. tenpolitik als von Behinderten und durch Behinderte 220 DM im Monat bis zu acht Stunden täglich arbei- formulierte Politik. Behindertenpolitik darf nicht län- ten. Indem Behinderte für die Beschäftigungsmöglich- ger allein als Sozialversorgungspolitik verstanden keit in einer Werkstatt für Behinderte nun auch noch werden, sondern muß vor allem Bürgerrechtspolitik bezahlen müssen, wird die Ausgliederung von Men- sein. schen mit Behinderungen aktiv befördert und eine (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Richtig! Eingliederung geradezu verhindert. Das ist ganz wichtig!) Die historische Ch ance, in den ostdeutschen Bun- Die Behinderten müssen in allen Lebensbereichen desländern auch neue Modelle, vor allem der ambu- - gleiche Rechte haben und vor allem auch die Mög- lanten und dezentralen Hilfe, flächendeckend zu lichkeit bekommen, diese durchzusetzen. Menschen installieren, wurde nicht genutzt. Statt dessen werden mit Behinderung haben ein Anrecht auf eine nicht vor allem Aussonderungseinrichtungen — Heime, behindernde Umwelt. Werkstätten für Behinderte, Sonderschulen etc. — gebaut. (Vorsitz: Vizepräsidentin Renate Schmidt) Dem sozialen Rechtsstaat kommt dabei die Aufgabe (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Das ist eine zu, die Rahmenbedingungen für eine möglichst Angleichung an den Westen!) uneingeschränkte Entfaltung der Persönlichkeit so- — Ja. — Behinderte, die zuvor in normalen Bet rieben wie für die demokratische und soziale Partizipation gearbeitet haben, wurden in Sonderwerkstätten aus- aller Bürgerinnen und Bürger zu schaffen. Dem soll gesondert. Die jedem Behinderten zustehende Invali- der Antrag der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, denrente wurde gestrichen. der Ihnen vorliegt, dienen. Die Bundesregierung be treibt nach wie vor die Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit zu später traditionelle Politik als Sozialpolitik mit Entsorgungs- Stunde. mentalität. Es geht ihr darum, die Behinderten irgend- (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei wie unterzubringen und zu versorgen, um die Gesell- Abgeordneten der SPD) schaft möglichst behindertenfrei zu halten. Integra- tion wird allenfalls als Anpassung der behinderten Menschen an eine von Nichtbehinderten geprägte Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächste hat Umwelt betrieben. Emanzipation und aktive Selbst- das Wort unsere Kollegin Gertrud Dempwolf. bestimmung werden geradezu verhindert. Wegen der Nichterfüllung der Pflichtquote für die Beschäftigung Schwerbehinderter hatte der Bund für Gertrud Dempwolf (CDU/CSU): Frau Präsidentin! das Jahr 1992 15,1 Millionen DM Ausgleichsabgabe Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr zu zahlen. Mehr als 6 600 Pflichtarbeitsplätze des Kollege Weiß, ich schätze Ihre Art, und ich schätze oft Bundes waren nicht mit Schwerbehinderten besetzt. auch Ihre Erfahrungswerte. Aber ich habe heute den Eindruck, daß Sie nicht von der Bundesrepublik (Zuruf von der F.D.P.: Das ist ein Skandal!) Deutschland sprechen, sondern noch im geteilten Ich denke, wir als unmittelbar für den Bund verant- Deutschland sind. wortliche Parlamentarier dürfen das nicht mit einem Und da gebe ich Ihnen recht: Ich habe auch bis zur Achselzucken hinnehmen, sondern sollten gemein- Wende Rollstühle nach Nordhausen gebracht und sam von der Bundesregierung und den Bundesbehör- dort Behinderte be treut. Es gab damals dort ein den verlangen, bei der Beschäftigung von Behinder- siebzehnjähriges Mädchen, das in ihrem ganzen lan- ten mit gutem Beispiel voranzugehen. gen Behindertenleben noch niemals in der Innenstadt war. Der Vater hatte eine Karre mit vier Rädern (Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke gebaut, und auf dieser Karre wurde das Mädchen Liste]) transportiert, bis es von uns einen Rollstuhl bekam. Auch die neue Pflegeversicherung ist als soziotech- Das waren schlimme Zustände, und es ist gut, daß nokratisches Modell konzipiert, das die Selbstbestim- sich in der Zwischenzeit vieles geändert hat. mung und Individualität von Behinderten rigoros beschränkt. (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Da stim men wir sogar zu!) (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Recht hat Es ist nicht richtig, wenn Sie heute sagen, daß er!) Behinderte in der Bundesrepublik diskriminiert wer- Von den Betroffenen selbst beschaffte Pflegekräfte den. Dagegen verwahre ich mich ganz energisch. werden nicht finanziert. Es müssen Vertragsdienste Behinderte sind Bürger mit allen Rechten und mit der Pflegekassen in Anspruch genommen werden. allen Pflichten. Urlaub für Pflegebedürftige im Ausland wird nicht (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Das waren mehr möglich sein, weil die Leistungen bei Auslands- sie in der DDR auch!) aufenthalten eingestellt werden. Dies läuft auf ein faktisches Reiseverbot für Behinderte, die persönli- — Das habe ich ja selbst erlebt. Da gab es nicht einmal che Hilfen benötigen, hinaus. Bei Heimunterbrin- einen Rollstuhl. Da gab es alles das nicht, was ich gung werden höhere Leistungen erbracht als bei heute in Ihrem Antrag lese. ambulanter Hilfe, was einen Sog in die Heime hervor- Wir haben Sonderkindergärten, die Sie als nicht rufen wird. gerecht empfinden; Sie sagen, daß den Kindern der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19235

Gertrud Dempwolf normale Weg hier versperrt wird. Herr Kollege Weiß, Regina Kolbe (SPD): Frau Präsidentin! Meine wir haben Sonderkindergärten — und ich stehe Damen und Herren! Zu später Stunde sprechen wir dazu —, um diese behinderten Kinder ganz besonders heute über die Bel ange von Menschen mit Behinde- zu fördern. rungen. Leider steht bis heute eine Politik zur Besei- tigung bestehender Nachteile von Menschen mit Vizepräsidentin Renate Schmidt: Frau Kollegin Behinderungen vor Grenzen, und zwar vor den Gren- Dempwolf, würden Sie eine Zwischenfrage des Kolle- zen in den Köpfen der Menschen. gen Seifert beantworten? Abweichungen von der körperlichen Norm und von der Leistungsfähigkeit, aber auch Ängste vor einer möglichen eigenen Behinderung sind im weitesten Gertrud Dempwolf (CDU/CSU): Nein, ich- habe nur fünf Minuten. Sinne in unserer Gesellschaft immer noch ein Tabu- thema. Solange eine Behinderung den Sonderstatus Krankheit erfährt, der nur von Fachleuten behandelt Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das wird nicht und therapiert werden kann, wird eine wahrhafte angerechnet. Integration nicht zu erreichen sein. Grundprinzip muß Gleichstellung und Selbstbestimmung sein, um Aus- Gertrud Dempwolf (CDU/CSU): Ich muß gleich bei grenzung und Isolation zu verhindern. Dafür muß die Ihnen da oben sitzen, und meine Kollegen warten Gestaltung des Lebensumfelds an den Bedürfnissen darauf, daß sie abgelöst werden. Wir können uns der Behinderten ausgerichtet werden und nicht nachher weiter darüber unterhalten. umgekehrt. Wir haben beim Personennahverkehr noch einiges (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des zu tun; da gebe ich Ihnen recht. Der Großteil des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]) behindertengerechten Bauens findet in öffentlichen Gebäuden statt, und dort, wo heute neu gebaut wird, Deshalb muß Behindertenpolitik als eine Querschnitt- aufgabe betrachtet werden. wird behindertengerechtes Bauen berücksichtigt. Darauf achten wir sehr stark. Für jeden, der politisch Verantwortung trägt, ob im (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Aber nicht Gemeindeparlament oder hier in Bonn, muß dieses konsequent genug!) zur Selbstverständlichkeit werden. Behindertenpoli- tik kann und darf keine alleinige Aufgabe der Arbeits- Die behindertengerechten Wohnungen sind bei uns in und Sozialausschüsse sein. Die Berücksichtigung der Überzahl. behindertenpolitischer Belange ist keine wohlfahrts- Herr Kollege Weiß, ich komme aus Hannover. Ich staatliche Angelegenheit, sondern ein Bürgerrecht. betreue einige Behindertengruppen und bin ständig mit diesen Leuten in Kontakt. Was Sie vorhin hier (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS vorgetragen haben, sehen die tatsächlich Behinderten 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja nicht so. Sie wollen nicht Menschen einer anderen Seifert [PDS/Linke Liste]) Klasse sein, sondern wollen wie jeder andere normale Ein wesentlicher Schritt auf diesem Weg ist die Mensch leben. Verankerung eines Benachteiligungsverbotes far Die Bundesregierung hat im Laufe der Jahre für Behinderte in der Verfassung. Daß die Frage eines Behinderte schon sehr viel getan. Wir haben in der Benachteiligungsverbotes nichts mit einem Waren- Bundesrepublik seit 30 Jahren die „Lebenshilfe"; sie hauskatalog zu tun hat, beweist z. B. die Tatsache, daß feiert heute ihren dreißigsten Geburtstag. Es sind einige Bundesländer, wie Berlin, Sachsen, Branden- Milliardenbeträge an Spenden aus der Bevölkerung burg und Sachsen-Anhalt, entsprechende Passagen in gekommen. Es ist sehr vieles für Behinderte besonders ihren Landesverfassungen eingeführt haben. Auch aus diesem Fonds getan worden. das Saarland wird dieses demnächst in seiner Landes- Das alles bezog sich auf Ihre Rede. Ich habe mein verfassung haben. Ich gehe davon aus, daß die Konzept noch gar nicht benutzt. genannten CDU-regierten Bundesländer nicht gegen ihre eigenen Landesverfassungen bei der Abstim- Vielleicht in aller Kürze noch folgendes. Insgesamt mung im Bundesrat votieren werden. verfügt unser Land auch im internationalen Vergleich und trotz aller — wie ich zugebe — Verbesserungs- Die SPD hat einen eigenen Gesetzentwurf vorge- notwendigkeiten über ein umfassendes Soziallei- legt, in dem das Benachteiligungsverbot verankert ist. stungssystem besonders für Behinderte. Wir werden Ein Benachteiligungsverbot würde grundsätzlich die in Kürze den Dritten Behindertenbericht im Ausschuß materiellen Rechte der Behinderten stärken, die Inte- beraten, und ich denke, Herr Kollege Weiß, daß wir gration fördern und eine Wertentscheidung zugun- uns darüber noch ausgiebig werden unterhalten kön- sten Behinderter darstellen. nen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja Ich bedanke mich. Seifert [PDS/Linke Liste]) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Das Flensburger Urteil wäre dann nicht mehr mög- Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Der Behin lich. dertenbericht ist erst in der nächsten Wahl Weitere wichtige Bestandteile der Gestaltung des periode dran!) Lebensumfeldes von Menschen mit Behinderungen sind barrierefreies Wohnen, Freizeitgestaltung, Mobi- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächste hat lität und Reisen. Ein entsprechender Antrag der SPD die Kollegin Regina Kolbe das Wort. liegt dem Bundestag zur Beratung vor. Bis heute sind 19236 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Regina Kolbe gemeinsame Beschlüsse aus der letzten Wahlperiode, Ich übertreibe also nicht, wenn ich davon spreche, die alle Fraktionen gefaßt haben, von der Bundesre- daß Frauen mit Behinderungen eine doppelte gierung nur halbherzig umgesetzt worden. Benachteiligung erfahren. (Zuruf von der SPD: Genauso ist es!) (Zuruf von der SPD: Ein Skandal ist das!) Frauen mit Behinderungen scheinen nicht so gesell- Meine Damen und Herren, zahlreiche Hürden sind schaftsfähig zu sein wie Männer mit Behinderungen. zu überwinden. Eine Integration schon in Schule und Das läßt sich einfach an Zahlen verdeutlichen. Nur Kindergarten ist wichtig. Oftmals scheitert diese aber 41 % der Frauen leben in Partnerschaften oder sind an der fehlenden Barrierefreiheit. verheiratet. Bei den Männern sind es 76 %. Nur 18 % - der Frauen mit Behinderungen sind erwerbstätig. Öffentliche Neubauten müßten grundsätzlich schon Deshalb sind arbeitsmarktpolitische Förderkonzepte bei der Planung eine behindertengerechte Ausgestal- für Frauen mit Behinderungen dringend notwendig. berücksichtigen. Zwingend wäre deshalb eine tung Vor allem der Arbeitsplatz bietet die Möglichkeit für Veränderung der Bundesbauverordnung und ent- ein unabhängiges und selbstbestimmtes Leben. sprechender Länderbauverordnungen für öffentliche Bauten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Auch der Zugang zur beruflichen Rehabilitation (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja muß verändert werden. Der Anspruch auf berufliche Seifert [PDS/Linke Liste]) Rehabilitation darf nicht mehr allein von der vorher- Eine Baugenehmigung sollte z. B. nicht erteilt wer- gehenden Erwerbstätigkeit abhängig gemacht wer- den können, wenn entsprechende DIN-Vorschriften den. Wir müssen uns immer vergegenwärtigen, daß bei der Planung nicht berücksichtigt würden. körperliche Schädigungen erst dann zur Behinderung werden, wenn der Betroffene eine Benachteiligung (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Und bei der auf Grund seiner Schädigung in der Gesellschaft Durchführung! ) erfährt. Wie zwingend diese Forderung ist, kann an einem (Zuruf von der SPD: Genau das ist es!) Beispiel verdeutlicht werden. Der neue Plenarsaal ist Soziale und gesellschaftliche Aspekte in Verbin- bei seiner Eröffnung durch die Medien gegangen. dung mit den Merkmalen der Schädigung bewirken Aber wenn Sie sich diese Rampe ansehen: 11 % also gemeinsam das Phänomen der Behinderung. Gefälle. Laut DIN-Norm dürften es nur 6 % sein. Im Viele Minderwertigkeitsgefühle entstehen erst durch Juli 1990, aus gegebenem Anlaß, hat man im Prinzip die Erfahrung in der Gesellschaft und nicht durch die erst angefangen, das zu berücksichtigen. Man hat bei Behinderung an sich. der Bauplanung des Plenarsaals die Anliegen Mobili- Meine Damen und Herren, angesichts der täglichen tätsbehinderter und sensorisch beeinträchtigter Men- leidvollen Erfahrungen der Diskriminierung und der schen nicht berücksichtigt. zahlreichen gewalttätigen Übergriffe gegenüber Menschen mit Behinderungen müssen wir dringend (Monika Ganseforth [SPD]: Das muß in Berlin ein Zeichen zur Gleichstellung setzen. Ein erster anders werden!) wesentlicher Schritt ist meines Erachtens die Position — Ja, davon gehe ich aus. behinderter Menschen in unserer Gesellschaft zu stärken. (Beifall bei der SPD — Dr. Ilja Seifert [PDS/ (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja Linke Liste]: Das muß überall anders wer Seifert [PDS/Linke Liste]) den!) Dieser liegt meines Erachtens nach in der verfas- Übrigens, lange hat es gedauert, aber bald werden sungsrechtlichen Verankerung eines Benachteili- behinderte Menschen nicht mehr den Lieferantenein- gungsverbots. Wir sollten als Parlamentarier diese gang am Langen Eugen benutzen müssen. Die Lösung Chance nicht versäumen. ist so einfach. Wieviel Jahre mußte darauf gewartet Danke. werden? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ein zweites Beispiel, wo der Bund seiner Vorbild- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert funktion als Gesetzgeber nicht gerecht wird, ist die [PDS/Linke Liste]) Beschäftigung von Schwerbehinderten. Seit 1990 muß nämlich schon die Ausgleichsabgabe gezahlt werden. Es nützen auch Appelle an die Privatwirt- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht schaft und an die Länder nichts, wenn man seine unsere Kollegin Dr. Eva Pohl. eigenen Gesetze nicht ernst nimmt. In diesem Hause wurde heute das Gleichstellungs- Dr. Eva Pohl (F.D.P.): Sehr verehrte Frau Präsiden- gesetz der Bundesregierung verabschiedet. Ich tin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Kern- möchte an dieser Stelle nicht näher auf die Defizite punkt des hier von der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE dieses Gesetzes eingehen. Daß Frauen auf allen GRÜNEN vorgelegten Antrages zur Gleichstellung gesellschaftlichen Ebenen benachteiligt sind und von Menschen mit Behinderungen ist die Forderung werden, ist eine Tatsache. Auch die Benachteiligung nach einer Aufnahme der Gruppe der Behinderten in von Menschen mit Behinderungen wird allgemein Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes, also unter jenen anerkannt. Gruppen und Minderheiten in unserer Gesellschaft, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19237

Dr. Eva Pohl die besonders vor Benachteiligung zu schützen, aus- net ausführlich und, wie ich meine, objektiv die drücklich zu achten oder zu fördern sind. momentane Situation der Behinderten nach. Mit diesem Antrag greift BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN erneut eines j ener Benachteiligungsverbote auf, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Frau Kollegin die im Rahmen der Gemeinsamen Verfassungskom- Pohl, würden Sie eine Zwischenfrage zulassen? mission in den letzten zwei Jahren ausführlich erörtert wurden und, da sie in der Kommission ohne die Dr. Eva Pohl (F.D.P.): Ich möchte erst meine Rede erforderliche Zweidrittelmehrheit blieben, letztend- beenden; denn ich kann mir denken, welche Frage lich auch keine Empfehlung zur Aufnahme in unser Frau Kolbe stellt. Die beantworte ich ihr mit dem Grundgesetz erhielten. kommenden Satz. Lassen Sie mich noch einmal die drei Hauptaspekte- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie haben ja eine herauspräparieren, die gegen eine Empfehlung zur prophetische Gabe! Mein Gott, sind Sie Erweiterung des Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes gut!) sprachen. Trotz erheblicher Verbesserungen, die in den letz- Erstens, Auch ohne eine explizite Erwähnung in ten zwei Jahrzehnten für unsere behinderten Mitbür- Art. 3 besteht eine Verantwortung der Gesellschaft ger erreicht wurden — ich denke dabei vor allem an gegenüber Menschen mit geistiger oder körperlicher die größer gewordene Mobilität —, bleibt nach dem Behinderung durch das in Art. 20 verankerte Sozial- Studium des Berichts ein etwas bitterer Geschmack staatsprinzip. zurück. Auf zu vielen Feldern sehen wir noch zuwenig Licht und zuviel Schatten, auch wenn die Entwicklung (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Das sind auf dem richtigen Weg fortschreitet. doch gar keine Sozialfälle!) (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Zünden Sie Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit dem Sozialstaatsprin- doch einmal eine Lampe an!) zip verspricht jedwedem sozial Benachteiligten ein Ich möchte hier insbesondere mein absolutes Unver- Höchstmaß an sozialer Chancengleichheit. Aus die- ständnis darüber äußern, daß der Großteil der öffent- sem Grunde sehen wir keinen verfassungsrechtlichen lichen Arbeitgeber die vorgesehene Mindestquote für Änderungsbedarf. die Beschäftigung von Schwerbehinderten nicht zu Zweitens. Die Aufnahme eines Gleichbehandlungs- erfüllen vermag. gebotes für behinderte Menschen hätte ohne Zweifel (Regina Kolbe [SPD]: Der Bund tut es doch präjudizierenden Charakter für andere Gruppen der auch nicht!) Gesellschaft wie Kranke, Obdachlose oder Verbre- chensopfer. Diesen genannten Gruppen hätte man die Aber, meine Damen und Herren, bei diesen offen- Aufnahme in das Grundgesetz schwerlich verweigern kundigen Defiziten — das ist das Entscheidende in können. Unsere Verfassung hätte dadurch ernsthaft diesem Zusammenhang — handelt es sich — wie es Schaden nehmen können. der Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommis- sion treffend formulierte — „um Vollzugsdefizite der (Regina Kolbe [SPD]: Thüringen hat es in einfachen Gesetzgebung bzw. um Alltagsprobleme seiner Landesverfassung! Nimmt Thüringen im normalen mitmenschlichen Umgang, die sich nicht auch Schaden?) auf der Ebene des Grundgesetzes lösen ließen". Dort Drittens. Mit der Aufnahme eines Diskriminie- müssen wir ansetzen. Dort werden wir auch Erfolg rungsverbotes zugunsten Behinderter wären — das haben. muß ehrlicherweise auch gesagt werden — Erwartun- (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Dann müs gen geweckt worden, die der Staat nicht hätte befrie- sen die Voraussetzungen besser sein!) digen können. Aus diesen Erwägungen muß die F.D.P.-Fraktion (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.]) den Antrag des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ablehnen. Die Enttäuschung bei den Betroffenen wäre beizeiten urn so größer gewesen. Ich bedanke mich. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Glauben Sie denn ernsthaft, daß durch die bloße ten der CDU/CSU — Dr. Uwe Küster [SPD]: Aufnahme eines Diskriminierungsverbotes die tat- Das ist die Haltung der Regierung! Schlimm sächliche Lebenssituation von behinderten Mitbür- ist das!) gern verändert würde?

(Beifall bei der F.D.P. — Dr. Ilja Seifert Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- [PDS/Linke Liste]: Aber es wären bessere lege Dr. Ilja Seifert das Wort. Voraussetzungen gegeben, wenn man das tun würde!) Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! Sie haben gerade selbst gesagt: Die Schranken sind im Meine Damen und Herren! Kolleginnen und Kolle- Kopf der Menschen. Aber die können Sie nicht per gen! Die Sozialfälle, verehrte Kollegin, von denen Sie Gesetz niederreißen. gerade sprachen, sind Menschen, die u. a. behindert Meine Damen und Herren, wir haben dieser Tage sind, nicht Behinderte, die u. a. Menschen sind. Das ist den Dritten Bericht der Bundesregierung über die ein gewaltiger Unterschied. Lage der Behinderten und die Entwicklung der Reha- Der Dritte Bericht zur Lage der Behinderten in der bilitation erhalten. Dieses umfangreiche Werk zeich Bundesrepublik Deutschland — ich würde mich 19238 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Dr. Ilja Seifert freuen, wenn der Herr Kollege Regenspurger auch heit zugestanden. Das könnte man u. a. dadurch etwas sagen würde; aber er darf hier ja offenbar nicht erleichtern, daß es im Grundgesetz festgelegt wäre. reden — Keine Sorge: Wir haben genügend Kraft, uns dann (Otto Regenspurger [CDU/CSU]: So etwas auch die Rechte, die wir brauchen, zu erkämpfen. Dummes habe ich hier selten gehört!) Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. — oder er will nicht reden; vielleicht hat er auch Angst (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — davor — Peter Kurt Würzbach [CDU/CSU]: Die mei sten sogar mit intelligenteren Reden als der, (Otto Regenspurger [CDU/CSU]: Das ist die Sie heute gehalten haben!) unverschämt!) - weist darauf hin, daß trotz vieler unbestreitbarer Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat Frau Fortschritte in den letzten Jahren eine tatsächliche Parlamentarische Staatssekretärin Roswitha Verhüls- Chancengleichheit von Behinderten mit Nichtbehin- donk das Wort. derten allerdings noch immer nicht erreicht ist. Vielfach fühlen sich behinderte Menschen von Roswitha Verhülsdonk, Parl. Staatssekretärin bei einer neuen Behindertenfeindlichkeit und von Ver- der Bundesministerin für Familie und Senioren: Frau wertungs- und Brauchbarkeitsdiskussionen offen Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als bedroht. Die Schlußfolgerung aus dieser Feststellung Vertreterin des Bundesministeriums für Familie und müßte lauten: Aufnahme eines Diskriminierungsver- Senioren, das für Fragen der sozialen Eingliederung botes und eines Nachteilsausgleichsgebotes in das und gesellschaftlichen Teilhabe behinderter Men- Grundgesetz. schen zuständig ist, möchte ich auf einige Schwer- punkte der gegenwärtigen Diskussion über die Situa- Insofern stimme ich dem Antrag des BÜNDNIS- tion behinderter Menschen und ihrer Angehörigen SES 90 mit Freuden zu, würde Sie, Herr Weiß, eingehen. allerdings bitten, für Art. 3 Abs. 4 des Grundgesetzes folgende Formulierung vorzuschlagen: „Maßnahmen Gleichberechtigtes Zusammenleben behinderter zur Förderung von Frauen und Menschen mit Behin- und nichtbehinderter Menschen muß das Ziel aller derungen zum Ausgleich bestehender Nachteile sind sozialpolitischen Maßnahmen sein. keine Bevorzugung wegen des Geschlechts bzw. (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Nicht nur wegen der körperlichen, geistigen und seelischen der sozialpolitischen!) Beeinträchtigung." Das wäre nur logisch. Darüber besteht weitgehend Einigkeit zwischen den Die Diskriminierung von Menschen mit Behinde- gesellschaftlichen und politischen Gruppierungen. rungen zeigt sich besonders im Arbeitsleben. Das Einigkeit, Herr Kollege Seifert, besteht auch darüber, wurde hier schon mehrfach betont. Da ich nicht so viel daß die volle Integration behinderter Menschen in Redezeit habe wie Sie, werde ich das jetzt nicht weiter vielen Bereichen unseres Alltags noch nicht erreicht ausführen. ist. Dagegen gibt es über die Mittel und Wege, wie dieses Ziel zu erreichen ist und was in einem bestimm- Aber besonders diskriminiert — und zwar mit ten zeitlichen Rahmen realistischerweise umgesetzt höchstrichterlicher Hilfe — sind Menschen mit geisti- werden kann, sehr unterschiedliche Vorstellungen, ger Behinderung. Ich bin nicht unbedingt ein Anhän- über die auch gestritten werden muß, um schließlich ger von Werkstätten für Behinderte. Sie erfüllten ihre unter den gegenwärtigen Bedingungen praktikable Aufgabe, nämlich die Vorbereitung auf den ersten und dennoch zukunftsorientierte Weiterentwicklun- Arbeitsmarkt, wohl noch nie. Dennoch boten und gen zu ermöglichen. bieten sie ein gewisses Maß an Arbeit und sozialer Herr Kollege Weiß, ich möchte hervorheben, daß Kommunikation; letzteres ist nicht zu unterschätzen. das Grundgesetz für unser Land jedem einzelnen Jetzt sollen die in Werkstätten für Behinderte Beschäf- Menschen das Recht auf ein Leben in Würde, auf tigten für ihren Arbeitsplatz auch noch selbst zahlen. körperliche Unversehrtheit und auf freie Entfaltung Welch ein Sozialstaat! seiner Persönlichkeit garantiert. Diese Grundrechte Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom schließen niemanden aus. Menschen mit Behinderun- April vergangenen Jahres — m an stelle sich vor, das gen, welcher Art und Schwere auch immer, haben hätte ein DDR-Gericht get an — könnte Ausgangs- daran genauso teil wie Menschen ohne Behinderun- punkt für die rigideste Beschneidung aller Leistungen gen. Die von verschiedenen gesellschaftlichen Grup- für Menschen mit Behinderungen werden. Ich frage: pen und auch von seiten vieler Behindertenverbände Ist zu erwarten, daß jetzt auch Mobilitätshilfen, z. B. erhobene Forderung nach einem eigenen Gleichstel- der Berliner Telebus, oder Hilfsmittel nur noch bei lungsgesetz für Behinderte läßt meines Erachtens Heranziehung des Vermögens gewährt werden? Ich diese bereits gegebene Garantie unserer Verfassung betrachte dieses Urteil als einen generellen staatli- außer acht. chen Angriff auf Ersparnisse, Eigentum und Alterssi- cherung von Menschen mit Behinderungen. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Frau Staatssekre- Es gäbe zwei Möglichkeiten, wirkliche Gleichheit tärin, würden Sie eine Zwischenfrage des Kollegen herzustellen. Entweder bringen in Zukunft alle Mi- Seifert gestatten? nister, Abgeordneten und Richter so lange ihr Geld zur Arbeitsstelle, bis sie unter den Sozialhilfesatz fallen Roswitha Verhülsdonk, Parl. Staatssekretärin bei — dann wäre reale Gleichheit gegeben —, oder der Bundesministerin für Familie und Senioren: Ja, Menschen mit Behinderungen wird eine reale Gleich bitte. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19239

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege. der Rehabilitation von Herrn Seifert angesprochen worden. Dieser Be richt stellt das alles dar.

Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Frau Staatssekre- (Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke tärin, den eben von Ihnen geschilderten Fakt kennt ja Liste]) jeder. Ich frage Sie: Will die Regierung nicht irgend- Gleichwohl, liebe Kollegen, Herr Seifert, muß m an wann einmal anerkennen, daß, wenn so viele Men- sicher darüber nachdenken, ob es bei der Einordnung schen mit Behinderungen und fast alle Organisatio- des Rehabilitations- und Schwerbehindertenrechts in nen von Menschen mit Behinderungen sich diskrimi- das Sozialgesetzbuch IX etwa die Möglichkeit gibt, niert fühlen und wünschen, im Grundgesetz beson- ein Verbot zu normieren, Menschen wegen ihrer ders berücksichtigt zu werden, weil sie glauben, damit Behinderung zu benachteiligen. ihre Situation verbessern zu können, dann die- Regie- rung das irgendwann einmal ernst nehmen müßte? (Regina Kolbe [SPD]: Warum denn an dieser Stelle? Dann erkennen Sie an, daß die Dis kriminierung erfolgt!) Roswitha Verhülsdonk, Parl. Staatssekretärin bei — Gut, es muß die richtige Stelle sein. Davon reden der Bundesministerin für Familie und Senioren: Herr wir hier ja. Kollege Seifert, ich glaube nicht, daß die Behinderten in Deutschland sich grundsätzlich alle diskriminiert (Regina Kolbe [SPD]: Warum dann nicht in fühlen; das sagen auch die Behindertenverbände die Verfassung?) nicht. Sie wollen, daß weitere Fortschritte erzielt Die Überlegungen hierzu sind noch nicht abge- werden hin auf ein integriertes Leben so normal wie schlossen, aber auf jeden Fall müßte durch angemes- möglich. Sie meinen, daß mit einer Grundgesetzfor- sene Übergangsvorschriften der Versuch gemacht mel dies vorangetrieben werden könnte. Ich gehe in werden, praktikable Wege zur Umsetzung zu finden. meinem Beitrag noch darauf ein, worin ich Wege Indem man es hineinschreibt, sind sie noch nicht da dafür sehe. und auch nicht finanziert und noch nicht gesetzlich Zu den Feststellungen und Forderungen des vorlie- geregelt. genden Antrags, der im übrigen manche Ansatz- (Regina Kolbe [SPD]: Das ist der Punkt! — punkte enthält, über die wir im Deutschen Bundestag Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Jetzt haben weitgehend Konsens haben, will ich nicht im einzel- Sie die Katze aus dem Sack gelassen!) nen und erschöpfend Stellung nehmen, schon deshalb nicht, weil hier die Zuständigkeit vieler Ressorts Die ungelösten Probleme der Eingliederung behin- berührt ist. Aber es ist unbest ritten, daß es trotz vieler derter Menschen ebenso wie die zweifellos erreichten beachtlicher Fortschritte — davon war schon die Fortschritte sind Gegenstand des Berichts, von dem Rede —, die wir in der Politik für Behinderte und ihre die Rede war. Angehörigen verzeichnen können, noch immer Defi- Meine Damen und Herren, leben so normal wie zite gibt, die einer tatsächlichen Chancengleichheit möglich — das ist eine heute schon für sehr viele im Wege stehen. Ich verweise auf die angeführten Menschen selbstverständliche Forderung geworden, zahlreichen Bar rieren bei öffentlichen Verkehrsmit- doch hat sie von ihren Anfängen in den 70er Jahren bis teln, die festzustellenden Vernachlässigungen bei heute einen langen und beschwerlichen Weg genom- behindertengerechten Konzepten, beim Bau von men. Durch die anhaltend rasante Entwicklung von öffentlichen Gebäuden usw.; das will ich gar nicht Medizin und Technologie erhält die Forderung neue wiederholen. Aktualität und eine neue Dimension: Viele be troffene Auch die besondere Benachteiligung behinderter Eltern, viele behinderte Erwachsene, aber auch Frauen muß stärker ins Bewußtsein gerückt werden andere politisch bewußte Bürgerinnen und Bürger und erfordert gezielte Maßnahmen. Zum Beispiel wird machen sich Sorgen, daß durch die ständig sich nur etwa ein Drittel aller beruflichen Rehabilitations- erweiternden Möglichkeiten von Diagnostik und maßnahmen von behinderten Frauen in Anspruch medizinischen Eingriffen die Akzeptanz behinderten genommen. Das hat Gründe: Ein häufig zentral orga- Lebens und eines solidarischen, nicht aussondernden nisiertes wohnortfernes Rehabilitations- und Umschu- Miteinanders in der Gesellschaft beschädigt wird. lungsangebot kann gerade Frauen mit Familienpflich- Solchen Diskussionen muß rechtzeitig und entschie- ten eine Teilnahme erschweren oder unmöglich den entgegengetreten werden. Es steht keinem von machen. Oder denken wir an Mütter behinderter uns zu, über Lebensqualität im Zusammenhang mit Kinder: Auch diesen muß die Möglichkeit gegeben Behinderung zu urteilen. Die wieder neu belebte werden, neben Be treuung und Pflege ihres Kindes öffentliche Diskussion über Euthanasie und Sterbe- eigene Lebensperspektiven zu haben. hilfe zeigt, daß das Ziel der Integration und Normali- Erfolgversprechendere Ansatzpunkte, liebe Kolle- sierung immer wieder gefährdet ist. ginnen und Kollegen, für die geforderte Chancen- (Beifall des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause gleichheit sehe ich, sieht die Bundesregierung in [Bonese] [fraktionslos]) Schritt für Schritt möglichen Änderungen konkreter Gesetze in den verschiedenen Rechtsbereichen, mit Meine Damen und Herren, in der angespannten denen eingliederungshemmende Regelungen ab- Finanzsituation ist es schwieriger geworden, Verbes- gebaut werden können. Diesen Weg haben wir bisher serungen im sozialpolitischen Bereich, beschritten. Er hat die Fortschritte gebracht, von (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Es geht denen die Rede ist. Eben ist der Dritte Be richt zur nicht um Sozialpolitik, es geht um Bürger Gleichstellung der Behinderten und zur Entwicklung rechte!) 19240 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Parl. Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonk über deren Notwendigkeit nicht gestritten werden c) Erste Beratung des von der Bundesregierung müßte, in praktische Maßnahmen umzusetzen. Wenn eingebrachten Entwurfs eines Ausführungsge- also derzeit eher kleine Schritte getan werden kön- setzes zu dem Übereinkommen vom 13. Januar nen, so ist damit natürlich nicht gesagt, daß wir nicht 1993 über das Verbot der Entwicklung, Herstel- weiterdenken sollten. Wir tim es, und deswegen sage lung, Lagerung und des Einsatzes chemischer ich Ihnen, Herr Seifert: Die Koalition und die Bundes- Waffen und über die Vernichtung solcher Waf- regierung denken zur Zeit intensiv darüber nach, wie fen (Ausführungsgesetz zum Chemiewaffen- man auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, übereinkommen — CWÜAG) das Sie angesprochen haben, reagieren kann. Wir — Drucksache 12/7207 — sehen realistische Wege der Reaktion. Wir stehen in Verhandlungen mit dem Bundesrat, dessen Zustim- Überweisungsvorschlag: - Auswärtiger Ausschuß (federführend) mung erforderlich ist. Ich hoffe — und davon gehe ich Verteidigungsausschuß aus —, daß wir in dieser Frage noch eine Regelung in Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit den nächsten Wochen, also vor Ende der Legislatur- Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO periode, erreichen können. Ausschuß für Wirtschaft (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Das wäre Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die sehr erfreulich!) gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es dagegen einen irgendwie gearteten Wider- — Deswegen sage ich es ja heute abend schon. spruch? — Das ist nicht der Fall. Dann ist auch das so Ich denke, es besteht Einigkeit, daß es eine Gesamt- beschlossen. verantwortung der Gesellschaft für ihre schwächeren Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Mitglieder gibt, die es zwingend erforderlich macht, Herrn Staatsminister Helmut Schäfer das Wort. Konzepte der Hilfe und Unterstützung weiterzuent- wickeln. Diese Politik werden wir fortsetzen. ( [CDU/CSU]: Was? Kol lege Würzbach ist als erster gemeldet!) Vielen Dank. — Entschuldigung, ich habe mich geirrt. Als erster hat (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. der Kollege Würzbach das Wort. sowie des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause [Bo nese] [fraktionslos]) (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Ich hätte Schäfer lieber gehört! — Dr. Uwe Küster [SPD]: Wir sind hier nicht bei „Wünsch Dir was"!) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Wortmel- dungen liegen mir nicht vor. Ich schließe die Ausspra- che. Peter Kurt Würzbach (CDU/CSU): Liebe Frau Prä- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf sidentin! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Drucksache 12/6981 an die in der Tagesordnung haben eine verbundene Debatte. Zu dem Komplex aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den Aus- KSZE wird mein Kollege Ruck reden. Ich will mich den schuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu Chemiewaffen zuwenden und über das Übereinkom- überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist men reden, das in Zukunft die Entwicklung, die der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Herstellung, die Lagerung und den Einsatz chemi- scher Waffen verbieten soll. Das Übereinkommen legt Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 a bis c die Vernichtung aller bestehenden chemischen Waf- auf: fen überall in der Welt fordernd fest. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung Kollege Schäfer, es ist, so glaube ich, gerade bei eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem dieser Debatte — bei aller Gepflogenheit, das Parla- Übereinkommen vom 15. Dezember 1992 über ment zuerst sprechen zu lassen — ziemlich egal, wer Vergleichs- und Schiedsverfahren innerhalb zuerst redet. Eines möchte ich aber zu Beginn sagen: der KSZE Bei diesen beiden Themen hat besonders Deutschl and — und hier die Bundesregierung — enorm viel Zeit — Drucksache 12/7137 — und Kraft und alle Möglichkeiten, die man diploma- Überweisungsvorschlag: tisch und politisch nutzen kann, eingesetzt, um diese Auswärtiger Ausschuß (federführend) beiden Dinge zum Erfolg zu bringen. Rechtsausschuß Ich möchte für meine Fraktion unserer Bundesre- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung gierung hierfür Anerkennung zollen. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 13. Januar 1993 über das (Beifall des Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/ Verbot der Entwicklung, Herstellung, Lage- CSU] sowie bei Abgeordneten der F.D.P.) rung und des Einsatzes chemischer Waffen und Der Kollege Ruck wird das bei der KSZE wiederholen, über die Vernichtung solcher Waffen (Gesetz und ich sage das ganz deutlich für den Bereich der zum Chemiewaffenübereinkommen) chemischen Waffen. Ich finde, das sollten wir auch — Drucksache 12/7206 — hier im deutschen Parlament tun, denn international Überweisungsvorschlag: macht überhaupt keiner unserer Partner einen Hehl Auswärtiger Ausschuß (federführend) daraus, daß es die Deutschen waren, die hier ganz Verteidigungsausschuß besonders erfolgreich gearbeitet haben. Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO Dieses Abkommen wird erstmals in der Geschichte Ausschuß für Wirtschaft dieser schlimmen Waffen — der chemischen Waf- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19241

Peter Kurt Würzbach fen — die Chance geben, eine chemiewaffenfreie andere Waffenarten — Verifikationsbestimmungen, Welt zu schaffen, wenn sich wirklich alle Staaten hier die sehr gründlich sind und, wenn sie ordentlich anschließen und den Vertrag einhalten. Ich möchte angewandt werden, keine Umgehung auf irgendwel- uns gem daran erinnern, daß das ein Ziel gewesen ist chen Schleichwegen für den einen oder anderen Staat — das hört sich fast unglaublich an —, an dem zulassen. Regierungen, Nationen und einzelne Personen seit Sie beinhalten Hilfen für Staaten, die dies selber über 100 Jahren gearbeitet haben. Seitdem man technisch oder auch finanziell nicht können, sie bein- damals entdeckte, was man mit diesen schlimmen halten — ganz wichtig und sehr selten in solchen chemischen Waffen durch kriegerischen Einsatz Verträgen — Sanktionen bis hin zum Anruf des machen kann, haben sich Menschen, Regierungen Sicherheitsrates, und — auch ein Unterschied zu und Staaten bemüht, diese Waffen zu ächten, wenn anderen Verträgen auf dieser Ebene — sie behandeln auch nur mit mittelmäßigem Erfolg. alle Staaten gleich. Es gibt hier also keine Sonderklau- 1874 ist die sogenannte Brüsseler Deklaration sel für die Supermächte, keine Sonderklausel für die beschlossen worden. 1907 waren diese Waffen Kernwaffenstaaten, wie wir dies im Augenblick bei Bestandteil der Haager Landkriegsordnung. Und wir der Nichtverbreitung auf dem nuklearem Gebiet Deutsche wissen besonders — mit unseren heutigen haben. Freunden und Partnern, den Franzosen — um die Das Übereinkommen sieht sehr gründliche Indu- Einsätze von Lost, also von Senfgas, und ähnlichem. strieinspektionen vor. Das war einer der Punkte, die Nach dem Ersten Weltkrieg, im Jahre 1925, ist das das Abkommen lange verzögerten und bei denen gerade Deutschland eine Menge an ganz praktischer Genfer Protokoll verabschiedet worden, das die gewaltige Schwäche darin hatte, daß mächtige Staa- Handhabung in dieses Übereinkommen eingebracht ten sogenannte Ausnahmeklauseln verabschieden hat. Ich will hier gern hinzufügen, daß das aus der konnten, also Vorbehalte, die das gewaltig ab- Sicht der Wirtschaft, der Industrie natürlich die Gefahr von Industriespionage beinhaltet, wenn internatio- schwächten, beispielsweise mit dem Erfolg, daß nur der Ersteinsatz verboten war — eine Geschichte, die nale Inspektoren hier freien, unangemeldeten und an bestimmte NATO-Doktrinen in der Zeit des Ost- uneingeschränkten Zugang haben. Es ist gut, daß die Staaten nun bereit sind, auch dieses mögliche Risiko, West-Konflikts erinnert, als wir noch chemische Waf- das zum Nachteil in einem anderen Bereich führen fen hatten und dies uns auch zu eigen gemacht hatten. könnte, einzugehen. Dieses Verbot ist umfassend. Es bezieht sich auf die Nach dem Zweiten Weltkrieg standen die Nuklear- Entwicklung, die Herstellung, den Erwerb, die Lage- waffen im Mittelpunkt, und die chemischen Waffen rung wie die Weitergabe der chemischen Waffen. Es waren zunächst in den Hintergrund gerückt. Dann ist äußerst erfreulich, daß hier kein Bereich ausge- gab es 1972 die Abmachungen über die B-Waffen, und schlossen ist. Besonders gut ist, daß nach diesem nun verhandeln wir in Genf inzwischen 20 Jahre über Vertrag alle heute irgendwo auf der Welt vorhande- dieses Übereinkommen. Als die Deutschen 1992 den nen Waffen vernichtet werden müssen — alle, überall, Vorsitz übernommen hatten, ist in den ganz wichti- egal, wem sie gehören. Es ist sogar so, daß ein Staat, gen, bis dahin scheinbar unlösbaren Schlüsselfragen der in irgendeinem anderen Staat Waffen hinterlassen eine Lösung gefunden worden. hat, die ihm einmal gehörten, die Verantwortung Inzwischen haben — das ist ein großer Erfolg — im dafür trägt, daß die do rt zurückgelassenen Waffen November 1992 in der Generalversammlung der vernichtet werden. Organisation der Vereinten Nationen über 150 Staa- Ich will nur mit einer Nebenbemerkung darauf ten diesem Abkommen zugestimmt, und das ohne aufmerksam machen, daß das für manchen manches Gegenstimme — ein großartiges Ergebnis, dem nun Problem mit sich bringen wird. Ich denke an Ruß- die Ratifikation folgen muß. Hierzu waren allerdings land. bisher nur sehr wenige Parlamente — weniger als (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Und viel, viel Finger an einer Hand! — bereit. Deshalb begrüße ich, Geld kostet!) daß wir in der Bundesrepublik Deutschland nunmehr die Ratifikation eingeleitet haben. — Es wird teuer sein. Das ist für manche ein Problem, bei uns im Augenblick auch, Kollege Feldmann. — Die Ausführungsgesetze dazu sind schwierig. Wir Das gilt auch für den Irak, wenn Sie an den jüngsten haben ein gutes erarbeitet. Ich hoffe, daß auch andere Krieg beispielsweise in Kuwait denken, für China und Staaten dies bald tun. Wir, Herr Kollege Schäfer, andere Staaten. sollten bei unseren befreundeten Regierungen darauf hinwirken, daß möglichst schnell die geforderten Dieses Übereinkommen sieht vor, daß alle Bestände erfaßt werden, auch solche, die vor 1946 konstruiert 65 Staaten ratifizieren; denn dies ist als Hürde einge- und irgendwo ausgelagert wurden. Hiervon gibt es baut, damit dieses Übereinkommen überhaupt in Kraft treten kann. Ist es dann in Kraft, haben wir mit — das ist der einzige von mir anzumerkende gravie- diesem Übereinkommen ein Modell für eine Koopera- rende Mangel an diesem Übereinkommen — ein paar Ausnahmen. Ich weiß, daß man die Verhandlungen zu tion im Bereich der Rüstungskontrolle weltweit und verbieten erstmals in einer wirklich wasserdichten einem Erfolg führen wollte, und dennoch, Kollege Schäfer, bitte ich, hier noch etwas zu unternehmen. Form eine gesamte schlimme Waffenkategorie in allen Ländern dieser Erde. Dazu muß ja nicht die ganze Prozedur wiederholt werden, sondern man kann in den gebildeten Exeku- Dieses Übereinkommen beinhaltet — auch dies ein tivkomitees —klug, daß dies ausdrücklich ermöglicht Unterschied zu früheren ähnlichen Abkommen über wurde! — nachverhandeln. 19242 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Peter Kurt Würzbach Hier ist ausdrücklich vorgesehen, daß wir uns nicht Es war ein langer Weg, wie ich mit meinen Ein- für die chemischen Waffen zu interessieren haben, die gangsbemerkungen, bezogen auf das Datum vor vor 1977 irgendwo in der Erde vergraben wurden, 100 Jahren, deutlich machen wollte. Wir sind an einem oder für die, die vor 1985 — und beides sind Zeit- guten Ziel angelangt. Ich empfehle, daß wir diesen räume, die ziemlich eng an der Gegenwart dran Vertrag annehmen und ihn ratifizieren. sind — irgendwo im Meer versenkt worden sind. Dies (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sollten wir nachbessern — mit allem Nachdruck. Wir sowie des Abg. Freimut Duve [SPD]) sollten hier eine Meldepflicht einführen. Ich will — ich komme aus Schleswig-Holstein; man könnte auch andere Regionen nehmen — nur einmal auf die Ostsee Vizepräsidentin Renate Schmidt: Und nun spricht hinweisen. Jeder weiß, was dort an riesigen Mengen, der Kollege Gernot Erler. an Tonnen gegen Ende des Krieges von verschiede- nen Seiten versenkt wurde. Es sollte versucht werden, dies nachzubessern. Gemot Eder (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag leitet heute (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Hoffentlich durch die erste Beratung eines Einbringungs- und kommt das nie hoch!) Ausführungsgesetzes die Ratifizierung des Chemie- waffenübereinkommens ein. Alle Parteien im Bun- Der Zeitraum dafür, daß diese chemischen Waffen destag werden der Ratifizierung, so hoffe ich, zustim- vernichtet werden, beträgt zehn Jahre. Es ist ein men. ausdrückliches Verbot festgeschrieben, wie die Ver- nichtung nicht erfolgen darf, nämlich durch offenes (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Davon können Abbrennen oder wieder durch Versenken oder durch Sie ausgehen!) Vergraben. Für die Zukunft sind diese Dinge einge- Die SPD unterstützt mit Nachdruck, daß die Bundes- schlossen. republik frühzeitig ihren Beitrag zur Umsetzung die- ses herausragenden Rüstungskontrollabkommens lei- Auch mit vernichtet werden müssen diejenigen stet. Es kann frühestens am 13. Januar 1995 — also Fabrikanlagen, die bisher dazu benutzt wurden, um zwei Jahre nach der Pariser Zeichnungskonferenz solche Waffen herzustellen. Ich stelle fest, daß kein vom 13. Januar 1993 — in Kraft treten, aber erst dann, Vertrag im Abrüstungs- und Rüstungskontrollbereich wenn 180 Tage nach der Hinterlegung der 65. Ratifi- treichend und umfassend formuliert ist wie so wei kationsurkunde verstrichen sind. dieser. Es ist erfreulich, daß schon im Januar 1993 130 Staa- Die Inspektoren haben weitgehende Rechte. Die ten gezeichnet haben. Bis heute sind es 157. Aber einzelnen Staaten haben die Pflicht, nationale - der Kollege Würzbach hat darauf hingewiesen — Gesetze zu erlassen, nach denen eine Bestrafung bei bisher sind erst die Urkunden von fünf Ländern Verstoß gegen die aufgegebenen Vorschriften mög- hinterlegt, nämlich Fidschi, Mauritius, Seychellen, lich ist. Die Vereinten Nationen richten eine Organi- Schweden und Norwegen. Drei weitere haben zwar sation ein, die das Verbot der chemischen Waffen zu das Ratifizierungsverfahren abgeschlossen, aber die überwachen hat. Sie soll in Den Haag eingerichtet Urkunden bisher nicht hinterlegt. Das sind Estland, werden. Hier frage ich einfach einmal: Konnte man Saudi-Arabien und Oman. In den USA, in Frankreich nicht bei der deutschen Energie, die wir eingebracht und in Australien ist die Ratifikation unterwegs. In haben, auch Bonn mit für diese neue Ins titution, die Deutschland beginnt heute das Verfahren, das noch erst angedacht ist, ins Gespräch bringen? vor der parlamentarischen Sommerpause abgeschlos- sen werden soll. (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Damals war der Schürmann-Bau noch nicht frei!) Das Chemiewaffenübereinkommen stellt einen Meilenstein in der Rüstungskontrolle dar. Es erhebt Die Laufzeit dieses Vertrages ist unbef ristet. Dies ist einen globalen Wirkungsanspruch und legt unter- gut und befreit uns von komplizierten Nachverhand- schiedslos allen beitretenden Ländern gleiche Rechte lungen. und Pflichten auf. Es verlangt die weltweite Bestands- Ich wünsche mir, daß auch die Staaten aus dem vernichtung sowie ein Entwicklungs- und Produk- Nahen Osten — die mit Blick auf die Waffen, die in tionsverbot für eine komplette Kategorie von Massen- Israel vorhanden sind, bisher Abstand davon genom- vernichtungswaffen, abgesichert durch ein ebenso men haben — diesem Übereinkommen beitreten. Ich umfassendes wie mutiges Verifikationsregime. wünsche mir sehr, daß der Gaseinsatz der Serben in Erinnern wir uns: Es waren 1915 deutsche Soldaten, der brutalen Form wie jüngst — das spielte auch heute die in Ypern zum erstenmal Giftgas eingesetzt haben. nachmittag hier eine Rolle — nicht manche Staaten Die Opfer waren 5 000 britische und französische dazu führt, von einem solchen Übereinkommen doch Soldaten. Im Ersten Weltkrieg sind dann 100 000 Abstand zu nehmen. Ich wünsche mir, daß die tech- Tonnen Giftgas eingesetzt worden. Dies passierte nischen Gegebenheiten, chemische Waffen zu ver- wieder im Abessinischen Krieg 1935/36. Im Zweiten nichten, noch weiter ausgebaut werden — u. a. auch Weltkrieg wurde kein Giftgas eingesetzt. Es tauchte in bei uns in Deutschland. Ich wünsche mir, daß die der Öffentlichkeit dann wieder in der Substanz Ratifikation bei uns und in anderen Ländern der Welt „Agent Orange" im Vietnamkrieg, dann im ersten jetzt zügig vorangeht, daß wir gezielte projektbezo- Golfkrieg zwischen dem Iran und dem Irak, in beson- gene — wie sehr erfolgreich mit Rußland praktiziert — ders erschütternder Weise auch in der Bombardierung Zusammenarbeit durchführen und alle Altbestände von Kurden durch den Irak in Halabdschah 1988 auf. erfaßt werden. Es drohte auch im zweiten Golfkrieg aufzutauchen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19243

Gernot Erler Seit dem Genfer Protokoll vom 17. Juni 1925, das tet werden. Die größten Chancen auf Verwirklichung den Einsatz von C-Waffen verbot, hat es jetzt fast hat eine Pilotanlage in Gornij im Saratov-Oblast, die 70 Jahre gedauert, bis die Welt einen neuen Anlauf mit deutscher und amerikanischer Hilfe gebaut wird macht, sich endgültig von der Plage und Bedrohung und möglicherweise bis Ende dieses Jahres fertig sein chemischer Waffen freizumachen. Allein diese Zeitdi- kann. Aber es gibt große Zweifel, ob Rußland, das die mension und dieser Anspruch belegen den histori- Möglichkeit zur Verlängerung auf 15 Jahre in Genf schen Charakter des Abkommens. durchgesetzt hat, auch in einem Zeitraum von 15 Jah- t technisch tatsäch- Allerdings muß ich hinzufügen, daß es unseres ren die Vernichtung dieser 40 000 lich bewältigen kann. Erachtens noch zwei gravierende Hindernisse für die tatsächliche Umsetzung des Chemiewaffenüberein- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Ohne unsere kommens gibt. - Hilfe wird das nicht gehen!) Der erste Punkt ist die notwendige Vollständigkeit Deswegen — Herr Feldmann, Sie haben mir das des Beitritts, um tatsächlich die Globalität der Durch- Stichwort gegeben — ist es wichtig, zu sehen, daß es setzung zu erreichen, denn für den Erfolg des Che- bei der Abrüstungshilfe, an der sich auch Deutschland miewaffenübereinkommens reicht nicht die Ratifizie- nach einem Vertrag vom Dezember 1992 beteiligt, rung durch eine ausreichende Zahl von Staaten, an der wir nicht zweifeln. Nach amerikanischen Unterla- (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Das ist etwas gen gibt es derzeit wahrscheinlich 17 Besitzer von wenig!) C-Waffen. Schwerpunkte sind außer Südafrika Län- Probleme gibt. 1993 haben wir 2,5 Millionen DM für der des Nahen Ostens, nämlich Ägypten, Saudi- C-Waffen-Abrüstungshilfe ausgegeben. Im ganzen Arabien, Iran, Irak, Libyen, Syrien und Israel, und Bundeshaushalt 1994 sind nur 9 Millionen DM für Ostasiens, nämlich China, Indien, Pakistan, Nord- diese Abrüstungshilfe eingestellt. Vor wenigen korea, Südkorea, Thailand und Indonesien. Offiziell Tagen, genau am 18. April, hat es in Bonn Verhand- eigene Bestände zugegeben haben nur die Vereinig- lungen mit der russischen Seite gegeben, die gerade ten Staaten — sie haben 30 000 t, davon 12 000 t in im C-Waffen-Bereich — leider — keine tatsächlich Form von 3 Millionen Stück Munition — und die förderungswürdigen Projekte ergeben haben. Russische Föderation in der Erbfolge der Sowjetunion (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: Weil keine kon mit 40 000 t, mit vielen Ungewißheiten über die kreten Projekte vorlagen!) Details. In Erfüllung der UN-Resolution 687 werden derzeit die irakischen Potentiale zerstört. Hier ist also noch konkreter Handlungsbedarf. Wir haben immer wieder gefordert, daß sich die Bundes- Wenn wichtige Länder nicht ratifizieren, besteht regierung stärker bei der Abrüstungshilfe enga- allerdings die Frage, ob die globale Durchsetzung des giert. Abkommens möglich ist, denn viele der zeichnungs- willigen und ratifikationswilligen Länder werden ihr Die Kosten werden immens sein. Für Amerika Verhalten letztlich von dem Verhalten anderer Länder schätzt man einen Aufwand von 9 Milliarden Dollar. und gerade von solchen, die potentielle C-Waffen- Die Schätzungen für Rußland schwanken zwischen Besitzer sind, abhängig machen. Hier ist also noch 9 und 15 Milliarden Dollar. Aber es ist ebenfalls ein eine politische Leistung zu erbringen. Problem für die kleinen Länder; denn auch die Verifi- kationsmaßnahmen kosten. Schätzungen gehen hier Das zweite Hindernis ist im Bereich der technischen von 130 bis 140 Millionen Dollar pro Jahr aus. Der Kapazitäten und der Kosten der Vernichtung zu russische Spezialist Kunzewitsch hat vorgerechnet, sehen. Die Vereinigten Staaten besitzen heute über- daß die Russische Föderation, weil die Inspektionen haupt die einzige funktionierende großtechnische von den besuchten Ländern bezahlt werden müssen, Beseitigungsanlage für C-Waffen, nämlich auf dem im Laufe der Implementierung des Verfahrens wahr- Johnston-Atoll. Auch sie ist gelegentlich außer scheinlich 500 Millionen Dollar alleine nur für die Betrieb. Es gibt Pläne für die Errichtung von acht Inspektionen zahlen muß. Es darf nicht sein, daß Geld weiteren Beseitigungsanlagen direkt bei den Lager- für die Produktion von Waffen immer da ist, aber ein stätten, die größte bei Tooele in Utah, wo allein 42 % solches Abrüstungsabkommen womöglich an Kosten- der amerikanischen Giftgasbestände lagern. Tests problemen scheitert. laufen dort seit August 1993. Es gibt die Aussicht, daß die Vereinigten Staaten diese Beseitigungsstätten bis Meine Damen und Herren, auch Deutschland hat zum Jahr 2000 tatsächlich hergestellt haben werden ein paar technische Probleme. Ich will das hier nur und dann mit der Zielgröße von zehn Jahren ihre antippen. Wir haben noch ungefähr 7 000 Giftgasgra- Aufgaben bis zum Jahr 2005 erfüllen können. Aber es naten zu beseitigen. Für einen Teil davon — genau für gibt auch Bürgerprotest und technische Probleme, die 42 t mit Adamsit gefüllte Granaten — fehlt uns im auch das reichste Land der Welt vor eine erhebliche Augenblick die technische Fazilität. Aufgabe stellen. Ich bin der Meinung, wir sollten weiterhin Motor Viel schlimmer sieht es in der Russischen Födera- und Beispiel bei der Chemiewaffenbeseitigung sein. tion aus. Hier ist bisher keine Anlage in Betrieb. Es ist Dazu gehört, daß wir unsere eigenen Probleme erst eine, nämlich in Tschapajewsk, 1989 fertiggestellt einmal technisch bewältigen. Da müssen wir uns noch worden, sie wird, auch wegen Protesten der Bevölke- ein bißchen anstrengen. Aber — darin stimme ich rung, heute aber nur für Trainingsprogramme nochmals dem Kollegen Würzbach ausdrücklich zu — genutzt. Im Kambarka in Udmurtien und in Novo- die Bundesrepublik hat bei dem Abkommen insbe- tscheboksarsk in Tschuwaschien sind weitere Anla- sondere im Jahr 1992 Großes geleistet. Botschafter gen in Bau, die aber auch von Bürgerprotesten beglei Hartmann und seine Leute, aber auch die Bundesre- 19244 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Gernot Erler gierung — das will ich hier ausdrücklich sagen — Das C-Waffen-Übereinkommen verpflichtet die haben eine anerkennenswerte Leistung erbracht. Wir Vertragsstaaten, alte C-Waffen-Bestände zu melden, sollten da fortfahren. Wir sollten bei diesem Thema Inspektionen zuzulassen sowie die Bestände zu besei- Motor und Beispiel bleiben und heute mit klarer tigen. Das Übereinkommen hat daher auch Auswir- Mehrheit den Ratifizierungsprozeß einleiten. kungen — Kollege Erler, Sie haben darauf hingewie- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. sen — auf die bei uns lagernden C-Waffen-Bestände. Vielleicht würde eine Privatisierung der Anlage in (Beifall im ganzen Hause) Munster — darum geht der Streit im Augenblick — zu einem etwas schnelleren Tempo der Vernichtung bringen. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht der Kollege Dr. Olaf Feldmann. Mit dem Ausführungsgesetz sollen die notwendi- gen innerstaatlichen Rechtsgrundlagen geschaffen werden, um die nach dem C-Waffen-Übereinkommen Dr. Olaf Feldmann (F.D.P.): Frau Präsidentin! Liebe vorgesehenen Verifikationen im zivilen Bereich Kolleginnen und Kollegen! Wir befassen uns heute im durchführen zu können. Wir unterstützen vorbehalt- Plenum nicht zum erstenmal mit den C-Waffen. Ich los die Auflage, auswärtigen Inspektoren die Kon- wäre bereit gewesen, meine Rede zu Protokoll zu trolle in deutschen Betrieben zu ermöglichen. Meine geben; denn wir waren uns in diesem Hause immer Damen und Herren, die Rechte der betroffenen Unter- einig, daß die Ächtung von C-Waffen für Deutschland nehmen — ich will das an dieser Stelle ausdrücklich von großer Bedeutung ist. betonen — werden durch die Kontrollmaßnahmen Ich begrüße für die F.D.P.-Fraktion den vorliegen- nicht beeinträchtigt. Der Verband der Chemischen den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum C- Industrie wurde bereits bei der Ausarbeitung der Waffen-Übereinkommen und zum Ausführungsge- deutschen Verhandlungsposition beteiligt und hat das Verhandlungsergebnis gebilligt. setz. Eine weltweite Ächtung der C - Waffen war und ist für uns Liberale immer vorrangiges Ziel gewe- Liebe Kollegen, erst die Ratifizierung durch uns sen. — mit dem Beginn heute im Deutschen Bundestag — (Beifall bei der F.D.P.) gibt der Bundesregierung die notwendige Legitima- tion, andere Staaten zur Ratifizierung aufzufordern, Deshalb haben wir Forderungen nach C-Waffen- damit das Übereinkommen insgesamt schnellstmög- freien Zonen immer abgelehnt. Es ist uns besonders lich in Kraft treten kann. wichtig, das C-Waffen-Übereinkommen schnellstens zu ratifizieren; denn dieses Übereinkommen ist ein In diesem Zusammenhang darf ich an das neue globales und umfassend verifizierbares Modell für russische Parlament appellieren, die Ratifizierung eine kooperative Sicherheitspolitik und ist wegwei- zügig durchzuführen. Denn in Rußland lagern, wie send für zukünftige Rüstungskontrollmaßnahmen. schon mehrfach gesagt, ca. 40 000 C-Waffen. Ich Erstmals wird das Verbot einer ganzen Kategorie von glaube, nicht nur die Vorredner, sondern wir alle Massenvernichtungswaffen einem Kontrollsystem stimmen überein, daß Rußland diese Lasten alleine unterstellt, das nicht nur den militärischen Bereich nicht schultern kann. Wir müssen Rußland dabei umfaßt, sondern auch in den zivilen Bereich eingreift. helfen. Das liegt auch in unserem ureigenen Interesse. Das macht die Sache schwierig und zeitraubend. Das Ja der Bundesrepublik zum C-Waffen-Überein- Daher müssen die Staaten mit entwickelter Chemie- kommen, das wir heute übereinstimmend erklären industrie wie Deutschland nationale Umsetzungsre- wollen, muß daher auch ein klares Ja zu mehr Abrü- gelungen vor Inkrafttreten des Übereinkommens stungshilfe sein. erarbeiten. Mit 10 Millionen DM brutto — Herr Erler, Sie haben Ich will darauf besonders hinweisen und nochmals es bereits gesagt, und nach den Haushaltskürzungen betonen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wenn die sind es ja nur noch 9 Millionen DM — ist die deutsche C - Waffen - Konvention insgesamt zum frühestmögli- Abrüstungshilfe bisher, so schön und so gut dieser chen Zeitpunkt — das ist der 13. Januar 1995 — in eigene Titel auch ist, recht mager ausgestattet. Wir Kraft treten soll — das wollen wir alle —, dann müssen haben bei der Abrüstungshilfe Nachholbedarf. Ich 180 Tage vorher — also ein halbes Jahr vorher, stimme Ihrer Forderung nach mehr Mitteln für den nämlich bis zur Sommerpause, Anfang Juli 1994 — Abrüstungsfonds ausdrücklich zu, Herr Kollege Erler. 65 Ratifizierungsurkunden beim Generalsekretär der Vergessen wir nicht: Die Abrüstungshilfe zur Beseiti- Vereinten Nationen hinterlegt werden. Es ist also gung der C-Waffen dient unserer eigenen Sicher- höchste Zeit auch für uns. Denn bisher haben, wie heit. bereits gesagt, erst fünf Länder ratifiziert. (Beifall bei der F.D.P.) Deutschland war bisher Vorreiter bei den Bemü- hungen um die Beseitigung von C-Waffen. Ich Noch ein Wort zum vorliegenden KSZE - Abkom- schließe mich dem Lob des Kollegen Erler an die men. Das Übereinkommen über Vergleichs- und Regierung für die schnelle Einleitung des Ratifizie- Schiedsverfahren zwischen den KSZE-Staaten trägt rungsverfahrens an zur strukturellen Festigung der KSZE bei. Dieses (Beifall des Abg. Freimut Duve [SPD]) Übereinkommen gibt den Mitgliedstaaten ein Instru- ment zur Schlichtung und Beilegung von Streitigkei- und freue mich über den Beifall von der Opposition. ten innerhalb der KSZE. Denn dieses Übereinkommen (Freimut Duve [SPD]: Wo er recht hat, hat er sieht einen Gerichtshof sowie zwei Verfahrensarten recht!) vor, auf die ich kurz eingehen will. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19245

Dr. Olaf Feldmann Das Vergleichsverfahren ermöglicht, für jede Strei- Den Haag erfolgen. Herr Kollege Würzbach, wir tigkeit ein Verfahren einseitig einzuleiten. Das Ergeb- können nicht alles nach Bonn holen. Wir bemühen nis dieses Verfahrens ist für die Parteien allerdings uns, eine ganze Reihe von Institutionen nach Bonn zu nicht bindend. holen. Einiges wird hoffentlich gelingen; aber es Das Schiedsverfahren kann nur dann durchgeführt gelingt nicht alles. werden, wenn beide Seiten zuvor eine Unterwer- (Peter Kurt Würzbach [CDU/CSU]: Aber fungserklärung abgegeben haben. Maßgabe für die Platz hätten wir!) bindende Entscheidung der Schiedsgerichtsbarkeit ist ausschließlich das Völkerrecht. Zum dritten untersagt das Übereinkommen nicht Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns sicher nur die Entwicklung, die Produktion und die Weiter- einig: Wir wollen die Stärke des Rechts vergrößern gabe chemischer Waffen, sondern es verpflichtet die und nicht die der Waffen. Der Krieg auf dem Balkan Vertragsstaaten auch, Maßnahmen zu ergreifen, um zeigt, daß dies überfällig ist. Beide uns heute vorlie- die Verbreitung chemischer Waffen zu verhindern. genden Übereinkommen können — das hoffen wir — Es ist hier bereits über das wegweisende Verifika- den weltweiten Friedensprozeß positiv beeinflussen. tionssystem gesprochen worden. Ich darf noch einmal Die F.D.P. stimmt der Überweisung an die Aus- sehr deutlich unterstreichen, daß das Verbot der schüsse zu. Entwicklung und Herstellung solcher Waffen weit in Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. den zivilen Bereich hineinreicht — das hat zunächst (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der einige Schwierigkeiten gemacht, wie Sie wissen — und daß nun im Übereinkommen Chemikalien aufge- SPD) listet sind, die zwar für friedliche Produktionen benö- tigt werden, aber auch für die Produktion chemischer Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat Herr Waffen verwendbar sind. Staatsminister Helmut Schäfer das Wort. Zum erstenmal in der Geschichte der Abrüstung und Rüstungskontrolle erfaßt ein Rüstungskontrollab- Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen kommen einen gesamten Industriezweig. Die deut- Amt: Frau Präsidentin! Ich darf zu dem, was die sche chemische Industrie, der Verband der Chemi- Kollegen vorher gesagt haben, noch einige Anmer- schen Industrie, hat von Anfang an die Verhandlun- kungen machen. gen über das Übereinkommen sehr positiv begleitet Zunächst darf ich sagen, daß wir mit der Vorlage des und mit dazu beigetragen, daß wir Vorschläge Gesetzes zum Chemiewaffenübereinkommen und machen konnten, die beispielsweise in den USA eines ergänzenden Ausführungsgesetzes deutlich akzeptiert worden sind. machen wollen, daß wir die parlamentarische Zustim- Wir haben die Gesetzentwürfe aus vier Gründen als mung zur Ratifikation eines der bedeutendsten Abrü- eilbedürftig eingestuft: stungsabkommen der letzten Jahre möglichst bald vollziehen wollen. Erstens. Wir wollen unseren eigenen nationalen (Beifall bei der F.D.P.) Sicherheitsinteressen dienen. Als Erbe des Kalten Krieges und auch infolge von Konflikten in der Dritten Es ist völlig zu Recht gesagt worden — ich bedanke Welt gibt es auf unserer Erde — das ist hier sehr mich dafür —, daß mit dem Chemiewaffenabkommen deutlich ausgeführt worden — immer noch sehr große in der Geschichte der multilateralen Abrüstung ein Bestände an diesen Waffen. Kollege Erler hat sich die ganz großer Durchbruch zur umfassenden Ächtung Mühe gemacht, eine ganze Reihe von Staaten aufzu- einer ganzen Kategorie von Massenvernichtungs- zählen und auch die Probleme aufzuzeigen, die diese waffen gelungen ist. Herr Kollege Würzbach hat auch Staaten zum Teil haben und/oder uns aus den ver- den Anteil der Bundesregierung konkret gewürdigt. schiedensten Gründen noch machen werden. Eine Ich bin dankbar und darf das hier in aller Klarheit Vernichtung aller Bestände auf der Grundlage des sagen, daß über die Grenzen der Regierungsparteien Übereinkommens trägt in erheblichem Maß auch zu hinweg hier deutlich geworden ist — ich hoffe, daß unserer Sicherheit bei. alle Seiten des Hauses das auch anerkennen —, was in sehr mühseligen Verhandlungen mit sehr vielen Staa- Zweitens unterstreicht die frühzeitige Ratifikation ten und mit sehr vielen unterschiedlichen Interessen unsere Vorreiterrolle und das nachdrückliche Enga- geleistet werden konnte. gement der Bundesregierung bei der Nichtverbrei- Zum ersten verbietet das Übereinkommen jegli- tung von Massenvernichtungswaffen. Deutschl and chen Einsatz chemischer Waffen. Es geht deshalb hat im Protokoll zum Brüsseler Vertrag schon 1954 auf über das Genfer Protokoll von 1925 hinaus, das nur die die Herstellung von Chemiewaffen verzichtet. Es hat Verwendung von chemischen Waffen in internationa- diesen Verzicht im Vertrag über die abschließende len bewaffneten Konflikten geächtet hat. Regelung in bezug auf Deutschland vom 12. Septem- ber 1990 bekräftigt. Zum zweiten verlangt das Übereinkommen die Vernichtung aller auf dem Hoheitsgebiet der Ver- Mit einer frühzeitigen Ratifikation werden wir auch tragsstaaten vorhandenen Chemiewaffen und Ein- wiederholten Aufrufen der Staatengemeinschaft ge- richtungen zu ihrer Herstellung innerhalb von zehn recht. Zuletzt haben die Staats- und Regierungschefs Jahren. Ihre Vernichtung wird unter Kontrolle einer der NATO am 11. Januar dieses Jahres zur frühzeiti- bereits im Aufbau befindlichen internationalen Orga- gen Ratifikation des Chemiewaffenübereinkommens nisation für das Verbot chemischer Waffen mit Sitz in aufgerufen. 19246 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Staatsminister Helmut Schäfer Schließlich — das ist mir sehr wichtig — verschafft Mir ist bewußt, Herr Kollege Feldmann, meine uns eine zügige Ratifikation hier die politische Legiti- Damen und Herren, daß die Konversion, die Vernich- mation, bei anderen Staaten für deren zügige Ratifi- tung von Massenvernichtungswaffen, gerade in Ruß- kation einzutreten. land, aber nicht nur dort große finanzielle Anstren- gungen erfordern wird. Sie haben zu Recht darauf (Dr. Olaf Feldmann [F.D.P.]: So ist es!) hingewiesen, daß wir uns bei diesen Anstrengungen Ich darf hier ausdrücklich sagen — die Zahlen sind ja möglicherweise mehr beteiligen müssen. genannt worden —, daß es des ausdauernden Enga- Sie sitzen neben einem Vertreter des Haushaltsaus- gements der Bundesregierung bedürfen wird, urn schusses, Herrn Kollegen Weng, der Ihnen wahr- mehr Staaten dazu zu bringen, schneller zu ratifizie- scheinlich schon soeben bei der angeregten Unterhal- ren. Ich darf Sie, alle Fraktionen des Deutschen tung mit Ihnen deutlich gemacht hat, daß das nicht so Bundestags, herzlich bitten, dabei mitzuwirken und einfach sein wird. Ich darf an das erinnern, was ich Ihre Einflußmöglichkeiten auch inte rnational für eine neulich gesagt habe: Deutschland stellt natürlich im schnellere Ratifikation dieses Abkommens einzuset- Hinblick auf den Aufbau dieser Staaten erheblich zen. mehr Mittel zur Verfügung als fast alle unsere Noch einige Erläuterungen zum vorliegenden Ent- Freunde und Nachbarn. Wir müssen eine gewisse wurf eines Gesetzes zum Übereinkommen vom Arbeitsteilung haben; wir können nicht in allen Berei- 15. Dezember 1992 über Vergleichs- und Schiedsver- chen mit noch höheren Mitteln — ich glaube, ich fahren innerhalb der KSZE. Die Stärkung des Grund- spreche in Ihrem Sinne, Herr Weng, wenn ich das jetzt satzes, Streitigkeiten ausschließlich mit f riedlichen sage — neue Versprechungen machen. Wir leisten im Mitteln beizulegen, war von jeher auch zentrales Vergleich zu den meisten europäischen Staaten und Anliegen der Konferenz über Sicherheit und Zusam- auch zu den Vereinigten Staaten von Amerika sehr menarbeit in Europa. Nun sind auf Grund der Verän- viel mehr für den Aufbau Rußlands und vieler Staaten derungen auf unserem Kontinent Chancen auch für in Osteuropa. Ich glaube, dann müssen wir diesen die Schaffung effektiver Instrumente zur friedlichen Staaten aber auch sagen: Ihr müßt bei dem Umbau der Streitbeilegung eröffnet. Massenvernichtungswaffen etwas mehr tun, als bei- spielsweise wir es können! Wir sind an der Grenze Das nicht unbeträchtliche Konfliktpotential gerade unserer Möglichkeiten angelangt. Trotzdem wissen auch in Mittel- und Osteuropa verdeutlicht die Not- wir, wie schwierig das Problem ist, und wissen wir, daß wendigkeit, neben politisch bindenden Mechanismen wir auch in Zukunft zur Lösung dieses Problems auch ein rechtlich bindendes Instrument zur Verfü- beitragen müssen. gung zu stellen. Vor diesem Hintergrund zielt die Vielen Dank. deutsch-französische Initiative darauf ab, den KSZE- Staaten zur Beilegung von Streitigkeiten eine Ver- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gleichs- und Schiedsinstanz an die Hand zu geben. Nach seinem Inkrafttreten wird das Übereinkommen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Frau Kollegin die KSZE in einem ihrer wichtigsten Aufgabenberei- Lederer, Sie haben jetzt das Wort. che, der Konfliktprävention, stärken. Meine Damen und Herren, ich glaube bei allem, Andrea Lederer (PDS/Linke Liste): Frau Präsiden- was in diesem Verfahren noch an gewissen Hemm- tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fälle sind schwellen vorhanden ist, und der Tatsache, auf die wahrlich relativ rar, in denen wir Gesetzentwürfen der Kollege Feldmann hingewiesen hat, daß die Parteien Bundesregierung zustimmen können. In der zweiten zuvor eine Unterwerfungserklärung abgegeben ha- bzw. in der dritten Lesung ist das diesmal natürlich der ben: Wir werden mit diesem Instrument in der KSZE Fall. Wir begrüßen die Regelungen über Vergleichs- im Sinne der Prävention mehr bewirken können. Es und Schiedsverfahren innerhalb der KSZE wie auch geht darum, daß die KSZE mehr und mehr den die Ratifizierung und die Umsetzung des Chemiewaf- Aufgaben, die sie sich gestellt hat, gerecht wird. Dafür fenübereinkommens. ist dieses Instrument sehr wichtig. Ich will auch angesichts der späten Stunde und der Meine Damen und Herren, es ist zu Recht gesagt knappen Besetzung des Plenums, was vielleicht bei worden, daß wir mit diesem wichtigen Abrüstungsab- der zweiten und dritten Lesung zeitlich einfach anders kommen über die Chemiewaffenbeseitigung einen organisiert werden kann, auf ein paar Punkte einge- ganz entscheidend wichtigen Prozeß einleiten und ihn hen, und zwar auf kritische Punkte, bei denen wir zu Ende bringen. Damit aber ist natürlich das Problem meinen, daß auf jeden Fall noch nachverhandelt bzw. der Abrüstung und Abrüstungskontrolle nicht gelöst. etwas mehr erreicht werden muß. Der Jahresabrüstungsbericht hat deutlich gemacht, Im Hinblick auf die KSZE erscheint uns eines von daß wir auf der Agenda auch nach Beendigung des Bedeutung, und zwar der Widerspruch zwischen der Ost-West-Konflikts noch eine Fülle wichtiger Themen Rhetorik und der finanziellen Ausstattung der KSZE. stehen haben. Ich darf noch einmal deutlich sagen: Das heißt, es wird allenthalben betont, welche Bedeu- Die Bundesregierung will in den kommenden Jahren tung die KSZE hat. Ich erinnere an das Wort des ganz entschieden — das drückt sie in ihrem Abrü- Bundesaußenministers, wonach die KSZE die Kultur stungsbericht aus — dazu beitragen, die Nichtverbrei- des Gewaltverzichts entwickelt habe, was wir nur tung von Massenvernichtungswaffen zum obersten unterstreichen können, aber auf der anderen Seite die Ziel der Agenda zu machen. Auch das wird vielleicht Ausstattung der KSZE zur Umsetzung ihrer Aufgaben nach dem Gelingen dieses Chemiewaffenüberein- nach wie vor äußerst dürftig ist. Und in Konkurrenz zu kommens leichter werden. anderen Institutionen wie UNO, NATO, NATO- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19247

Andrea Lederer Kooperationsrat, WEU, Europäische Union etc. wird daß auch solche Fakten Gegenstand des Abkommens dann, wie ich glaube, deutlich, daß die Bundesregie- sind. rung leider doch nicht in dem Maße auf die KSZE zu Ansonsten werden wir im Rahmen der zweiten und setzen versucht, wie es erforderlich ist. Wir denken, der dritten Lesung beiden Gesetzentwürfen zustim- daß hier ganz andere Prioritäten gesetzt werden men. müßten, anstatt über inte rnationale Bundeswehrein- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) sätze im Rahmen anderer Institutionen zu diskutie- ren. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- Zum Chemiewaffenübereinkommen, das wir — wie lege Dr. Christian Ruck das Wort. ich nur noch einmal betonen kann — überaus begrü- ßen, ist folgendes zu sagen: Zum einen gibt- es — das ist vielleicht eine Nebensächlichkeit — für mich Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Frau Präsidentin! einfach einen Widerspruch: Warum ist der Einsatz von Meine Damen und Herren! Es fällt schwer, in den Reiz- und Tränengasen innerhalb der Bundesrepublik Tagen der schwierigen Lage in Gorazde über friedli- zulässig, wenn diese andererseits in diesem Überein- che Streitbeilegung zu sprechen. Aber wenn wir uns kommen unter die Ächtung fallen? Ich glaube, man an die erfolgreichen Maßnahmen solcher Bemühun- müßte darüber nachdenken, warum das so ist, und gen auf Zypern, in Namibia oder in El Salvador man sollte eine entsprechende Änderung herbeifüh- erinnern, erscheint die Diskussion über neue Formen ren. dieser Streitschlichtung nicht ganz sinnlos. Ein weiterer Problempunkt, den ich nennen will, ist Auch die KSZE hat kleine, dennoch wichtige und die Tatsache, daß einzelne Staaten relativ uneinge- hoffnungsvolle Missionen zur friedlichen Streitbeile- schränkt darüber entscheiden können, in welcher Art gung und Konfliktvorbeugung unternommen, und und Weise die Vernichtung der Waffen und Anlagen dies vielfach auch mit deutscher Mitwirkung, wie in erfolgt. Angesichts der Gesundheits- und Umweltrisi- Georgien, in Estland, der Republik Moldau und seit ken halten wir das für problematisch. Ich glaube, auch neuestem auch in Tadschikistan. Das sind natürlich hier sollte eigentlich in weiteren Verhandlungen noch bescheidene Anfänge in der KSZE. Sie haben ihre einiges erreicht werden. Wirkung dennoch bisher nicht verfehlt und sind ein Signal dafür, daß die KSZE mehr sein kann und will als Ein dritter Punkt, der hier mehrmals angesprochen ein zeitraubender Debattierklub. Wir sollten die KSZE worden ist, ist die Tatsache, daß die Vernichtung von darin bestärken und unterstützen. Waffen natürlich überaus teuer ist. Die 1993 als Eine neue Möglichkeit dazu ist der Gesetzentwurf Unterstützung bewilligten 4 Millionen DM der Bun- der Bundesregierung zu dem Übereinkommen über desrepublik an Rußland beispielsweise sind ange- Vergleichs- und Schiedsverfahren innerhalb der sichts der anfallenden Kosten von 8 bis 9 Milliarden KSZE. Damit wird, wie erwähnt, eine neue Ver- DM nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wenn wir gleichs- und Schiedsinstanz für Streitigkeiten der vielleicht einige der Mittel, die jetzt zur Ausstattung KSZE-Staaten errichtet und ein Streitbeilegungsver- bundesdeutscher Krisenreaktionskräfte zur Verfü- fahren geschaffen, das zumindest in wichtigen Teilen gung gestellt werden, dafür nutzen würden, auch in für die Parteien des Übereinkommens obligatorisch diesem Bereich mehr zu tun, dann wäre für den ist. Dies geht vor allem auf eine deutsch-französische Frieden eigentlich mehr getan als durch die Maßnah- Initiative zurück. Nachdem das Auswärtige Amt hier men, die die Bundesregierung leider anpeilt. schon mehrmals zu Recht gelobt wurde, darf auch ich Der nächste Punkt, den ich ansprechen will — ich mich im Namen meiner Fraktion habe das Protokoll des Unterausschusses für Abrü- (Helmut Schäfer [Mainz] [F.D.P.]: Die Bun stung nachgelesen, das ich sehr deprimierend fand —, desregierung sitzt im Volk! — Gegenruf des betrifft die Tatsache — auch das ist erwähnt worden —, Abg. Freimut Duve [SPD]: Manchmal darf daß Chemiewaffen, die vor 1977 vergraben und vor die Regierung unter das Volk gehen!) 1985 im Meer versenkt worden sind, nicht unter dieses ganz herzlich für das Engagement und die Power Abkommen fallen. Wenn man nachliest, welche Fol- bedanken, mit der Sie das hinbekommen haben. gen bereits bekannt sind — ich glaube, ich habe vom Kollegen Feldmann den Zwischenruf gehört: Hoffent- (Beifall bei der F.D.P.) lich kommen diese Sachen nicht hoch —, dann wird Das ist, wie gesagt, eine deutsch-französische Initia- deutlich, daß da zum Teil natürlich einiges hoch- tive. Doch entspricht dies dem Wunsch besonders der kommt. Man kann also nur ahnen, wie schlimm es sein neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa, die könnte, wenn das so bleibt. Da müssen wir leider bislang kaum Erfahrung im Umgang mit internationa- feststellen, daß die Bundesregierung offenkundig len Gerichtshöfen sammeln konnten. Vor dem Zusam- nicht mit der Vehemenz versucht hat, auch solche menbruch des Eisernen Vorhangs haben sich die vergrabenen oder versenkten Waffen zu erfassen, Länder des damaligen Ostblocks regelmäßig vehe- wie es erforderlich gewesen wäre, und das gerade ment gegen jede Form zwischenstaatlicher Gerichts- angesichts der Verantwortung, die dieses Land hat. barkeit gewehrt. Der Nachholbedarf hat nun zu die- sem Übereinkommen geführt, das als eines der ganz (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: wenigen KSZE-Dokumente bisher mehr ist als eine Das stimmt einfach nicht!) politische Verpflichtung und im vereinbarten Wir hoffen wirklich sehr, daß auch hier, wie es schon Schiedsverfahren auch völkerrechtliche Bindung hat. angesprochen worden ist, noch einmal nachverhan- Für viele der neuen Demokratien im Osten ist dies ein delt und mit aller Vehemenz darauf gedrängt wird, großer Schritt. Die Tatsache, daß Deutschland und 19248 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Dr. Christian Ruck Frankreich dabei maßgebliche Hebammendienste gaben verwendet. Unser Beitragsanteil beträgt zur geleistet haben, ist, glaube ich, ein gutes Zeichen für Zeit gerade einmal 10 % dessen, was wir dem Euro- mehr Vertrauen zwischen Ost und West. Wir sollten parat stiften. jedenfalls im Deutschen Bundestag keinen Zweifel Wichtig ist jedoch, daß wir Parallelarbeit so weit wie daran lassen, daß wir den vorliegenden Gesetzent- möglich vermeiden. Dies bedeutet eine bessere Koor- wurf ohne Wenn und Aber verabschieden werden. dination, und zwar zum einen mit der Europäischen Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zur Union und dein Europarat, wenn es um Menschen- fortgeschrittenen Stunde an dieser Stelle noch einige rechts- und Minderheitenfragen geht. Hier hat die Sätze zur KSZE vorbringen, weil ich das für sehr KSZE teilweise klare komparative Vorteile. Politisch wichtig halte. Der KSZE geht es ähnlich wie den fast noch wichtiger ist jedoch eine funktionierende Vereinten Nationen: Nach dem Ende des- Kalten Arbeitsteilung mit den Vereinten Nationen, vor allem Krieges war sie von den Erwartungen heillos überfor- im Bereich von peace-keeping und peace-enforce- dert. Nun droht die Enttäuschung in Resignation ment. umzuschlagen. Dies wäre falsch; denn sowohl die UNO als auch die KSZE haben ihre neuen Spielräume Das anfänglich leicht gestörte Verhältnis zwischen durchaus genutzt. Für die UN wären umfassende UN und KSZE ist in letzter Zeit sehr pragmatischen Maßnahmen wie z. B. in Kambodscha noch vor eini- Ansätzen einer verstärkten Kooperation gewichen, gen Jahren undenkbar gewesen. bei der sich folgende Arbeitsteilung herauskristalli- sieren könnte: Die KSZE als anerkannte regionale Die KSZE hat sich in den letzten vier Jahren einen Abmachung im Sinne der UN-Charta leistet in ihrem ordentlichen organisatorischen Unterbau geschaffen, Geltungsbereich und im Rahmen der friedlichen ein permanentes Entscheidungsgremium und ein ein- Streitbeilegung die Vorfeldarbeit auf einer niedrige- heitliches Sekretariat in Wien mit einem deutschen ren Interventionsschwelle und natürlich auch unter Landsmann als Generalsekretär. Ihr 1992 ernannter Zuhilfenahme von UN-Einrichtungen, z. B. im Bereich Hoher Kommissar für nationale Minderheiten hat eine der Früherkennung. zunehmend wichtige Funktion, vor allem in den neuen östlichen Demokratien, z. B. in Estland. Ist jedoch eine Konfliktbeilegung ohne Zwangs- maßnahmen aussichtslos, kann die KSZE auf die Die tatkräftig geleistete internationale Aufbauhilfe Vereinten Nationen und deren Möglichkeiten nach der KSZE in vielen Ländern, ihre mittlerweile fast ein den Kapiteln VI und VII der Charta zurückgreifen. Dutzend laufender oder unmittelbar bevorstehender Dieser Übergang von einer horizontalen auf eine operativer Missionen zur Konfliktprävention und die vertikale Aufgabenverteilung zwischen UN und Einsetzung des Gerichtshofes, aber z. B. auch die im KSZE im Sinne einer flexible response setzt zweierlei Vergleich zur UNO sehr hohe Zahlungsmoral ihrer voraus: erstens eine bessere politische und technische Mitglieder geben, glaube ich, auch für den Deutschen Verknüpfung der Gremien beider Organisationen Bundestag Anlaß, die KSZE ernster zu nehmen und sie und zweitens, daß die UN mehr Biß bekommt im Sinne in ihrem weiteren Aufbau aktiv zu unterstützen. der Vorstellungen, die wir im Deutschen Bundestag Dies gilt vor allem für zwei Bereiche, nämlich die vor einigen Monaten verabschiedet haben. Unter Verbesserung der materiellen und personellen Infra- diesen Bedingungen aber könnte eine solche Arbeits- struktur und die krisenfeste Koordination mit anderen teilung zum Vorbild auch für eine wirksamere präven- internationalen Organisationen. tive Diplomatie in anderen Teilen der Welt werden. Die Infrastruktur ist nach wie vor ein Torso. Das Meine sehr verehrten Damen und Herren, von der wird im operativen Engagement besonders deutlich. Öffentlichkeit eher unbemerkt, hat die KSZE in den Die KSZE braucht hier mehr qualifiziertes Personal letzten Jahren bemerkenswerte erste Schritte bei der mit spezieller Ausbildung. Wir diskutieren ja auch bei friedlichen Streitbeilegung in ihrer Region getan. Für uns die Einrichtung einer Ausbildungsstätte für Blau- viele der neuen Demokratien im Osten mit ihrer helme, die auch ausländischem Personal offenstehen eigenen Nachkriegsgeschichte war dies ein langer sollte. Diese könnte auch zur Vorbereitung und Schu- Weg, auf den sie stolz sind. Dort ist die KSZE mehr als lung von KSZE-Missionären dienen. Eine weitere im Westen eine internationale Organisation, mit der Möglichkeit wäre, im Auswärtigen Amt ein Kontin- man sich identifiziert, weil sie auch die eigene H and- gent von Leerstellen für deutsche KSZE-Spezialisten schrift trägt. vorzuhalten, die im Bedarfsfall aktiviert werden könn- Die KSZE hat noch ein erstaunliches Potential, das ten. stärker genutzt werden könnte. Der neue Gerichtshof Ausbaubedürftig ist auch die Analysekapazität der kommt hinzu. Viele Instrumente der KSZE sind auch KSZE zur frühzeitigen Erkenntnis, wo etwas anbren- auf innerstaatliche Konflikte zugeschnitten, die nen könnte. Schließlich ist mit aller Vorsicht zu zunehmen werden, und dies in einer Region, die nach überlegen, ob die Arbeit der KSZE erleichtert würde, Meinung vieler Experten ein besonderes Pulverfaß wenn ihre verschiedenen Einrichtungen nicht über ist. halb Europa verstreut wären. Weder kann die KSZE die UN ersetzen, noch Die Gefahr, daß ein Ausbau der KSZE-Infrastruktur können beide gar die NATO ersetzen. Die Katastro- gleichzeitig eine neue Superbürokratie bedeutet, die phe in Ex-Jugoslawien zeigt, wie verheerend es sein uns als einem der bedeutendsten Beitragszahler wie kann, wenn hinter den Regeln der friedlichen S treit- ein Klotz am Bein hängt, ist nicht akut. Das KSZE- beilegung nicht der feste Wille der einzelnen Staaten Personal umfaßt derzeit rund hundert fest Bedien- steht, Leben und Freiheit bedrohter Menschen notfalls stete. 70 % der Geldmittel werden für operative Auf mit Gewalt zu verteidigen. Eine größere Einbindung Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19249

Dr. Christian Ruck und Stärkung der KSZE könnte aber wenigstens dazu Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, gestatten Sie mir beitragen, daß sich nicht vor unserer Haustür solche vielleicht eine ganz kleine Anmerkung. Ich glaube, Katastrophen häufen. daß die letzten zwei oder drei Tagesordnungspunkte (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Gegenstand wichtiger Debatten waren. Wir haben sie hier in einem Kreis diskutiert, der deutlich kleiner ist, als der Kreis gewesen wäre, wenn wir dieselben Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als letzter hat nun Vorlagen in den Ausschüssen in öffentlicher Sitzung der Kollege Freimut Duve das Wort. diskutiert hätten. Es lag an Ihnen, daß das nicht in öffentlicher Sitzung im Ausschuß diskutiert worden Freimut Duve (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolle- ist; wir haben ja nach unserer Geschäftsordnung die gen! Es ist spät. Es wäre jetzt interessant, Herr Kollege, Möglichkeit, das heute noch zu tun. Ich glaube, wir über sehr viele Fragen, die sich zu dem Verfahren und würden uns alle einen Gefallen erweisen, wenn wir dem Gesetzesvorschlag ergeben, zu diskutieren. Das jetzt nicht so verfahren würden wie bei den nächsten werden wir im Ausschuß machen. zwei Tagesordnungspunkten. Zu diesen Tagesord- Ich begrüße es, daß es das Gesetz gibt. Ich möchte nungspunkten 13 und 14 wurde gebeten, daß die an dem Tag, an dem wir hier über die Wirklichkeit in Kollegen ihre Redebeiträge zu Protokoll geben. KSZE-Mitgliedstaaten, nämlich über Gorazde, disku- Wir sollten uns vornehmen, bei solchen Tagesord- tiert haben und gleichzeitig über dieses Traumgebilde nungspunkten das zu tun, was wir tun wollen, anstatt eines funktionierenden Schlichtungsverfahrens und uns diese Art von Debatten hier laufend anzutun. Gerichtshofs sprechen, einfach nur aus der Präambel Ich habe das deshalb hier gesagt, weil es vielleicht zitieren: dazu dient, dies einmal etwas zu verbreitern. Sie In Bekräftigung ihrer feierlichen Verpflichtung, müssen in den Ausschüssen tätig werden. Hier ist es Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln beizulegen, dann zu spät. Es ist auch zu spät, im Ältestenrat und ihres Beschlusses, Mechanismen zur Beile- darüber zu diskutieren, sondern die Initiative muß von gung von Streitigkeiten zwischen Teilnehmer- Ihnen in den Ausschüssen ausgehen. Mir ist es eigent- staaten zu entwickeln, eingedenk dessen, daß lich Wurscht, ob ich hier oder in meinem Büro arbeite. allein schon die vollständige Verwirklichung Aber ich glaube, wir tun der Sache keinen Dienst, aller KSZE-Prinzipien und -Verpflichtungen ein wenn wir in dieser Art und Weise weitermachen. wesentliches Element zur Verhinderung von (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Streitigkeiten zwischen den Teilnehmerstaaten ist... Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 a und b auf: Wenn man diese Sätze liest und gleichzeitig sieht, a) Zweite und dritte Beratung des von der Bun- daß drei Mitgliedstaaten — bei einem ruht die Mit- desregierung eingebrachten Entwurfs eines gliedschaft — in das verwickelt sind, was wir heute Gesetzes zur Änderung von Rechtsvorschrif- diskutiert haben, dann sieht man die ungeheure ten auf dem Gebiet der Seeschiffahrt Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit von machtpo- — Drucksache 12/6153 — litischen Auseinandersetzungen und dem, was sich Staaten im Wortlaut von völkerrechtlichen Selbstver- (Erste Beratung 196. Sitzung) pflichtungen erarbeiten. Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- Man kann dann eigentlich nur sagen: Wir müssen schusses für Verkehr (16. Ausschuß) den Weg weitergehen. Wir haben gesehen, daß so — Drucksache 12/6859 — Rechtsgeschichte entstanden ist, überall, immer mit Berichterstattung: dieser Fiktion, daß eines Tages einmal danach und Abgeordnete Dr. Margrit Wetzel nicht nach dem Faustprinzip gehandelt wird. Es ist ein b) Beratung der Beschlußempfehlung und des bißchen eine Sisyphosdiskussion. Aber ohne Sisyphos Berichts des Ausschusses für Verkehr (16. Aus- fällt der Stein auf uns alle. Deshalb bringen wir das ein schuß) zu dem Antrag der Abgeordneten Diet- und hoffen, noch ein bißchen über die Fragen, die mit mar Schütz, Dr. Margrit Wetzel, Michael Müller dem Gesetz verbunden sind, diskutieren zu können. (Düsseldorf), weiterer Abgeordneter und der Ich wünsche einen schönen Abend. Fraktion der SPD (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Notwendige Maßnahmen zur Vermeidung von F.D.P.) Öltankerunfällen und deren katastrophale Folgen für Mensch und Natur Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Wortmel- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ma ria dungen liegen mir nicht vor. Damit schließe ich die Böhmer, Wilfried Bohlsen, Dr. Rolf Olderog, Aussprache. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Interfraktionell wird die Überweisung auf den CDU/CSU sowie der Abgeordneten Manfred Drucksachen 12/7137, 12/7206 und 12/7207 an die in Richter (Bremerhaven), Horst Fried rich, Ekke- der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- hard Gries, weiterer Abgeordneter und der schlagen. Die Gesetzentwürfe zum Chemiewaffen- Fraktion der F.D.P. übereinkommen auf den Drucksachen 12/7206 und Prävention und Bekämpfung von Öltankerun- 12/7207 sollen zusätzlich an den Ausschuß für Wirt- fällen schaft überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gregor Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Darm sind die Gysi, Dr. Barbara Höll und der Gruppe der Überweisungen so beschlossen. PDS/Linke Liste Verbesserung der Sicherheit 19250 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Vizepräsidentin Renate Schmidt von Tankschiffen zum Schutz von Menschen Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 a und b und der Umwelt auf:

— Drucksachen 12/4267, 12/4307, 12/5265, a) Erste Beratung des von der Bundesregierung 12/6736 — eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Berichterstattung: Änderung schuldrechtlicher Bestimmungen im Abgeordnete Dr. Margrit Wetzel Beitrittsgebiet (Schuldrechtsänderungsgesetz — SchuldRÄndG) Ich erbitte Ihre Zustimmung, daß die Redebeiträge zu Protokoll gegeben werden dürfen. — Ich sehe — Drucksache 12/7135 — keinen Widerspruch. Es wird so verfahren.*) Überweisungsvorschlag: Ich komme damit zur Abstimmung über den von der Rechtsausschuß (federführend) Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Änderung von Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Seeschiffahrt auf den Drucksachen 12/6153 und 12/6859. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf b) Erste Beratung des von dem Abgeordneten in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Dr. Wolfgang Ullmann und der Gruppe BÜND- Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltun- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs gen? — Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera- eines Gesetzes zum Schutz der vertraglichen tung angenommen. Nutzungen von Erholungsgrundstücken Wir kommen zur — Drucksache 12/7229 — dritten Beratung Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß (federführend) und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Finanzausschuß Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Auch hier bitten die Kollegen und Kolleginnen, ihre Damit ist der Gesetzentwurf angenommen. Redebeiträge zu Protokoll geben zu dürfen. Gibt es Wir kommen nun zur Abstimmung über die dafür Einverständnis? — Das ist der Fall.* ) Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr zu den Anträgen der Fraktion der SPD und der Fraktio- Damit komme ich zu den Abstimmungen. Hier wird nen der CDU/CSU und F.D.P. zur Vermeidung und interfraktionell Überweisung der Gesetzentwürfe auf Bekämpfung von Öltankerunfällen auf der Drucksa- den Drucksachen 12/7135 und 12/7229 an die in der che 12/6736. Der Ausschuß empfiehlt unter Buchstabe Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- A seiner Beschlußempfehlung, die Anträge auf den gen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist Drucksachen 12/4267 und 12/4307 zusammenzufas- nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos- sen und in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer sen. stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegen- Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages- probe! — Enthaltungen? — Damit ist diese Beschluß- ordnung. empfehlung einstimmig angenommen. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Unter Buchstabe B seiner Beschlußempfehlung auf destages auf morgen, Freitag, 22. Ap Drucksache 12/6736 empfiehlt der Ausschuß für Ver- ril 1994, 9 Uhr ein. kehr, den Antrag der Gruppe PDS/Linke Liste zur Verbesserung der Sicherheit von Tankschiffen zum Ich wünsche Ihnen eine schöne, gute Nacht und Schutz von Menschen und der Umwelt für erledigt zu noch erfreuliches Arbeiten. erklären. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Damit ist Die Sitzung ist geschlossen. diese Beschlußempfehlung einstimmig angenom- men. (Schluß der Sitzung: 22.32 Uhr)

*) Anlage 5 *) Anlage 6

Berichtigung

221. Sitzung, Seite II, linke Spalte, dritte Zeile: Der Text „Milderung der Auswirkungen städtebaulicher Entwicklungsmaßnahmen auf Land- und Forstwirte" ist zu streichen. In der nächsten Zeile ist die Zahl „41" ebenfalls zu streichen. Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19251*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 21. 4. 94 Christian entschuldigt bis Abgeordnete(r) Sothmann, Bärbel CDU/CSU 21. 4. 94 einschließlich Dr. Sperling, Dietrich SPD 21. 4. 94 Steiner, Heinz-Alfred SPD 21. 4. 94** Bartsch, Holger SPD 21. 4. 94 Wieczorek (Duisburg), SPD 21. 4. 94 Beckmann, Klaus F.D.P. 21. 4. 94 Helmut Borchert, Jochen CDU/CSU 21. 4. 94 Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 21. 4. 94 Wohlrabe, Jürgen CDU/CSU 21. 4. 94 Brähmig, Klaus CDU/CSU 21. 4. 94 Zierer, Benno CDU/CSU 21. 4. 94 Büttner (Ingolstadt), Hans SPD 21. 4. 94 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- Ehrbar, Udo CDU/CSU 21. 4. 94 lung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union Francke (Hamburg), CDU/CSU 21. 4. 94 Klaus

Fuchs (Verl), Katrin SPD 21. 4. 94 Anlage 2 Ganschow, Jörg F.D.P. 21. 4. 94 Zu Protokoll gegebene Rede Dr. Gautier, Fritz SPD 21. 4. 94 zum Zusatztagesordnungspunkt 1 (Entwurf eines Gleichberechtigungsgesetzes Gerster (Mainz), CDU/CSU 21. 4. 94 und Entwurf eines Gleichstellungsgesetzes) Johannes

Gries, Ekkehard F.D.P. 21. 4. 94 Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Henn, Bernd PDS/Linke 21. 4. 94 Die Gleichstellung von Männern und Frauen in unse- Liste rer Gesellschaft muß zentrales Anliegen einer Reform- politik sein, die sich an den Menschenrechten orien- Dr. Köhler (Wolfsburg), CDU/CSU 21. 4. 94 tiert. Durch die tradierte Geschlechterrolle sind Volkmar Frauen in unserer Gesellschaft nach wie vor benach- teiligt. Frauen haben in vielen Lebensbereichen nicht Dr. Kohl, Helmut CDU/CSU 21. 4. 94 dieselben Möglichkeiten wie Männer. Fast immer ist Koschnick, Hans SPD 21. 4. 94 es für sie ungleich schwieriger, sich selbst zu verwirk- lichen und verantwortliche Aufgaben in dem Maße zu Dr. Matterne, Dietmar SPD 21. 4. 94 übernehmen, wie das Männer für sich selbstverständ- Meckel, Markus SPD 21. 4. 94 lich beanspruchen. Nirgends anders ist das so auffällig wie im Berufs- Dr. Menzel, Bruno F.D.P. 21. 4. 94 leben. Obwohl doch außer Zweifel steht, daß Frauen Dr. Mildner, Klaus CDU/CSU 21. 4. 94 so gut wie Männer, oft aber viel besser verantwortli- Gerhard che Positionen einnehmen können und in allen Beru- fen Hervorragendes leisten, werden sie weiterhin Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 21. 4. 94 diskriminiert. Berufstätige Frauen sind in aller Regel Dr. Müller, Günther CDU/CSU 21. 4. 94' einer enormen Mehrfachbelastung ausgesetzt. Sie sind neben ihrer Erwerbstätigkeit gefordert als Mütter Müller (Wesseling), CDU/CSU 21. 4. 94 und Hausfrauen. Oftmals leisten sie zusätzlich noch Alfons weitere sozial wichtige Arbeit. Doch das alles wird von Dr. Neuling, Christian CDU/CSU 21. 4. 94 der Gesellschaft kaum honoriert. Hier mehr Gerechtigkeit zu schaffen und Frauen Neumann (Go the ), SPD 21. 4. 94 stärker zu fördern, ist das Anliegen der vorliegenden Gerhard Gesetze zur Gleichstellung. Der Regierungsentwurf Paintner, Johann F.D.P. 21. 4. 94 ist nach Auffassung der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht geeignet, eine grundsätzliche Verän- Dr. Pfennig, Gero CDU/CSU 21. 4. 94 derung herbeizuführen. Mit vielen Vorschlägen des Rahardt-Vahldieck, CDU/CSU 21. 4. 94 SPD-Entwurfes hingegen stimmen wir überein. Den- Susanne noch muß uns bewußt bleiben, daß auch das beste Gesetz nur die Rahmenbedingungen verändern kann. Dr. Schmude, Jürgen SPD 21. 4. 94 Die eigentliche Durchsetzung ist ein Prozeß, in der die Schröter, Gisela SPD 21. 4. 94 Gesellschaft insgesamt gefordert ist. Gerade wir Män- ner sollten dabei die Forderungen der Frauen ernst- Schröter, Karl-Heinz SPD 21. 4. 94 haft mittragen. 19252* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Ich selbst habe mich lange gesträubt, die Quote als die Familie und für unser Gemeinwesen leisten, muß ein vernünftiges Instrument zur Gleichstellung von endlich angemessen anerkannt werden. Frauen und Männern anzuerkennen. Es widersprach Ich bin überzeugt, daß unsere Gesellschaft durch meinen Überzeugungen, ein derartiges Zwangsmittel die gleichberechtigte Teilhabe der Frauen bereichert gutzuheißen. Doch ich habe einsehen müssen, daß nur wird. Der Gesetzentwurf der SPD räumt einige Steine die wenigsten Männer fähig sind, von sich aus auch aus dem Weg, doch bei weitem nicht alle. Hier bleibt nur einen Fußbreit des einmal eroberten Territoriums uns, Frauen wie Männern, noch viel zu tun. freizugeben und auf angestammte Privilegien zu verzichten. Das gilt insbesondere für das berufliche und öffentliche Leben. - Deshalb akzeptiere ich das Konzept, durch Quotie- rung die Voraussetzung für Chancengleichheit zu Anlage 3 schaffen. Ich wünschte mir allerdings, daß das überall so pragmatisch und flexibel gehandhabt wird, wie es Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten das neue Frauenstatut von BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Anneliese Augustin, Maria Eichhorn, , Leni NEN ermöglicht. Danach kann vom Grundsatz der Fischer (Unna), Dr. Sissy Geiger (Darmstadt), Elisa Quote abgewichen werden, wenn eine Mehrheit der beth Grochtmann, Gerda Hasselfeldt, Maria Anna betroffenen Frauen dem zustimmt. Hiebing, Susanne Jaffke, Karin Jeltsch, Eva-Maria Ich denke, gerade der Wirtschaft würde eine derar- Kors, Dr. Ursula Lehr, Sigrun Löwisch, Dr. Michael tige Flexibilität den Umgang mit der Quote erleich- Luther, Ursula Männle, Claire Marienfeld, Maria Michalk, Claudia Nolte, Rosemarie Priebus, Erika tern. Um jedoch den Mangel an Bewerberinnen oder deren unzureichende Qualifizierung nicht zu einem Reinhardt, Ingrid Roitzsch (Quickborn), Ortrun Schätzle, Dr. Christa Schmidt (Leipzig), Trudi billigen Alibi werden zu lassen, müssen Frauen in Schmidt (Spiesen), Bärbel Sothmann, Dr. Rita Süss besonderer Weise gefördert werden. Insbesondere sind alle Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß muth, Dr. Roswitha Wisniewski, Dr. Dorothee Wilms Frauen nach einer Pause, die durch die Geburt und (alle CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entwurf des Zweiten Gleichberechtigungsgesetzes und über Erziehung von Kindern bedingt ist, ihre Berufstätig- keit fortsetzen können und ihr Wiedereinstieg ausrei- den Entwurf des Gleichstellungsgesetzes chend vorbereitet und gefördert wird. Es darf nicht (Zusatztagesordnungspunkt 1) länger hingenommen werden, daß Kinder zwangsläu- fig zu einem Karriereknick bei Frauen führen. Ver- Das zweite Gleichberechtigungsgesetz ist ein wei- kürzte Arbeitszeit und Teilzeitarbeit sind hierbei ein terer wichtiger Schritt zur Überwindung der struktu- wichtiges Instrument. Wichtig ist ferner, endlich auch rellen Benachteiligung von Frauen in Beruf und eine Sozialversicherungspflicht für die sogenannten Gesellschaft. Der vorliegende Entwurf, der sich geringfügig Beschäftigten einzuführen. schwerpunktmäßig mit der Frauenförderung, der Ver- einbarkeit von Familie und Beruf im Bundesdienst, Ein besonders diffiziles Thema, das durch die vor- mit dem umfassenden Schutz vor sexueller Belästi- liegenden Gesetze reguliert werden soll, ist das der gung am Arbeitsplatz sowie der gleichberechtigten sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz. Die Ignoranz, Mitwirkung von Frauen in öffentlichen Gremien mit der viele Männer auf dieses Thema reagieren oder befaßt, zeichnet sich durch Realitätsnähe und Prakti- es ins Lächerliche ziehen, spricht für sich. Es ist richtig, kabilität aus. sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zu sanktionie- ren und den Betroffenen Schutz und Unterstützung zu Diesem Gesetz stimmen wir zu, hätten jedoch geben. Es ist ebenso richtig, dafür in den Betrieben erwartet, daß im Rahmen dieses Gesetzes auch die und im öffentlichen Dienst die notwendigen Instru- ehrenamtliche Leistung, die von nahezu 2 Millionen mente zu schaffen. Das, was als Belästigung angese- Bundesbürgerinnen und Bundesbürgern erbracht hen werden muß, kann auch nach unseren Vorstellun- wird, größere Aufmerksamkeit gefunden hätte. Ohne gen nur eine subjektive Definition sein. Aber gerade einen konsequenten und selbstlosen Einsatz enga- darin liegt die Schwierigkeit. Ahnlich wie bei der gierter Mitbürgerinnen und Mitbürger wäre die Viel- Quote gilt, daß der Gesetzgeber nur den Rahmen falt an sportlichen, musischen und kulturellen Ange- abstecken kann, daß das eigentlich Entscheidende boten ebenso wenig denkbar wie die Menge und aber der gesellschaftliche Prozeß des Umdenkens Qualität der sozialen und gesellschaftspolitischen Lei- ist. stungen. Eine große Zahl Jugendlicher und Erwach- sener, Frauen und Männer erfüllen unsere Forderun- Die Gleichstellung und Förderung von Frauen im gen nach Mitmenschlichkeit, Solidarität und Verant- beruflichen und öffentlichen Leben ist eine wichtige wortung füreinander mit Leben. All denen, die sich in Voraussetzung, damit Frauen alle Bereiche von diesem Sinne für die Gemeinschaft einsetzen, gebührt Gesellschaft, Politik und Wirtschaft maßgeblich mit- Dank und Anerkennung. Wir müssen besonders sen- gestalten können. Die Erwerbstätigkeit und mate- sibel reagieren, wenn die ehrenamtliche Tätigkeit im rielle Unabhängigkeit von Frauen ist eine notwen- allgemeinen und ganz besonders im sozialkaritativen dige, wenngleich nicht hinreichende Voraussetzung Bereich gefährdet ist. für ein selbstbestimmtes Leben. Unser Ziel muß es sein, die gesellschaftlichen Strukturen so zu verän- Die Bundesregierung wird aufgefordert, in der dern, daß sie nicht mehr einseitig an männlichen 13. Wahlperiode steuerrechtliche und/oder renten- Werten orientiert sind oder nach männlichen Mustern rechtliche Maßnahmen zu ergreifen, die das Ehren- funktionieren. Die Arbeit, die Frauen unbezahlt für amt anerkennen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19253*

Anlage 4 dadurch eine hervorragende Motivation zur Verwei- gerung von Arbeitsplatzbereitstellung. Erklärungen nach § 31 GO Zweitens. Selbst wenn die Arbeitgeberin den oder zur Abstimmung über den Entwurf des Zweiten die Mitarbeiter(in) richtig ausgesucht hätte, können Gleichberechtigungsgesetzes und über den Entwurf die abgewiesenen Bewerber und -innen dagegen vor des Gleichstellungsgesetzes dem Arbeitsgericht — nicht etwa vor den ordentlichen (Zusatztagesordnungspunkt 1) Gerichten — klagen, und dies nicht etwa um ihres Arbeitsplatzes willen, sondern wegen Verletzung Dr. Michaela Blunk (Lübeck) (F.D.P.): Der Titel des ihres Persönlichkeitsrechtes auf Schutz vor Diskrimi- Gesetzentwurfes zur Durchsetzung der Gleichberech- nierung. Für den Arbeitgeber, der sich für die Beset- tigung von Frauen und Männern verspricht -mehr als zung eines neuen Arbeitsplatzes anders entschieden der Text hält. hat, als der oder die Klägerin meint, gilt es, die Es ist unbestritten, daß sich im Beruf und im Anwaltskosten, falls er nicht selbst vor Gericht auftre- öffentlichen Leben der Grundsatz der Gleichberechti- ten will, selbst zu zahlen, weil im deutschen Arbeits gung noch nicht durchgesetzt hat. Es ist aber mehr als prozeßrecht in erster Instanz keine Kostenerstattung zweifelhaft, ob dieses Gesetz dem Ziel wesentlich durch die unterliegende Partei stattfindet. näher kommt. Gesetze verändern nicht die Einstel- Das Gesetz begründet Beschäftigungspolitik nur für lung einer Gesellschaft. Indem als Lösung die gesetz- die Rechtsantragsstellen der um ihre Mitgliederzah- liche und erweiterte Frauenförderung vorgeschlagen len bangenden Gewerkschaften und auch für Rechts- wird, widerspricht der Gesetzestext dem eigentlichen anwälte. Das lohnt sich schon. Bei 5 000 DM Monats- Ziel: Männer und Frauen müssen die Verantwortlich- verdienst belaufen sich die Kosten des Anwalts ohne keiten, die sich aus Familie und Beruf ergeben, zu Beweisaufnahmegebühr, aber mit Mehrwertsteuer gleichen Teilen übernehmen. auf 1 612,20 DM. Auch beim Obsiegen trägt diese Es ist unrealistisch vorzuschreiben, daß Teilzeitar- Kosten der Arbeitgeber. Das Gesetz bedeutet, daß beit nicht karriereschädigend zu sein habe. z. B. ein Kleinbetrieb mit zehn Arbeitnehmern, der auf eine Anzeige zehn Bewerbungen erhalten hat — Mo- Aus dem Gesetzestext geht sehr wohl hervor, daß natsverdienst von 5 000 DM unterstellt —, bei einer Kosten entstehen: Eine Entlastung, eine Vertreterin, Einstellung und damit 9 Ablehnungen möglicher- eine Angestellte und sachliche Ausstattung sind nicht weise 5 Klagen bekommt, von denen vielleicht zwei unerhebliche Kostenfaktoren. erfolgreich und drei erfolglos sind. Aus den oben genannten Gründen leime ich den Das kostenmäßige Ergebnis für diesen Kleinunter- Gesetzentwurf ab. nehmer heißt, daß er fünfmal 1 612,20 DM Anwalts- kosten zu zahlen hat, also insgesamt 8 061 DM und Claus Jager (CDU/CSU): Dem Gleichstellungsge außerdem zweimal drei Monatsgehälter für die — an- setz kann ich in der vorliegenden Fassung der geblich diskriminierten — abgelehnten Bewerber zu Beschlußempfehlung nicht zustimmen. zahlen hat, nämlich 30 000 DM, insgesamt also 38 061 Trotz einer Reihe positiver Regelungen enthält das DM. Sie können hochrechnen, was das bedeutet, Gesetz doch in weiten Bereichen unerträgliche büro- wenn sich auf eine Stelle, wie häufig, hundert oder kratische Regelungen, die eher einer Diskriminierung mehr Bewerberinnen und Bewerber melden. der Frauen als ihrer Gleichstellung dienen. Drittens. Das Gesetz ist unehrlich. Es behauptet Ich werde mich daher der Stimme enthalten. frech, keine Kosten zu verursachen. Der Be richt des Ausschusses relativiert das nur ungenügend und unpräzise, es würde insgesamt keine größeren Aus- Jürgen Koppelin (F.D.P.): Ich kann dem Gesetzent wirkungen auf die Einnahmen und Ausgaben der wurf nicht zustimmen, da er die Gleichberechtigung öffentlichen Haushalte und der Privatwirtschaft nicht fördert, sondern Schaden verursacht. Ich achte geben. Dabei sollen im öffentlichen Dienst Frauenbe- das Bemühen, mehr für die Gleichberechtigung zu auftragte von anderen dienstlichen Tätigkeiten frei- erreichen. Der Gesetzentwurf aber schafft das nicht. gestellt werden — zum Teil vollständig —, um sich um Der Gesetzentwurf enthält insbesondere in Art. 8 und die Gleichberechtigung zu kümmern. Das mag ja sein 9 nicht vertretbare Regelungen. Er ist insgesamt und ist wohl auch richtig. Dann aber darf man nicht unsolide und ist geeignet, Politikverdrossenheit zu heucheln, dies koste nichts. Alleine die in Abschnitt 3 nähren. § 16 Abs. 2 vorgesehene Formulierung für die Frauen- Insbesondere leiten mich folgende Gesichts- beauftragten „Ihr ist die notwendige personelle und punkte: sachliche Ausstattung zur Verfügung zu stellen." öffnet neuen Ausgaben Tür und Tor. Erstens. In Art. 8 und 9 des Gesetzes — BGB und Arbeitsgerichtsgesetz — wird eine nicht akzeptable Ich kenne keinen verantwortlichen Politiker, der so Belastung für die deutsche Wirtschaft geschaffen. naiv ist zu glauben, daß eine zusätzliche Freistellung Dieses Gesetz bestraft den Arbeitgeber, der Angebote von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im öffentli- zur Einstellung von Mitarbeitern bringt und realisiert. chen Dienst, wie sie hier für Frauenbeauftragte vor- Ein Kleinbetrieb mit z. B. zehn Mitarbeitern läuft nach gesehen ist, ohne stellenplanmäßige Auswirkungen diesem Gesetz Gefahr, bis zu sechs Monatsgehälter bleibe. Unser Innenminister kann doch nicht so naiv alleine dafür zu zahlen, daß er eine andere Person sein zu glauben, daß wir so viele Arbeitskapazitäten eines anderen Geschlechtes einstellt, wenn ein(e) im öffentlichen Dienst in einem Maße frei hätten, daß Bewerber(in) dies nicht für richtig hält. Wir schaffen auf 400 Frauen, die in einem öffentlichen Bet rieb oder 19254* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 in einer Dienststelle beschäftigt sind, eine zusätzliche deutsche Seehäfen abgewickelt. 110 000 Seeschiffe Freistellung erfolgen könnte, ohne daß die von diesen laufen jährlich die deutschen Seehäfen an, und Mitarbeitern bisher geleistete Arbeit von anderen, zusätzlich fahren 21 000 Schiffe in Richtung Osten dann doch neu zu schaffenden Planstellenbesetzern durch den Nord-Ostsee-Kanal. Allein 1 600 beladene geleistet wird. Tanker liefen im letzten Jahr deutsche Häfen an. Nein, nicht so verschämt heuchlerisch dienen wir Diese Zahlen unterstreichen eindrucksvoll, daß es dem Ziel der Gleichberechtigung der Geschlechter, die vorrangige, um nicht zu sagen, lebenswichtige sondern nur in Offenheit und Ehrlichkeit. Die Aufgabe der Verkehrspolitik sein muß, den Seever- beschränkte Redezeit der Geschäftsordnung gestattet kehr sicher und umweltfreundlich zu gestalten. mir nicht, meinen Unmut gegen dieses unausgego- rene Gesetz in der notwendigen Breite und- Intensität Der vorliegenden Beschlußempfehlung wird des- darzulegen. Ich werde mit Nein stimmen. Das Gesetz halb von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion erhebli- bringt kaum Fortschritte zur Gleichberechtigung. Es che Bedeutung zugemessen. Auf nationaler und auf ist ein teurer Kropf. internationaler Ebene muß alles Menschenmögliche getan werden, um ÖltankerUnfälle zu vermeiden Dieter-Julius Cronenberg (Arnsberg) und Josef und zu bekämpfen. Grünbeck (beide F.D.P.): Dem Gesetzentwurf der Bundesregierung können wir nicht zustimmen. Als besonders dringende nationale Maßnahme ist Selbstverständlich bejahen wir das Ziel der Gleichbe- das deutsche Küstenmeer auf 12 Seemeilen Breite rechtigung von Frauen und Männern. Aber dieser auszudehnen. Gesetzentwurf der Bundesregierung wird in seiner bürokratischen Ausgestaltung gerade nicht der Ziel- Für den Bereich der Europäischen Union und auf setzung der Gleichberechtigung dienen. Vielmehr ist internationaler Ebene gilt es, die Tankersicherheit zu befürchten, daß er sich eher kontraproduktiv, u. a. durch technische Maßnahmen, insbesondere durch auf das Einstellungsverhalten der Unternehmen, aus- Einführung der Doppelhülle, zu verbessern, küsten- wirken wird. Insbesondere ist zu befürchten, daß die ferne Routen für Öltanker festzulegen und zu überwa- Bereitschaft der Unternehmen — und hier vor allem chen, das Lotsenwesen erheblich zu verbessern, auf der mittelständischen Unternehmen —, zu besetzende die besondere Qualifikation der Schiffsbesatzung der Stellen auszuschreiben, stark nachläßt, weil die Öltanker zu achten, um die aufgrund von unzurei- Betriebe in Zukunft vermehrt mit Klagen und Scha- chender Qualifikation zu beklagenden hohen Unfall- densersatzforderungen zu rechnen haben und des- raten drastisch zu verringern. halb — schon aus wirtschaftlichem Eigeninteresse — die Ablehnung von Einstellungen im Detail und Schließlich ist durch eine Vereinbarung in der gerichtsfest begründen müssen. Die Chancen für Europäischen Union sowie mit allen Nord- und Ost- Frauen, sich zu bewerben, werden damit auf Grund See-Anrainerstaaten sicherzustellen, daß ab dem des Gesetzes — jedenfalls mittelbar — nicht erhöht, Jahre 2010 nur noch Tanker, die dem IMO-Standard sondern mangels Informationen über offene Stellen für Neubauten entsprechen, europäische Häfen gemindert werden. Auf diese Weise wird unser anlaufen dürfen. Arbeitsmarkt nicht entbürokratisiert und offener. Vielmehr wird — entgegen der Intention der Bundes- Die von der Bundesregierung ge troffenen Vorsor- regierung — das Gegenteil erreicht werden. gemaßnahmen sind nachdrücklich zu begrüßen. Fazit: Auch bei diesem Gesetzentwurf bewahrheitet Dazu gehört, daß bereits im November 1993 ein sich der Satz: Das Gegenteil von gut ist gutgemeint. neues Beobachtungsflugzeug der zweiten Generation Das Gesetz ist zwar gutgemeint, aber nicht gut mit weltweit führender Sensortechnik zur Erkennung getan. von Meeresverschmutzungen durch Schadstoffe in Betrieb genommen worden ist. Dieses System sollte weiter ausgebaut werden.

Dazu gehört auch, daß die Ölbekämpfungs-Schiffe Anlage 5 „Scharhörn" und „Mellum" 1994 bzw. 1995 für die Bekämpfung von Chemieunfällen umgebaut werden. Zu Protokoll gegebene Reden Außerdem ist der Planungsauftrag für ein drittes zum Tagesordnungspunkt 13a und b Mehrzweck-Schiff, mit den Einsatzschwerpunkten (a — Gesetzentwurf zur Änderung von Rechts Bekämpfung von Chemieunfällen und Bergung hava- vorschriften auf dem Gebiet der Seeschiffahrt, rierter Schiffe, erteilt worden. Dieses Schiff soll 1997 b — Beschlußempfehlung zu den Anträgen: zur Verfügung stehen. Für diese Vorsorgemaßnah- Notwendige Maßnahmen zur Vermeidung von men sind im Bundeshaushalt über die bereits erbrach- Öltankerunfällen und deren katastrophale Folgen ten Leistungen von rund 100 Millionen DM hinaus für Mensch und Natur, Prävention und weitere Investitionsmittel in Höhe von insgesamt Bekämpfung von Öltankerunfällen, Verbesserung 135 Millionen DM für den Zeitraum bis 1997 vorgese- der Sicherheit von Tankschiffen zum Schutz hen. von Menschen und der Umwelt) Die Bundesrepublik Deutschland wird — wie im Heinz-Günter Bargfrede (CDU/CSU): Der seewär Kabinett bereits beschlossen — ihre Hoheitsgewässer tige deutsche Außenhandel wird zu über 50 % über auf bis zu 12 Seemeilen erweitern und darüber hinaus Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19255* eine ausschließliche Wirtschaftszone ausweisen. Au- unsere guten Absichten und klugen Beschlüsse aus- ßerdem soll der Verkehr für alle Schiffe schon im schließlich auf Unfälle mit Öltankern abzielen. Die Küstenvorfeld sicherer gemacht werden: Für Öl-, Gas- anderen möglichen Gefahrgutunfälle im Seetransport und Chemikalien-Tanker von mehr als 10 000 BRZ haben wir — getreu der allgemeinen Tendenz, immer besteht bereits ab Feuerschiff „Deutsche Bucht' Lot- nur Stückwerkspolitik zu betreiben — schlicht verges- sen-Annahmepflicht. Diese Schiffe müssen den etwa sen. Und wir sollten uns heute auch die traurige 28 Seemeilen vor den ostfriesischen Küsten liegen- Tatsache vor Augen halten, daß jährlich etwa den, küstenfernen Tiefwasserweg benutzen, Chemi- 380 Schiffe sinken, Tendenz zunehmend. Das gibt kalientanker mit besonders schädlichen Stoffen schon keinen Aufschrei der Nationen. „Ertrunkene Seeleute ab 5 000 BRZ. Für tideabhängige Großtanker gilt sind ja nicht umweltschädlich!" kommentiert der wegen ihrer Manövrierbehinderung ein absolutes Verband der Seemannsfrauen zynisch resignierend Vorfahrtsrecht auf dem Weg nach Wilhelmshaven. das „Berufsrisiko" ihrer Männer. Ein Zynismus, der zu Recht besteht. Der Gesamtverkehr in der inneren Deutschen Bucht muß künftig an einer Verkehrssicherung durch die Allein von 1988 bis 1992 sind 135 Schiffe unter Radarzentrale Wilhelmshaven teilnehmen. Panama-Flagge gesunken. Dem Jahresbericht der europäischen Hafenstaatenkontrolle ist zu entneh- Im Sommer dieses Jahres wird das Bundesministe- men, daß 45 % der kontrollierten Schiffe erhebliche rium für Verkehr die ersten Konsequenzen aus dem Mängel aufwiesen, 5,2 % wurden mit Auslaufverbo- dann vorliegenden Gutachten „Verkehrssicherungs- ten belegt. In deutschen Häfen wurden nur 1,4 % system Deutsche Küste im Jahre 2000" ziehen können Auslaufverbote verhängt. Wenn wir nicht überwie- und damit Schiffahrtspolizei, Verkehrssicherung und gend von ausgesprochen guten Schiffen angelaufen Seelotswesen unter Heranziehung moderner Technik würden, wäre dies ein Zeichen für zu laxe Hafenstaat- noch effektiver gestalten können. kontrollen. Bei den Schiffen mit schweren Mängeln stehen die Flaggen von Rumänien, Malta, Panama, Beim Einsatz von „sicheren Öltankern", das heißt ria an der Spitze. also bei Doppelhüllen-Schiffen, wird bei Lotsabgaben Zypern und Libe und bei den Gebühren für den Nord-Ostsee-Kanal Wettbewerbsfähigkeit und Weltmarktpreise sind eine Ermäßigung gewährt. die wundersamen Schutzschilde gegen wirksame Bei der laufenden Überarbeitung des internationa- Maßnahmen für mehr Schiffssicherheit. Was soll len Übereinkommens über die Ausbildung von See- eigentlich das über alle Parteien, ja inzwischen auch leuten tritt die Bundesregierung mit Recht für die aus Europa zu hörende Gerede von der Anlastung der Verbesserung der beruflichen Qualifikation von gerechten Kosten an die jeweiligen Verkehrsträger, Schiffsbesatzungen, insbesondere auf Tankern ein. wenn der Weltmarkt nicht einmal das Geld für eine Dazu gehört eine einheitliche Arbeitssprache; auch vernünftige, gut ausgebildete Besatzung von Schiffen dazu hat Deutschland einen Vorschlag über ein Hand- hergibt? Warum muß denn eine Tonne Ladung auf buch über eine einheitliche Arbeitssprache an Bord dem Seeweg von Fernost nach Hamburg billiger sein vorgelegt. als der Transport der gleichen Tonne Ladung mit dem LKW von München nach Hamburg? Ganz aktuell wird im Sommer 1994 das Bergen eines havarierten Tankers durch das Ölbekämpfungs- Glauben wir wirklich, daß das politische Kurieren Schiff „Mellum" und weitere Bergungseinheiten vor an Symptomen wirksame Abhilfe schaffen kann? Wir der deutschen Küste geübt. sind uns, so denke ich, einig darin, daß wir alles tun müssen, die Risiken von Öl- und anderen Gefahrgut- Ich hoffe sehr, daß aus dieser Übung niemals ein unfällen so gering wie nur möglich zu halten. Das Ernstfall werden wird. Mit dem vorliegenden Gesetz- hieße aber vor allem Verbesserung der Vorsorge entwurf und der vorliegenden Beschlußempfehlung durch technisch einwandfreie Schiffe mit gut ausge- leisten wir den uns heute möglichen Beitrag. Ich bitte bildeten, qualifizierten Besatzungen in angemessener deshalb um Ihre Zustimmung. Anzahl. Wenn der politische Wille da wäre, würden wir dafür erheblich mehr tun können. Wir werden Ihnen, liebe Kollegen von den Koalitionskfraktionen, Dr. Margrit Wetzel (SPD): Die „Braer", ein 17 Jahre das nach dem 16. Oktober hoffentlich zeigen kön- alter Tanker unter Liberia-Flagge, 34 Mann Besat- nen. zung, Filipinos, Polen, Griechen; der griechische Kapitän auf seiner ersten Reise mit diesem Schiff, der Eine ganze Reihe der Forderungen, die wir heute 1. Ingenieur seit 8 Wochen auf dem ihm technisch beschließen, wurde bereits vor Jahresfrist vom Kabi- nicht ausreichend vertrauten Tanker — das sechste nett als Maßnahmen angekündigt. Keine davon ist dramatische Tankerunglück in den letzten Jahren. Im bisher umgesetzt. Wir sind also leider — und das ist Januar 1993 auf Grund der großen Ölverluste Anlaß beschämend — immer noch aktuell: Wir haben immer für geradezu hektischen politischen Aktionismus. noch keine Gefährdungsanalyse, die Grundlage für die Ausweisung von Tankerrouten und Verkehrstren- Daß die Gremien des Deutschen Bundestages mehr nungsgebieten zum Schutz ökologisch sensibler als ein Jahr brauchten, die heute vorliegenden partei- Gebiete sein wird. Die deutsche Küstenzone wird auf übergreifend einvernehmlichen Beschlüsse zu fassen, 12 Seemeilen ausgedehnt, eine ausschließliche Wi rt spricht zumindest für eine gründliche Beschäftigung -schaftszone soll eingerichtet werden. Gibt es da außer mit der Problematik. Andererseits hat uns erst der Absichtserklärungen inzwischen einen echten Sach- Sherbro-Unfall darauf aufmerksam gemacht, daß all stand? Nein! 19256* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Technisch-konstruktive Verbesserungen zur Tan- sche Küstenmotorschiffe, sondern auch für Schiffe kersicherheit sollen mit verkürzten Fristen durchge- unter Gefälligkeitsflaggen. Natürlich ist es wichtig, setzt werden. Wir wissen, daß das trotzdem schon die deutsche Küstenschiffahrt an dem interessanten wegen der Werftkapazitäten nur längerfristig umzu- skandinavischen und osteuropäischen Küstentrans- setzen sein wird. portaufkommen teilhaben zu lassen. Dies wäre aber Den amerikanischen Oil Pollution Act wollen wir auch über bilaterale Abkommen oder die Öffnung nur zum Vorbild für eine mögliche Verbesserung der für europäische Schiffe möglich gewesen. § 2 des europäischen Haftungs-, Schiffssicherheits- und Ein- Gesetzes über die Küstenschiffahrt sieht hingegen laufbedingungen nehmen. Das ist gut, solange wir eine Erlaubnis der Seekabotage vor, wenn der (Bil- nicht auch die Schlupflöcher des OPA übernehmen. lig-)Flaggenstaat „Schiffen unter der Bundesflagge Immerhin gibt es darin Ausnahmeregelungen,- die den auf der Grundlage der Gegenseitigkeit innerstaatli- größten Anteil der amerikanischen Öltransporte che Beförderungen . eröffnet." Damit wird zuerst umfassen. Für die Abfertigung am Louisiana Offshore einmal der osteuropäischen Billigkonkurrenz in den Oil Point wurden noch 1991 Riesentanker in Fernost deutschen Häfen Tür und Tor weit geöffnet, was bestellt — einhüllig, zugelassen bis 2015! inbesondere hinsichtlich der Erfahrungen mit Schiffen unter rumänischer Flagge bedenklich ist. Wir Parlamentarier fordern heute einvernehmlich die obligatorische Lotsenannahmepflicht „in Küsten- Außerdem fördert die Bundesregierung damit nähe und Gefahrenzonen" und weitere Verbesserun- zugleich aktiv die Ausflaggung der letzten deutschen gen des Lotsenwesens. Ich hoffe sehr darauf, daß wir Küstenmotorschiffe. Der innerdeutsche Seetransport dies auch alle ernst meinen; denn ob das bloße ist für manche Reeder in Verbindung mit Finanzbei- Lippenbekenntnisse bleiben, wird sich sehr bald trägen und der daraus resultierenden Flaggenbin- erweisen. Immerhin heißt es in dem von der Bundes- dungsfrist noch ein Grund gewesen, unter deutscher regierung in Auftrag gegebenen Gutachten „Ver- Flagge mit deutschen Seeleuten zu fahren. Zukünftig kehrssicherungssystem Deutsche Küste 2000": „Le- wird auch dieser — letzte? — Grund wegfallen. diglich besonders gefährliche und gefährdete Schiffe Zugleich dokumentiert die Bundesregierung damit, oder Schiffe, die einen Lotsen ausdrücklich anfordern, daß ihr offenbar auch nicht allzuviel an einem Euro- sollten auch weiterhin Bordlotsen erhalten. Zu diesem päischen Zweitregister — EUROS — zur Förderung Zweck werden Hubschrauber und schnelle Tender der europäischen Schiffahrt liegt. verwendet. " Die Lotsenschiffe an den Außenstationen Wer die deutsche Flagge und das ma ritime Know- der Reviere sollen wegfallen. Es ist unschwer zu how abschafft, schwächt damit zugleich die gesamte erkennen, wer hier die Klinge geführt hat. maritime Verbundwirtschaft. Leiden werden darunter Unsere Forderung nach einem verbindlichen Qua- auch die deutschen Häfen, die Werften und die litätssicherungssystem für Schiffsmanagement und Zuliefererindustrie. Betroffen sind davon indirekt -besatzungen, die Einführung einer Schiffsidentifika- Hunderttausende von Arbeitsplätzen in ihrer langfri- tionsnummer mit eindeutiger Zuordnung des Schiffs- stigen Sicherheit, weil Wettbewerbsvorteile durch eigentümers, verschärfte Inspektionsverpflichtungen den Verlust von Know-how verringert werden, weil der Flaggenstaaten, bessere Wirksamkeit der Klassi- Standortprobleme schlechter aufzufangen sind, weil fikationsgesellschaften, Verschärfung und Auswei- der Einfluß der Bundesrepublik Deutschland auf die tung der Hafenstaatenkontrollen sind europaweit Seeschiffahrt und damit auf den stärksten Welthan- inzwischen Konsens, zum Teil in Richtlinienvorschlä- delsverkehrsträger immer geringer wird. gen der EU bereits formuliert. Wer heute erkennt, daß der Welthandel schon auf Die Haftungs- und Schadensersatzbedingungen bei Grund der zunehmenden Weltbevölkerung noch dra- Gefahrgutunfällen sollen verbessert werden. Wir stisch zunehmen wird, wer heute erkennt, daß indu- wünschen uns, daß die Flaggenstaaten in die interna- striepolitische Kompetenz eingebunden sein muß in tionalen Fonds eingebunden werden. Dies würde vor welthandelsstrategische und sicherheitspolitische allem die Gefälligkeitsflaggenstaaten empfindlich Konzepte, wer heute erkennt, daß der asiatische Raum treffen und damit ganz sicher zu mehr Tankersicher- eine völlig neue Welthandelsbedeutung erlangt, der heit beitragen. darf keines seiner Instrumente zur Mitgestaltung Ich erhoffe mir ganz besonders auch von der Ein- eines Weltmarktes freiwillig und ohne Not aus der richtung eines Europäischen Maritimen Verkehrssi- Hand geben. Gerade das aber tut diese Bundesregie- cherheitsrates, dessen sachkompetente Mitglieder zur rung, Stück für Stück, in scheinbar unwichtig kleinen Harmonisierung der Seeunfalluntersuchungen in Eu- Gesetzesänderungen. ropa beitragen würden, einen wesentlichen Kompe- Mit einer Änderung des Seeaufgabengesetzes — § 5 tenz- und damit Sicherheitsgewinn für das maritime Abs. 2 — eröffnet die Bundesregierung die Möglich- Europa. Wie notwendig es ist, sachkompetente keit, sich ihrer hoheitlichen Kontroll- und Überwa- Gegengewichte zum Regierungshandeln zu schaffen, chungsaufgaben zu entledigen, deren Ausweitung zeigen die Änderungen von Rechtsvorschriften auf und Verschärfung von der EU gefordert und zur Zeit dem Gebiet der Seeschiffahrt, die wir heute in verbun- vollmundig vom Bund versprochen wird. Begrün- dener Debatte mit zu beraten haben. Die Bundesre- dung: „Die Möglichkeit der Beleihung von Privatper- gierung fördert damit direkt die Ausflaggung der sonen ... entspricht den Deregulierungsbestrebun- deutschen Küstenmotorschiffe. gen der Bundesregierung." Die Privatisierung von Bundesregierung und Koalitionsfraktionen ermög- Sicherheitsüberwachung und die miserable Qualität lichen die Seekabotage — das ist der Gütertransport einiger unseriöser Klassifikationsgesellschaften hat zwischen deutschen Häfen — nicht nur für europäi aber gerade in der Vergangenheit dazu geführt, daß Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19257* der Standard von Billigflaggenschiffen so sehr absin- Nord- und Ostsee mit ihren ökologischen besonders ken konnte. Die Bundesregierung verletzt damit sensiblen Küstenregionen des Watten- und Bodden grundsätzliche Sicherheitsinteressen, senkt die meeres sowie ihre Fauna würden durch einen Öltan- Schiffs- und Küstensicherheit und schadet damit letzt- kerunfall schwer geschädigt werden. Die Menschen lich der maritimen Wirtschaft. Besonders pikant wird an der Küste würden ernsten gesundheitlichen dieser Blankoscheck, den die Regierung sich heute Gefährdungen ausgesetzt und wären in ihrer wirt- vom Parlament ausstellen läßt, im Hinblick auf das schaftlichen Existenz bedroht. Wer wird wohl noch bei inzwischen vorliegende, schon erwähnte Verkehrssi- Cuxhaven baden wollen, wenn verendete Möwen im cherheitsgutachten Deutsche Küste, in dem die Priva- Sand liegen und es auf der Strandpromenade stinkt tisierung des gesamten Verkehrssicherheitssystems wie in einer Raffinerie? vorgeschlagen wird. - Alarmiert durch den Unfall des Öltankers „Braer" Diejenigen, die heute ausflaggen, können morgen vor der Südküste der Shetlandinseln am 5. Januar möglicherweise die Verantwortung für sinkende 1993 fand am 11. Januar 1993 auf Antrag der Koalition Standards im Verkehrssicherungswesen in die Hände eine Aktuelle Stunde im Bundestag zu diesem T an gelegt bekommen. Angeblich war während der Bera- -kerunglück statt. Dies war der Ausgangspunkt inten- tungen im Verkehrsausschuß vor wenigen Wochen an siver parlamentarischer Beratungen und erneuter eine solche Konstellation im Traum nicht zu den- Initiative der Bundesregierung zur Prävention und ken. Bekämpfung von Öltankerunfällen. Diese Regierung gehört ausgeflaggt! Die Bundesregierung hat unverzüglich eine inter- ministerielle Arbeitsgruppe „Tankersicherheit" ein- gerichtet, die noch im Herbst vergangenen Jahres ihre Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Der jüngste schwer Empfehlungen vorlegen konnte. International hat die wiegende Unfall eines Öltankers, der den internatio- Bundesregierung sich im Rahmen der UN und der EU nalen Pressewald zum Rauschen brachte, war die nachdrücklich und mit Erfolg für eine Verbesserung Kollision eines Öltankers mit einem Frachter im Bos- der bestehenden Vorschriften und ihre Erweiterung porus. Dies war vor einem Monat. Der unter zyprioti- eingesetzt. Dafür möchte ich der Bundesregierung scher Flagge fahrende Frachter „Nacciea" hatte fast meinen Dank aussprechen. Hier ist nicht nur geredet hunderttausend Tonnen Rohöl geladen. Der Unfall worden, hier ist gehandelt worden. ereignete sich in unmittelbarer Nähe der Millionen- Bereits einen Monat nach der Aktuellen Stunde stadt Istanbul. konnten die parlamentarischen Beratungen am Daß die Stadt am Bosporus in den Rauchschwaden 11. Februar 1993 mit einer Plenardebatte eingeläutet des brennenden Öls nicht buchstäblich erstickt ist, ist und unser Antrag eingebracht werden. Auch dem nur einem glücklichen Umstand zu verdanken. Zum Ausschuß für Verkehr möchte ich an dieser Stelle Zeitpunkt der Katastrophe wehte ein Südwestwind in meinen ausdrücklichen Dank dafür aussprechen, daß Richtung Schwarzes Meer. Der günstige Wind trug er die Initiative des Umweltausschusses aufgegriffen auch dazu bei, daß der Tanker nicht auf die nahe und unser gemeinsames Anliegen in guter Koopera- gelegenen Munitions- und Treibstofftanks der türki- tion vorangetrieben hat. Der jetzt vorliegende schen Armee zutrieb. gemeinsame Antrag von CDU/CSU, F.D.P. und SPD ist das Ergebnis intensiver Beratungen, in die auch die Zum Zeitpunkt des Unfalls befanden sich auf kei- Erkenntnisse aus einer eigens anberaumten Anhö- nem der beiden Schiffe Lotsen. In der Meerenge, die rung zum Thema „Tankerunfälle, Schiffs- und im vergangenen Jahr 50 000 Schiffe passierten, Küstensicherheit" eingeflossen sind. Ich begrüße die- herrscht keine Lotsenpflicht. Schon seit Jahren ses parteiübergreifende H andeln sehr, zeigt es doch, bemüht sich die türkische Regierung, den ungezügel- wie dringlich Abhilfe hier nötig ist, und daß es einen ten Transit durch die Meerenge zu kontrollieren und großen Konsens bezüglich der notwendigen Maßnah- dringt auf den Bau einer Pipeline für Öl. — Leider men gibt. bislang erfolglos! Ziel aller Maßnahmen ist es, Öltankerunfälle zu Die Aufregung im Blätterwald hat sich gelegt — das vermeiden, Risiken zu vermindern und so Schäden für Problem der Unfälle von Öltankern mit ihren verhee- Menschen und Umwelt weitgehend auszuschließen. renden Folgen für Mensch und Natur bleibt. Großes Viele Havarien könnten verhindert werden, wenn Aufsehen erregen meist nur spektakuläre Ereignisse. Sicherheitsstandard und Ausrüstung der Schiffe bes- Tatsächlich geht durchschnittlich alle 47 Stunden ein ser wären, die Besatzung eine hinreichende Qualifi- Dampfer unter und reißt sieben Seeleute in den kation hätte, gefährliche Schiffswege gemieden wür- Tod. den und die Anrainerstaaten informiert wären, wenn Die Havarie im Bosporus ist also wahrlich kein ein Gefahrguttransport ihre Küstengewässer pas- Einzelfall, auch vor unseren Nord- und Ostseeküsten siert. ist die Gefahr einer Verschmutzung und Verseuchung Trotz verbesserter technischer Möglichkeiten und real gegeben. Die Tatsache, daß sich die größten verschärfter Sicherheitsauflagen im vergangenen Öltankerunfälle der letzten Jahre nicht in unseren Jahrzehnt wird die Sicherheit im Bereich der Öltanker Gewässern ereignet haben, darf uns nicht in der voraussichtlich nicht ab- sondern eher zunehmen: Das falschen Sicherheit wiegen, wir seien nicht betroffen. Alter der Welthandelsflotte steigt beständig. 1991 So wurden 1991 25 Millionen Tonnen Rohöl und waren 82 % der Unglücksschiffe deutlich älter als knapp 17 Millionen Tonnen Ölprodukte in deutschen 15 Jahre. Die „Braer" wurde 1975 gebaut, in einer Häfen entladen. Zeit des internationalen Baubooms für Riesentanker. 19258* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Drei Viertel der Supertanker und zwei Drittel der Wir fordern die Bundesregierung daher auf, ihre Welt-Tankerflotte von 4 400 Schiffen sind wegen des bisherigen intensiven Bemühungen zur Vermeidung einmaligen Baubooms in den 70er Jahren älter als von Öltankerunfällen im Bereich der EU und auf 12 Jahre. In wenigen Jahren werden die meisten internationaler Ebene zu verstärken und sich für Ozeanriesen schrottreif sein, wenn sie nicht aufwen- weitere Vorsorgemaßnahmen einzusetzen, insbeson- dig instand gehalten werden. dere im Bereich der Tankersicherheit für technische Verbesserungen, wie die Einführung der Doppelhülle Auf hinreichende Investitionen der Schiffseigner ist und Tankgrößenbegrenzungen, für die Festlegung aber kaum zu hoffen: Immer mehr Schiffe fahren unter von küstenfernen Routen für Öltanker, im Bereich der einer Billigflagge. So ist fast ein Drittel der gegenwär- Gefahrenpunkte, die auf das Konto des Faktors tigen Tanker-Tonnage in Libe ria und Panama regi- „Mensch" gehen, die Verbesserungen des Lotsenwe- striert. Internationale Sicherheitsstandards sind bei sens, des Schiffsmanagements, der Qualität der sogenannten „offenen Registern" schwerer durchzu- Schiffsbesatzung sowie vor allem die Durchsetzung setzen. Der gnadenlose wirtschaftliche Konkurrenz- einer international einheitlichen Arbeitssprache, für kampf auf den Weltmeeren hat bislang verhindert, die Durchsetzung der bereits bestehenden internatio- daß sich Tanker, die den von der IMO, einer Unteror- nalen Vorschriften und deren ständige Kontrolle ganisation der UN, vorgeschriebenen Sicherheitsvor- sowie für die zügige Umsetzung der bereits geplanten schriften genügen, durchsetz en konnten. Erhöhung der Haftungssumme auf 450 Millionen Gemäß internationaler Übereinkommen werden in DM. Deutschland einlaufende Schiffe zumindest stichpro- Wir fordern die Bundesregierung auf, noch in dieser benartig kontrolliert. Die Ergebnisse sind nieder- Legislaturperiode einen Be richt über die Mittel zu schmetternd. Von den 1992 allein von der Seeberufs- erstellen, die derzeit zur Vorsorge und Bekämpfung genossenschaft überprüften Schiffen aus der Türkei, von Ölunfällen vor der deutschen Nord- und Ostsee- China, Indien, Malta und Honduras hatten 71 bis 85 % küste bereitstehen. Etwaiger weitergehender Hand- erhebliche Mängel. Über 23 Frachter mußten gar lungsbedarf soll aufgezeigt werden, damit wir unver- wegen katastrophalen Zustands ein Auslaufverbot züglich Verbesserungen in Angriff nehmen können. verhängt werden. Schon heute aber ist klar, daß wir Seelenverkäufer Weder Auslaufsperren noch Geldbußen haben aber möglichst weit von unseren Küsten entfernt halten bislang zu einer Verbesserung geführt. Im Gegenteil, müssen, deshalb treten wir für eine Ausdehnung des jedes Jahr tauchen in europäischen Häfen die selben deutschen Küstenmeeres auf 12 Seemeilen ein und für Seelenverkäufer wieder auf. Der Wettbewerbsvorteil die Errichtung einer ausschließlichen Wirtschafts- der Billigflaggen ist schlicht höher als die zu erwar- zone. tenden Bußen. Das darf nicht so bleiben. Es kann nicht Falls es trotz aller Vorsicht zu einem Unglück sein, daß Reeder, die sich verantwortlich verhalten, kommt und wir rasch handeln müssen, müssen schon denjenigen im wirtschaftlichen Wettbewerb unterlie- im Vorfeld alle erforderlichen technischen und orga- gen, die ohne Rücksicht auf Verluste gewissenlos nisatorischen Maßnahmen getroffen werden, um handeln. Hier muß das Verursacherprinzip internatio- gegebenenfalls unverzüglich reagieren zu können. nal konsequent durchgesetzt werden, um zu einer Die Kosten müssen nach dem Verursacherprinzip richtigen Zuordnung der Preise zu kommen. zugeordnet werden. Wer Schaden anrichtet, muß für Die niedrigen Frachtraten wirken sich aber nicht die Wiedergutmachung aufkommen. nur auf die technische Sicherheit der Schiffe aus, Es ist zu prüfen, welche Maßnahmen ferner geei- sondern auch auf die Qualität der Schiffsbesatzung. gent sind, Umweltkatastrophen durch Öltanker zu Das ist eines der größten Probleme der Schiffahrt vermeiden und sie zu bekämpfen, insbesondere auch, überhaupt. Die Seeleute werden oft in Billiglohnlän- ob der finanzielle Hebel nicht stärker als Instrument dern angeworben und sind vielfach nicht in geringster der Gefahrenabwehr eingesetzt werden kann. Das Weise für die Arbeit ausgebildet, die sie machen Problem wird auch zukünftig auf der Tagesordnung sollen. Es war keineswegs untypisch, daß die Besat- bleiben, täglich kann es uns erneut einholen. Deshalb zung der „Braer" aus Polen und Filipinos bestand, die soll die Bundesregierung noch vor Ablauf diesen dem Kommando eines griechischen Kapitäns unter- Jahres darüber berichten, welche Initiativen sie zur standen. Umsetzung der im Be richt zur Tankersicherheit vor- geschlagenen Maßnahmen ergriffen hat. Die Zeit- Bisweilen kann sich die Besatzung an Deck eines bombe, die täglich auf unseren Weltmeeren tickt, muß Schiffes nur mit Händen und Füßen verständigen, weil so schnell wie möglich entschärft werden. sie keine gemeinsame Sprache spricht. Es gibt da die abenteuerlichsten Berichte. Es gibt Schiffe chinesi- scher Herkunft, auf denen die gesprochenen chinesi- Manfred Richter (Bremerhaven) (F.D.P.): Die schen Dialekte so weit auseinanderliegen, daß man Schiffsunglücke der letzten Zeit haben in Deutschl and sich in Englisch verständigen muß. Ist es da verwun- und in anderen Europäischen Staaten eine breite derlich, daß bis zu 90 % aller Tankerunglücke auf Diskussion über die Fragen der Schiffssicherheit ent- menschliches Versagen zurückzuführen sind? facht. Ob Tankerhavarien wie im Falle der „Braer" bei den Shetlandinseln oder der „Sherbro" -Unfall mit Die Tatsache, daß die internationalen Öl-Multis sich dem Pflanzenschutzmittel Apron Plus, die Unfälle aus wirtschaftlichen und Imagegründen aus dem zeigen, daß wir alle bei der weiteren Verbesserung Tankergeschäft zurückziehen, ist für mich ein über- der Schiffs-Verkehrssicherheit eine aktive und vor- deutlisches Zeichen, wie brisant die Lage ist. ausschauende Rolle übernehmen müssen. Ich freue Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19259*

mich über die breite Übereinstimmung im Deutschen Nordsee gefaßt wurden. Wir unterstützen die Forde- Bundestag, daß die Bedrohung, die besonders von rung nach strengeren Sicherheitskontrollen in den Öltankern ausgeht, in so engen Grenzen wie nur Häfen und der Routenfestlegung für Schiffe mit möglich gehalten werden muß. Dieser Konsens wird besonderer Risikofracht. Ich möchte aber deutlich durch den gemeinsamen Antrag deutlich dokumen- darauf hinweisen, daß nach Ansicht der F.D.P.- tiert. Die Anhörung des Ausschusses vom 28. Mai 1993 Bundestagsfraktion es wenig sinnvoll ist, wenn die war sehr hilfreich. Sie hat gezeigt, daß Handlungsbe- EU-Kommission versucht, in Angelegenheiten der darf auf internationaler Ebene besteht. Die F.D.P. Schiffssicherheit und des maritimen Umweltschutzes unterstützt die Bundesregierung bei der Durchset- eigene Kompetenzen zu entwickeln und damit regio- zung eines an internationalen Maßstäben orientierten nale Sonderstandards einzuführen. Es kann nicht Sicherheits- und Umweltschutzmanagements. Wir angehen, daß in wichtigen Fragen der Schiffssicher- sind uns alle einig, daß der Sicherheitsstandard der heit eine weitere bürokratische Ebene zwischen der internationalen Seeschiffahrt kontinuierlich verbes- IMO einerseits und den Mitgliedstaaten andererseits sert werden muß. Gleichzeitig müssen Schiffe, die die errichtet wird. Das kann ähnliche Entwicklungen in Sicherheitsstandards nicht erfüllen, von Meeren und anderen Teilen der Welt nur noch beschleunigen und Märkten entfernt werden. der Anfang vom Ende des bewährten Prinzips der globalen Rahmenbedingungen sein. Unter dem Eindruck der Unglücksfälle verlieren manche den Blick dafür, daß die Schiffahrt insgesamt In diesem Zusammenhang möchte ich noch ein ein sicherer und umweltfreundlicher Verkehrsträger Wort zur zivilrechtlichen Haftung bei Ölverschmut- ist. Die Seeschiffahrtsmärkte sind inte rnationale zungsschäden sagen. Die Bundesregierung hat dem Märkte. Die Mehrzahl der eingesetzten Tankschiffe Deutschen Bundestag vorgeschlagen, den von fährt unter Billigflaggen. Nationale Maßnahmen, Deutschland unterzeichneten Protokollen zu Ölscha- auch im Rahmen der EU, stoßen angesichts dieser denabkommen zuzustimmen. Für die F.D.P.-Bundes- Strukturen schnell an ihre Grenzen. Die Weltschiff- tagsfraktion möchte ich festhalten, daß der Gesetzent- fahrtsorganisation IMO hat sich bisher als wichtiges wurf im Interesse auch der deutschen Seeschiffahrt und wirksames Instrument bewährt. Deswegen liegt. Wir wissen aber, daß gegenüber den Staaten, die möchte ich noch einmal darauf hinweisen, daß nur sich dem international vereinheitlichten Haftungs- eine deutsche H andelsflotte unser Mitspracherecht in und Schädigungssystemen nicht mehr angeschlossen der IMO sichert. haben, Probleme gibt. Dies gilt im besonderen für die USA. Im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit der deut- Das Durcheinander um die Gefährlichkeit des schen Seeschiffahrt und der damit verbundenen Pflanzenschutzmittels Apron Plus zeigt, daß berech- Arbeitsplätze bitte ich die Bundesregierung um Prü- tigte Besorgnis und Hyste rie eng aneinander grenzen. fung der Frage, wie wir sicherstellen können, daß bei Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesver- Unfällen mit Seeschiffen außerhalb des Geltungsbe- kehrsministerium, der Kollege Manfred Carstens, hat reichs des Protokolls gegen deutsche Reedereien kein am 8. März dieses Jahres ein eher unterkühltes Fazit höherer Schadenersatzanspruch besteht, als das deut- gezogen, indem er sagte: „Genau genommen wurde sche Recht in Übereinstimmung mit internationalen die Gefährlichkeit von Apron Plus überschätzt." Ich Schadenabkommen vorsieht. möchte noch einmal ins Gedächtnis rufen, daß der Kollege Michael Müller von der SPD ein Produktions- Ich möchte noch ein paar Worte zu dem aktuellen und Exportverbot für Pflanzenschutzmittel im Zusam- Thema „Deutsche Küstenwache" sagen. Das Bundes- menhang mit diesem Unglück gefordert hat. Die kabinett hat in dieser Woche den Be richt der Arbeits- F.D.P. lehnt diese SPD-Forderung ab. Wir sind nicht gruppe gebilligt. Der Be richt enthält viele sinnvolle die Lehrmeister anderer Nationen nach dem Motto: Vorschläge und Anregungen. Etwas stutzig macht Was wir nicht wollen, ist auch für andere tabu. Die natürlich die Forderung, die notwendige Erhöhung F.D.P. setzte sich gemeinsam mit der Bundesregie- der Qualität in der Aufgabenerfüllung teilweise durch rung für eine einheitliche, den Verbraucher schüt- entsprechend höhere Besoldungsgruppen beim Koor- zende Pestizid-Richtlinie in der Europäischen Union dinierungspersonal zu sichern. Wir werden den statt für dirigistische Maßnahmen ein, die nur die Bericht sicher noch in den Gremien des Deutschen Attraktivität des Standortes Deutschl and gefährden Bundestages beraten. Im Vorgriff darauf möchte ich und die Seeschiffahrt als unsicheren Verkehrsträger aber trotzdem erwähnen, daß ich schon etwas merk- diskriminieren. würdig finde, daß die bestehende störungsfreie und kostengünstige Zusammenarbeit mit der Rettungsleit- Es kommt darauf an, die Sicherheit gerade in den stelle der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiff- vielbefahrenen deutschen Hoheitsgewässern zu ver- brüchiger mit keinem Wort erwähnt wird. bessern. Ich freue mich, daß die Bundesregierung viele F.D.P.-Forderungen aufgenommen hat. Dazu Die F.D.P. setzt sich für eine leistungsfähige deut- gehören die Ausdehnung der Küstengewässer auf sche Handelsflotte ein, um den umweltfreundlichen 12 Seemeilen mit der Einrichtung einer ausschließli- Verkehrsträger Seeschiffahrt zu fördern. Die deutsche chen Wirtschaftszone, die Einführung der Doppelhül- Flotte ist aber nur dann wettbewerbsfähig, wenn ihr lenbauweise für neue Tanker noch in diesem Jahr gleiche Wettbewerbschancen geboten werden wie sowie eine Intensivierung der Vorsorgemaßnahmen ihren internationalen Konkurrenten. Das deutsche zur Bekämpfung von Schiffsunfällen. Für uns ist Zusatzregister, das das völlige Ausflaggen der deut- wichtig, daß mit Belgien, Frankreich, den Niederlan- schen Handels flotte verhindert hatte, kann sein End- den und Großbritannien wichtige Beschlüsse zur ziel nur in Kombination mit Finanzbeiträgen und einer Erhöhung der Sicherheit im Ärmelkanal und in der entsprechenden Gestaltung der steuerlichen Rah- 19260* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 menbedingungen erreichen. Der Europäische Ge- sorge. Ich darf noch einmal seine hauptsächlichen richtshof hat letztes Jahr klargestellt, daß das deutsche Ziele wiederholen: Zusatzregister keine Beihilfe ist. Die Sicherung der Erstens geht es uns darum, unser Rechtsinstrumen- Finanzbeiträge ist für die F.D.P. ein wichtiges Anlie- tarium darauf einzurichten, noch zügiger, noch unbü- gen. Dies gilt besonders für die Notwendigkeit, den rokratischer, effizienter mit den Entwicklungen der Reedereien Planungssicherheit zukommen zulassen. technischen Anforderungen und Normgebungen Die Verlängerung der Sonderabschreibungen im Schritt halten zu können, die in den verschiedensten Standortsicherungsgesetz waren ein wichtiger Bei- Gremien der internationalen Staatengemeinschaft trag zur Attraktivität des Standortes Deutschland im — vor allem in der Internationalen Seeschiffahrtsorga- Bereich der deutschen Seeschiffahrt. Dies gilt auch für nisation IMO in London — in einer immensen Fülle die Tarifbegrenzungen im Einkommen- und Körper- von Beratungen zum besten von Schiffssicherheit und schaftsteuerrecht. Meeresumweltschutz ausgearbeitet werden. Deutschland ist mit seinen Sicherheitsvorschriften weltweit in der Spitzenklasse. Im Bereich des Umwelt- Zweitens haben wir neue Rechtsentwicklungen in schutzes haben wir eine Vorreiterposition in Europa. der Europäischen Union aufzuarbeiten. Das bet rifft Die F.D.P.-Bundestagsfraktion ist stolz darauf. Die vor allem auch unser Flaggen- und Küstenschiffahrts- vorliegenden Gesetzentwürfe sind ein wichtiger recht. Ich brauche hier nicht zu betonen, wie wichtig Schritt, diese Position noch weiter auszubauen. diese europäische Integration ist. Drittens läßt diese Bundesregierung nicht in ihren Anstrengungen nach, zu deregulieren und z. B. bei Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Erfreulicher weise können wir einige unserer Forderungen im den amtlichen Schiffsbesichtigungen noch stärker das SPD-Antrag wiederfinden. Das Seerechtsabkommen Potential von Fachverstand zu aktivieren, das bei den von 1982 hat die Bundesrepublik jedoch immer noch anerkannten Klassifikationsgesellschaften im Markt nicht unterschrieben, die Bundesregierung sollte doch ist. mal erklären, warum. Ansonsten lauten unsere wich- In den Beratungen ist eingewandt worden, damit tigsten Forderungen zur Verbesserung der Sicherheit werde die Privatisierung der staatlichen Verantwort- der Tankschiffahrt und zum Schutz von Menschen lichkeit für die Schiffssicherheit vorprogrammiert. Ich und Umwelt: betone: Die staatliche Verantwortung für die Sicher- Alle Schiffe sind den neuesten internationalen heit der Seeschiffahrt und insbesondere der Schiffe- Sicherheitsstandards anzupassen, Klassifikationsge- unter der Bundesflagge wird ungeschmälert bleiben. sellschaften werden von der IMO zugelassen. Dies fordert das internationale Recht von uns, und wir sind aktiv an der Arbeit, diese Flaggenstaatverant- Alle Schiffe müssen in Abständen von drei Jahren wortlichkeit in der IMO weltweit nachhaltig zu stär- entsprechend den neuesten internationalen Sicher- ken. heitsstandards auf dafür qualifizierten Werften über- prüft und umgerüstet werden. Ohne diese Überprü- Mit dem internationalen Recht meine ich natürlich fung und Beseitigung der Mängel keine Fahrt. auch das UN-Seerechtsübereinkommen von 1982, das am 16. November dieses Jahres in Kraft tritt. Ich habe Europäische Gewässer dürfen nur noch von Doppel- mit Freude zur Kenntnis genommen, daß die Bemü- hüllentankern angelaufen werden. Europäische Ge- hungen der Bundesregierung, dieses Übereinkom- wässer dürfen nicht mehr von Unter-Standard-Schif- men und vor allem seinen Tiefseebergbauanteil auch fen angelaufen werden. Andere Schiffe, die bei für Industrieländer akzeptabel zu machen, nach Mit- Hafenkontrollen Mängel aufweisen und diese nicht teilungen aus dem Wirtschaftsministerium und dem sofort beseitigen, haben Anlaufverbot in EG-Häfen. Auswärtigen Amt höchst erfolgreich waren. Das Bun- Darüber hinaus müssen für Tankschiffe verbindli- desverkehrsministerium wirkt in vorderster Linie mit, che Fahrrouten vorgeschrieben, die Haftungsfolge wenn es darum geht, jetzt einen allgemein akzepta- muß verbindlich festgelegt werden. Jedes Schiff muß blen deutschen Beitritt zum Seerechtsübereinkom- eindeutig den Eigentümer ausweisen, es darf keine men herbeizuführen. Die Regelungen zur Moderni- Einschränkungen von Lotsendiensten geben. sierung der wichtigsten Gesetze des öffentlichen See- schiffahrtsrechts, die Sie vor sich haben, müssen nicht Die PDS/Linke Liste im Bundestag unterstützt die zuletzt in dieser Zukunftsperspektive gesehen wer- Forderung des Arbeitskreises „Andere nützliche Pro- den. dukte" der Bremer Vulkan-Werft nach einer Aus- schreibung der Bundesregierung für einen Prototyp Die Bundesregierung begrüßt die Beschlußempfeh- eines umwelt- und sozialverträglichen Schiffs. lung des Verkehrsausschusses des Deutschen Bun- destages zur Vermeidung von Öltankerunfällen. Sie mißt ebenso wie der Deutsche Bundestag der Schiffs- Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär beim Bun sicherheit und dem ma rinen Umweltschutz im deut- desminister für Verkehr: Die Vorlage der Bundesre- schen Küstenmeer hohe Bedeutung zu. Besonders das gierung „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung von deutsche Wattenmeer bedarf wirksamer Schutzmaß- Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der Seeschiffahrt" nahmen. demonstriert: Alles, was in unseren Kräften steht, um Gefahren von unserer Küste abzuwenden, wird getan. Die Bundesregierung hat sich viele Vorschläge des Die Bundesregierung handelt nicht nur, wenn Schiffs- heutigen Entschließungsentwurfs zu eigen gemacht unglücke Handeln veranlaßt. Das vor Ihnen liegende und bereits eine Reihe von Initiativen in der EU und in Gesetz ist ein Beispiel für besonnene Zukunftsvor der IMO ergriffen. Diese betreffen sowohl die Präven- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19261* tion von Schiffsunfällen als auch die Vorsorge im Ausnahmen für Binnenschiffe für Fahrten gemäß § 8 Bereich der Bekämpfung von Meeresverschmutzun- der Schiffssicherheitsverordnung in überarbeiteter gen. Dazu einige Beispiele: Form zugrunde liegen. Die Erweiterung der deutschen Hoheitsgewässer Die Kaiserbalje ist eine durch Beprickung gekenn- und die Ausweisung einer Ausschließlichen Wirt- zeichnete Seeschiffahrtsstraße, die bereits heute von schaftszone (AWZ) werden noch in diesem Jahr in Binnenschiffen befahren werden kann und auch Kraft gesetzt. Hiermit wird die Bundesrepub lik ihre befahren wird, wie z. B. von Schleppern und sonstigen Rechte als Küstenstaat voll ausschöpfen. Arbeitsschiffen unterschiedlicher Art, Transportpon- tons, Entsorgungsschiffen, Forschungsschiffen, klei- Das Bundeskabinett hat am 19. Ap ril 1994 die neren Fahrgastschiffen sowie Sportfahrzeugen. Ne- Zusammenführung der Einsatzleitungen sämtlicher ben der Erleichterung für Reeder und Be treiber von Kontrollfahrzeuge des Bundes in Nord- und Ostsee Binnenschiffen wird die genannte Änderung auch zu beschlossen. Hierdurch soll eine noch wirksamere einer Verwaltungsvereinfachung führen. Überwachung des Küstenmeeres erreicht werden. Eine einheitliche Kennzeichnung der Kontrollfahr- Das angesprochene Seegebiet enthält nur einen zeuge als „Küstenwache" wird die Außenwirkung natürlichen Verbindungsweg — Kaiserbalje —, des- verbessern. sen Ausbau aus morphologisch-technischen und aus Umweltschutzgründen nicht in Be tracht kommt. Die Vorsorge für die Schadensbekämpfung nach Daher werden nur solche Binnenschiffe zugelassen, Schiffsunfällen wird durch den Umbau der Ölbe- deren Abmessungen eine Fahrt auf der Kaiserbalje kämpfungsschiffe „Mellum" und „Scharhörn" für den schon heute zulassen. Das Bundesverkehrsministe- Einsatz bei Chemikalienunfällen und durch den Neu- rium wird durch Aufnahme eines Verbotes zum bau eines Spezialschiffes für die Bekämpfung von Öl- Befahren der Kaiserbalje durch Tankschiffe in einer und Chemikalienunfällen auf See weiter ausgebaut. Änderungsverordnung, die zum 1. Oktober dieses EU und IMO haben zum Teil auf deutsche Initiative Jahres in Kraft treten soll, sicherstellen, daß die eine Reihe von zusätzlichen Maßnahmen zur Schiffs- vorgesehenen Erleichterungen nicht für einen Ver- sicherheit und zum Schutz der Meeresumwelt ergrif- kehr mit Tankmotorschiffen gelten. Selbstverständ- fen. Die deutsche Ratspräsidentschaft in der zweiten lich wird vor Erlaß der Änderungsverordnung den Hälfte dieses Jahres gibt Gelegenheit, insbesondere Verkehrsressorts der Küstenländer Gelegenheit zur folgende Maßnahmen abzuschließen: Mindestausbil- Stellungnahme gegeben. dung für Seeleute, Qualitätsanforderungen für - Schiffsklassifikationsgesellschaften, einheitliche Ha- fenstaatkontrollen, Gebührenermäßigung für um- weltfreundliche Öltanker. Die EU hat bereits eine europaweite Meldepflicht Anlage 6 für alle Gefahrguttransporte, die europäische Häfen anlaufen, beschlossen. Für Deutschl and werden diese Zu Protokoll gegebene Reden Meldungen im Zentralen Meldekopf in Cuxhaven zu Tagesordnungspunkt 14 (Entwurf Schuldrechtsän zusammenlaufen und allen Behörden im Notfall zur derungsgesetz und Gesetzentwurf zum Schutz der Verfügung stehen. vertraglichen Nutzungen von Erholungsgrundstük ken) Nach dem „Sherbro"-Unfall haben die Nordseean- liegerstaaten Frankreich, Großbritannien, Belgien, Bundesmi- Niederlande und Deutschland vor allem Untersu- Sabine Leutheuser-Schnarrenberger, nisterin der Justiz: Die Überleitung des Bodenrechts chungsprogramme zur Vorhaltung von Bergungska- der ehemaligen DDR in unser bürgerliches Recht ist pazität, zum Wiederauffinden von über Bord gegan- eine der großen rechtspolitischen Herausforderungen genen Containern und zur besseren Sicherung von dieser Legislaturperiode. Ein erster Schritt wurde mit Containern an Bord vereinbart. dem Registerverfahrensbeschleunigungsgesetz ge- Zu dem in der Presse angesprochenen Schiffsver- tan. Die Beratungen zum Sachenrechtsänderungsge- kehr zwischen Jade und Weser über die Kaiserbalje setz stehen kurz vor dem Abschluß. Heute befassen möchte ich folgendes bemerken. Die Bundesregie- wir uns erstmalig mit dem Schuldrechtsänderungsge- rung beabsichtigt weder die Öffnung dieses Fahrwas- setz, das die Anpassung der bodenrechtlichen Bestim- sers für den Tankerverkehr noch eine Vertiefung der mungen der DDR abschließen so ll. Fahrrinne. Das Bundesverkehrsministerium will im Schuldrechtsänderungsgesetz: Das heißt insbeson- Rahmen einer Änderung der Schiffssicherheitsverord- dere Schuldrechtsanpassungsgesetz, in dessen Mit- nung den Verkehr von Binnenschiffen zwischen Jade telpunkt wiederum die Nutzungsverträge über soge- und Weser durch die Kaiserbalje im Seebereich süd- nannte Erholungsgrundstücke stehen. Diesen Grund- lich der Insel Alte Mellum zweckmäßiger regeln. An stücken kommt in den neuen Bundesländern nach wie die Stelle der bisherigen zeitaufwendigen Einzelfall- vor eine erhebliche soziale Bedeutung zu. entscheidung für jede Fahrt soll nach Prüfung von zusätzlichen nautischen und technischen Anforderun- Der Einigungsvertrag hat uns aufgegeben, diese gen für Binnenschiffe im küstennahen Seebereich Nutzungsverhältnisse an die Bestimmungen des Bür- eine Bescheinigung mit einer Geltungsdauer bis zu gerlichen Gesetzbuchs anzupassen. Es besteht drin- zwei Jahren treten, die die Sicherheit des Schiffes für gender Handlungsbedarf, weil die derzeitige Rechts- Fahrten durch die Kaiserbalje bestätigt; ihr werden lage bei den Betroffenen zu erheblichen Rechtsunsi- auch weiterhin die Grundsätze für die Erteilung von cherheiten führt. 19262* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Die Konzeption des Ihnen vorliegenden Entwurfs Insoweit muß aber gesehen werden, daß die Inan- wird von allen Bundesländern, insbesondere den spruchnahme der Grundstücke in den meisten Fällen neuen Bundesländern, mitgetragen. Die in der ehe- ohne oder gegen den ausdrücklich erklärten Willen maligen DDR abgeschlossenen Nutzungsverträge sol- der Grundstückseigentümer erfolgte. Die Bel ange der len danach in Miet- bzw. Pachtverträge umgewandelt Grundstückseigentümer dürfen deshalb nicht außer werden. Betracht bleiben, ihre Dispositionsbefugnis darf nicht Demgegenüber sprechen sich einige Interessenver- unangemessen eingeschränkt werden. bände für die Einbeziehung dieser Verträge in die Die Zeit für die weiteren Beratungen wird knapp. Sachenrechtsbereinigung oder die Umwandlung der Wir sollten und müssen meines Erachtens jedoch die Verträge in Nießbrauchsrechte und damit für eine Möglichkeit nutzen, mit dem Schuldrechtsänderungs- stärkere Rechtstellung der Nutzer aus. Diese Vor- gesetz die Überleitung des Bodenrechts der DDR noch schläge laufen darauf hinaus, den Nutzungsberech- in dieser Legislaturperiode abzuschließen. Die Betrof- tigten weitergehende Befugnisse einzuräumen, Os fenen erwarten, daß sowohl die Sachenrechtsbereini- das Recht der DDR für diese Fälle vorsah. Die Nutzung gung als auch die Schuldrechtsanpassung noch in von Freizeitgrundstücken war in der DDR vertraglich dieser Legislaturperiode verabschiedet werden. zu regeln. Der Bestands-und Investitionsschutz für solche Grundstücke blieb — entsprechend der wirt- schaftlichen und sozialen Bedeutung — klar hinter Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN): den für Eigenheime vorgesehenen Bestimmungen Auch bei diesem Gesetzentwurf handelt es sich um die Erledigung eines Auftrages aus dem Eini- zurück und spricht damit gegen einen Schutz der gungsvertrag. Hatte Anlage 1 Kap. 3 Art. 233 aus dem Nutzer, der über die vorgesehene schuldrechtliche Absicherung hinausgeht. EGBGB die Grundlage für das umfangreiche Sachen- rechtsänderungsgesetz gebildet, so sind wir numehr Selbstverständlich muß aber auch hier durch Über- verpflichtet, aufgrund von Art. 232 EGBGB das Recht gangsbestimmungen ein sozialverträglicher Interes- der Schuldverhältnisse im Berich der ehemaligen senausgleich zwischen Grundstückseigentümern und DDR auf feste Grundlagen zu stellen. Der Einigungs- Nutzern herbeigeführt werden. Dies leistet der Ent- vertragstext ging noch von der Voraussetzung aus, wurf, indem er einen weitgehenden Besitzschutz, eine daß besondere Regelungen sich auf das Problem der moderate Erhöhung der Nutzungsentgelte und Erholungsgrundstücke würden beschränken lassen. zugunsten der Nutzer vom BGB abweichende Rege- Wie man sieht, eine unrealistische Voraussetzung. lungen zum Wertausgleich bei Vertragsbeendigung - vorsieht. Der Gesetzgeber stand auch in diesem Fall vor ungewöhnlich schwierigen Aufgaben. Galt es doch, Kündigungen des Grundstückseigentümers sind eine Rechtslage, die aufgrund der Verordnung zur während einer Übergangszeit nur zulässig, wenn Sicherung von Vermögenswerten vom 17. Juli 1952 dieser ein gesetzlich anerkanntes überwiegendes und schließlich im umfassenden Sinne durch das Interesse an der Vertragsbeendigung hat. Die Länge Zivilgesetzbuch von 1976 entstanden war, auf ganz der Bestandsschutzfrist hängt einerseits von der Art neue, der Tradition des Bürgerlichen Gesetzbuches der Nutzung und dem Umfang der baulichen Investi- folgende Grundlagen zu stellen. tionen sowie andererseits dem Gewicht der Gründe, die der Grundstückseigentümer für eine Beendigung Wir mir scheint, ist das in dem vorliegenden Entwurf des Vertragsverhältnisses geltend machen kann, ab. mit einer gewissen Konsequenz, aber auch nicht ohne Die Bestandsschutzfristen laufen zwischen dem Brüche der Systematik gelungen, bestand doch die 31. Dezember 2002 und dem 31. Dezember 2020 Hauptaufgabe da rin, die in der DDR-Gesetzgebung aus. vermischten sachenrechtlichen und schuldrechtli- chen Regelungen zu entwirren. Dies aber mußte auf Der Besitzschutz soll jedoch nicht dazu führen, daß eine Weise geschehen, die auch die berechtigten der Grundstückseigentümer auf Dauer von einer Interessen der DDR-Nutzer und Nutzerinnen berück- angemessenen Bodenverzinsung ausgeschlossen sichtigte. wird. Deswegen sollen die Nutzungsentgelte schritt- weise auf das allgemein übliche Niveau angehoben Grundgedanke des Gesetzes bleibt das Vorhaben werden. des Einigungsvertrages, die aus der DDR-Zeit stam- menden Vertragsverhältnisse in solche der Miete und Werterhöhungen, die der Nutzer bis zur Beendi- der Pacht nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch umzu- gung des Vertragsverhältnisses vorgenommen hat, wandeln. Art. 2 aber zeigt, daß hier eine Restmenge sind angemessen auszugleichen. Dies gilt insbeson- bleibt, die gegen die Systematik des Gesetzes sachen dere für ein vom Nutzer errichtetes Bauwerk und für rechtlich behandelt und in Erbbauverhältnisse über- von ihm vorgenommene Anpflanzungen. Ist der führt werden soll. Grundstückseigentümer ausnahmsweise vor Ablauf der Bestandsschutzfrist zur Kündigung berechtigt, Der Gesetzentwurf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN muß er dem Nutzer auch die Vermögensnachteile versucht demgegenüber, im Bereich der Erholungs- ausgleichen, die diesem durch die vorzeitige Beendi- grundstücke auf Rechtsprobleme sui gene ris mit einer gung des Vertragsverhältnisses entstehen. Rechtsregelung sui gene ris zu antworten. Damit wird Der Bundesrat hat in einigen Punkten eine Verbes- beabsichtigt, den Nutzern von Erholungsgrundstük- serung der Rechtsposition des Nutzers vorgeschlagen. ken gegenüber dem Eigentümer das dingliche Recht Dies würde aber zwangsläufig eine weitere Belastung des Nießbrauchs einzuräumen. der Grundstückseigentümer nach sich ziehen. Ein Inhalt des mit dem Eigentümer zu schließenden angemessener Schutz der Nutzer ist sicher notwendig. Vertrages ist dann die lebenslängliche Nutzung bei Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19263*

der Übernahme aller zum Grundstück gehörenden berücksichtigt werden. Der Bürger im Westen konnte Lasten unter den speziellen Bedingungen des auszu- eben durch sein Einkommen Vermögen bilden. Im handelnden Vertrages. Der Vorzug dieser Regelung Osten war dies nicht möglich. Man schaffte sich ist einmal, daß sie sich s treng an die Vorgabe des anderes, z. B. eben solch ein Domizil, eine Nische, wie Einigungsvertrages zu Art. 232 EGBGB § 4 Abs. 1 hält. es ein Wochenendhaus darstellte. Sozialverträglicher Zweitens ist sie flexibler als die in A rt. 2 des Regie- Interessenausgleich heißt heute auch noch, daß das rungsentwurfes vorgesehene enge Erbbaurechtslö- noch niedrige Erwerbseinkommen der Bürger im sung. Und schließlich bleibt das Eigentumsrecht des Osten Deutschlands ebenfalls berücksichtigt werden Alteigentümers gewahrt, wenn auch der gegenwär- muß. tige Zustand fortgesetzt wird, eine unter den obwal- tenden historischen und gesellschaftlichen Umstän- Ich glaube, der vorliegende Entwurf wird diesen den zumutbare Belastung. Erfordernissen in vielen Bereichen gerecht. Insbeson- dere, weil bestehende Nutzverhältnisse, in die dem Wie man hört, regt sich bei Ländern und Kommunen BGB bekannten Rechtsinstitute der Miete und Pacht Widerstand gegen diesen Vorschlag. Es wäre be- überführt werden, und damit auf eine eindeutige dauerlich, wenn zu der schon im Gang befindlichen gesetzliche Grundlage gestellt werden. Es wird die- Auseinandersetzung zwischen Alteigentümern und sem Gedanken gerecht, weil den Nutzungsberechtig- DDR-Nutzern eine dritte Konfliktpartei käme, die auf ten durch Einräumung besonderer Kündigungsfristen einmal ihrerseits Interessen entdeckt, die sie bisher als ein Abschreiben der getätigten Investitionen ermög- ungerecht und eigennützig kritisiert hat. Eine solche licht wird und auf der anderen Seite bei Räumung des zusätzliche Erschwerung wäre um so bedauerlicher, Grundstückes den Nutzungsberechtigten eine Ent- als der Gesetzentwurf ohnehin sozialen Sprengstoff schädigung für den Restwert zugestanden wird. im Überfluß enthält. Denn wie wi ll man es Bürgern und Bürgerinnen vermitteln, daß sie auf einmal in Es wird in dem Gesetz darauf eingegangen, daß der Häusern, die sie ja aufgrund von Verträgen bewoh- innere Zusammenhang zwischen dem Bestandsschutz nen, die teilweise unkündbar und ohne Bef ristung und dem bei der Beendigung des Nutzungsverhältnis- waren, zu Mietern aufgrund neubelebter, historisch in ses zu leistenden Wertausgleich sowie etwaiger weiter Ferne begründeter Ansprüche werden? Es Abrißkosten gewahrt wird. Es wird auch darauf ein- wäre doch gut, wenn der Gesetzgeber die möglichen gegangen, daß ein hohes Schutzbedürfnis für Gewer- politischen Folgen noch einmal überdächte. betreibende besteht, weil sie für den Fortbestand ihrer Existenz Kreditgrundlagen benötigen. - Mit diesen grundsätzlichen Gedanken wird dem Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Heute wird das Ziel des Gesetzes Rechnung ge tr Schuldrechtsänderungsgesetz in den Deutschen Bun- agen, nämlich der Schaffung eines einheitlichen Rechtssystems, und destag eingebracht, und wir schließen damit den Kreis damit leistet dieses Gesetz einen Beitrag zur Deut- der Eigentumsbereinigungsgesetze in den neuen schen Einheit. Bundesländern. Auch bei diesem Gesetz wird deut- lich, wie unterschiedlich mit Eigentum in Ost und Ich möchte noch einmal auf ein grundsätzliches West umgegangen wurde und wie kompliziert es ist, Problem des Gesetzes eingehen und erläutern, warum das Ergebnis eines als Diktatur geführten Gesetzes- Bestandsschutz noch eine geraume Zeit gegeben staates in unser rechtsstaatliches System zu überfüh- werden muß und warum vielleicht sogar der ein oder ren. Es geht uns in diesem Gesetz um Miet-, Pacht- andere Bestandsschutzzeitraum verlängert werden und sonstige Nutzungsverträge, die auf Grundlage sollte. Wir haben auf der einen Seite Menschen, die es des Zivilgesetzbuches der DDR erstellt wurden und 40 Jahre mit staatlich gelenkten Strukturen zu tun die heute durch BGB-konforme Regelungen ersetzt hatten. Wir haben es auf der anderen Seite mit werden müssen. Es geht dabei um Menschen, die sich Menschen zu tun, die gehindert wurden, ihr Eigentum mit den geringen Mitteln, die ihnen zur Verfügung zu nutzen, über ihr Eigentum zu verfügen. Diese standen, zu DDR-Zeiten etwas geschaffen haben, also beiden Personengruppen stehen sich heute gegen- ein Wochenendhaus, eine Garage oder ein Gebäude über. Das Verhältnis zwischen den Beteiligten ent- für ihren Gewerbebetrieb, die sich heute einer frem- spricht keinen gewachsenen Strukturen, wie wir sie den ungewohnten Situation gegenübergestellt sehen. bei Miet- und Pachtverhältnissen auf Grundlage des Aber es geht auch um Menschen, über deren Eigen BGB im Westen Deutschlands vorfinden. Ein Pacht- tum andere, Fremde, der Sozialismus bestimmt hat. oder Nutzungsvertrag über ein Ferienhaus im Westteil Diese beiden Parteien Nutzer und Grundeigentümer Deutschlands ist daher kein Problem, da die Parteien stehen sich heute gegenüber. Sie hatten keinen Ein- wußten, wo sich das Grundstück befindet, auf was fluß darauf, daß sie sich heute gegenüberstehen, und man sich einläßt und welche Nutzung man haben will das bringt ganz einfach eine Menge auch zwischen- oder selbst erreichen wollte. Beim Pachtvertrag Ost menschlicher Probleme mit sich. Deshalb muß es stehen sich Bürger gegenüber, die mir manchmal unser Ziel sein, auf der Grundlage des Einigungsver- vorkommen wie hochgezüchtete Kampfhähne, die trages einen sozialverträglichen Interessenausgleich wie wild aufeinander losgehen, wenn man sie aufein- zwischen den Grundstückseigentümern und den ander losläßt. Es ist kein gewachsener friedlicher Grundstücksnutzern herbeizuführen. Dabei müssen Hühnerhof, wo sich, wie unter jungen Hähnen üblich, das jahrzehntelang gewachsene Bewußtsein einer mal der oder andere miteinander streitet, daß die langfristigen und zumindestens billigen Nutzungs- Fetzen fliegen. Beide Parteien sind sehr hoch emotio- möglichkeit fremder Grundstücke und die verschie- nal geladen, und diese Emotionalität ist für mich denen wirtschaftlichen Erwerbsmöglichkeiten in Ost verständlich. Der eine konnte nicht reisen, er konnte und West in der Vergangenheit und in der Gegenwart kein Vermögen bilden, will deshalb das, was er sich in 19264* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 seinem Leben geschaffen hat, behalten und nutzen. Es von Ein- und Zweifamilienhausnutzern umgehbar ist. ist für ihn ein Stück seines Lebens geworden. Der Aus Fehlern soll man lernen und deshalb mein Appell, andere, der Grundstückseigentümer, will endlich daß uns das in diesem Gesetz nicht passiert. über sein Eigentum verfügen. Er möchte am liebsten Noch eine letzte Bemerkung: Das Gesetz verweist alles sofort kündigen. Deshalb muß es unser Ziel sein, auf drei DDR-Gesetze, drei einigungsbedingte Ge- langsam den Dampf aus dem Kessel zu lassen, damit setze und auf das BGB, und das manchmal in einem sich beide Parteien überhaupt erst einmal aneinander Paragraphen. Das ist für den Nutzer, der sich rechts- gewöhnen können. Ich glaube in fünf, zehn oder kundig machen will, eine Überforderung, ja eine 15 Jahren sieht die Welt anders aus, dann kann man Zumutung. Dieser redaktionellen Aufgabe, ein bür- mit der Situation, ja miteinander umgehen. So wird gerfreundliches, lesbares Gesetz zu schaffen, sollten der Grundstückseigentümer vielleicht feststellen, daß wir uns stellen. sein Grundstück heute durch die Nutzung ideal genutzt wird, und gibt deshalb dem Pachtvertrag Im großen und ganzen halte ich die Vorlage der freiwillig einen längeren Bestand, weil eben sein Bundesregierung für ein gutes Gesetz. Eine Reihe von Grundstück kein Bauland wird und die Zweckbestim- Detailfragen müssen geklärt werden. Wichtig muß für mung Wochenendsiedlung ihm den meisten Nutzen uns der Interessenausgleich zwischen den Menschen bringt. sein, wobei die Lebenssituation Ost nicht mit westli- chen Ellen gemessen werden darf und viele das Auf der anderen Seite wird vielleicht der Nutzer Rechtsverständnis West erst lernen müssen. feststellen, daß seine Garage, die zwei Kilometer weit von seiner Wohnung entfernt liegt, bei geklärten und sicheren Parkplatzverhältnissen vor seinem Haus für Hans-Joachim Hacker (SPD): In einer Kette von ihn eher eine Last ist. Dann kann er sie mit leichterem Rechtsanpassungsregelungen für die neuen Länder Herzen aufgeben. Aber das braucht Zeit, und diese behandeln wir heute das Schuldrechtsänderungsge- Zeit spiegelt sich in der Gesetzesvorlage in einer setz in erster Lesung. Der zentrale Regelungsbereich Staffelung wider. Ob es die richtigen Zeitintervalle dieses Gesetzgebungsvorhabens ist die Klärung der sind, das ist die Frage, die mich am meisten bewegt, Rechtsverhältnisse an Erholungsgrundstücken. Da für und das müssen wir nächste Woche in der Anhörung diese Nutzungsart keine dinglichen Rechte bestan- erfragen. den, konnten sie nicht in das Sachenrechtsänderungs- gesetz einbezogen werden. Das ist für die Freizeitnut- So sollten Gebäude, die stärker als Lebensmittel- zer kaum verständlich, da zum Zeitpunkt der Begrün- punkt von Betroffenen genutzt werden, längere dung der Nutzungsverhältnisse die Frage der Unter- Bestandsschutzfristen haben. Ich denke hier an Paral- scheidung zwischen dinglichen und schuldrechtli- lelen im Berliner Umland oder in anderen großen chen Ansprüchen praktisch keine Bedeutung hatte. Städten nach dem Krieg, wo jede Hütte zu Wohn- zwecken benutzt werden mußte und sollte und wo Nach den Maßgaben des Einigungsvertrages muß ebenfalls nur langsam zur Normalität zurückgekehrt nun eine Klarstellung erfolgen. Für die SPD-Bundes- wurde. Deutlich muß aber sein, egal wie: Es gibt nur tagsfraktion gilt auch bei diesem Gesetzgebungsvor- Bestandsschutzfristen, und damit einen Endtermin. haben: Wir müssen die Lebensrealität, wie sie sich in Dieser Endtermin ist aber kein Ende, sondern der der DDR entwickelt hatte, berücksichtigen. Eine rein Beginn normaler BGB-Verhältnisse mit allen Rechten, formale Anwendung des Bundesrechtes auf die Nut- Pflichten und Fristen. Es wird also nicht zu Wild-Ost zungsverhältnisse über Freizeitgrundstücke würde zu kommen. Schaden für den inneren Einigungsprozeß führen und die nachteiligen Folgen der unterschiedlichen Rechts- Wochenendgrundstücke können nicht in das entwicklung während der Teilung Deutschlands ein- Sachenrechtsbereinigungsgesetz übernommen wer- seitig den Nutzern anlasten. Wir müssen bedenken den. Das würde zu deutlichen Verwerfungen unter — und hierbei wende ich mich insbesondere an die raumordnerischen Gesichtspunkten führen. Unbe- Kolleginnen und Kollegen aus den alten Ländern —: nommen bleibt es den Kommunen jedoch, wenn Die Freizeitgrundstücke zur Erholung hatten in der möglich sinnvoll z. B. Wochenendsiedlungen in DDR einen anderen Stellenwert als in der alten Eigenheimsiedlungen umzuwandeln und dann eine Bundesrepublik. Sie waren ein Stück Selbstbestim- entsprechende Erschließung vorzunehmen und den mung in einem vormundschaftlichem Staat. Sie boten Ausbau von Wochenendhäusern oder den Um- und den Ersatz für beschränkte Reise- und Freizeitgestal- Neubau zu ermöglichen. tungsmöglichkeiten in der DDR. Der Aufenthalt auf Wir müssen darauf achten, daß Spekulation ausge- den Erholungsgrundstücken war für viele Menschen der Ausgangspunkt zur Entwicklung und Pflege zwi- schlossen wird. Ich hielt es für nicht gut, wenn wir im schenmenschlicher Beziehungen, deren Wert nicht in Gesetz festlegten, daß vorzeitige Kündigung dann Mark und Pfennig zu messen ist. Diese sozialen möglich ist, wenn dringender Wohnbedarf gegeben Funktionen haben auch über die Wendezeit und die ist und Grundstückseigentümer beispielsweise ihr damit verbundenen gravierenden Veränderungen im Grundstück an jemand veräußern können, der diesen politischen und sozialen Bereich ihre Bedeutung dringenden Wohnbedarf hat, und somit vorzeitig und erhalten. aus meiner Sicht ungerechtfertigt die gesetzliche Situation eintrifft, das Sonderkündigung möglich wird Wer diese Besonderheiten nicht beachtet, sondern und der Nutzer sich dann übergangen fühlen muß. eine formale Rechtsanpassung betreibt, begeht nicht Diesen Lapsus haben wir uns im Vermögensgesetz nur Unrecht gegenüber den redlichen Nutzern, son- geleistet, als wir die Verkäufe von Restitutionsanträ- dern bereitet den Boden für Demagogen und die gen zugelassen haben und somit das Vorkaufsrecht Radikalisierung in den neuen Ländern. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19265*

Meine Damen und Herren, die Abgeordneten müs- mentlich der Kündigungsregelungen und der Nut- sen in den folgenden Beratungen sorgfältig prüfen, ob zungsentgelte, in den nach dem ZGB der DDR der Gesetzentwurf den von mir hier dargestellten geschlossenen Verträgen über die Bodennutzung zu Anforderungen entspricht. Aus der Sicht der SPD- Erholungszwecken als „Mißverhältnisse" läßt außer Fraktion ist bereits jetzt Nachbesserungsbedarf deut- Acht, daß unter Bedingungen, daß der Boden nicht lich erkennbar. Wir sind der Auffassung, daß es zu verkehrsfähig war, und angesichts der Einkommens- einer deutlichen Verlängerung der Kündigungs- verhältnisse diese Vertragsverhältnisse durchaus an- schutzfristen kommen und daß die Stellung des Nut- gemessen waren. zers gegenüber neuen Grundstückseigentümern ge- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden also stärkt werden muß. Ebenso greifen wir Forderungen nicht übergeordnete Rechtsprinzipien bedient oder aus dem Bereich der Nutzer von Freizeitobjekten auf, das Gemeinwohl, sondern überwiegend die Interes- die die Einräumung eines Vorkaufsrechtes sowie eine sen der westdeutschen Erbengemeinschaften. Es geht Befreiung von möglichen Abbruchkosten für Baulich- um eine dauerhafte Eigentumsverschiebung von Ost keiten im Falle der Beendigung des Vertragsverhält- nach West, wie sie schon auf dem Gebiet des Produk- nisses fordern. tivvermögens weitgehend stattgefunden hat sowie In der nächsten Woche findet in Leipzig eine Anhö- beim Wald gerade stattfindet, und eben deshalb geht rung zum Gesetzentwurf statt. Ich bin sicher, daß diese man nicht so behutsam mit dem vorgefundenen Veranstaltung der sachbezogenen Meinungsbildung Bodenrecht und Mietrecht der ostdeutschen Länder dienen wird. Ich bitte Sie, meine Kolleginnen und um, wie es seinerzeit die Väter des BGB und die Kollegen aus der Koalition, sich notwendigen Verbes- alliierten Siegermächte mit dem vorgefundenen Zivil- serungen des Gesetzentwurfes, die dem sozialen recht taten. Frieden in den neuen Ländern dienen, nicht zu Zweitens. Wenn man schon die Rechtsfiguren des verschließen. BGB zur Grundlage nehmen wi ll, dann muß zumin- dest von den tatsächlich vorgefundenen Verhältnis- Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Das jetzt sen ausgegangen werden. Die Zuordnung der Nut- auch in den Bundestag eingebrachte Artikelgesetz ist zungen fremden Bodens zur Sachenrechtsbereini- aus der Sicht der meisten Ostdeutschen — und beson- gung bzw. zur Schuldrechtsänderung nach dem Kri- ders aus der Sicht der ostdeutschen Nutzer von terium der Bestellung dinglicher Nutzungsrechte ist Grundstücken — höchst überflüssig. Sie könnten in sachfremd. Es war für die Bürger der DDR mehr oder dieser Frage durchaus mit dem status quo leben. weniger zufällig und subjektiv auch völlig irrelevant,- Ich will in der mir gebotenen Kürze auf einige auf welcher rechtlichen Grundlage sie ein Gebäude Argumente der Begründung der Bundesregierung auf „fremden" Grund und Boden errichteten. Sie eingehen. konnten sich in jedem Fall darauf verlassen, daß ihnen das Nutzungsrecht am Boden und das Eigentum an Erstens. Die bestehenden Verhältnisse müßten in dem Gebäude niemand streitig machen würde. Dabei BGB-konforme Rechtsverhältnisse übergeleitet wer- sollte es grundsätzlich auch in Zukunft bleiben. den. Aus der Sicht meiner Klientel — das sind 3 Mil- Zumindest sollten immer da, wo Gebäude nach den lionen oder 53 % aller ostdeutschen Haushalte, die Vorschriften der DDR rechtmäßig errichtet wurden, eine sogenannte Datsche besitzen — besteht dazu die Möglichkeiten des Sachenrechts eröffnet werden überhaupt kein Anlaß. Sie sehen an diesen Zahlen, — also Kauf oder Erbbaurecht zu den im Sachen- daß es nicht um den immer wieder beschworenen rechtsänderungsgesetz vorgesehenen Bedingungen. Stasi-General mit Seegrundstück geht, sondern um eine Massenerscheinung der Lebensweise in Ost- Drittens. Es muß berücksichtigt werden, daß die deutschland. Und wenn dieser Entwurf in der vorlie- Bodeneigentümer häufig keinen Beitrag zum Wertzu- genden Form Gesetz wird, dann wird am Ende eine wachs der Grundstücke geleistet haben. Bei den massenhafte Vertreibung der Ostdeutschen von ihren Grundstücken, die zu Erholungszwecken zugewiesen Wochenendgrundstücken stattgefunden haben. Es wurden, handelte es sich überwiegend um minder- gibt auch keinerlei übergeordnete Rechtsprinzipien, wertige Acker, Odland, minderwertigen Wald, Bra- die dazu zwingen würden, die ostdeutschen Verhält- chen und selbst um Müllkippen. Erst durch die nisse auf das BGB überzuleiten. Als das BGB im Jahre Erschließungsarbeiten der Nutzer, konnten sie zu 1900 in Kraft gesetzt wurde, bedeutete dies durchaus Erholungszwecken freigegeben werden. Es ist nicht nicht die Herstellung der Rechtseinheit im Zivilrecht, einzusehen, warum die Wertzuwächse solcher Flä- im Gegenteil: 97 Artikel des EGBGB befaßten sich chen allein den Grundstückseigentümern zugute damals mit den Zugeständnissen an fortbestehendes kommen sollten. Landesrecht. Das Anerbenrecht gilt — mit Ausnahme Viertens. Wenn hier über dieses Gesetz beraten von Berlin, Bayern und dem Saarland — bis heute als wird, sollte immer bedacht werden. Daß sich die Frage landesgesetzliche Vorschrift. Die Nationalsozialisten einer Rechtsangleichung in Ostdeutschland an das hatten es durch ihr Erbhofgesetz aufgehoben, die BGB in diesem Hause überhaupt stellt, ist ja nicht das Alliierten setzten es durch Kontrollratsgesetz wieder Verdienst der westdeutschen Alteigentümer, sondern in Kraft. So behutsam gingen damals Siegermächte das derjenigen, denen jetzt etwas weggenommen mit dem deutschen Landesrecht um. werden soll, daß ihnen mehr oder weniger lange als Auch im Detail lassen die Ausführungen der Bun- Eigentum oder wie Eigentum gehörte. desregierung zur Begründung der geplanten Ände- Fünftens. In der Erwiderung der Bundesregierung rungen die Sachkenntnis vermissen: Die Deutung der auf die Stellungnahme des Bundesrates heißt es — auf vertraglichen Leistungen und Gegenleistungen, na Seite 90 der Drucksache —, es müsse ein sachgerech- 19266* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 ter und sozialverträglicher Ausgleich der gegensätzli- Anlage 8 chen Interessen gefunden werden. Die Interessen sind Antwort in der Tat höchst gegensätzlich: Für die ostdeutschen Datschenbesitzer geht es um die Erhaltung eines sehr des Parl. Staatssekretärs Dr. Wilhelm Knittel auf die wichtigen Teiles ihrer Lebensweise, die in vielen Fragen des Abgeordneten Dr. Karl - Heinz Klejdzinski Fällen Lebensmittelpunkt für sie war. Für die west- (SPD) (Drucksache 12/7295 Fragen 18 und 19): deutschen Alteigentümer geht es um die Vermark- Ausgehend davon, daß die Bergung von Kampfstoffmunition tung von Immobilien. An der gleichen Stelle in der aus der Ostsee erhebliche Probleme sowohl bei der Bergung selber, als auch beim Abtransport und bei der Entsorgung Erwiderung der Bundesregierung wird diese Feststel- aufwirft — wobei durch die arsenhaltigen Kampfstoffe eine nicht lung bestätigt, wenn es heißt: „Es ist zu erwarten, daß einzuschätzende Gefahr für unsere Umwelt vorliegt—, frage ich die Bedeutung der Freizeitgrundstücke in den neuen die Bundesregierung, welche Schlüsse sie aus den Arbeitsergeb- Bundesländern in dem Maße abnehmen wird, in dem nissen der Arbeitsgruppe (CHEMUN) Helsinki-Kommission sich die Lebensverhältnisse denen in den alten Bun- zieht, die Anfang 1994 vorzulegen waren? desländern angleichen. Insbesondere ein geändertes Da nach Vorliegen der Arbeitsergebnisse eine erneute Bewer- tung des Gefahrenpotentials beabsichtigt und notwendig ist, Freizeitverhalten und eine zunehmende berufliche frage ich die Bundesregierung, ob sie meine Auffassung teilt, Mobilität werden die Bindung vieler Nutzer an die daß die Beseitigung der Kampfstoffe dringend Aktivitäten erfor- Erholungsgrundstücke lockern. " Abgesehen von der dert und nicht dem Zahn der Zeit überlassen werden sollte, bis beneidenswerten Gabe des Verfassers, in die Zukunft die chemische Zeitbombe explodie rt, so daß es wichtig ist, notfalls gemeinsam mit der Europäischen Union diese gefährli- sehen zu können. Den westlichen Anspruchstellern, chen Altlasten umweltfreundlich zu entsorgen? die ja über dieses moderne Freizeitverhalten schon jetzt verfügen, geht es also nicht um die eigene Zu Frage 18: Nutzung der Grundstücke und um die Bindung an sie, sondern um ihre Kapitalisierung. Die Bundesregierung zieht aus den Arbeitsergeb- nissen der Arbeitsgruppe der Helsinki-Kommission Als 1990 während der Beitrittsverhandlungen viele „CHEMU" und der Bund/Länder-Arbeitsgruppe Ostdeutsche hinsichtlich ihres Immobiliarbesitzes „Chemische Kampfstoffe in der Ostsee" folgende beunruhigt waren, wurden sie mit dem Hinweis ruhig Schlußfolgerungen: gestellt, sie fielen doch mit dem Beitritt zur Bundesre- — Von einer Bergung der Kampfstoffmunition wird publik nicht unter die Räuber. Ich muß Ihnen leider abgesehen, da die hiermit verbundenen Gefahren sagen, daß heute angesichts der Pressionen, denen sie ungleich höher einzuschätzen sind als das beste- ausgesetzt sind, viele meiner Landsleute doch wohl - hende geringe Gefährdungspotential bei Belassen eher diesen Eindruck haben. der Kampfstoffmunition auf dem Meeresboden. — Durchführung der von den Arbeitsgruppen emp- fohlenen Maßnahmen wie Untersuchungen in den Versenkungsgebieten und Laboruntersuchungen der Kampfstoffe zur weiteren Absicherung der bisherigen Ergebnisse, Überprüfung der Verhal- Anlage 7 tensregeln bei Kampfstoff- und Munitionsfunden, Antwort Überarbeitung des Informationsmaterials für die betroffenen Kreise. des Staatssekretärs Dr. Wilhelm Knittel auf die Frage Das Bundesamt für Seeschiffahrt und Hydrographie der Abgeordneten Verena Wohlleben (SPD) (Druck- sache 12/7295 Frage 17): wird 1994 und 1995 Untersuchungen in den Versen- kungsgebieten im Bereich des deutschen Festland- Hat die Bundesregierung aufgrund des schweren Schulbusun- sockels durchführen. Das Bundesverkehrsministe- falls in Lage im Februar dieses Jahres Gespräche mit dem Ziel in rium hat für den 22. April 1994 zu einer Ressortbe- der EU aufgenommen, eine Anschnallpflicht in Schulbussen und eine europaweite Regelung über die Ausstattung von Schulbus- sprechung eingeladen, in der die Durchführung der sen zu normieren, und wenn ja, mit welchen Ergebnissen? übrigen von den Arbeitsgruppen empfohlenen Maß- nahmen erörtert werden soll.

Die Bundesregierung hat gemeinsam mit einigen Zu Frage 19: anderen Mitgliedstaaten die EU-Kommission gebe- ten, in den noch fertigzustellenden EU-Richtlinien für Beide Arbeitsgruppen raten von einer Bergung der Kraftomnibusse u. a. eine Ausrüstungspflicht mit Kampfstoffmunition ab (siehe Antwort zu Frage 18). Sicherheitsgurten für sogenannte Reisebusse — das Die Bundesregierung wird sich daher nicht für eine sind Kraftomnibusse, in denen keine Stehplätze zuge- Beseitigung der Kampfstoffe einsetzen. lassen sind — aufzunehmen. An der Erarbeitung der erforderlichen technischen Anforderungen ist Deutschland aktiv beteiligt. Anlage 9 Eine Ausdehnung der Ausrüstungspflicht auf Antwort Linien- und Schulbusse, in denen Stehplätze zugelas- sen sind, wird aufgrund des Unfallgeschehens weder des Parl. Staatssekretärs Dr. Wilhelm Knittel auf die von den übrigen EU-Mitgliedstaaten noch von den Fragen des Abgeordneten Horst Kubatschka (SPD) Anwenderstaaten entsprechender ECE-Regelungen (Drucksache 12/7295 Fragen 20 und 21): (UN-Wirtschaftskommission für Europa) für erforder- Wie ist der derzeitige Stand beim geplanten Verkauf der lich gehalten. Regionalbus Ostbayern GmbH (RBO)? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19267*

Liegt der von der Bundesregierung in ihrer Antwort auf meine ca. 8 bis 10 Millionen Liter Bilgenwasser) und auf- Frage 89 in Drucksache 12/7116 zur geplanten Veräußerung der grund der Tatsache, daß die Entsorgung kostenlos ist, Bundesanteile an der Rhein-Main-Donau (RMD) AG angeführte Markttest der M. M. Warburg Bank Hamburg sowie Angebote kann auf die nahezu vollständige ordnungsgemäße möglicher Interessenten zwischenzeitlich vor, und wurden von Entsorgung dieser Abfall- bzw. Abwasserart geschlos- der M. M. Warburg Bank auch Kommunen zur Abgabe von sen werden. Hinsichtlich der Entsorgung von wasser- Angeboten aufgefordert? gefährdenden Abfällen aus dem Ladungsbereich lie- gen bereits Rechtsvorschriften im Entwurf vor. Sie Zu Frage 20: enthalten insbesondere schiffahrtspolizeiliche Einlei- Nach Auskunft Ihres Büros bezieht sich Ihre Frage teverbote und Entsorgungsgebote sowie das Gebot auf die „Regionalbus Ostbayern GmbH ", nicht auf die zur Führung eines Entsorgungsnachweises. Die Zen- „Regionalverkehr Oberbayern GmbH" . tralkommission für die Rheinschiffahrt hat erklärt, daß sie diese Bestimmungen in ihre Vorschriften aufneh- Nach Mitteilung der Bahnbus Holding GmbH, die men wird, sobald die zur Abgabe von Abfall und sämtliche Geschäftsanteile der Regionalbus Ostbay- Abwasser an Land erforderlichen Voraussetzungen ern GmbH, Regensburg hält, sind mit den Kaufinte- vorliegen. Diese sind in Deutschland durch die Bun- ressenten, insbesondere einem Konsortium privater desländer zu schaffen. Nach Kenntnis der Bundesre- Unternehmer noch keine Verkaufsgespräche geführt gierung haben diese mit den Vorbereitungen begon- worden. nen. Es ist beabsichtigt, die betreffenden Regelungen Zu Frage 21: nicht nur auf dem Rhein, sondern auf allen Bundes- Der Markttest der M. M. Warburg-Bank wurde wasserstraßen einzuführen. noch nicht abgeschlossen. Es wurde jedoch ein Zwi- schenbericht über den bisherigen Stand der Veräuße- rungsaktivitäten gegeben. Auf der Grundlage des Zwischenberichts werden die Gespräche mit poten- tiellen Erwerbern in Kürze beginnen. Anlage 11 Kommunen wurden im Rahmen des Markttestes Antwort nicht um Abgabe eines Angebotes gebeten. der Ministerin Dr. Irmgard Schwaetzer auf die Fragen des Abgeordneten Thomas Molnar (CDU/CSU) (Drucksache 12/7295 Fragen 44 und 45): Wie beurteilt die Bundesregierung in diesem Zusammenhang Anlage 10 die unter anderem vom Deutschen Städtetag geäußerte Befürch- tung (u. a. im „Handelsblatt" vom 21. Februar 1994: „Städtetag Antwort warnt die Bauherrn vor den Gefahren des ,Bauens auf eigenes Risiko' "), der teilweise Abbau der Bauaufsicht durch öffentliche des Staatssekretärs Dr. Wilhelm Knittel auf die Fragen Behörden erhöhe unter dem Strich das rechtliche Risiko der des Abgeordneten Dietmar Schatz (SPD) (Drucksache Bauherrn und werde für ihn zudem teurer? 12/7295 Fragen 22 und 23): Wann wird die von der Bundesregierung eingesetzte Exper- Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Entsor- tenkommission zur Kostensenkung beim Bauen ihre Vorschläge gungspraxis der Chemietanker auf dem Rhein in bezug auf vorlegen, und wie sollen die insbesondere auch zur Überprüfung Frachtreste, Mineralöle und Säuren und über die unzureichen- und zum Abbau von technischen Anforderungen im Bauord- den Kontrollmöglichkeiten der Wasserschutzpolizei und zustän- nungsrecht zu erwartenden Anregungen in die Länderzustän- digen Behörden? digkeiten eingebracht werden? Wie beurteilt die Bundesregierung die Entsorgungsmöglich- keiten der Chemietanker auf dem Rhein und auf den übrigen Zu Frage 44: Bundeswasserstraßen in bezug auf Chemiekalienreste und ver- schmutztes Abwasser (Bilgenwasser), und wie müßten die ein- Die Bundesregierung schließt sich den Befürchtun- zelnen Rechtsvorschriften verbessert werden, um Wasserver- gen des Deutschen Städtetages nicht an. Verfahrens- schmutzung durch Schiffsabwässer und Abfälle ohne Ermes- rechtliche Erleichterungen im Baugenehmigungsver- sensspielräume zu verbieten? fahren ohne den Abbau bauaufsichtlicher Tätigkeit sind kaum vorstellbar. Das Risiko für den Bauherrn Zu Frage 22: wird weiterhin so gering gehalten, weil ihm zum einen Der Bundesregierung liegen konkrete Kenntnisse nach wie vor seine Sachverwalter (Architekt und über Art und Umfang von Gewässerverschmutzun- Bauingenieur) zur Seite stehen. Zum anderen besteht gen, die aus der illegalen Entsorgungspraxis von die Genehmigungsfreiheit in diesen Fällen nur, wenn Tankschiffen auf dem Rhein resultieren, nicht vor. Die ein entsprechender Bebauungsplan der Gemeinde Verfolgung derartiger Verschmutzungen ist Sache vorliegt, in dem wesentliche Fragen vorgeklärt sind. der Wasserschutzpolizei der Länder. Zu dem hat die zweijährige erfolgreiche Praxis einer solchen Regelung in Baden-Württemberg gezeigt, Zu Frage 23: daß die Bauherrn diesen Weg akzeptieren; über eine Verteuerung des Bauens ist insoweit nichts berichtet Nach der Rheinschiffahrtspolizeiverordnung ist die worden. Einleitung von Bilgenwasser, Altöl sowie Öl- und fetthaltigem Schiffsbetriebsabfall bereits seit 1964 verboten und deren Abgabe an die Einrichtungen des Zu Frage 45: Bilgenentwässerungsverbandes verbindlich vorge- In Anknüpfung an die im Bericht zum Wirtschafts- schrieben; insofern gibt es keine Ermessensspiel- standort Deutschl and vom Bundeskabinett am 2. Sep- räume. Aus der Menge der entsorgten Stoffe (jährlich tember 1993 beschlossenen Maßnahmen hat die Bun- 19268* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

desministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städ- Bemühungen der Bundesregierung hatten bereits tebau eine Expertenkommisson zur Kostensenkung Erfolg. Es zeichnet sich ab, daß die große Mehrzahl und Verringerung von Vorschriften im Wohnungsbau der Länder dem Beispiel Baden-Württembergs folgen eingesetzt. Die Kommission hat ihre Arbeit am 9. No- wird. Zwar zeichnen sich hier im Detail Regelungsun- vember 1993 aufgenommen und soll ihren Endbericht terschiede ab, die großenteils der unterschiedlichen noch im Juli 1994 vorlegen. Die Bundesregierung wird Behördenstruktur Rechnung tragen. Dies gefährdet die Vorschläge der Expertenkommission prüfen und aber nicht das wesentliche Regelungsziel. Bei den beabsichtigt, alle möglichen und notwendigen Maß- anderen Ländern besteht die Hoffnung, daß sie sich nahmen zur Umsetzung der Vorschläge zu ergreifen. ebenfalls im Zuge der überall noch laufenden Gesetz- Soweit die Vorschläge — wie beim Bauordnungs- gebungsverfahren zu einer Regelung wie in Baden- recht — in die ausschließliche Gesetzgebungskompe- Württemberg entschließen. Die Bundesregierung tenz der Länder fallen, können sie im Rahmen der wird ihre Bemühungen in dieser Richtung fortsetzen. Gremien der Arbeitsgemeinschaft der für das Bau-, Sie wird aber — auch im Sinn der Fragestellung — die Wohnungs- und Siedlungswesen zuständigen Mini- Rechtsentwicklung im Bauordnungsrecht der Länder ster der Länder (ARGEBAU) an die Länder herange- weiterhin sorgfältig beobachten. tragen werden.

Anlage 12 Anlage 13 Antwort Antwort der Ministerin Dr. Irmgard Schwaetzer auf die Fragen des Abgeordneten Jürgen Sikora (CDU/CSU) (Druck- der Ministerin Dr. Irmgard Schwaetzer auf die Fragen sache 12/7295 Fragen 46 und 47): des Abgeordneten Dr.-Ing. Dietmar Kansy (CDU/ CSU) (Drucksache 12/7295 Fragen 52 und 53): In welchem Maße haben die Länder dem Appell des Deut- schen Bundestages entsprochen, den Wirkungskreis des Investi- Wie beurteilt die Bundesregierung die in dem am 1. Mai 1991 tionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetzes durch Überprü- in Kraft getretenen Investitionserleichterungs- und Wohnbau- fung der Landesbauordnungen mit dem Ziel der Vereinfachung landgesetz geschaffenen baurechtlichen Möglichkeiten zur und Beschleunigung des bauaufsichtlichen Verfahrens und der Erleichterung und Beschleunigung von Investitionen, insbeson- Reduzierung fachrechtlicher Anforderungsbereiche und Nor- dere auch durch bedarfsgerechte Ausweisung und Mobilisie- men zu flankieren? rung von Bauland, vor dem Hintergrund der zwischenzeitlich Kann die Bundesregierung Befürchtungen bestätigen, daß, boomenden Bautätigkeit und mittelfristiger Prognosen zur nachdem eine Einigung in der ARGEBAU über ein bundesein- Deckung des dringenden Wohnbedarfs? heitliches Reformmodell für die Freistellung bestimmter Bauvor- Wann wurde innerhalb der ARGEBAU eine praxisnahe Hand- haben von der Genehmigung durch öffentliche Behörden nicht reichung zum Verwaltungsvollzug des Gesetzes in Form von zu erzielen war, inzwischen eine chaotische Rechtszersplitte- Mustereinführungserlassen erarbeitet, und wann sind diese rung von Bundesland zu Bundesland droht, und hält die Bun- Mustererlasse in den einzelnen Ländern veröffentlicht wor- desregierung eine solche Entwicklung hin zur „Kleinstaaterei" den? (vgl. Wirtschaftswoche vom 14. Januar 1994) für vertretbar?

Zu Frage 46: Zu Frage 52: In Verfolgung auch des Appells des Deutschen Der Baulandbericht 1993 kommt zu dem Ergebnis, Bundestages mit der Bitte um Vereinfachung und daß Bauland schon angesichts der Wohnungsnach- Beschleunigung sowohl des materiellen Rechts als frage in Zukunft in vielen Regionen der Bundesrepu- auch der Verfahrensvorschriften der Landesbauord- blik Deutschland insbesondere den großen Agglome- nungen haben die Länder entsprechende Vorgaben in rationsräumen knapp bleiben wird. Der Baulandbe- die letzte Fassung der Musterbauordnung (Dezember darf muß daher langfristig durch geeignete Strategien 1993) übernommen und sind zur Zeit übereinstim- der öffentlichen Hand, insbesondere verstärkte Aus- mend dabei, dies gesetzgeberisch auf Landesebene weisung, Erschließung und Infrastrukturbereitstel- umzusetzen. Im Verfahrensrecht soll u. a. eine lung und Anwendung privatwirtschaftlich arbeiten- Beschleunigung durch eine verstärkte Inanspruch- den Bodenmanagements gedeckt werden. Es bedarf nahme von Sachverständigen erreicht werden, die eines auf Bedarfsdeckung ausgerichteten kommuna- behördliche Prüfungen im Baugenehmigungsverfah- len Bodenmanagements. Vor allem stellt sich die ren weitgehend entbehrlich machen soll. Aufgabe einer interkommunalen Zusammenarbeit. Durch das Investitionserleichterungs- und Wohn- Zu Frage 47: baulandgesetz, mit dem acht Gesetze geändert wur- Die Bundesregierung kann diese Befürchtungen den, sind insbesondere wesentliche Erleichterungen nicht bestätigen. Zwar ist in den Fachgremien der und Beschleunigungen zur Ausweisung und Bereit- Bauministerkonferenz kein Vorschlag zustande ge- stellung von Wohnbauland als Voraussetzung für kommen, nach dem die Baugenehmigungspflicht für einen verstärkten Wohnungsbau geschaffen worden. Wohngebäude geringer Höhe im Geltungsbereich Angesprochen werden alle am Baugeschehen betei- von Bebauungsplänen entfällt. Für diese Frage lag ligten Akteure, Länder und Gemeinden ebenso wie aber als Gesetzgebungsmuster eine seit zwei Jahren der einzelne Bauherr. Dabei handelt es sich insbeson- praktizierte Regelung in Baden-Württemberg vor. Die dere um verfahrensleitende Vorschriften, die eine Bundesregierung hat sich dafür eingesetzt, daß die schnellere Erschließung und „Baureifmachung" von Länder diese Regelung übernehmen sollten. Diese Grundstücken ermöglichen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19269*

Zu Frage 53: rung auch mit anderen, vom politisch-theoretischen Ein von der ARGEBAU unter Beteiligung des Ansatz her vergleichbaren Publikationen die gesell- BMBau erarbeiteter „Mustereinführungserlaß zu Ar- schaftspolitischen Auseinandersetzungen zu unter- tikel 1, 2, 3, 5, 11 und 13 des Gesetzes zur Erleichte- stützen — so z. B. durch die Übernahme von Paten- rung von Investitionen und der Ausweisung und schaftsabonnements der Schriften „Die Neue Gesell- Bereitstellung von Wohnbauland (Investitionserleich- schaft/Frankfurter Hefte" und „Gewerkschaftliche terungs- und Wohnbaulandgesetz)" liegt seit 20. Juli Bildungspolitik". 1993 vor. Bisher haben die Länder Bayern (am 31. Au- gust 1993), Hamburg (nach Auskunft des Landes am Zu Frage 55: 4. Januar 1994), Hessen (am 19. August und 2. Sep- Die Agentur „Presseplan" erstellt ihren Kommen- tember 1993) und Rheinland-Pfalz (am 29. Oktober tardienst in eigener redaktioneller Verantwortung 1993) auf dem Mustererlaß basierende Länderrege- und gibt ihn an ca. 60 Zeitungs-Redaktionen weiter. lungen erlassen. Berlin (am 28. Februar 1994) und Das Presse- und Informationsamt der Bundesregie- Sachsen-Anhalt (so die Auskunft des Landes) haben rung finanziert davon nur eine Teilleistung. Ich kann dem Mustererlaß entsprechende Arbeitshilfen her- Ihnen deshalb, Herr Abgeordneter, nicht abschlie- ausgegeben. In anderen Ländern befinden sich ßend sagen, zu welchen politisch umstrittenen The- Erlasse in Vorbereitung. men insgesamt Beiträge in diesem Kommentardienst Der von der Fachkommission „Städtebauliche veröffentlicht werden; denn die Teilleistung für das Erneuerung" erarbeitete Mustereinführungserlaß zu Bundespresseamt, die die Agentur — wie gesagt in den städtebaulichen Entwicklungsmaßnahmen nach eigener redaktioneller Verantwortung — erbringt, den §§ 165 bis 171 des Baugesetzbuches wurde vom umfaßt lediglich Beiträge zur Verwirklichung der Allgemeinen Ausschuß der ARGEBAU am 21./22. Ok- inneren Einheit Deutschlands und zu Fragen der tober 1993 abschließend zur Kenntnis genommen. Er europäischen Einigung. Hierbei sind z. B. auch die wurde vom Bundesministerium für Raumordnung, Themen Solidarpakt, Pflegeversicherung und Soma- Bauwesen und Städtebau im Infodienst Kommunal lia-Einsatz behandelt worden. Aber in keinem der Nr. 88 vom 4. Februar 1994 veröffentlicht. dem BPA zuzurechnenden Beiträge — wenn Ihre Nach derzeitigem Kenntnisstand wurde dieser Frage darauf zielt —, wurde die Haltung der Opposi- Mustereinführungserlaß bis jetzt lediglich vom Land tion kritisch angesprochen. Hessen in modifizierter Fassung veröffentlicht (vgl. Daß das Bundespresseamt den genannten Dienst- Staatsanzeiger für das Land Hessen vom 8. November nicht — wie es in der Frage anklingt — voll finanziert, 1993, S. 2771 ff). Von der überwiegenden Mehrheit folgt schon aus einem knappen Zahlenvergleich: der anderen Länder (Baden-Württemberg, Bayern, Diese Bundesregierung hat 1993 für die Zusammen- Brandenburg, Bremen, Niedersachsen, Rheinl and-arbeit mit zwei Pressediensten 279 600 DM aufgewen- Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Saarland, Schleswig det. In diesem Jahr wird es die gleiche Summe sein. Holstein, Thüringen) ist eine Bekanntgabe dieses Die Vorgänger-Regierung hat vor 15 Jahren, nämlich Mustereinführungserlasses durch Veröffentlichung 1979, für entsprechende Dienste für Zeitungen oder unmittelbare Zuwendung an die be troffenen 1 039 000 DM, also fast viermal so viel Geld ausgege- Behörden in Kürze beabsichtigt, ben. Schon daraus folgt, daß zumindest heute eine auch nur annähernde Vollfinanzierung eines dieser Dienste völlig ausgeschlossen ist. Anlage 14 Antwort des Staatssekretärs Dieter Vogel auf die Fragen des Anlage 15 Abgeordneten Ludwig Eich (SPD) (Drucksache 12/7295 Fragen 54 und 55): Antwort Welche informationspolitische Zielsetzung verfolgt die Bun- des Staatssekretärs Dieter Vogel auf die Fragen des desregierung bei der Finanzierung des Dienstes „Medien Kritik" über Patenschaftsabonnements? Abgeordneten Hans Wallow (SPD) (Drucksache Welche politisch umstrittenen Themen hat der vom Bundes- 12/7295 Fragen 56 und 57): presseamt finanzierte Kommentardienst der Agentur „Presse Welche für Redaktionen bestimmte Pressedienste (Name und Plan" in den letzten zwölf Monaten veröffentlicht und wie vielen Anschrift) und Druckvorlagen (einschließlich der Kommentar- Zeitungsredaktionen zum Abdruck angeboten? und Hintergrunddienste) werden vom Bundespresseamt und den Ressorts direkt oder indirekt über Patenschaftsabonnements Zu Frage 54: finanziell unterstützt? Welche konkreten Themen aus dem von der Bundesregierung Die „Medien-Kritik" erbringt nach unserer Mei- finanzierten Ferenczy-Feature sind in den letzten zwölf Monaten nung eine wichtige Orientierungsleistung; sie analy- von Printmedien abgedruckt worden? siert sehr sachkundig die Entwicklung in den elektro- nischen Medien und ihre Ausweitung, ihre techni- Zu Frage 56: schen Neuerungen. Sie sorgt also für mehr Verständ- nis auf diesem recht schwierigen Feld. Sie erleichtert Das BPA übernimmt im allgemeinen keine Paten- damit die rationale Auseinandersetzung in medien- schaftsabonnements für Pressedienste oder Druckvor- politischen Fragen. lagen. Wie bei der „Medien-Kritik" für Multiplikatoren im Patenschaftsabonnements haben wir für Zeitschrif- Bereich der Medienpolitik versucht die Bundesregie ten unterschiedlichster politischer Richtung, z. B. für 19270* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

„liberal", für die „Neue Gesellschaft", für „Die politi- Den Widerspruch, den Sie, Frau Kollegin Köppe, sche Meinung", aber auch für Zeitungen wie „Auf- hier sehen, gibt es nicht. bau" oder „Die Brücke" übernommen. Bei der Publi- Gegenstand des Gesprächs mit dem iranischen kation „Medien-Kritik" werden solche Abonnements Minister Fallahian war nicht der Mykonos-Prozeß, ebenfalls übernommen. sondern allenfalls der im Gespräch geäußerte Wunsch Für die von Ihnen angesprochenen Pressedienste der iranischen Seite, diesen Prozeß zum Gesprächsge- und Druckvorlagen leisten wir Zahlungen aufgrund genstand zu machen. Ich habe diesen Wunsch abge- vertraglicher Vereinbarungen. Wegen des den Part- lehnt, der Prozeß wurde nicht zum Gesprächsgegen- nern zugesagten Vertrauensschutzes bitte ich aller- stand. dings um Verständnis, daß das Amt diese Angaben Auch die Frage des Kollegen Duve, ob der Besuch — wie auch in der Vergangenheit — auf Wunsch den des iranischen Ministers im Zusammenhang mit Berichterstattern des Bundestags-Haushaltsausschus- Ermittlungen in der Mordsache Mykonos gestanden ses übermitteln möchte. habe, war eindeutig mit nein zu beantworten. Die Ermittlungen liefen jederzeit völlig unabhängig von Zu Frage 57: diesem Besuch, und ich hätte es auch dann, wenn der Besuch von iranischer Seite schon im Vorfeld — nicht Mit dem Dienst „Ferenczy-Feature" unterhält das erst im Gespräch selbst — in einen Zusammenhang Presse- und Informationsamt der Bundesregierung mit den Mykonos-Ermittlungen gestellt worden wäre, keine vertragliche oder sonstige Bindung bzw. Bezie- von vornherein kategorisch abgelehnt, mich auf einen hung. Dieser Dienst wurde im übrigen vor einiger Zeit solchen Zusammenhang einzulassen. von der Agentur eingestellt. Wenn Sie allerdings die Ferenczy Publicity GmbH meinen sollten: Diese Gesellschaft hat im Auftrag des Anlage 17 Bundespresseamts 1993 Beiträge zu Fragen der Eini- gung Europas vor allem aus osteuropäischer Sicht Antwort sowie zur inneren Einheit und dem Standort Deutsch- der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die land geschrieben und vornehmlich an Zeitungen und Fragen des Abgeordneten Georg Gallus (F.D.P.) Illustrierte weitergegeben. Das Presseamt hat dabei (Drucksache 12/7295 Fragen 59 und 60): eine Teilfinanzierung innerhalb einer weit größeren Wie will die Bundesregierung begründen, daß für die Ch risten Angebotspalette von Beiträgen übernommen, die von in der Türkei aus dem Raum Ostanatolien eine Fluchtalternative der Agentur redaktionell eigenverantwortlich erstellt besteht, insbesondere für Menschen aus ländlichen Räumen, die wurde. Das Prinzip des Vertrauensschutzes gebietet zu den Christen in der Resttürkei keine Beziehung haben? es, abdruckende Medien nicht zu nennen. Auf diesen Warum unternimmt die Bundesregierung nichts, um den Vertrauensschutz haben auch Vorgänger-Regierun- verfolgten syrisch-orthodoxen Ch risten in der Türkei zu hellen gen bei vergleichbaren Fragestellungen verwiesen bzw. bedrängten Familien die Möglichkeit zu eröffnen, auch über ein Visum zu ihren Verwandten nach Deutschland einzu- und ihn in Anspruch genommen. Für das Jahr 1993 reisen, nachdem die Gefahr besteht, daß diese Ch risten zwi- werden wir die Angaben über Abdrucke auch erst im schen der PKK und dem türkischen Militär größte Opfer hinzu- Mai 1994 erhalten. nehmen haben?

Zu Frage 59: Die Bundesregierung stützt sich in ihrer Beurteilung der Situation in der Türkei auf die Lageberichte des Anlage 16 Auswärtigen Amtes. Diese nehmen auf laufend aktua- lisierter Grundlage zur asyl- und abschiebungsrele- Antwort vanten Situation in der Türkei Stellung. Dabei wird des Staatssekretärs Dieter Vogel auf die Frage der auch die Frage eventueller alternativer Verbleibs- Abgeordneten Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- möglichkeiten erörtert. NEN) (Drucksache 12/7295 Frage 58): In diesem Zusammenhang muß darauf hingewiesen Wie bewertet die Bundesregierung den Widerspruch zwi- werden, daß für die christlichen Bewohner im Raum schen den Erklärungen des Staatsministers im Bundeskanzler- Ostanatolien die Möglichkeit besteht in der Westtür- amt, Bernd Schmidbauer, einerseits vor dem Parlamentarischen kei, vor allem in den Großstädten, in denen es Untersuchungsausschuß des Berliner Abgeordnetenhauses zum christliche Gemeinden gibt, Zuflucht zu suchen. Sie „Fall Mykonos" am 17. März 1994, wonach der iranische Geheimdienstchef Fallahijan anläßlich seines Deutschland- können dort frei von physischer Bedrohung leben. Besuchs von der Bundesregierung eine Niederschlagung des Religiös motivierte Drangsalierungen können nach „Mykonos"-Prozesses vor dem Kammergericht Berlin verlangt Angaben christlicher Kirchenvertreter vor Ort weitge- habe, und andererseits gegenüber dem Deutschen Bundestag im hend ausgeschlossen werden. Oktober 1993, wonach dieser Prozeß kein Gegenstand der Gespräche mit Fallahijan gewesen sei (Stenographisches Proto- koll der 186. Sitzung am 29. Oktober 1993, S. 16163 B) bzw. Zu Frage 60: dessen Besuch in Deutschland nicht mit dieser Mordsache im Zusammenhang gestanden habe (Antwort auf die Frage des Die Bundesregierung setzt sich immer wieder bei Abgeordneten Freimut Duve in der Fragestunde der Sitzung am der türkischen Regierung nachdrücklich für den 21. Oktober 1993, Stenographisches Protokoll S. 15717 C), und Schutz der christlichen Minderheiten in der Türkei welches Verständnis des Staatsministers hinsichtlich seiner ein. Bundesminister Kinkel fordert im Rahmen seines Verpflichtung zu wahrheitsgemäßer Unterrichtung des Deut- schen Bundestages liegt diesem Vorgang nach Auffassung der ständigen, gerade in jüngster Zeit besonders intensi- Bundesregierung zugrunde? ven, Menschenrechtsdialogs mit seinem türkischen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19271*

Amtskollegen Çetin, den christlichen Bewohnern in programm und energiebezogene Sektorprogramme der Region Schutz vor Verfolgung und Drangsalie- zur Lösung der Energieimportprobleme beitragen. rung zu garantieren. Im übrigen steht die Botschaft Derzeit sind Energiesektorprojekte mit einem Volu- Ankara in engem Kontakt mit Vertretern der christli- men von 350 Millionen $ in Vorbereitung. chen Kirchen in der Südosttürkei und beobachtet die Ohne eine Minderung der im europäischen Ver- Lage der dortigen christlichen Minderheiten sehr gleich hohen Energieintensität durch eine grundle- genau. Den Möglichkeiten der Bundesregierung, auf gende Reform der Energiepreise mit einer Anpassung die Türkei in dieser Situation konkret einzuwirken, in Richtung Weltmarktniveau, die positive Auswir- sind aber Grenzen gesetzt, da die von den türkischen kung auf die Effizienz des Kapitalstocks und den Sicherheitskräften im Einzelfall ge troffenen Maßnah- Energieverbrauch (Energieeinsparung) hätte, würden men von der türkischen Regierung als notwendig im Hilfen zur Importrehabilitierung nicht zu einem dau- Rahmen der Terrorismusbekämpfung begründet wer- erhaften Erfolg führen. den. Die Bundesregierung beteiligt sich schon jetzt an bi- Bisher haben zahlreiche christliche Bewohner der und multilateralen Hilfsprogrammen zur umwelt- Region in der Bundesrepublik Deutschland Auf- freundlichen Modernisierung des Energiesektors der nahme gefunden. Die weisungsunabhängigen Ent- Ukraine. Im Beratungsprogramm der Bundesregie- scheider des Bundesamtes für die Anerkennung aus- rung sind für 1994 Mittel für ein CO2-Minderungskon- ländischer Flüchtlinge gewähren verfolgten Ch risten zept für die Ukraine vorgesehen. Die Ausstattung des aus der Türkei hier Asyl, wenn im Einzelfall die Kohlekraftwerks Dobrotvor mit einer modernen rechtlichen Voraussetzungen hierfür vorliegen. Rauchgasentschwefelungsanlage wird von der Bun- Der Besuch von syrisch-orthodoxen Christen in der desregierung mit einem Investitionszuschuß von Bundesrepublik Deutschland wird im Rahmen der 17,250 Millionen DM gefördert. Im Rahmen des gesetzlichen Bestimmungen unterstützt. Besuchsvisa TACIS-Programms der Europäischen Union wurden werden an alle Antragsteller erteilt, die keine Absicht 1992/93 für den Energiebereich der Ukraine insge- zum dauernden Verbleib in Deutschland haben. samt über 13 Millionen ECU bereitgestellt. Eine generelle Aufnahme syrisch-orthodoxer Ch ri -sten aus humanitären Gründen kann aber nicht vom Bund beschlossen werden. Sie setzt das Einverständ- Anlage 19 nis einer obersten Landesbehörde voraus. Auf Bitten der Bundesregierung wird die Konferenz der Innen- Antwort - minister in ihrer für den 5./6. Mai 1994 vorgesehenen der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die Sitzung erneut die Frage der Erforderlichkeit einer Fragen des Abgeordneten Gernot Erler (SPD) (Druck- Aufnahmeregelung für Christen aus der Türkei erör- sache 12/7295 Fragen 62 und 63): tern. Wie beurteilt die Bundesregierung die kürzlich erfolgten offiziellen Aufnahmegesuche von Ungarn und Polen in die EU, und wie hat die Bundesregierung auf die Beitrittsanträge reagiert? Welche Möglichkeiten hat die Bundesregierung, in der Zeit Anlage 18 ihres Ratsvorsitzes in der zweiten Hälfte des Jahres 1994, die genannten EU-Beitrittswünsche zu unterstützen, und welche Antwort konkreten Maßnahmen bereitet die Bundesregierung im Sinne der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die einer solchen Unterstützung für die Zeit ihres Ratsvorsitzes vor? Frage der Abgeordneten Siegrun Klemmer (SPD) (Drucksache 12/7295 Frage 61): Zu Frage 62: In welchem Umfang wird sich die Bundesregierung an der Finanzierung des ukrainischen Energiebedarfs durch die Welt- Die Bundesregierung begrüßt die Beitrittsanträge von bank und die großen Industrienationen beteiligen, wie es der Polen und Ungarn. Dies entspricht der politischen stellvertretende US-Energieminister gefordert hat, und welche Grundsatzentscheidung des Europäischen Rats in darüber hinaus zielenden Maßnahmen sind von der Bundesre- gierung geplant? Kopenhagen, den assoziierten mittel- und osteuropäi- schen Staaten eine EU-Beitrittsperspektive zu eröff- nen. D fühlt sich als Anwalt dieser Länder und wird Der Bundesregierung vorliegende Unterlagen über sich für einen Beitritt einsetzen. den Besuch des stellvertretenden US-Energiemini- sters in der Ukraine enthalten keinen Hinweis auf Der EU-Ministerrat hat die Anträge am 18. April amerikanische Überlegungen, den ukrainischen 1994 gemäß EUV-Art. 0 an die Europäische Kommis- Energie(import)bedarf durch die Weltbank und die sion zur Stellungnahme weitergeleitet. Die Erarbei- großen Industrienationen" zu finanzieren. Unter den tung einer Stellungnahme nimmt erfahrungsgemäß G 7-Ländern besteht Einvernehmen, daß die Finan- längere Zeit in Anspruch. Auf dieser Grundlage wird zierung des ukrainischen Energiebedarfs im Kontext der EU-Ministerrat dann über die Aufnahme von des tiefgreifenden außenwirtschaftlichen Ungleich- Beitrittsverhandlungen entscheiden. Die Regierun- gewichts des Landes zu sehen ist und sich daher einer gen von Polen und Ungarn gehen selbst davon aus, isolierten Lösung verschließt. Ein umfassender Ansatz daß erst nach Beendigung der Regierungskonferenz setzt voraus, daß sich die Ukraine mit dem Internatio- 1996 mit einem Verhandlungsbeginn zu rechnen sein nalen Währungsfonds auf ein Wirtschaftsreformpro- wird. gramm einigt. Auf dieser Grundlage könnte dann Die Heranführung dieser Länder an die Europäi- auch die Weltbank durch ein Importrehabilitierungs sche Union bis hin zu einer vollen Integration kann 19272* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 aber im Hinblick auf das große ökonomische Gefälle Wie haben sich nach Auffassung der Bundesregierung die nur schrittweise erfolgen. Entscheidend für die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Moldawien seit deren Unabhängigkeit in den Reformstaaten in Mittel- und Osteuropa ist daher jetzt, Bereichen Wissenschaft, Kultur und Wirtschaft entwickelt? daß die wirtschaft lichen und politischen Vorausset- zungen für einen Beitritt rasch und sichtbar verbessert werden und die hierfür nötigen Schritte energisch in Zu Frage 64: Angriff genommen werden. Die Bundesregierung fördert die rumänischen Staatsbürger deutscher Abstammung über das Aus- Zu Frage 63: wärtige Amt durch Maßnahmen in den Bereichen Kindergärten, Schulen, Hochschulen, Schrift- und Die Verbesserung der Voraussetzungen für einen elektronische Medien sowie kulturelle Breitenarbeit Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder stellt eine zentrale Herausforderung für die EU dar. Diese und über das Bundesministerium des Innern in den Bereichen soziale Maßnahmen, gemeinschaftsför- Aufgabe wird daher ein Schwerpunkt der deutschen dernde Maßnahmen und wirtschaftsbezogene Hilfen. Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte des Jahres Das Auswärtige Amt hat für die von ihm durchgeführ- bilden. Da es sich um ein mittelfristiges Ziel handelt, ten Maßnahmen aus Minderheitenfördermitteln 1990 haben Deutschland und Frankreich vereinbart, daß 105 000,— DM, 1991 181 700,— DM, 1992 1,377 dieses Thema im Rahmen der deutschen und franzö- Millionen DM und 1993 1,230 Millionen DM zur sischen Präsidentschaften mit Priorität verfolgt wer- Verfügung gestellt; zusätzlich hat es aus Mitteln des den soll. Die Bundesregierung führt derzeit auch Schulfonds für die Entsendung von Lehrern in rumä- Konsultationen mit der Europäischen Kommission niendeutsche Siedlungsgebiete im Schuljahr 1990/91 und anderen wichtigen EU-Mitgliedstaaten, um kon- ca. 1 Millionen DM, im Schuljahr 1991/92 ca. 1,6 Mil- krete Schritte auf der Basis breiter politischer Zustim- lionen DM, im Schuljahr 1992/93 ca. 2,4 Millionen DM mung vorzubereiten. Im Vordergrund stehen: und im Schuljahr 1993/94 ca. 2,1 Millionen DM — Energischere Umsetzung der Beschlüsse des ER eingesetzt. Das Bundesministerium des Innern hat von Kopenhagen (z. B. Liberalisierungskalender 1990 Hilfen für 45,4 Millionen DM, 1991 für 18,4 Mil- für Freihandel einhalten, beschleunigte Rechtsan- lionen DM, 1992 für 20,7 Millionen DM und 1993 für gleichung, stärkere Anbindung an die Gemein- 16,4 Millionen DM gewährt. same Außen- und Sicherheitspolitik)

— Weiterer Ausbau der Assoziierungsabkommen mit Zu Frage 65: Ungarn und Polen (evtl. Zusatzprotokolle, zusätz- Die Beziehungen haben sich positiv entwickelt. Ein liches kleines Paket zur Marktöffnung, Beteiligung umfassendes, modernes Kulturabkommen ist unter- der Staaten Mittel- und Osteuropas an Gemein- schaftsprogrammen) schriftsreif und wird in Kürze das im Verhältnis zu Moldau noch geltende deutsch-sowjetische von 1973 — Zusätzliche Maßnahmen zur Stärkung der ersetzen. Im Bereich der Wissenschaft macht der menschlich-kulturellen Dimension. Das Gefühl DAAD jährlich der moldauischen Seite ein eigenes aller assoziierter Staaten Mittel- und Osteuropas Stipendienangebot. Es besteht eine Hochschulpart- — dies gilt auch für diejenigen, die noch keinen nerschaft. Goethe-Institut und DAAD fördern die Beitrittsantrag gestellt haben — „zur Europäischen deutsche Sprache durch Ausbildung von Deutschleh- Familie zu gehören", muß gestärkt werden. rern und die Vergabe von Hochschulstipendien. Mit einer Schule in Chisinau besteht eine Schulpartner- Übergeordnetes Ziel bleibt, die Beitrittsfähigkeit schaft, in deren Rahmen Schüler ausgetauscht wer- aller assoziierten mittel- und osteuropäischen Staaten den. Das moldauische Fernsehen strahlt Programme zu verbessern. Gleichzeitig muß EU-intern die Diskus- der Deutschen Welle („Drehscheibe Europa", sion zu einer Steigerung der Aufnahmefähigkeit vor- „Schauplatz Deutschland") aus. angetrieben werden. In den deutsch-moldauischen Wirtschaftsbeziehun- gen ist, von einem immer noch sehr niedrigen Niveau ausgehend, ein spürbarer Aufwärtstrend zu erken- nen. Das Handelsvolumen betrug 1993 88,9 Millionen DM, was gegenüber dem Zeitraum vom Mai bis Dezember 1992 (25,6 Millionen DM) eine erhebliche Steigerung bedeutet. Deutsche Investitionen in Modawien sind der Bundesregierung nicht bekannt. Anlage 20 Am 28. Februar 1994 wurde zwischen Deutschland Antwort und Moldawien ein Investitionsförder- und -schutz- vertrag unterzeichnet. Die Bundesregierung finan- der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die ziert 1994 in Moldawien Beratungsmaßnahmen in Fragen des Abgeordneten Dr. Egon Jüttner (CDU/ einer Größenordnung von ca. 2 Millionen DM (u. a. CSU) (Drucksache 12/7295 Fragen 64 und 65): Beratung bei der Reform des Wirtschaftsrechts und im Sparkassenbereich). Die EU hat Moldawien u. a. In welchem Umfang und für welche Bereiche hat die Bundes- republik Deutschland die in Rumänien lebenden Deutschen einen Zahlungsbilanzkredit in Höhe von 45 Millionen (rumänische Staatsbürger deutscher Nationalität) in den Jahren ECU gewährt. Deutschland finanziert einen Anteil 1990 bis 1993 unterstützt? von ca. 30 % an den Leistungen der EU. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19273*

Anlage 21 Anlage 22 Antwort Antwort der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die Fragen des Abgeordneten Rudolf Binding (SPD) Frage des Abgeordneten Norbert Gansel (SPD) (Drucksache 12/7295 Fragen 66 und 67): (Drucksache 12/7295 Frage 68): Ist die Bundesregierung im Anschluß an meine Frage in der Ist die Bundesregierung in ihrer Türkeipolitik der Auffassung, daß ihr — der Bundesregierung — von Nichtregierungsorgani- Fragestunde am 13. April 1994 nunmehr in der Lage, Auskunft darüber zu geben, ob sie sich durch die Entsendung eines sationen nachgewiesen werden muß, daß aus Deutschland Botschaftsangehörigen, wie z. B. des Militärattachés, in die geliefertes- Militärmaterial von der Türkei nicht bestimmungs und vereinbarungsgemäß — nämlich zur Bekämpfung und südöstliche Türkei, vor Ort davon überzeugt hat, ob die von der Verfolgung der Kurden — eingesetzt wird, oder hat die Bundes- Bundesregierung an die Türkei gelieferten Waffen nicht ver- rtet die regierung auch eine eigene Verpflichtung, wenn es Hinweise tragswidrig eingesetzt worden sind, und wie bewe eines nichtbestimmungsgemäßen Gebrauchs gibt, aktiv Ermitt- Bundesregierung in diesem Zusammenhang die Erkenntnisse des Bundesnachrichtendienstes? lungen anzustellen, statt sich einzig und allein gutgläubig auf angebliche Zusagen zu verlassen? Hat die Bundesregierung das ihr von der Redaktion „Monitor" Bundesminister Dr. hat in seiner zugänglich gemachte Filmmaterial über den Einsatz von aus Regierungserklärung am 13. Ap ril 1994 im einzelnen Deutschland an die Türkei geliefertem Militärmaterial im Inland dargelegt, daß die Bundesregierung allen Hinweisen zur Bekämpfung der Kurden inzwischen ausgewertet, und über vertragswidrigen Einsatz deutscher Waffen in welche Schlüsse wird sie aus der Auswertung dieses Mate rials ziehen? der Türkei von Anfang an mit großer Sorgfalt nachge- gangen ist. Dabei ist selbstverständlich auch unsere Botschaft wiederholt vor Ort tätig geworden. In jüng- Zu Frage 66: ster Zeit haben Botschaftsmitarbeiter sich im Zusam- Bundesminister Dr. Klaus Kinkel hat in seiner menhang mit dem kurdischen Newroz-Fest (21. März) Regierungserklärung im einzelnen dargelegt, daß die und den Kommunalwahlen (27. März 1994) in Südost- Bundesregierung allen Hinweisen über vertragswid- anatolien aufgehalten und von Diyarbakir aus das rigen Einsatz deutscher Waffen in der Türkei von Gebiet bereist. Dabei haben sie u. a. mit dorthin Anfang an mit großer Sorgfalt nachgegangen ist. Herr gereisten Mitgliedern verschiedener deutscher Men- Dr. Kinkel hat das Thema bereits bei seiner ersten schenrechtsgruppen Gespräche auch über dieses Auslandsreise als Bundesminister des Auswärtigen im Thema geführt. Frühjahr 1992 in Ankara angesprochen; unsere Bot- Außer den dem Politischen Direktor des Auswärti- schaft in Ankara ist wiederholt vor Ort tätig gewor- gen Amtes am 12. April 1994 von Menschenrechts- den. gruppen übergebenen Materialien werden auch Der in der Fragestellung implizierte Vorwurf, die Erkenntnisse der Botschaft und des Bundesnachrich- Bundesregierung verlasse sich „einzig und allein tendienstes geprüft. Diese Prüfung dauert an. gutgläubig auf angebliche Zusagen", ist somit nicht gerechtfertigt. Im übrigen handelt es sich nicht um „angebliche", Anlage 23 sondern sehr reale, mehrfach — auch schriftlich — Antwort bekräftigte Versicherungen der Vertragstreue unse- res NATO-Bündnispartners Türkei: ich verweise auf der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die den entsprechenden Briefwechsel der Außenminister Fragen des Abgeordneten Detlef von Larcher (SPD) vom 2. Juni 1992, auf den B rief des türkischen Außen- (Drucksache 12/7295 Fragen 69 und 70): ministers Çetin (der ja selbst Kurde ist) vom 7. Ap ril Hält es die Bundesregierung für angemessen, daß das Aus- 1994 und wiederholte unzweideutige Erklärungen wärtige Amt den Abgeordneten des Deutschen Bundestages die Lageberichte der einzelnen Länder vorenthält, während der von Sprechern der türkischen Regierung. Bezug dieser Berichte über andere Quellen jedermann möglich ist? Zu Frage 67: Was sind die Gründe für diese „Geheimhaltung" gegenüber Abgeordneten des Deutschen Bundestages bei gleichzeitiger Die von der „Monitor"-Redaktion mit Schreiben vom „automatischer" Übermittlung der Lageberichte an BMI, BMJ, Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, die 31. März 1994 übersandten Fernsehberichte vom Innenminister und -senatoren der Bundesländer sowie an die mit 23. November 1992 und vom 18. November 1993 sind Asyl- und Auslieferungsverfahren befaßten Gerichte? von Experten des Bundesverteidigungsministeriums noch einmal geprüft worden. Zu Fragen 69 und 70: Dabei haben die Experten ihre Aufassung bekräf- Wie die Bundesregierung bereits in ihrer Antwort tigt, daß diese Bilder keinen Beweis für die Behaup- auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Gerd Poppe tung darstellen, es handele sich bei den gezeigten und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Druck- BTR-60-Fahrzeugen um aus der Bundesrepublik sache 12/3616) vom 3. November 1992 dargelegt hat, Deutschland geliefertes Gerät. Die in der „Monitor"- beschränkt sich die Verteilung der Lageberichte im Sendung vom 14. April 1994 aufgestellten Behaup- Rahmen der Amtshilfe auf den vom Fragesteller tungen werden in die Prüfung des dem Politischen genannten Verteilerkreis. Dies hält die Bundesregie- Direktor des Auswärtigen Amtes am 12. Ap ril 1994 rung auch für angemessen. Beim gegenwärtig prakti- übergebenen Bildmaterials und der bei dieser Gele- zierten Verfahren sind diese Berichte nicht jedermann genheit gegebenen Hinweise einbezogen. Diese Prü- zugänglich. Sie können nur durch Indiskretion an die fung dauert noch an. Öffentlichkeit gelangen. 19274* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

In der Antwort auf o. a. Kleine Anfrage hat die erfahrungsgemäß stark diffe rierende Grundausstat- Bundesregierung u. a. folgendes erklärt: „Die Lage- tung hinausgeht, aber gleichwohl für die Arbeit der berichte werden im Rahmen der Amtshilfe nach deutschen Delegationen benötigt wird, auch künftig Artikel 35 Abs. 1 GG, §§ 14 und 99 VwGO, § 5 VwVfG zu tragen. erstellt. Nach Auffassung der Bundesregierung sollten diese Auskünfte nur den unmittelbar am Verfahren Beteiligten zugänglich sein. Hierfür ist maßgeblich, daß die Auskünfte häufig Sachverhalte oder Wertun- gen enthalten, die sich nicht für eine Verbreitung Anlage 25 eignen. Antwort Prozeßvertretern von Asylbewerbern oder auslän- der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die dischen Staatsangehörigen, die Rechtsmittel gegen Frage der Abgeordneten Ingrid Köppe (BÜNDNIS 90/ die Beendigung ihres Aufenthaltes eingelegt haben, DIE GRÜNEN) (Drucksache 12/7295 Frage 73): sind die Lageberichte und Einzelauskünfte des Aus- Welche Angaben kann die Bundesregierung über die Umset- wärtigen Amtes zugänglich, wenn sie vom Ge richt zung des Ausstattungshilfe-Programms 1991 bis 1993 machen, zum Gegenstand des Verfahrens gemacht werden. vor allem über die Abwicklung der fünf Teilprogramme, den Die Berichte sollen vor allem als Entscheidungshilfe Mittelabfluß, die -verwendung und Erreichung der Hilfszwecke im Asylverfahren, aber auch bei der Abschiebung in den einzelnen Empfängerländern sowie über die politische Bilanz dieses Programms, und welche Angaben kann die Bun- rechtskräftig abgelehnter Asylbewerber durch die desregierung hinsichtlich eines etwaigen Anschlußprogramms Innenbehörden der Bundesländer dienen. Sie sind ab 1994 über die vorgesehenen Empfängerländer, Zuwen- nicht bindend. dungsbeträge sowie über den beabsichtigten Beratungsfahrplan machen? Die Lageberichte fließen wie andere Erkenntnis- quellen in die Entscheidungen der zuständigen Bun- des- und Landesbehörden ein. Wegen des Umfangs der Fragen und der Notwen- digkeit der Einholung von Stellungnahmen und Infor- Die Bundesregierung ist weiterhin bereit, Anfragen mationen vom BMI und vom BMVg ist eine vollstän- von Abgeordneten des Deutschen Bundestages nach dige Beantwortung innerhalb der kurzen F rist für der asyl- und abschiebungsrelevanten Situation in mündliche Anfragen nicht möglich. Ich bitte hierfür bestimmten Herkunftsländern zu beantworten." um Ihr Verständnis. Unter dem Vorbehalt dieser noch ausstehenden Informationen möchte ich Ihnen folgendes mitteilen: Anlage 24 Das ursprünglich geplante Ausstattungshilfepro- gramm 1991 bis 1993 wurde Ende 1991 vom Haus- Antwort haltsausschuß des Bundestages in ein Dreijahrespro- der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die gramm in Höhe von DM 210 Millionen für den Fragen des Abgeordneten Josef Hollerith (CDU/CSU) Zeitraum 1992 bis 1994 umgeändert, weil das Jahr (Drucksache 12/7295 Fragen 71 und 72): 1991 bei Abschluß der Beratungen des für 1991 bis Sind Medienberichte zutreffend, wonach beim Arbeitsgipfel 1993 geplanten Programms schon fast abgeschlossen in Detroit in diesem Jahr den ausländischen Delega tionen war. Deshalb ist zum jetzigen Zeitpunkt eine abschlie- Kosten für Telefon, Kopierer, Stuhl etc. abverlangt wurden? ßende Beurteilung des erst Ende 1994 auslaufenden Was gedenkt die Bundesregierung dagegen zu unternehmen, gegenwärtigen Programms z. Zt. noch nicht mög- resp. wie wird sie sich in ähnlichen Fällen in Zukunft verhal- lich. ten? Bezüglich des Mittelabflusses läßt sich aber schon heute sagen, daß es aufgrund der besonderen Rege- Zu Frage 71: lungen des Haushaltsrechts in den ersten beiden Beim Arbeitsgipfel in Detroit wurde den ausländi- Jahren nicht zur vollen Ausschöpfung der jeweiligen schen Delegationen für ihre Büros eine Grundausstat- Jahresquoten gekommen ist, da sich Vertragsver- tung zur Verfügung gestellt. Nur für hierüber hinaus handlungen über einzelne Länderprogramme länger benötigte Ausstattungsgegenstände sind Kosten an- als erhofft hinzogen, weil bestellte Ausstattungsge- gefallen. Die Grundausstattung besteht in der Regel genstände nicht rechtzeitig bis zum Jahresende aus- aus einem oder mehreren Telefonanschlüssen, evtl. geliefert und bezahlt werden konnten oder weil erbe- einem Telefaxanschluß, PC oder Schreibmaschine, tene Kostenvoranschläge und Rechnungen nicht ein- einem Fotokopierer zur eigenen oder gemeinsamen gingen oder zu beanstanden waren. So wird es auch Benutzung mit anderen Delegationen, einfacher im laufenden Dreijahresprogramm — wie in den Büroeinrichtung und allgemeinem Büromaterial. Die früheren Dreijahresprogrammen — nicht möglich Kostenrechnungen der amerikanischen Seite werden sein, den vorgesehenen Betrag von DM 210 Millionen derzeit geprüft. Insofern können zu Umfang und Art vollständig auszugeben. Die eingegangenen Ver- der entstandenen Kosten noch keine genauen Anga- pflichtungen müssen daher auf das nächste Dreijah- ben gemacht werden. resprogramm übertragen werden. Das Auswärtige Amt plant im übrigen ein Anschluß- Zu Frage 72: programm und wird in der hierfür erforderlichen Die Bundesregierung hält es für erforderlich, Kosten Vorlage an den Auswärtigen und den Haushaltsaus- für die Ausstattung deutscher Delegationsbüros, schuß eine erste Beurteilung des laufenden Pro- soweit sie über eine eventuell bereitgestellte und gramms vorlegen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19275*

Anlage 26 an. Die Verhandlungen mit der Schweiz und Frank- reich sind noch nicht aufgenommen worden. Von der Antwort Absicht Frankreichs, auf den Abschluß einer derarti- des Parl. Staatssekretärs Dr. Horst Waffenschmidt auf gen Vereinbarung zu verzichten, ist der Bundesregie- die Frage des Abgeordneten Jürgen Augustinowitz rung nichts bekannt. (CDU/CSU) (Drucksache 12/7295 Frage 74): Die Bundesregierung hält rechtswirksame Formen Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß die PDS eine linksradikale bzw. linksextremistische Partei ist, und welche — insbesondere privatrechtlicher Art — der grenz- Konsequenzen zieht sie daraus? überschreitenden Zusammenarbeit zwischen Ge- bietskörperschaften Deutschlands und Frankreichs Innerhalb der PDS, mit deren Kenntnis und aus- auch dann für möglich, wenn es nicht zum Abschluß drücklicher Billigung, existiert insbesondere mit der eines entsprechenden Vertrages kommen sollte. Mit „Kommunistischen Plattform" eine linksextremisti- der Unterzeichnung des Europäischen Rahmenüber- sche Strömung, die politisch bestimmt, ziel- und einkommens über die grenzüberschreitende Zusam- zweckgerichtet gegen die freiheitliche demokratische menarbeit zwischen Gebietskörperschaften vom Grundordnung arbeitet. 21. Mai 1980 haben Frankreich und die Bundesrepu- Eine abschließende Bewertung, ob die PDS insge- blik Deutschland sich verpflichtet, die grenzüber- samt — mit ihren vielfältigen Kontakten zu kommuni- schreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskör- stischen Organisationen im In- und Ausland — verfas- perschaften unter Beachtung der jeweiligen verfas- sungsfeindliche Ziele verfolgt, ist den Verfassungs- sungsrechtlichen Bestimmungen der Vertragspar- schutzbehörden bisher nicht möglich. teien zu erleichtern und zu fördern. Die Antworten der Bundesländer auf eine entspre- Zu Frage 76: chende Rundfrage des Bundesministeriums des Innern vom Dezember 1993 ergab bisher — insbeson- Die Bundesregierung wird sich im Rahmen ihrer dere was die neuen Länder bet rifft — keinen Fort- Zuständigkeit weiterhin bemühen, die grenzüber- schritt in der Entscheidungsfindung bezüglich der schreitende Zusammenarbeit von Gebietskörper- Einschätzung der Gesamtpartei. Sie bleibt deshalb schaften zu fördern. Prüffall der Verfassungsbehörden. Im übrigen nehme Die Bundesregierung ist in zahlreichen Gremien ich Bezug auf die Antworten der Bundesregierung vertreten, die sich unter anderem mit Fragen einer vom 12. Januar 1994, Protokoll Seite 17384. koordinierten Raumordnung befassen und die Ge- Zu den Konsequenzen der Bundesregierung gehört bietskörperschaften bei der Lösung von Problemen weiterhin die Aufklärung über linksextremistische unterstützen. Insbesondere ist in diesem Zusammen- Positionen in der „Partei des Demokratischen Sozia- hang die deutsch-französisch-schweizerische Ober- lismus", wie z. B. in dem am 14. Ap ril vorgestellten rheinkonferenz zu nennen. Verfassungsschutzbericht für das Jahr 1993, Seiten 22, 23, 24, 26, 27 f, 29, 30, 31, 32 und 33 sowie die geistig politische Auseinandersetzung mit der PDS. Anlage 28 Anlage 27 Antwort Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Horst Waffenschmidt auf die Fragen des Abgeordneten Horst Jungmann (Witt- des Parl. Staatssekretärs Dr. Horst Waffenschmidt auf moldt) (SPD) (Drucksache 12/7295 Fragen 77 und die Fragen der Abgeordneten Marion Caspers-Merk 78): (SPD) (Drucksache 12/7295 Fragen 75 und 76): Sind aus Sicht der Bundesregierung rechtswirksame Formen Warum ist das vom Deutschen Bundestag am 2. Dezember der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen Gebiets- 1993 und vom Bundesrat am 4. Februar 1994 beschlossene körperschaften Deutschlands und Frankreichs, z. B. in Form von Sicherheitsüberprüfungsgesetz bisher noch nicht im Bundesge- treten? Zweckverbänden o. ä., überhaupt möglich, nachdem die franzö- setzblatt veröffentlicht und damit noch nicht in Kraft ge sische Regierung zwar eine derar tige Zusammenarbeit gestattet, Hat die Bundesregierung die in § 35 Sicherheitsüberprüfungs- auf den Abschluß eines entsprechenden Staatsvertrages aber gesetz vorgesehenen Allgemeinen Verwaltungsvorschriften verzichten will? bereits beschlossen, und wenn nein, warum nicht? In welcher Weise ist die Bundesregierung bereit, den jeweili- gen Gebietskörperschaften im deutsch-französischen Grenzge- biet beim Abschluß von Kooperationsverträgen im Rahmen der Zu Frage 77: grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zu helfen, damit das Unmittelbar nach der Zustimmung des Bundesrates Instrument überhaupt genutzt und insbesondere eine koordi- nierte Raumplanung gewährleistet werden kann? am 4. Februar 1994 wurden die Arbeiten zur Vorbe- reitung der Verkündung, der Herstellung der Zu Frage 75: Urschrift und die Gegenzeichnung der Minister Die Bundesregierung stellt zur Zeit in Zusammen- durchgeführt. arbeit mit den Ländern Baden-Württemberg, Rhein- Die Urschrift des Gesetzes wurde am 12. Ap ril 1994 land-Pfalz und Saarland erste Vorüberlegungen über zur Gegenzeichnung dem Bundeskanzler zugeleitet, die Möglichkeit des Abschlusses eines dreiseitigen der sie zur Ausfertigung dem Bundespräsidenten Rahmenübereinkommens zwischen der Bundesrepu- übersendet. Ich rechne damit, daß das Gesetz bis Ende blik Deutschland, Frankreich und der Schweiz über dieses Monats im Bundesgesetzblatt veröffentlicht die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Ge- wird und dann am Tag nach der Veröffentlichung in bietskörperschaften und anderen öffentlichen Stellen Kraft tritt. 19276* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994

Der Zeitablauf war im wesentlichen durch die bei seine Empfehlungen sind bei allen finanziellen verschiedenen Stellen einzuholenden Zeichnungen Entscheidungen zu berücksichtigen. sowie die Erstellung der Druckvorlage und der — Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, dem Urschrift bedingt. Außerdem waren gleichzeitig die Behördenunternehmen die für seine Operationen Arbeiten an den ca. 200 Seiten umfassenden Verwal- notwendigen Finanzmittel zur Verfügung zu stel- tungsvorschriften zum Sicherheitsüberprüfungsge- len, wird aufgehoben. Das Behördenunternehmen setz, die der Bundesminister des Innern zu erlassen soll seine Tätigkeit im Rahmen von joint ventures hat, voranzutreiben, mit den Ressorts, dem Bundesamt beginnen. für Verfassungsschutz und dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz abzustimmen, damit sie zeit- — Bei der Entscheidung im Rahmen der Meeresbo- gleich mit dem Sicherheitsüberprüfungsgesetz in denbehörde erhalten die Industriestaaten durch Kraft treten können. die Einführung eines Kammersystems bei der Abstimmung verbesserte Einwirkungsmöglichkei- Hinzu kamen die Abstimmungsarbeiten mit dem ten. Bundesminister für Wirtschaft und dem Bundesmini- ster der Verteidigung, die für ihren Zuständigkeitsbe- — Die Bestimmungen über den zwangsweisen Tech- reich ihre Verwaltungsvorschriften zu Ausführung nologietransfer sollen nicht angewendet werden. des Sicherheitsüberprüfungsgesetzes in Einverneh- — Die Produktionsbegrenzung beim Tiefseebergbau men mit dem BMI erlassen. entfällt und wird durch eine Antisubventionsrege- Soeben — 21. April 1994 — 13.00 Uhr wird mir lung auf der Grundlage entsprechender GA TT mitgeteilt, daß der Herr Bundespräsident das Gesetz -Vorschriften ersetzt. unterzeichnet hat. — Anstelle des Kompensationsfonds im Rahmen der Internationalen Meeresbodenbehörde tritt ein Zu Frage 78: Fonds, der aus den Abgaben der Tiefseebergbau unternehmen an die Inte rnationale Meeresboden- Die Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zur Aus- behörde, die über die Be tr führung des Sicherheitsüberprüfungsgesetzes, die der äge zur Deckung der Verwaltungskosten hinausgehen, gebildet werden BMI, der BMWi und der BMVg jeweils für ihren soll. Zuständigkeitsbereich erlassen, sind fertiggestellt und treten zeitnahe mit dem Sicherheitsüberprü- — Das komplizierte Abgabensystem wird aufgege- fungsgesetz in Kraft. ben. Es soll später durch ein noch auszuarbeiten-- des System ersetzt werden, für das Prinzipien festgelegt worden sind. — Im Rahmen der Konsultationen am 8. April 1994 Anlage 29 sind die letzten offenen Fragen zum Problem des Tiefseebergbauteils des Seerechtsübereinkom- Antwort mens der Vereinten Nationen geklärt worden. Das des Parl. Staatssekretärs Rainer Funke auf die Fragen Ergebnis wird jetzt in den Hauptstädten geprüft. In des Abgeordneten Klaus Harries (CDU/CSU) (Druck- einer letzten Konsultationsrunde (31. Mai bis sache 12/7295 Fragen 79 und 80): 3. Juni) soll letztmals Gelegenheit bestehen, zu inhaltlichen Fragen Stellung zu nehmen, wobei die Sieht die Bundesregierung, nachdem die Dialogverhandlun- gen zu den Seerechtsvereinbarungen bei den Vereinten Natio- Basis der jetzt gefundenen Lösungen unverändert nen über eine Änderung des Abschnitts 11 Übereinstimmung bleiben soll. Die Annahme des Übereinkommens erzielt haben sollen, die Voraussetzung für die Einleitung des durch die Generalversammlung der Vereinten Ratifizierungsverfahrens im Deutschen Bundestag als gegeben Nationen ist für die letzte Juli-Woche dieses Jahres an? vorgesehen. Sieht die Bundesregierung wegen des in New York bei den Vereinten Nationen erzielten Verhandlungsergebnisses den Das für das Seerechtsübereinkommen federfüh- Standort des Internationalen Seegerichtshofs in Hamburg rende Auswärtige Amt plant zusammen mit dem für bereits jetzt als gesichert an? den Internationalen Seegerichtshof federführenden Bundesministerium der Justiz das innerstaatliche Zu Frage 79: Zustimmungsverfahren zum Seerechtsübereinkom- Die Konsultationen des Generalsekretärs der Ver- men so rechtzeitig einzuleiten, daß noch in dieser einten Nationen haben nach Auffassung der Bundes- Legislaturperiode das Beitrittsverfahren erfolgen regierung insgesamt zu einem zufriedenstellenden kann, wenn die abschließende Konsultationsrunde Ergebnis geführt. Der vorläufig vereinbarte Entwurf befriedigend beendet wird. eines Übereinkommens zur Durchführung von Teil XI des Seerechtsübereinkommens sieht vor: Zu Frage 80: — Die Kosten für die Mitgliedstaaten halten sich jetzt Die Entscheidung zugunsten Hamburgs wurde von in einem vertretbaren Rahmen, da die Inte rnatio- der Dritten Seerechtskonferenz der Vereinten Natio- nale Meeresbodenbehörde nur insoweit eingerich- nen unter der Voraussetzung getroffen, daß die Bun- tet werden soll, als dies zur Erledigung der redu- desrepublik Deutschland bei Inkrafttreten des Über- zierten Aufgaben erforderlich ist. Weiter wird ein einkommens Vertragsstaat sein soll und es danach Finanzausschuß eingerichtet, dem die fünf größten auch bleibt. Nach Einschätzung des VN-Sekretariats Beitragszahler — u. a. Deutschl and — angehören erwartet die Gruppe 77 im Sommer 1994 den Nach- werden. Dieser Ausschuß entscheidet im Konsens; weis angemessener Schritte über den Beginn des Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 222. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 21. April 1994 19277*

Beitrittsprozesses. Im Hinblick auf die derzeitigen Zu statistischen Zwecken werden dem Bundesmini- Vorbereitungen zur alsbaldigen Einleitung des inner- sterium der Justiz von den Bundesländern lediglich staatlichen Gesetzgebungsverfahrens kann damit die Zahlen der Kassation- und Rehabilitierungsan- dieser Nachweis erbracht und damit zugleich Ham- träge mitgeteilt. Bis zum 31. Dezember 1993 wurden burg als Sitz des Internationalen Seegerichtshofs gesi- insgesamt ca. 130 000 Anträge zum Zwecke der chert werden. Überprüfung einer rechtsstaatswidrigen strafrechtli- chen Entscheidung bei den Rehabilitierungsgerichten gestellt, wovon bereits ca. 90 000 erledigt sind. Anlage 30 Bis zum 31. März 1994 sind insgesamt ca. 380 Mio. Antwort DM (Bundes- und Landesmittel) als Kapitalentschädi- des Parl. Staatssekretärs Rainer Funke auf die Frage gung an die Betroffenen ausgezahlt worden. Anhalts- des Abgeordneten Claus Jager (CDU/CSU) (Druck- punkte dafür, daß die geschätzten Gesamtkosten in sache 12/7295 Frage 81): Höhe von ca. 1,8 Mrd. DM unzutreffend sind, liegen Wie viele Häftlinge (absolute Zahl und Vomhundertsatz) der nicht vor. Bei einer geschätzten Gesamtdauer der ehemaligen DDR-Zuchthäuser, die do rt wegen politischer Straf- Auszahlung auf noch vier bis fünf Jahre ist vielmehr taten in rechtsstaatswidriger Weise eingekerkert waren, haben von einer relativ genauen Kostenschätzung auszuge- inzwischen Haftentschädigung nach dem Ersten SED-Unrechts- bereinigungsgesetz erhalten, und wie viele Anträge auf Haftent- hen. schädigung sind noch nicht abschließend bear beitet? Das Bundesministerium der Justiz hat vor kurzem Genaue Angaben darüber, wie viele ehemalige die Länder und die Stiftung für ehemalige politische politische Häftlinge bisher die Kapitalentschädigung Häftlinge um Mitteilung gebeten, wie viele Entschä- nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz digungsanträge bisher gestellt wurden, wie viele (StrRehaG) bereits erhalten haben und wie viele hiervon bereits erledigt sind und mit wie vielen Anträge noch nicht abschließend bearbeitet sind, Anträgen noch gerechnet wird. Vom Ergebnis werde liegen der Bundesregierung nicht vor. ich Sie unterrichten.