Nr. 3 | 25. März 2018

Coverstory ElenaFerrante Islamismus Ta-NehisiCoatesstehtfürdas DieNeapel- Extremes neue Selbstbewusstseinder Saga istzu Denkenwird afroamerikanischenLiteratur Ende –gutso Mainstream 14 4 12 NZZLITERARISCHES TERZETT DiebestenBücherder Saison – eine Literaturdebatte

Jede Saison aufs Neue erscheinen unzähligelesenswerte Bücher.Um Datum Ihnen die Auswahl etwas zu erleichtern,stellen dreiNZZ-Literatur- Dienstag,8.Mai 2018 redaktoren und eine Literaturexpertin als Gast Ihnen vieldiskutierte 18.30 bis 19.45 Uhr Titel der Saison vor, dieanschliessend aufdem Podiumerörtert werden. mit anschliessendem Apéro Es erwartet Sie eine inspirierendeDebatte über Sachbücher und belletristische Schätze. Ort NZZ-Foyer, Podiumsteilnehmer Falkenstrasse 11, 8008 Zürich

Eintritt Abonnentenpreis Fr.50.– Normalpreis Fr.80.–

Anmeldung nzz.ch/live 044 258 13 83

Elisabeth Bronfen Manfred Papst Professorin für Anglistik, Autor Kultur Universität Zürich, «NZZ am Sonntag» und Buchautorin Moderation Jetzt den anmel

Thomas Ribi Claudia Mäder Redaktor Feuilleton Redaktorin Feuilleton «Neue Zürcher Zeitung» «Neue Zürcher Zeitung» Inhalt WarumGeschlecht Eigentlich hätte Elena Ferrante auf dem Cover dieser «Bücher am Sonntag» abgebildet sein sollen, die Autorin der millionenfach verkauften neapolita- keineRollespielt nischen Roman-Tetralogie um die Freundinnen Lila und Lenù (S. 4). Aber niemand weiss, wie Elena Ferrante aussieht. Und niemand weiss mit letzter Sicherheit, ob hinter dem Pseudonym wirklich eine Frau steckt. Doch spielt das eine Rolle? Hinter der Maske eines Autorennamens kann man sich ver- stecken – und in Ruhe schreiben. Was zählt, ist der Text, die Erzählung, die Sprache, der Rhythmus. Autorinnen und Autoren müssen nicht unbedingt ihren Körper ins Feld führen, sie können erst einmal ihre Bücher voraus- schicken. Das ist befreiend in Kontexten, in denen Menschen rasch mit äusseren Identitätsmerkmalen – wie Geschlecht oder Färbung der Haut –

Nr. 3 | 25. März 2018 etikettiert werden, und in denen Identitäten auch politisch gegeneinander Coverstory ElenaFerrante Islamismus Ta-NehisiCoatesstehtfürdas DieNeapel- Extremes neue Selbstbewusstseinder Saga istzu Denkenwird afroamerikanischenLiteratur Ende –gutso Mainstream 14 4 12 ausgespielt werden. Gute Bücher tun genau das Gegenteil von Etiketten: Sie reflektieren menschliche Erfahrungen so lebendig und vielschichtig, dass ich plötzlich verstehe, was mir zuvor fremd schien, dass das andere plötzlich nicht mehr so anders ist. «Literatur ist nicht schwarz, rosarot oder gestreift», schreibt Sacha Verna in ihrem Essay über amerikanische Literatur (S. 14). Gute Bücher erkunden, was uns im Innersten antreibt, –

Ta-Nehisi Coates nicht ohne dabei auch gesellschaftliche Umstände in den Blick zu nehmen (Seite 14). – und öffnen die Augen dafür, dass wir alle zuallererst Menschen sind. Illustration von André Carrilho Martina Läubli

Belletristik NE Frauen II. Kursbuch TO Ute Gerhard: Frauenbewegung und KEYS /

4 Elena Ferrante: Die Geschichte des verlorenen I Feminismus Kindes Von Regula Freuler NÄGEL

Von Sieglinde Geisel O 20 Vincent F. Hendricks & Mads Vestergaard:

6 Jesmyn Ward: Singt, ihr Lebenden und Toten REM Postfaktisch Von Simone von Büren Von Matthias Knecht 7 Eleonore Frey: Waldleute Thomas Reichert: Der Wahnsinn und die Bombe Von Manfred Papst Von Michael Radunski Ortrud Westheider: Künstler in der DDR 21 Roberto Simanowski: Stumme Medien Von Gerhard Mack Philippe Wampfler: Schwimmen lernen im 8 Leander Steinkopf: Stadt der Feen und Wunder digitalen Chaos Von Katja Schönherr Von Sarah Genner 9 Assaf Gavron: Achtzehn Hiebe 22 Jonathan Mc Millan: Das Ende der Banken Von Stefana Sabin Von Susanne Ziegert 10 Anita Siegfried: Blanchefleur Wolfram Eilenberger: Zeit der Zauberer Von Charles Linsmayer Von Florian Bissig François Le Lionnais: Leonardo in Dora 23 Jan Gerber: Karl Marx in Paris Von Martin Zingg Uwe Wittstock: Karl Marx beim Barbier 11 Samanta Schweblin: Sieben leere Häuser Von Ina Boesch Von Martina Läubli 24 Sabine Bitter, Nathalie Nad-Abonji: Tibetische Kinder für Schweizer Familien Kurzkritik Von Kathrin Meier-Rust Elham Manea (S. 12) hält als erste Frau aus dem arabischen Anna Lowenhaupt Tsing: Der Pilz am Ende 11 Eshkol Nevo: Über uns Raum eine Freitagspredigt (Haus der Religionen Bern, 2016). der Welt Von Manfred Papst Von Tobias Sedlmaier Christos Chryssopoulos: Parthenon Kurzkritiken Sachbuch 25 Walt Whitman: Der schöne Mann Von Martina Läubli Von Walter Hollstein Blanca Bellová: Am See 17 Giovani Frazzetto: Nähe 26 Wendy Brown: Mauern Von Gundula Ludwig Von Kathrin Meier-Rust Von Nina Fargahi John Fante: Der Weg nach Los Angeles Paul Nizon: Sehblitz Das amerikanische Buch Von Manfred Papst Von Gerhard Mack Francisco Cantú: Jacqueline Yallop: Big Pig, Little Pig The Line Becomes a River Essay Von Martina Läubli Von Andreas Mink Daniel Levin: Alles nur ein Zirkus 14 Schwarze Kunst ist nun mehrheitsfähig Von Kathrin Meier-Rust Agenda Afroamerikanische Literatur war immer schon da. Nun hat das auch der Rest der Welt Sachbuch 27 Cecilia Pardo & Peter Fux: Nasca erkannt, schreibt Sacha Verna Von Martina Läubli 12 Sind wir der IS? Bestseller März 2018 Kolumne Von Elham Manea Belletristik und Sachbuch 18 Feminismus geht auch undogmatisch – Agenda April 2018 17 Zitatenlese von Charles Lewinsky MaryBeard: Frauen und Macht Veranstaltungshinweise

Chefredaktion Luzi Bernet (lzb.) Redaktion Martina Läubli (läu., Leitung), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Sacha Verna, Martin Zingg Produktion Daniela Salm, Björn Vondras (Art Director), Sybil Tschopp (Bildredaktion), Marianne Birchler (Layout) Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 044 2581111, Fax 044 2617070, E-Mail: [email protected] 25. März 2018 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik

Roman Elena Ferrantes Italien-Tetralogie zählt zu den grössten literarischen Überraschungen der jüngeren Zeit, doch der letzte Band erfüllt die hohen Erwartungen nicht DerNeapel- Saga geht die Pusteaus

Bandes hat Elena es tatsächlich geschafft, 1979, wieder nach Neapel, in den Rione, Elena Ferrante: Die Geschichte des die sechzig turbulenten und widersprüch- schliesslich gar in die Wohnung über Lila. verlorenen Kindes: Reife und Alter. lichen Jahre ihrer Freundschaft mit Lila Nie haben die beiden so nah beieinander Band 4 der Neapolitanischen Saga. Aus zu beschreiben. Doch am Ende muss Elena gewohnt. Elena schreibt Dinge wie: «Wir dem Italienischen von Karin Krieger. erkennen: «Das ganze Leben lang hatte sie beide, gegensätzlich und einträchtig.» Sie Suhrkamp, Berlin 2018. 615 Seiten, ihre Geschichte einer Erlösung erzählt hält es für notwendig, uns zu versichern: um Fr. 36.–, E-Book 27.–. und dazu meinen lebendigen Leib und «Endlich war klar, dass das, was ich war, meine Existenz benutzt.» sie nicht war, und umgekehrt.» Von Sieglinde Geisel Literaturkritiker haben von Anfang an auf die Möglichkeit hingewiesen, dass Lila Das verwechselte Kind Im Prolog des ersten Bandes von Elena und Lenù (so nennt Lila ihre Freundin Enger und enger verflicht Elena Ferrante Ferrantes Neapolitanischer Saga wurde Elena, während Lila eigentlich Raffaela in diesem letzten Band die beiden Frauen- das Ende bereits vorweggenommen. heisst) sich als eine Person lesen lassen, figuren miteinander. Angesichts Lilas Elena erfährt vom Verschwinden, ja der aufgespalten in zwei komplementäre Tendenzen zur Auflösung sagt Elena: «Ich «Auflösung» ihrer Freundin Lila. Diese Figuren: in die unberechenbare, rück- war jetzt eine gereifte Frau mit gefestigten will keine Spuren hinterlassen, sogar aus sichtslose, hyperintelligente Lila und in Konturen.» Die beiden werden mit 34 Jah- Fotos hat sie sich herausgeschnitten. die strebsame, ängstliche, ehrgeizige ren gleichzeitig noch einmal schwanger, Die Ich-Erzählerin Elena Greco hatte Elena. Von Anfang an hatte die eine, was beide nennen sie ihre Töchter nach den sich damals vorgenommen, «unsere Ge- der anderen fehlte, wurde die eine vor Kosenamen ihrer Mütter, Tina und Imma. schichte aufzuschreiben, in allen Einzel- dem verschont, mit dem die andere ge- Und nicht nur sind die beiden Töchter heiten, mit allem, was mir in Erinnerung schlagen war. Lila sitzt in der Falle des von ebenfalls Komplementärwesen, sie wer- geblieben war». Als sie den Computer der Mafia beherrschten Rione, Elena ent- den auf fatale Weise verwechselt. Lila anschaltet und mit Schreiben beginnt, kommt als Schriftstellerin sowohl dem vermutet: «Sie glaubten, sie entführten sagt Elena: «Mal sehen, wer diesmal das Rione als auch ihrer Gesellschaftsklasse. dein Kind, dabei haben sie meines letzte Wort behält.» Im Epilog des letzten Im vierten Band zieht sie nun, im Jahr entführt.» 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. März 2018 niemanden mehr.» Doch häufen sich tri- viale Sätze. «Aber auch Lila, das sei gesagt, wurde immer unausstehlicher, es wurde zusehends schlimmer mit ihr.» «Dedes Weggang und dann Elsas waren ein gros- ser Schmerz.» «Eine lange Zeit ging es mir nicht gut.» Müdigkeit wird «im Zaum ge- halten», Sprache «gebändigt», und jemand sagt: «Ich habe nur ein paar Schmerzen.» So sehr man die Parforceleistung von Karin Krieger bewundert, die die zweitau- send Seiten unter enormem Zeitdruck übersetzt haben muss, im letzten Band scheint auch sie an Grenzen zu stossen. Spiegelungen ohne Ende Die literarischen Schwächen erstaunen bei einer so bewusst schreibenden Autorin wie Elena Ferrante. Ist ihr schlicht die Pus- te ausgegangen? Oder wollte sie uns das Nachlassen der Kräfte und die abneh- mende Leidenschaft ihrer Figuren auch stilistisch spüren lassen? Der Untertitel «Reife und Alter» scheint so etwas nahe- zulegen. Möglicherweise ist sie ihrer eige- nen Konstruktion zum Opfer gefallen. Denn in diesem letzten Band treibt sie das literarische Spiel mit den gespiegelten Hauptfiguren auf die Spitze. Lila und Lenù spiegeln sich nicht mehr nur in ihren Bio- grafien und Charaktereigenschaften, die eine scheint auch die Autorin der anderen zu sein. «Ich liebte Lila. Wollte, dass sie fortdauerte. Aber ich wollte es sein, die sie fortdauern liess», schreibt Elena in ihrem Epilog, als hätte sie Lila erfunden. Lila wiederum könnte ihrerseits Elena erfun- den haben, befürchtet doch Elena von Anfang an, ihre schriftstellerisch hoch- begabte Freundin würde in ihren Text eindringen und heimlich mitschreiben. Und damit sind wir noch nicht am Ende der Spiegelungen angelangt. Die Romane, die die Romanfigur Elena schreibt, ent- sprechen den Romanen, in denen sie S selbst vorkommt. Wie Ferrantes Saga han- OTO

PH deln auch Elena Grecos Romane von einer

NUM Kindheit in Neapel, und weil sie über MAG

/ Mafiosi schreibt, die tatsächlich im Rione Y leben, muss sie sich auf Lesungen ständig BERR N

IA rechtfertigen. «Die Caraccis, die Solaras waren für mich nur Modelle gewesen, Die Entführung, möglicherweise Er- zu eins erzählt werden, überdies sind die Elena Ferrante erzählt Stimmen, die mit ihrem Dialekt, der dazu- mordung der vierjährigen Tina gibt dem Weichen gestellt, nun kommen nur noch vom Alltag in Neapels gehörigen Gestik und ihrem bisweilen Band den Titel: «Die Geschichte vom ver- Erfüllung oder Enttäuschung. Konsequen- Stadtteil Rione – der brutalen Tonfall geeignet waren, eine von auch von der Mafia lorenen Kind». Das rätselhafte Verschwin- zen hat auch, dass Elena Ferrante die ers- geprägt ist. vorn bis hinten erdachte Romanhandlung den von Tina (eine Vorwegnahme von ten dreissig Jahre ihrer Freundschaftsge- zu unterfüttern.» Die Caraccis und die So- Lilas Verschwinden?) ist eines der weni- schichte auf drei Bände verteilt hat, die laras aber sind auch Figuren in den Roma- gen dramatischen Ereignisse dieses letzten dreissig Jahre jedoch in einem nen ihrer Namensvetterin Elena Ferrante. Romans. Zwar wird, wie in den drei vor- einzigen Band zusammenfasst. Ihre Vir- Dieses Spiegelkabinett der Fiktion in hergehenden Romanen, auch hier wüst tuosität des Hinein- und Herauszoomens der Fiktion ist ungeheuer raffiniert gebaut. gestritten, geschrien und gezetert (ein kommt beim Erzählen im Zeitraffer kaum Doch in der Kunst ist die Absicht oft die Lieblingswort von Ferrante und ihrer mehr zum Zug. Vieles wird nur referiert. Achillesferse. Es scheint, als hätte Ferrante Übersetzerin Karin Krieger), doch gemor- «Mehr als zwei Jahre voller Freuden, Sor- über das tollkühne Konstrukt der Bezie- det wird kaum noch, und wenn, dann gen, schlimmer Überraschungen und er- hungen zwischen Autor und Figur die seltsam beiläufig. Auch das verschwun- duldeter Vermittlungen waren nötig, be- Realität des Erzählens aus dem Auge ver- dene Kind bleibt ein Phantom, man hat es vor es mir gelang, wieder etwas Ordnung loren. Das Lesen dieses letzten Bandes ist schnell vergessen und ist überrascht, in mein Leben zu bringen.» wie Ostereier-Suchen: Wir finden Dinge, wenn wieder einmal von Tina die Rede ist. Auch ermüdet man beim Lesen ange- die die Autorin für uns versteckt hat – und Das ist symptomatisch für die Eigenheit sichts der endlosen Auseinandersetzun- fühlen uns um ein Geheimnis betrogen. dieses letzten Bandes: Es fehlt ihm an Le- gen mit dem flatterhaften Nino, den Strei- Die Tetralogie endet nicht mit einem Fi- ben. Was besonders den ersten Band aus- tereien mit den älteren Töchtern Dede und nale, sondern sie erlischt – gerade wie die zeichnete, war die verfremdete Perspek- Elsa, dem ganzen drögen Alltag. Es gibt sich auflösende Lila, und auch wie Elena. tive: Kinder nehmen vieles wahr, ohne es sie zwar noch, die überraschend formu- Mit der Niederschrift von Lilas Geschichte, zu verstehen – aus dieser Differenz bezie- lierten Einsichten, meist aus dem Mund die in Wahrheit ihre eigene ist, hat Elena hen Kindheitsromane ihren Reiz. Das Er- von Lila: «Man kann dir nur schaden, ihre Aufgabe erfüllt, und somit erlischt wachsenenalter dagegen kann leicht eins wenn du jemanden liebst. Aber ich liebe ihre literarische Lebensberechtigung. l 25. März 2018 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Roman Jesmyn Ward erzählt literarisch raffiniert die Geschichte SieineseGescsehwisteherpaars innMisdisissippieToten N

Jesmyn Ward: Singt, ihr Lebenden und ihr TIO

Toten, singt. NDA FOU

Aus dem Englischen von Ulrike Becker. R Kunstmann, München 2018. 304 Seiten, HU ART um Fr. 32.–, E-Book 21.–. MAC / T.

Von Simone von Büren ERINE TH CA D

Jesmyn Ward wurde als erste Frau zwei- AN D.

mal mit dem renommierten National Book HN Award ausgezeichnet, zuletzt für «Singt, JO ihr Lebenden und ihr Toten, singt». Wards dritter Roman knüpft in vielem an ihre bisherigen Bücher an. Wie in «Vor dem Sturm» geht es um eine mittellose afro- amerikanische Familie in einer fiktiven Kleinstadt im südlichen Mississippi, wo die heute 41-jährige Autorin selber aufge- wachsen ist. Wieder ist das Wasser der Bayous und des Meeres wichtig und die rote Erde, die sich als Staub oder Matsch an Gegenstände und Körper heftet. Wie- der trotzen Geschwister üblen Umstän- den, und wieder fehlen die Mütter. Weil ihr weisser Vater im Gefängnis sitzt und ihre Mutter Leonie nur damit beschäf- tigt ist, an die nächste Dosis Meth zu kom- men, leben der dreizehnjährige Jojo und seine dreijährige Schwester Kayla bei ihren «schwarzen Grosseltern». Leonies Mutter, Mam, ist vom fortschreitenden Krebs so geschwächt, dass sie nicht mehr aufstehen kann, weshalb sich Pop um die Kinder kümmert und ihnen in Geschich- ten die Welt erklärt. Nur, dass er seine Die amerikanische Given, der von einem Weissen bei einem mer riecht es «nur nach Salz: Meer und Geschichten nie zu Ende erzählt, auch die Autorin Jesmyn Ward, als Jagdunfall vertuschten Angriff er- Blut». Mams langsames Sterben unter- von Richie nicht, dem Knaben, den er in 41, hat bereits schossen wurde. scheidet sich von den anderen Todes- zweimal den National den 1940er Jahren im Arbeitslager ver- Book Award erhalten. Dass Jojo, Leonie und Mam über diese arten, die allesamt gewaltsam sind: gebens vor den weissen Aufsehern und (19. September 2017) Erfahrungen nicht miteinander sprechen, geschlachteten Tieren, erschossenen den abgerichteten Hunden zu beschützen zeigt die Entfremdung zwischen ihnen, Männern, gelynchten Häftlingen. «Wenn versucht hat. ohne dass diese kommentiert würde. Ähn- jemand auf schlimme Art stirbt, ist das lich subtil lässt die Autorin über zahl- manchmal so furchtbar, dass selbst Gott Die Geister sind da reiche Motive – Bäume, Wasser, Vögel, es nicht mitansehn kann, und dann bleibt Dieser schwarze Junge aus Pops Ge- Hunde, Messer – die geschärfte Wahr- der Geist zur Hälfte da und wandert her- schichte taucht in Jojos Leben auf, als er nehmung und sensible Durchlässigkeit um, sehnt sich nach Frieden wie ein durs- nach einer mühsamen Fahrt quer durch ihrer Figuren fast körperlich fühlbar wer- tiger Mann nach Wasser», erklärt Mam. Mississippi mit Kayla und Leonie im Ge- den. Ihre Metaphern sind stets Ausdruck Richie, Given und die andern schwarzen fängnis seinen vorzeitig entlassenen Vater von deren unerbittlicher Lebenswelt – Geister, die Ward frei durch die Zeiten abholt. Das Gefängnis steht auf dem Ge- etwa wenn Jojo die Beine der kranken gehen und den Protagonisten in Men- lände des ehemaligen Arbeitslagers, wo Kayla «leblos wie ein Tierkadaver am Ha- schen- oder Vogelgestalt erscheinen lässt, Richie als Geist immer noch herumirrt. Als ken» herunterhängen sieht oder Leonie vergegenwärtigen dieses gewaltsame Ge- er in der Art, wie Jojo seine fiebrige kleine den Tag «wie eine zum Bersten gefüllte tötetwerden und stellen dem individuel- Schwester in den Armen hält, Pops Für- Ader» erlebt. len Sterben ein kollektives entgegen. sorge von damals wiedererkennt, krallt er Das schiere Ausmass der erlittenen Ge- sich an ihm fest wie eine Katze, «neugebo- Schlachten und sterben walt steigert sich in «Singt, ihr Lebenden ren, voller Milchdurst, die zu jemandem In Wards Motiv-Geflecht, das sich gegen und ihr Toten, singt» mitunter zu einem kriecht, ohne den sie sterben müsste», Ende geradezu symphonisch verdichtet, grossen Schreien. Diesem stellt Ward und fährt mit ihm zu Pop, von dem er das sind Geburt und Tod aufs Engste verbun- schon im Titel hartnäckig ein Singen ent- Ende seiner Geschichte zu hören hofft. den: An Jojos Geburtstag schlachtet Pop gegen, ein Hoffen auf Erlösung und Über- Dieses Roadmovie, öde Autofahrt und einen Ziegenbock. Jojos schwarze Baby- windung durch die Liebe. Und diese Liebe packendes Abenteuer in einem, wird er- füsse sind über einem «grimmigen Sense- hat mit dem Mütterlichen zu tun – als zählt aus den wechselnden Ich-Perspek- mann» auf den weissen Rücken seines Prinzip und archetypischer Gegensatz zu tiven von Jojo, Leonie und Richie. Sie alle Vaters tätowiert. Und die Steine, die Leo- Gewalt und Tod: Als die Geschwister sehen Dinge, die andere nicht sehen. Wie nie für Mams Sterberitual in ihrer Bluse gegen Ende des Romans vor einer Eiche schon Mam hört Jojo «die tausend Stim- nach Hause trägt, erinnern sie an das Ge- voll klagender Geister stehen, erinnert das men», von denen jedes Lebewesen um- wicht der Kinder in ihrem Bauch. Rauschen der Baumkrone Jojo «an das geben ist, und merkt bald, dass Kayla «es Geburt und Tod fliessen auch im Motiv Rauschen des Wassers in Leonies Leib», auch hat». Sie versteht ihren Bruder, bevor des Wassers ineinander, das mit dem «le- und er sieht, wie die Geister ruhig werden, er spricht. Leonie und die Kinder können bensspendenden Wasser» des Uterus und als Kayla in der Luft die Bewegung nach- aber noch etwas, wonach sich Mam immer dem mit Tod assoziierten Meer in Verbin- zeichnet, «mit der Leonie mir den Rücken gesehnt hat: Sie sehen die Toten. Jojo dung steht. So nennt Richie die sterbende gestreichelt hat, wenn die Welt uns Angst sieht Richie, und Leonie ihren Bruder Mam «Salzwasserfrau», und in ihrem Zim- einjagte». ● 6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. März 2018 Erzählung Eleonore Frey beeindruckt mit ihrem schmalen, aber dichten Band «Waldleute» SofühltsichAndersseinan

Dabei ist Frey ihrem Stil stets treu ge- weise über der 2004 erschienenen meis- Eleonore Frey: Waldleute. blieben. Wiederholt hat sie sich aber nie. terhaften Erzählung «Das Haus der Ruhe». Engeler, Schupfart 2018, 78 S., Mit jedem ihrer Bücher hat sie ein neues In ihr begegneten wir einer Ich-Erzählerin, um Fr. 28.–., kein E-Book. Thema gesucht und gefunden. Elf Bände die in der Kargheit ihres Altersheim- ihrer schlackenlosen Prosa sind bereits zimmers einen gedankenvollen Monolog Von Manfred Papst erschienen. Es sind ebenfalls schmale, spricht. Ähnlich eindringlich war auch doch ungemein dichte Bücher, die sich zu «Muster aus Hans», 2009 erschienen, der Eleonore Freys neue Erzählung berichtet einem Œuvre ganz eigener Art runden. In Bericht über einen Aussenseiter. Er denkt von einer Gruppe alter Frauen und Män- gewisser Weise ist Eleonore Frey das Mus- anders, er hat ein anderes Verhältnis zur ner, die gemeinsam in den Wald gehen, terbeispiel einer gelehrten, bewussten Sprache, er nimmt die Welt anders wahr um dort den Tod zu suchen. Sie verlieren Autorin. Doch das Besondere an ihren als andere. Dieser Perzeption, dieser ihre Namen, aber nicht ihre Geschichten. Büchern ist, dass es sich nicht um ein aka- Denkbewegung folgt Eleonore Frey Satz Ein Blinder ist unter ihnen, ein Wieder- demisches Spiel mit Zeichensystemen für Satz. ohne dass das Wort Autismus gänger, eine Märchenfrau, rätselhafter- handelt, sondern um so konkrete wie fiele. Sie macht für uns das Anderssein weise auch ein Kind, das sie im Forst fin- dringliche Geschichten. «Notstand» hiess ihrer Protagonisten erlebbar, ohne zu psy- den. Die Figuren stehen für verschiedene das erste Buch. Der Titel könnte auch über chologisieren. Das ist grosse Kunst. Auch Arten des Lebens zum Tode. anderen ihrer Bücher stehen, beispiels- im neuen Band, «Waldleute». Die Ich-Erzählerin ist etwas jünger als die anderen, und sie ist durch ihre Neugier in die Gruppe geraten. Ihr Untermieter, ein älterer Herr und Musiker, hat sie auf die DDR Wie die Künstler sich sahen Spur der Waldleute geführt, die von einem Waldhüter immer tiefer ins Dunkel der Bäume geführt werden, im Freien nächti- gen, sich ihre Geschichten erzählen. Bis- weilen kommt ihnen jemand abhanden, sie suchen ihn, finden ihn vielleicht tot, lassen ihn liegen. Sie treffen einen wilden Mann und kommen zu einem verschlossenen Haus, wo sie Vorräte zu finden hoffen. Immer weiter entfernen sie sich von dem Leben, das sie einst führten, irgendwann ist auch der Waldhüter nicht mehr da. Sie ernähren sich von dem, was sie finden, Nüssen und Bucheckern zum Beispiel. Seinem Thema zum Trotz ist «Wald- leute» kein düsteres Buch. Es nimmt ein ernstes Thema auf: Wohin mit den Alten in einer zunehmend überalterten Gesell- schaft? Dabei verbindet es realistische Elemente mit jenen der phantastischen Literatur sowie solchen der Sage und des Märchens. Der Text ist, wie schon sein Vorgänger «Unterwegs nach Ochotsk», von einer ganz feinen, kaum merklichen Heiterkeit durchwirkt – wie alte Gemälde von Haarrissen. Durch diese Risse scheint jenes Licht herein, das die Figuren in «Waldleute» für Augenblicke so etwas wie Sinn spüren lässt. Er ist da und schon wie- der fort. Doch das genügt. Dass wir es hier mit einem ganz ausser- gewöhnlichen kleinen Buch zu tun haben, darf uns eigentlich nicht gross über- raschen, gehört Eleonore Frey, die 1939 in Frauenfeld als Tochter des Germanisten Emil Staiger geboren wurde, doch seit vie- len Jahren zu den eigenständigsten und konsequentesten Stimmen der Schweizer Literatur. Sie verbindet Reflexion mit exakter Phantasie. Kein Wort schreibt sie achtlos hin, jedes ist sorgsam gesetzt. An der Universität Zürich wirkte Eleo- nore Frey fünfzehn Jahre lang als Titular- professorin für Neuere deutsche Literatur Kunst aus der DDR ist immer noch mit Vor- Fülle zu einem Panorama der Widrigkeiten und zeigte zahlreichen Studentinnen und behalten belegt. Für die einen ist sie und Ausbruchsversuche. Erika Stürmer- Studenten, was das eigentlich heisst: Staatskunst. Andere sprechen von einer Alex (Bild) forderte «Beat, Jazz, klassische einen Text genau lesen. Auch als Überset- inneren Emigration der Künstler, die im Musik, zeitgenössische ‹E-Musik›» als An- zerin ist sie uns immer wieder begegnet: Westen einfach niemand sehen wollte. Der regung und malte sich 1981 mit 41 Jahren Sie hat unter anderen Henri-Frédéric aktuelle Band geht einen anderen Weg: Er inmitten von Schraffuren und Zeichen in Amiel, Maurice Blanchot und Henri versammelt rund hundert Werke von 80 knalligem Rot. Malerei soll den Rhythmus Michaux übertragen. Vor allem aber hat Künstlerinnen und Künstlern, auf denen der eigenen Zeit erhalten. Gerhard Mack sie – neben ihren fachwissenschaftlichen diese sich selbst darstellen. Diese Innen- Ortrud Westheider (Hrsg.): Hinter der Publikationen – seit 1989 auch zahlreiche ansichten gehen über das klassische Maske. Künstler in der DDR. Prestel, Mün- literarische Texte veröffentlicht. Selbstporträt hinaus und werden in der chen 2017, 280 S., 200 Abb., um Fr. 53.–. 25. März 2018 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik ErBezählunrlg Ininseinem,icErstkling rehachnetssLeandlier Stebeinkopef mitDider der!utschen Hauptstadt ab F LAI Leander Steinkopf: Stadt der Feen und /

Wünsche. ICH

Hanser Berlin 2018. 112 Seiten, WESTR um Fr. 25.–, E-Book 18.–. RD RHA GE Von Katja Schönherr

«Stadt der Feen und Wünsche». Das Ver- träumte, das im Titel dieser Erzählung mitschwingt, währt nicht lange. Gleich der erste Satz ist so ein Rempler, dass man hineinstolpert in die Realität, in die schmutzige Pfütze Berlin: «Ein Penner legt sich auf den Bürgersteig, streckt die Arme in den Himmel und singt ‹Ave Maria›.» Eigentlich, so der namenlose Ich-Erzähler, habe er Lust, sich zu ihm zu legen. Doch er entscheidet sich fürs Nichtstun und Weitergehen. Das gilt für diesen einen Moment wie für sein ganzes Leben. Der Protagonist, vielleicht dreissig Jahre alt, streunt durch Deutschlands Hauptstadt. Sinnierend fährt er U-Bahn, grübelnd geht er auf WG-Partys, nach- denkend trinkt er Kaffee und Bier. Zu tun hat er nichts. Dafür ist sein Blick auf die Metropole, der zwischen pfandsammeln- den Obdachlosen und globalmoralisieren- den Hipstern vor allem in Mitte die Mitte Berlin ist ein Lebensgefühl: Leander Steinkopf erkundet nicht nur seine lauschigen, sondern auch die schmutzigen Ecken. fehlt, umso schärfer. Er beobachtet. Das Ergebnis sind Momentaufnahmen in per- Schnapsglas auf einer Untertasse hin, und Seele Berlins. Er liefert detaillierte Szenen fekt sitzenden Sprachbildern. in dem Glas war tiefschwarzer Espresso des Grossstadtwahnsinns; bald gehen sie Der Autor, Leander Steinkopf, Jahrgang mit dicker brauner Crema obendrauf. ‹Im ins Satirische, bald münden sie in Kultur- 1985, arbeitet als freier Journalist. Wäh- Glas?›, fragte ich. Sie sagte: ‹Ja, das trinkt pessimismus. Verloren geht man beim rend seines Studiums hat er mehrere Jahre man jetzt so in Brooklyn.› Erst war das Lesen aber nie. in Berlin verbracht. Dass das universitäre Glas zu heiss zum Anfassen, dann war der Dem Text ist ein Zitat Walter Benjamins Milieu samt seinen «Club Mate» trinken- Espresso zu kalt zum Trinken. Ich fragte vorangestellt, das auch den Buchtitel er- den politischen Hochschulgruppen im mich, wie ich nach Brooklyn geraten war, klärt: «Die Fee, bei der er einen Wunsch Text eine Rolle spielt, kommt also nicht und da ich keine Dollar in der Tasche frei hat, gibt es für jeden. Allein nur von ungefähr. Inzwischen lebt Steinkopf hatte, ging ich, ohne zu bezahlen.» wenige wissen sich des Wunsches zu ent- aber in München, wo die Stadtreinigung So schmal das Buch mit seinen 112 Sei- sinnen, den sie taten; nur wenige erken- diensteifriger vorgeht und wo ein derart ten daherkommt – Leander Steinkopf ist nen darum später im eignen Leben die ambitionsloser Antiheld wie jener aus ein beeindruckendes Debüt gelungen. Erfüllung wieder.» Leander Steinkopfs «Stadt der Feen und Wünsche» kaum hin- Obwohl er allerhand Klischees aufgreift Protagonist sehnt sich nach einer vagen einpasste, nur schon weil er sich den Kaf- (von Frauen mit «yogageradem Rücken» Sehnsucht. Im «Dreckloch» Berlin mit sei- fee im Café nicht leisten könnte. In Berlin über solche, die mit Brot in ihrer Hum- ner «Toleranz bis zur Gleichgültigkeit» ist aber braucht er mitunter überhaupt gar musschüssel «herumreiben wie in einer sein Wunsch längst wahr geworden, hier kein Geld. Meditationsschale»), liest sich die Erzäh- kann sich seine Sehnsucht überleben. Nur Eine Szene aus Neukölln: «Ich habe dort lung nie abgeschmackt. Mit virtuoser ist er ahnungslos – zum Glück. Hätte er das einmal einen doppelten Espresso bestellt, Sprachsorgfalt gräbt sich der Autor durch schon erkannt, gäbe es diese Erzählung dann kam die Kellnerin und stellte mir ein die Stimmung seiner Figur und durch die nicht. ●

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Zeitschriften Betriebsleiterin Sara Grob

8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. März 2018 Roman Das neue Buch von Assaf Gavron ist eine mörderische Liebesgeschichte vor historischem Hintergrund – und eine Absage an den Machohelden PerTaxiinIsraelsVergangenheit

Mord, den Eitan aufklären soll, scheint in jährigen Taxikundin verstehen kann. Am Assaf Gavron: Achtzehn Hiebe. Verbindung mit einem Ereignis aus der Ende könnte er tatsächlich den Mörder Aus dem Hebräischen von Barbara britischen Mandatszeit in Palästina zu stellen, wenn er nicht durch eine Lieb- Linner. Luchterhand, München 2018. stehen: mit der Auspeitschung eines jüdi- schaft abgelenkt wäre. 426 Seiten, um Fr. 32.–, E-Book 24.–. schen Untergrundkämpfers durch die Dass sich diese Liebschaft nur mithilfe britische Besatzungsmacht und der Ver- einer kleinen blauen Pille, die ihm ein Spe- Von Stefana Sabin geltungsaktion der Untergrundorganisa- zialist für Männerstörungen gibt, vollzie- tion, die ihrerseits zwei britische Soldaten hen lässt, ist eine humoristische Wendung «Wenn man Taxi fährt, steigt man in der entführte und auspeitschte. Die achtzehn und zugleich eine ironische Absage an das Früh in den Wagen und weiss nicht, wo Peitschenhiebe der Briten sollen den Männlichkeitsideal der israelischen (und man in fünf Minuten sein wird. Man fährt Kampf gegen die Besatzung angefeuert nicht nur der israelischen!) Literatur. und fährt, acht Stunden, zehn Stunden – haben; zugleich hätten die achtzehn Assaf Gavron spielt in diesem Roman verschiedene Richtungen, verschiedene Hiebe, die die britischen Soldaten ihrer- mit der romantischen Phantasie von der Leute, verschiedene Unterhaltungen –, seits erdulden mussten, die Besatzungs- Kraft der wahren Liebe ebenso wie mit der und kommt nirgendwo an.» politik beeinflusst und wahrscheinlich die erotischen Phantasie vom virilen, immer So beschreibt Eitan Einoch, der Anti- Staatsgründung herbeigeführt – diese bereiten Helden. Wie andere israelische Held in Assaf Gavrons neuem Roman, historische Episode hat Eitan im Ge- Autoren – wie Omer Barak, Boaz Gaon seinen Arbeitsalltag. Aber eines Tages schichtsunterricht nicht gelernt. oder Yoav Shoten-Goshen – verleiht steigt eine elegante alte Dame ein, lässt Gavron seiner männlichen Figur Eigen- sich zum Friedhof und zurück in die Stadt Kleine blaue Pille schaften, die traditionellerweise weib- fahren und erzählt ihm während der Diese achtzehn Peitschenhiebe, die dem lichen Figuren zugeschrieben werden: Fahrt, dass der gerade Beerdigte ihr Ge- Roman den Titel geben, waren «ein be- Selbstreflexion, Triebverzicht, Liebes- liebter war und dass sie hinter seinem Tod rüchtigter Augenblick in der Mandatszeit. sehnsucht. Gavron lässt Eitan während einen Mord vermutet. Und da Eitan sei- Mag sein, dass dieser Moment die Ent- seiner Taxifahrten über Herzensange- nerseits von seinen Versuchen als Privat- scheidung beeinflusst hat, das Mandat legenheiten, Kindererziehung und detektiv erzählt hat, beauftragt sie ihn, aufzugeben, als Teil der Entscheidung, Lebensführung nachdenken; und er lässt den angeblichen Mord aufzuklären. das gesamte imperialistische Projekt auf- ihn eine Liebesszene als suboptimale phy- Die Liebesgeschichte bettet Assaf Gav- zugeben.» Bei seinen Ermittlungen muss sische Leistung – mit einem Wink an Philip ron in eine Grossstadtgeschichte und ver- Eitan neue Aspekte der nationalen Ge- Roth! – und eine zweite, pharmazeutisch wandelt sie langsam in eine Mord- schichte aufspüren, bevor er die Verbin- eingeleitete, als emotionales Desaster er- geschichte, die wiederum vor historisch- dung zwischen dem ersten Mord, einem leben. So enthält diese leichte und amü- politischem Hintergrund spielt. Gavron darauffolgenden zweiten Mord und einem sante Lektüre ernste Überlegungen dar- hat schon sechs Romane, eine Erzähl- darauf wiederum folgenden Selbstmord über, was Liebe sein kann und wie man sammlung und einen Restaurantführer und der Liebesgeschichte seiner achtzig- sie erleben möchte. ● von veröffentlicht, J. D. Salin-

ger, und AP /

ins Hebräische übersetzt, das Computer- ONS spiel Peacemaker geschrieben und die ZSIMM

israelische Fussballnationalmannschaft FIT

der Dichter gegründet. Er ist ein geschick- TOM ter Erzähler. Er versteht es, Spannung aufzubauen, satirische Volten einzusetzen und Lokalkolorit zu dosieren. Und er weiss seine Figuren mit einem melancho- lischen Frohsinn auszustatten, der sie glaubhaft und sympathisch macht. Unter britischer Besatzung Eitan, den Gavron aus seinem dritten Ro- man, «Ein schönes Attentat», in den neuen Roman herübergeholt hat, ist ein Lebens- künstler mit einem eher bescheidenen Liebesleben. Er ist geschieden, sorgt für seine kleine Tochter und träumt von der grossen Liebe. Auch deshalb beeindruckt ihn die alte Dame mit ihrer Energie. «Wahre Liebe», erklärt ihm die muntere Achtzigjährige, «ist immer da, und sie kann sich immer verwirklichen.» Tatsäch- lich verwirklichte sich diese Liebe – mit einem Wink an Garcia Márquez! – sechzig Jahre, nachdem sie begonnen hatte. Denn die Liebesgeschichte, die Eitan zwischen seinen Taxifahrten durch , seinen abendlichen Boxstunden und seinen nächtlichen Runden durch Schawarma- Lokale langsam rekonstruiert, beginnt in den frühen 1940er Jahren in Haifa und findet ihr dramatisches Ende in den 2010er Jahren in Tel Aviv. Es ist eine verwinkelte Geschichte aus Leidenschaft und Eifersucht, und sie führt Eitan weit zurück in die Vergangenheit bis vor der Staatsgründung. Der angebliche Britische Soldaten helfen in Haifa einer Flüchtlingsfamilie an Land. (18. Mai 1947) 25. März 2018 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik RoEimannAniveta Siegfrdrieds raresantehtRitteresgeschichAbte lässt siench vomteumittelalteerrlichen Parzival inspirieren

S Sage, von der Monsieur Trichet Blanche

Anita Siegfried: Blanchefleur. AGE

IM Maillard erzählt. 2009 hat sie als SJW- Y Bilger-Verlag, Zürich 2018, 252 S., Jugendbuch den Roman «Parzival. Der GETT um Fr. 32.–, kein E-Book. / rote Ritter» publiziert, und aus diesem VE

RCHI Stoff stammen auch die Ingredienzien des A

Von Charles Linsmayer RY neuen Romans «Blanchefleur». Elodie ist

STO Herzeloyde, La Talône die Einsamkeit von HI

Als Monsieur Trichet, musikalisch versier- AL Soltane. Monsieur Latelier ist Fürst Gur- ter Stammgast, Blanche Maillard, der Wir- ERS nemanz, Lise dessen Tochter Liaze, und tin der Auberge du Cygne in Belfort, von UNIV natürlich steckt in Blanchefleur, auch Richard Wagners Adaption von Chrétien wenn sie eher eine französische Gilberte de Troyes Parzival-Stoff erzählt und sie de Courgenay denn eine Königin ist, die Frage stellt: «Darf man denn das, eine Condwiramur, Parzivals grosse Liebe, die alte Geschichte nach eigenem Gutdünken der Letztere bei der Belagerung von Pel- verdrehen und neu erfinden?», antwortet rapeire freit, hinter dem sich die Stadt der alte Herr, das sei unter einer Bedin- Belfort verbirgt. gung erlaubt: «Das Produkt darf nicht Und der Gral? Versteckt sich in Noëls langweilen!» siamesischen Erlebnissen, wo ihm ein Wenn die 250 Seiten von Anita Sieg- Thai-Priester sein Lebensrätsel aufgab: frieds neuem Roman etwas nicht tun, «Die Blumen im Frühling, der Mond im dann ist es langweilen. Die Geschichte des Herbst, im Sommer die kühle Brise, im wunderschönen Noël Lambert, der von Winter der Schnee. Wenn unnütze Sachen seiner Mutter Elodie in der Einsamkeit den Geist nicht vernebeln, ist dies des von La Talône ohne Wissen um Politik und Menschen glücklichste Jahreszeit.» Krieg aufgezogen wird, aber dennoch Sol- Es wäre gelogen, würde man behaup- dat werden will, einem roten Reiter das Der Roman «Blanchefleur» spielt im kriegsgeschüttelten Belfort (1871). ten, die Transplantation des mittelalter- Pferd stiehlt, bei einem Monsieur Latelier lichen Epos ins 19. Jahrhundert gehe naht- nach Rousseauschen Prinzipien gebildet zweier Söhne, deren Vater er ist. Diese los auf. Zu kühn, zu ambitioniert ist das wird, ohne dass ihn dessen Tochter Lise Liebe aber geht ihm nun nicht mehr aus Unterfangen und zu erzählfreudig, zu erhören würde, um dann in die Schrecken dem Kopf und gärt auch bei Blanche wei- phantasiebegabt die Erzählerin, die im des Deutsch-Französischen Krieges von ter. In Kanada wird er Trapper und Jäger, letzten Teil des Buches fast ganz von der 1870 zu geraten – diese Geschichte ist von entgeht knapp dem Tod und ist verschol- Vorlage wegdriftet. Dennoch verhilft das stupender Lebendigkeit. len, während Blanches Leben in Trauer dahinterstehende Modell dem Roman zu Und auch die Erzählung, wie der ver- um den verlorenen Geliebten weitergeht einem lebendigen, vielschichtigen, von wundete Noël die Liebe eben jener Belfor- und der eine Sohn an einem Schädel-Hirn- Überraschungen und neuen Wendungen ter Wirtin gewinnt, die mit ganzem Namen Trauma dahinsiecht und der andere Pia- nur so überquellenden Erzählfluss. Bei Blanchefleur heisst, liest sich wie ein nist wird. Bei der Schlussprüfung im Con- aller Verwandlung sind drei Konstanten romantisches Drama, zieht Noël doch im servatoire de Paris sitzt nicht nur Blanche des Parzival-Mythos kraftvoll umgesetzt: schönsten Moment von dannen, wird in im Saal, sondern drei Reihen weiter hinten die drastische Veranschaulichung der der Einöde, wo seine Mutter lebte, zum auch ein älterer Herr, der im Jardin des Schrecken eines Krieges; die Erkenntnis (vermeintlichen) Mörder an einem Riva- Plantes als Gärtner arbeitet und in einem von der Nichtdomestizierbarkeit der Liebe len, flieht nach England und kommt zu- Hausboot namens Blanchefleur wohnt. und die Deutung des Lebens als nicht vor- rück, wo er Lise als Wahnsinnige wieder- Was Anita Siegfried «nach eigenem Gut- herbestimmbarer Irrweg zwischen Glück findet und Blanche als verheiratete Mutter dünken verdreht», ist genau jene Parzival- und Unglück. ●

Erzählung Der Poet François LeLionnais schildert seine Erfahrung des KZ – knapp und eindrücklich ÜberlebeninBuchenwald

Jean Améry und Stéphane Hessel – zu den bekannte Bilder in Gedanken zu verknüp- François Le Lionnais: Leonardo in Dora. Überlebenden. Die Zeit im Vernichtungs- fen und zu kombinieren: «Es ist ein Leich- Aus dem Französischen von Jürgen Ritte. lager übersteht der studierte Elektro- und tes, Chardin seine kleine Pfeife zu stehlen Diaphanes, Zürich 2018. 47 Seiten, Chemie-Ingenieur, Mathematiker und und sie unter dem Kissen von Vermeers um Fr. 14.–. Kein E-Book. Schachspieler und fast schon ein Univer- Spitzenklöpplerin zu verstecken. Hin- salgenie, durch Gespräche mit anderen gegen scheint es mir geradezu unmöglich, Von Martin Zingg Häftlingen: über Mathematik, Chemie, gewissen Stillleben Cézannes etwas Optik, Kunst. hinzuzufügen oder zu entnehmen.» Das «Dora» klingt so harmlos. Den unverfäng- Für einen Mitgefangenen entwickelt Le Spiel mit der Kunst ist da längst mehr als lichen Namen trug ein Aussenlager des Lionnais – immer in Worten – ein «musée nur ein Spiel. Konzentrationslagers Buchenwald. Dort, imaginaire» mit Bildern von Giotto über Den kurzen und höchst eindrücklichen im Harzgebirge, in unterirdischen Bauten, Vermeer bis zu Max Ernst und Paul Klee. Bericht über seine Zeit in «Dora» hat Fran- wurden ab 1943 die von Wernher von Dank seinen Beschreibungen werden die çois Le Lionnais wenige Monate nach Braun entwickelten V2-Raketen produ- Werke für den Kameraden bis in Details Kriegsende niedergeschrieben. Nun ist er ziert, und dorthin wurde nach seiner Ver- vorstellbar. Einmal allerdings, es geht um endlich auch auf Deutsch zu lesen. Jürgen haftung durch die Gestapo auch François ein Werk von Marcel Duchamp (mit dem Ritte präsentiert ihn in einer sorgfältigen Le Lionnais gebracht, Verbindungsagent Le Lionnais später befreundet war), Edition im Diaphanes-Verlag und mit der französischen Widerstandsorganisa- akzeptiert dieser das Werk «nur unter dem einem vorzüglichen Nachwort, das auch tion «Marco Polo». Vorbehalt einer künftigen Überprüfung». daran erinnert, dass François Le Lionnais Als das KZ «Mittelbau-Dora» am 11.April Als der Mithäftling in eine andere 1960 zu den Begründern des «Oulipo» 1945 von den amerikanischen Truppen Mannschaft gesteckt wird, beginnt Le Li- zählte, der «Werkstatt der potenziellen befreit wurde, zählte Le Lionnais – wie onnais, sich Bilder auszudenken oder ihm Literatur». ● 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. März 2018 ErzählungenSamanta Schweblin erzeugt Kurzkritiken Belletristik ungeheure Spannung – allein durch Sprache

Beiläufig Eshkol Nevo: Über uns. Roman. Deutsch Christos Chryssopoulos: Parthenon. von Markus Lemke. dtv 2018. 318 S., Deutsch von Theo Votsos. Haymon 2018. bedrohlich um Fr. 27.–, E-Book 23.–. 100 Seiten, um Fr. 29.–, E-Book 19.–.

Samanta Schweblin: Sieben leere Häuser. Aus dem Spanischen von Marianne Gareis. Suhrkamp, Berlin 2018. 150 S., um Fr. 29.–, E-Book 21.–.

Von Martina Läubli Der neue Roman des international viel- Über Athen thront der Parthenon. Kein Irgendwann in Samanta Schweblins Ge- fach ausgezeichneten israelischen Autors Symbol in Europa ist symbolischer als der schichten kommt immer dieser Moment. Eshkol Nevo (*1971) spielt in einem Mehr- antike Tempel auf der Akropolis. Doch Er schleicht sich an, unmerklich, und familienhaus in Tel Aviv. Er beleuchtet die eines Tages geschieht es: Der Parthenon plötzlich ist das Unbehagen da. Es sind höchst verschiedenen und doch mitein- fliegt in die Luft, stürzt ein. Im Herzen gänzlich unspektakuläre häusliche Sze- ander verbundenen Wohnparteien. Es Griechenlands herrscht Leere. Von diesem nen, die Schweblin entwirft, und trotz- geht um Liebe und Lügen, um verschie- unerhörten Ereignis erzählt der 1968 in dem ist irgendetwas zutiefst befremd- dene Lebensentwürfe, um Nachbar- Athen geborene Christos Chryssopoulos. lich. Aber was? Die argentinische Autorin schaftshilfe, aber auch um Feindschaften. Sein Roman «Parthenon», eigentlich eine hat uns an der Angel. Beim Schreiben Nevo verteilt die Erzählung auf drei ver- Novelle, versammelt Zeugenaussagen, versuche sie jeweils einen Faden zu schiedene Stimmen. Ihnen sind die klas- Beobachtungen eines Wächters und einen spannen, sagt Schweblin. Das eine Ende sischen Kategorien von Sigmund Freuds Monolog des Attentäters Ch. K., der sich hält die Schriftstellerin in der Hand, das Psychologie zugeordnet: Ich, Über-Ich wiederum auf die Streitschrift eines Jor- andere die Leserin. und Es. Das klingt konstruiert, ist es aber gos Makris beruft, der 1944 schrieb: «Lasst Da erzählt ein Mädchen die Ge- nicht. Nevo erzählt plastisch, vital, mit uns die Akropolis in die Luft sprengen!» schichte seines achten Geburtstags. Ihre Humor und Sinn für Dramatik. Seine Sym- Doch nationale Symbole sprengt man kleine Schwester trinkt eine Tasse pathie für die «kleinen Leute», die er mit nicht ungestraft. «Parthenon» ist ein post- Bleichmittel, worauf die ganze Familie ihren Nöten und ihrer Schuld zu Wort modernes Spiel mit Verweisen und Zitaten in den Notfall rast. Die weisse Unterhose kommen lässt, ist in jedem Abschnitt und eine vielschichtige Reflexion griechi- der Erzählerin muss als Signalement spürbar. Hier sprechen Menschen in Be- scher Identität, ja nationaler Identität herhalten, damit das Auto durch den drängnis, die dennoch nicht aufgeben. Ein überhaupt. Die Krise Griechenlands hat Stau kommt. Im Spital sitzt sie allein im spannendes und bewegendes Buch. zumindest die Literatur befeuert. kurzen Jupe der Schuluniform und ohne Manfred Papst Martina Läubli Unterhose im Wartsaal, neben ihr ein fremder Mann. Klar, fühlt sie sich unbe- haglich – und nicht nur sie. Meisterhaft spielt Schweblin mit Erwartungen und Bianca Bellová: Am See. Deutsch von Mirko John Fante: Der Weg nach Los Angeles. Befürchtungen der Leserin. Das Mäd- Kraetsch. Kein & Aber 2018. 232 Seiten, Deutsch von Alex Capus, Blumenbar chen geht mit dem fremden Mann mit. um Fr. 30.–, E-Book 25.–. 2018, 252 S., um Fr. 29.–, E-Book 17.–. Doch die Geschichte kommt anders, wenn auch nicht unbedingt besser. Das Herzstück des Bandes bildet «Die Höhlenatmung». Darin wartet die ge- brechliche Lola auf den Tod. Die Dinge entgleiten ihrem Gedächtnis. Dann stirbt ihr Mann, der sich um alles ge- kümmert hat. Lola entfernt sich immer weiter von der Realität. Doch das Aus- mass dieser Entfernung, die man auch Alzheimer nennen könnte, und deren zerstörerische Auswirkungen auf andere Nami wächst bei seinen Grosseltern auf, Der italoamerikanische Autor John Fante Menschen zeigen sich erst langsam im im Niemandsland, an einem See, in dem (1909–1983) wird alle paar Jahre wieder Lauf der Geschichte, ebenso beiläufig ein böser Geist hausen soll. Kranke, Tote, entdeckt, und das ist gut so, denn er ist wie bedrohlich. Verbrecher werden ins Wasser geworfen, ein glänzender Erzähler. Fünf Romane hat Samanta Schweblin (Bild) ist eine um diesen zu besänftigen. Armut und er seinem Helden Arturo Bandini gewid- Meisterin der erzählerischen Präzision. Rückständigkeit prägen die Gegend. Des- met, einem Egomanen und sympathi- «Sieben leere Häuser» bietet die zweite halb will der Knabe weg von dort: Er geht schen Grossmaul. Dieser hier ist der erste Gelegenheit, ihr Werk kennenzulernen. auf die Suche nach seiner Mutter, um die und frechste. Zu Fantes Lebzeiten wurde Im 2015 erschienen Roman «Das Gift» sich im Dorf wilde Geschichten ranken. Er er nicht publiziert. Entstanden ist er be- hat Schweblin das Unheimliche begibt sich auf einen harten Weg, nimmt reits 1935/36. Er erzählt davon, wie Ban- noch weiter auf die Spitze getrie- verschiedenste Jobs an, etwa im Strassen- dini sich im Los Angeles jener Jahre ben. Der Text spielt mit Elemen- bau und in einem Schwefelwerk, und lan- durchs Leben schlägt. Man denkt beim ten aus Horrorfilmen und mit det schliesslich bei einem reichen Drogen- Lesen oft an Charles Bukowski, und tat- der tiefliegenden Angst von dealer, wo er zum ersten Mal in seinem sächlich: Der grosse Hank bewunderte Eltern, ihrem Kind könnte Leben auf einer Matratze schläft. Aber John Fante. Die Milieus ähneln sich eben- etwas Schlimmes zustossen. Die wird er seine Mutter finden? – Die Prager so wie die schnellen Dialoge. Der Schwei- Kunst des Suspense hat Autorin Bianca Bellová (*1970) ist in ihrer zer Schriftsteller Alex Capus, der schon Schweblin beim Drehbuch- Heimat eine gefeierte Schriftstellerin. Sie vier andere Romane Fantes trefflich über- schreiben gelernt. Heute lebt die verdient es, auch hierzulande bekannt zu setzt hat, trifft dessen Ton auch bei die-

AMY 40-jährige Argentinierin in Ber- werden, denn sie schreibt spannend, an- sem struppigen Erstling wieder ausge- AL / lin und arbeitet sehr langsam und schaulich und frisch, aber auch mit Mut zeichnet und steuert ein aufschlussrei- ERA

M sehr genau an ihren kurzen, atem- zur Knappheit und zum Eigensinn. ches biografisches Nachwort bei. KO

PA beraubenden Texten. ● Gundula Ludwig Manfred Papst 25. März 2018 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Sachbuch

Extremismus Der politische Islamismus verändert unsere Gesellschaft. Auf dem Spiel stehen liberale und säkulare Werte, welche die Rechte des Einzelnen schützen. Ein VoSirabdrucndk aus «Der alltäglichwie Islamismus»rderIS?

Von Elham Manea verübt werden, und verurteilen sie mit Nicht mit uns, lautete ihre Botschaft. Die aller Vehemenz. Damit steigern sie sich in Organisatoren hofften auf die Teilnahme Wir haben ein Problem, und zwar ein glo- einen defensiven Diskurs hinein, um dem von bis zu zehntausend deutschen Mus- bales, und dieses Problem hat einen «schlechten Image» des Islams entgegen- limen. Dann beschloss die Türkisch-Isla- Namen: Islamismus. Doch wir werden zutreten, das ihrer Meinung nach auf «ten- mische Union (DITIB), die Dachorganisa- einfach nicht damit fertig, weil wir ent- denziöse Darstellung in den Medien» zu- tion von 896 muslimischen Ortsgemein- weder nicht in der Lage sind, darüber zu rückgeht sowie auf diese fehlgeleiteten, den in Deutschland, das Ereignis zu boy- reden, oder weil wir zu sehr damit be- kranken Menschen, die den Islam für ihre kottieren. Präsent war schliesslich nur schäftigt sind, eine ideologische Schlacht Zwecke pervertieren. eine Handvoll Demonstranten, wenige auszutragen. Doch genau da liegt ein Paradox. Die hundert Personen – eine bittere Enttäu- Der Islamismus droht die Menschen in Vertreter dieser europäischen und nord- schung für die Organisatoren. den europäischen und nordamerikani- amerikanischen Bürger muslimischen Und wie erklärte die DITIB ihre Positio- schen Gesellschaften zu spalten. Als Ge- Glaubens stehen oft allein da, wenn sie nierung? Sie gebarte sich als Opfer, ganz sprächsthema ist er vielen Menschen hier versuchen, sich zu organisieren und etwas nach dem altbekannten Drehbuch solcher unangenehm. Nicht, weil sie keine Mei- auf die Beine zu stellen. Die grossen mus- Islam-Organisationen. Die DITIB war so nung dazu hätten. Sie wissen ganz einfach limischen Organisationen – also die orga- dreist, zu erklären, der muslimische Frie- nicht, wie sich darüber reden lässt. nisierten Vertreter ihres Glaubens in ihren densmarsch – nicht etwa die Vollführer Bei jedem terroristischen Akt erklingt jeweiligen Mehrheitsgesellschaften – fal- dieser Grausamkeiten, die Kinder und der Chor der Selbstverleugnung. Wir be- len ihnen in den Rücken. Zivilisten töten – «stigmatisiere die Mus- kommen zu hören, die Taten des IS hätten Sehr deutlich wurde das beim Kölner lime und verenge den internationalen nichts mit Religion zu tun. Wir bekommen Friedensmarsch am 17.Juni 2017. Die Terrorismus auf sie, ihre Gemeinden und zu hören, der Islam sei eine Religion des Organisatoren vom Liberal-Islamischen Moscheen». Friedens und der Toleranz, wir hätten es Bund wollten ein klares Zeichen gegen die Es liesse sich leicht nachweisen, dass da mit einer Gruppe Kranker zu tun, die jüngsten Bluttaten in mehreren europäi- der IS nicht für die wahre Lehre des Islams die Botschaft des Islams verkehrten und schen Städten setzen – Manchester, Lon- steht. Ein Kinderspiel! Und ja, ich glaube, die Religion nur als Deckmäntelchen für don, Stockholm, Paris, Berlin und Brüssel. dass der Islam das ist, wozu wir Menschen diese Grausamkeiten nutzten. Diese Ter- ihn machen. Jede Religion kann zu einer roristen seien Einzelgänger. Desorientiert Botschaft der Liebe gemacht werden oder und manipuliert. Natürlich wurden die ElhamManea zu einem Schwert des Hasses, je nachdem, jungen Männer und Frauen, die dem IS welche Menschen ihr anhängen. Und ja, beigetreten sind, manipuliert. Aber keiner Die schweizerisch-jemenitische Politik- es gibt eine friedliche Auslegung des kann mir erzählen, dass die Religion damit wissenschaftlerin ist eine profilierte Islams, die viele Anhänger hat. Doch es nichts zu tun hat. Stimme gegen islamischen Fundamen- bleibt die Tatsache, dass schon lange dar- talismus. Die 51-jährige Elham Manea an gearbeitet wird, die Machenschaften Friedensvertreter sind allein lehrt an der Universität Zürich zu politi- des IS zum ideologischen Mainstream zu Viele, die den Islam inständig als «Religion schem Islam, Radikalisierung, Gender machen, in Moscheen nämlich, in denen des Friedens» bezeichnen, entstammen und Politik im arabischen Raum. Mit bei jedem Freitagsgebet die «christlichen selbst einer muslimischen Tradition und dem Buch «Ich will nicht mehr schwei- Kreuzritter», «Juden» und «Ungläubige» sind von ihrer Meinung ehrlich überzeugt. gen: Der Islam, der Westen und die Men- verflucht werden. Schliesslich sind sie selbst die genuine schenrechte» appellierte sie an ein brei- Zum Mainstream machen sie auch die Verkörperung dieser friedlichen Aus- teres Publikum für einen liberalen Islam. religiösen Vorbilder und Prediger, die Tag übung ihrer Religion. Sie sind Bürger ihrer Manea ist Co-Gründerin von Offene für Tag per Satellitenfernsehen eine Bot- europäischen und nordamerikanischen Moschee Schweiz und leitete 2017 in schaft von Hass und Intoleranz gegen die Heimatländer und gestalten deren Gesell- Berlin das Gebet, als die Ibn-Rushd-Goe- «Anderen» aussenden, ganz egal, wer schaften mit. Sie verabscheuen die Grau- the-Moschee eröffnet wurde. diese «Anderen» sind. Zum Mainstream samkeiten, die da im Namen ihrer Religion machen sie – und das auch in unseren 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. März 2018 RS UTE RE / N AI SS HO IR PON AD MM MOHA westlichen Ländern – Schulen und Koran- offen sehen können: bei den Mädchen in und Frauen innerhalb westlicher Gesell- Eine extremistische schulen, in denen gelehrt wird, wer sich Nigeria, die bis heute von Boko Haram schaften, die sie zu Feinden ihrer neuen Auslegung des Islams vom Islam abwende, werde mit dem Tod gekidnappt und verkauft werden, bei den Heimat werden lässt. Schliesslich begeg- wird in Koranschulen zunehmend zum bestraft; man solle sich von den «Ungläu- jesidischen Frauen, die vom IS als Skla- nen wir ihm darin, wie er unsere Gesell- Mainstream. bigen» fernhalten; Christen und Juden vinnen gehalten werden, bei den Angehö- schaften verändert, wo immer er weiter (19. September 2017) hätten «Kopfsteuern» zu bezahlen, um rigen verschiedener irakischer und syri- Fuss fasst. nicht weiter behelligt zu werden, andern- scher Minderheiten, die um ihr Leben Der IS ist das Produkt eines religiösen falls müssten sie sich Krieg und Verskla- fliehen, weil eine Ideologie sie aufgrund Diskurses – und dieser Diskurs ist heute vung stellen. Anders gesagt: Wenn sie sich ihrer Religionszugehörigkeit als minder- in weiten Kreisen Mainstream geworden. nicht fügten, machten sie sich, ihre Kinder wertige Untermenschen behandelt. Dieses Problem können wir nicht länger und ihren Besitz zur legitimen Kriegs- ignorieren. Wir müssen handeln, wir müs- beute von Muslimen. Das wird wirklich in Die Ideologie verbreitet sich sen das Problem beim Namen nennen und unseren Koranschulen unterrichtet. Wir begegnen diesem Extremismus in Ge- es mit allen nötigen Massnahmen in An- Was mit den Anhängern «anderer Reli- setzen muslimischer Länder, die unge- griff nehmen. Sonst nämlich bezahlen wir gionen» tatsächlich geschehen soll, bleibt straft Bürger- und Menschenrechte verlet- selbst – die Menschen überall – einen unausgesprochen, aber wir können es zen und unter Zwang bestimmte religiöse hohen Preis für die Untätigkeit im Um- zwischen den Zeilen sehr wohl heraus- Überzeugungen durchsetzen; wir müssen gang mit diesem Extremismus. Ob wir es lesen. Nie dagegen hört man in diesen zusehen, wie er sich in «gescheiterten wollen oder nicht: Wir sitzen alle im sel- Koranschulen, dass ein Bürger das Recht Staaten» in Nahost und Nordafrika sowie ben Boot. l habe, sich frei für seine Religion zu ent- in südasiatischen Ländern ausbreitet. Und scheiden, oder dass unbesehen von Reli- wir begegnen diesem Extremismus in den Dieser Text ist ein Auszug aus «Der alltäg- gion oder Glauben vor dem Gesetz jeder geschlossenen Gesellschaften innerhalb liche Islamismus. Der Terror beginnt, wo Bürger gleich sei. Kein Wunder, dass wir europäischer Mehrheitsgesellschaften wir ihn zulassen» von Elham Manea. Das das Gesicht dieses Extremismus heute und in der Radikalisierung junger Männer Buch erscheint am 3. April im Kösel Verlag. 25. März 2018 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Essay Die afroamerikanische Literatur erlebt zurzeit eine Renaissance. Oder schaut der Rest der Welt einfach geScnauer hin?hwfragt Sacha Vearrna, NewzeYork Kunst istnun mehrheitsfähig

Seit Barack und Michelle Obamas Porträts in der Autorinnen und Autoren nicht mehr die Aus- «I am not a ‹nigger›, I am man», National Portrait Gallery in Washington DC hän- nahme, sondern die Regel. gen, hat sich die Zahl der Besucher verdreifacht. Nur: Afroamerikaner haben nicht einfach sagte James Baldwin. «Der Schon die Enthüllung der Gemälde vor einigen plötzlich ihr kreatives Potenzial erkannt. Viel- Wochen war ein Ereignis. Was normalerweise eine mehr hat der Rest der Welt das kreative Potenzial einzige Grund dafür, dass ihr glanzlose Pflichtübung fürs Washingtoner Presse- der Afroamerikaner erkannt. «Sichtbarkeit» lautet mich einen Nigger nennt, corps und einige geladene Gäste ist, geriet zu das Stichwort. Oder besser: «Hinschauen». Sie einer Feier des gewesenen Präsidentenpaares, waren nämlich immer schon da. Schriftstellerin- ist der, dass ihr einen Nigger über die die Medien landesweit berichteten, und nen und Schriftsteller wie Zora Neale Hurston, zu einer Feier der Künstler. Langston Hughes und Richard Wright gehören braucht.» Kehinde Wiley und Amy Sherald sind die ersten zum literarischen Kanon. Alice Walkers Roman Afroamerikaner, die den Auftrag erhielten, die «Die Farbe Lila» wurde 1985 von Steven Spielberg «Invisible to whom?», fragte denn auch Toni offiziellen Bildnisse anzufertigen. Wiley, der verfilmt, Walter Mosley ist eine Krimi-Grösse und Morrison ihren Interviewer des Magazins «The Barack Obama malte, war bereits ein Star. Sherald, Paul Beatty ein Satiriker, vor dem andere in die New Yorker» 2003: «Unsichtbar für wen?» Sie für die sich Michelle Obama entschieden hatte, Knie gehen. Bisher erinnerten sich Promis und spielte damit auf den berühmten Roman von ist es spätestens jetzt. Die eigentliche Attraktion Programmmacher mit Vorliebe dann an sie, wenn Ralph Ellison an. In «The Invisible Man» (im Ori- in den hehren Hallen bilden freilich die Porträts Quoten-Schwarze für eine Erzählungssammlung ginal 1954 erschienen, deutsch unter dem Titel der Obamas selber. Neben 43 Weissen ziert da nun oder für eine Podiumsdiskussion gesucht wurden «Unsichtbar» 1984) erzählt der namenlose Prot- die gerahmte Gestalt des ersten schwarzen Ober- oder ihr Auftreten anderweitig opportun er- agonist von seinem Leben und den Weissen, die haupts der Vereinigten Staaten eine Wand und, schien. So beauftragte Bill Clinton 1993 mit Maya ihn als Schwarzen entweder als Problem oder gar in einem anderen Saal, die der ersten schwarzen Angelou die erste Afroamerikanerin mit dem Ver- nicht wahrnehmen. Diese soziale Unsichtbarkeit First Lady. Auffälliger könnte der Bruch mit der fassen des Gedichts zur Amtseinführung eines thematisiert Toni Morrison auch in ihren gegen- Tradition nicht sein. Das wollen die Leute sehen. amerikanischen Präsidenten – weniger aus lyri- wärtigen Essays «Die Herkunft der anderen. Über Während Barack Obamas Amtszeit erlebte die schem Enthusiasmus, wie man annehmen darf, Rasse, Rassismus und Literatur». Die Literatur- afroamerikanische Kultur in den USA eine Renais- denn aus politischem Kalkül. Dass das schwarze nobelpreisträgerin veröffentlichte ihren ersten sance. Das ist die gängige Meinung, und vieles Geistesleben auch jenseits des weissen Blickes Roman 1973. Ihre beinahe drei Dutzend Werke spricht dafür. Vom American Ballet Theatre, das florieren könnte, dämmert vielen erst jetzt. seither sind Seismogramme der amerikanischen mit Misty Copeland die erste schwarze Primabal- Verhältnisse. Morrison ist das nagende Gewissen lerina in seiner Geschichte ernannt hat, bis zu den einer Nation, die sich um ihr Seelenheil lediglich Hollywood-Studios, die in Filme von und mit Weiterlesen an Feiertagen kümmert. Afroamerikanern wie «Black Panther» oder «Get Anders ist man nicht, zu einem «anderen» wird Out» investierten. Jetzt brechen diese Rekorde Toni Morrison: Die Herkunft der anderen. Über man gemacht, so Toni Morrisons Fazit in diesem und heimsen Preise ein. Die Strippenzieher im Rasse, Rassismus und Literatur. Band. Rasse gibt es nicht, Rasse ist ein Konzept. amerikanischen Kulturbetrieb haben gemerkt, Übersetzt von Thomas Piltz. Rowohlt Verlag, Reinbek Rassismus ist das Instrument, mit dem sich wirt- dass diese Minderheit mehrheitsfähig und damit 2018. 111 Seiten, um Fr. 25.–, E-Book 15.–. schaftliche Ausbeutung rechtfertigen und ein kommerziell verwertbar ist. falsches Gefühl der Zusammengehörigkeit schaf- Das gilt auch für die Literatur. Die wichtigsten James Baldwin: Von dieser Welt. Roman. fen lassen – zwischen Präsident Trump und sei- Buchpreise des Landes, darunter der Pulitzer Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow. nen weissen Wählern zum Beispiel, von denen Prize und der National Book Award, sind in den Deutscher Taschenbuchverlag, München 2018. viele in Wirklichkeit mit schwarzen Sozialhilfe- letzten Jahren in mindestens einer Kategorie 320 Seiten, um Fr. 34.–, E-Book 22.–, Hörbuch im Au- empfängern, die sie für ihr Unglück verantwort- immer an afroamerikanische Autoren gegangen. dioverlag 34.–. lich machen, sehr viel mehr gemeinsam haben Darunter an Colson Whitehead, der für «Under- als mit einem Mann, der sich bei jeder Gelegenheit ground Railroad» sowohl den National Book Ta-Nehisi Coates: We Were Eight Years in Power. mit seinem Reichtum brüstet. Was zählt, ist die Award 2016 als auch den Pulitzer-Preis 2017 er- Eine Amerikanische Tragödie. Illusion der Überlegenheit. hielt, und an Jesmyn Ward (Seite 6). Die Lyrikerin Aus dem Amerikanischen von Britt Somann-Jung. Die Literatur betrachtet Toni Morrison als Tracy K. Smith ist «poet laureate» der Vereinigten Hanser Berlin Verlag, München 2018. 416 Seiten, Chance und Wagnis zugleich: «Erzählende Prosa Staaten, die oberste Dichterin des Landes. Auf um Fr. 38.–, E-Book 28.–. bietet uns eine kontrollierte Wildnis, eine Ge- Bestsellerlisten bilden Bücher von schwarzen legenheit, die andere, die Fremde zu werden ▲ 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. März 2018 S GE IMA TY GET / BIS COR / RO API SCH E STEV

Als in den USA noch Rassentrennung herrschte: Der amerikanische Schriftsteller James Baldwin (1924–1987) vor einer Eisdiele nur für Schwarze. (Undatiertes Bild) 25. März 2018 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Essay

tiger Baumeister hervor», schreibt Coates. Immer- GES

IMA hin. Doch habe er dem weissen Amerika mit sei-

TTY ner «guten Negerregierung» genau das beschert, GE / was es am meisten befürchtet hatte: «Es applau- POST

N diert, ja feiert die Idee guter Negerregierung, so- lange sie abstrakt und ungefährlich ist – in der NGTO Cosby Show zum Beispiel. Doch wenn sich ab- WASHI

E zeichnet, dass eine gute Negerregierung echten TH / Schwarzen Macht über echte Weisse verleihen

UNG könnte, kommt Angst auf.» CH E

ANDR Ursünde Sklaverei Es komme, so Ta-Nehisi Coates im Epilog, nicht nur Angst auf, sondern auch eine Figur wie Donald Trump an die Macht, «der nicht Präsident wäre, wenn er nicht weiss wäre und kein Mann». Coates beklagt wie viele andere Obamas Kompro- missbereitschaft. Seine eigentliche Kritik gilt je- doch dem sozialpolitischen Apparat, in dem eine «gute Negerregierung» geradezu zwingend eine radikale Gegenreaktion auslöst, weil sie all jene Lügen straft, die eine schwarze Apokalypse pro- phezeit haben. Ta-Nehisi Coates ist ein Pessimist. Er glaubt Ta-Nehisi Coates, 42, ist ein streitbarer Vordenker einer neuen Generation afroamerikanischer Intellektueller. nicht, dass sich die Vereinigten Staaten der Ur- sünde der Sklaverei je stellen und einen echten ▲ und zu sein. Mit Empathie, mit klarem Geist erklärt seinem Sohn die Rolle des Rassismus in Versuch unternehmen werden, deren Folgen zu und mit dem Risiko, in den Spiegel schauen zu der amerikanischen Gegenwart. Seit dieser flam- bekämpfen. James Baldwin blieb in dieser Hin- müssen.» Was, wer hinschaut, im Spiegel sieht, menden Anklage Amerikas als Gesellschaft, die sicht ein Optimist. Toni Morrison erweist sich als ist ein Mensch. Gewalt gegen Schwarze nicht nur toleriert, son- Realistin. Der Rassismus ist eine Realität in Ame- «I am not a ‹nigger›, I am man», sagte auch dern sanktioniert, gilt Coates als Vordenker einer rika. In der amerikanischen Literatur sehen sich James Baldwin. «Ich bin kein ‹Neger›. Ich bin ein neuen Generation afroamerikanischer Intellek- schwarze Autorinnen und Autoren geradezu dazu Mensch.» Das Zitat stammt aus einem Fernseh- tueller. Nun setzt er sich mit den USA unter Barack gezwungen, sich damit zu befassen. Das ist an interview von 1963 mit dem Psychologen Kenneth Obama auseinander. sich schon ein Fehler im System, den Morrison Clark. Baldwin fuhr fort: «Der einzige Grund da- «We Were Eight Years in Power» ist nicht weni- diagnostiziert. Noch immer gilt Weiss als Norm für, dass ihr mich einen Nigger nennt, ist der, dass ger leidenschaftlich als «Zwischen mir und der und alles andere eben als «anders». Noch immer ihr einen Nigger braucht.» Baldwins Bedeutung Welt» und genauso deutlich. Das Buch besteht aus werden afroamerikanische oder andere Binde- für die amerikanische Literatur ist unbestritten. acht Artikeln, die Coates für das Magazin «The strich Autoren (hispano-amerikanische, asiatisch- Seine Gesellschaftsanalysen in Form von zutiefst Atlantic Monthly» verfasst hat, einen in jedem amerikanische, indianisch-amerikanische...) in persönlichen Romanen, Erzählungen, Theater- Jahr von Barack Obamas Regierungszeit. Ergänzt erster Linie als Vertreter einer ethnischen Gruppe stücken und Essays haben vierzig Jahre nach sei- werden die Texte mit Skizzen, in denen Coates betrachtet. Indem man sie auf ihre Identitätszu- nem Tod nichts von ihrer Gültigkeit und Kraft die persönlichen und die tagespolitischen Um- schreibung reduziert, spricht man ihnen jegliche verloren. Doch selbst diesem Sprachjuwelier stände schildert, die zu den jeweiligen Essays Individualität ab. Dabei besteht die Leistung von haben Hommagen jüngst zu Neuauflagen verhol- geführt haben. Beim Lesen kann man mitverfol- Literatur gerade darin, den Mythos monolithi- fen. Darunter der mehrfach ausgezeichnete Doku- gen, wie Coates’ Begeisterung für Barack Obama scher Erfahrung als solchen zu entlarven. Litera- mentarfilm «I Am Not Your Negro» von Raoul der Ernüchterung weicht. «Obama ging aus seinen tur ist nicht schwarz, rosarot oder gestreift. Sie Peck, in dem das erwähnte Interview vorkommt. acht Jahren als guter Sachverwalter und umsich- ist, im Idealfall, universell. Es wird noch lange dauern, bis Michelle und Weisser Gott Literatur ist nicht Barack Obama unter den porträtierten Präsiden- Im deutschsprachigen Raum waren James Bald- tenehepaaren in der National Portrait Gallery wins Bücher seit Jahrzehnten vergriffen. Nun ist schwarz, rosarot nicht mehr hervorstechen. Schon jetzt aber steht mit «Von dieser Welt» sein autobiografisches es allen frei, die Werke von afroamerikanischen Debüt neu übersetzt worden. Die schwarz-weisse oder gestreift. Schriftstellerinnen und Schriftstellern als Werke Folie liegt darin über allem: Über den Südstaaten, Sie ist, im Idealfall, von amerikanischen Schriftstellerinnen und wo bis ins 20.Jahrhundert 90 Prozent der schwar- Schriftstellern zu lesen und ihre Geschichten als zen Bevölkerung Amerikas lebte, und über den universell. amerikanische Geschichte. l Grossstädten des Nordens, in die bis 1970

sechs Millionen Afroamerikaner zogen, unter AP / ihnen die Eltern des Protagonisten John. Schwarz PF KNO

ist Harlem, wo der Knabe aufwächst, und weiss A. ist Downtown Manhattan, wo die Schwarzen aus FRED

Harlem ihre Arbeit für Weisse verrichten. Weiss AL ist das Gesicht Gottes, zu dem die Schwarzen in- brünstig beten. John versteht diese Hingabe nicht. Eine Hingabe, die im Fall seines brutalen Stiefvaters an Fanatismus grenzt. John ahnt, dass dieser Gott bloss ein weiterer Komplize der Weis- sen zur Unterdrückung der Schwarzen ist. Sein Stiefvater gebärdet sich im Namen dieses Gottes als selbstgerechter Tyrann. In «Von dieser Welt» sagt sich John/Baldwin von seinem Stiefvater los und von der Religion. Es ist ein roher Roman, eine Prosa von buchstäblich biblischer Wucht. Es ist der Vulkan am Anfang von James Baldwins lite- rarischem Werk. Ta-Nehisi Coates hat wesentlich zum andau- ernden Baldwin-Boom beigetragen. Sein Welt- bestseller «Zwischen mir und der Welt» (2015) basiert auf Baldwins «Brief an meinen Neffen» in «The Fire Next Time» (1963). Baldwin erklärt sei- nem Neffen darin die Rolle des Rassismus in der amerikanischen Geschichte. Coates wiederum Die 87-jährige Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison hat ein feines Sensorium für Bruchlinien innerhalb der USA. 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. März 2018 Kolumne Charles LewinskysZitatenlese Kurzkritiken Sachbuch

Das Verlegen von Büchern wäre so viel Giovanni Frazzetto: Nähe. Wie wir lieben Paul Nizon: Sehblitz. Almanach der einfacher ohne und begehren. Hanser, München 2018. modernen Kunst. Suhrkamp, Berlin 2018. die Autoren. 208 S., um Fr. 29.–, E-Book 23.–. 304 S., um Fr. 26.–.

Dan Brown DER MAE

S Wahrlich, ich sage euch: Der Tag wird kommen, an dem alle Bücher dieser Welt LUKA Der Autor Charles nur noch von Computern verfasst wer- Lewinsky arbeitet in den. Der Verleger wird gemütlich an sei- den verschiedensten nem Schreibtisch sitzen und das ge- Sparten. Zuletzt ist wünschte Genre, das angestrebte Ziel- sein Kriminalroman «Der Wille des Volkes» publikum und noch ein paar andere Der Mix von romanhaftem Erzählen und Bekannt ist er heute als Schriftsteller, aus- im Verlag Nagel & Parameter einprogrammieren (vor allem harten Fakten ist inzwischen als «Doku- gebildet wurde er als Kunsthistoriker. Paul Kimche erschienen. das Budget, das er für Werbemassnah- fiktion» vertraut. Nun bietet der siziliani- Nizon hat, bevor er der Literatur verfiel, men auszugeben bereit ist), und dann sche Molekularbiologe Giovanni Frazzet- im Museum gearbeitet und Kunstkritiken wird er ein Icon auf dem Bildschirm an- to eine neue Mischung: die von Erzählen geschrieben, auch für die NZZ. Die Neu- klicken und zufrieden mit der geleisteten und wissenschaftlicher Erkenntnis. Ein- gierde auf Kunst und Künstler hat er auch Arbeit in die Betriebskantine schlendern. fühlsam und klug erzählt er ganz verschie- später nicht verloren. Immer wieder hat Wo ihn schon sein Latte macchiato er- dene Beziehungsgeschichten – die einer er Ateliers besucht und Zeitgenossen ge- warten wird, von einem anderen Com- heimlichen Affäre etwa, einer schwierigen fördert. Hans Josephsohns Plastik hat ihn puter exakt nach seinen persönlichen Schwulenbeziehung, eines sterbenden genauso fasziniert wie Wilfried Mosers Vorlieben gebraut. Vaters und seiner Tochter oder einer jahr- Malerei. Dabei kam ihm seine Sensibilität Genüsslich seinen Kaffee schlürfend zehntealten Ehe. Jede Geschichte ergänzt zugute, die der Augen wie die der Sprache. und an einem nach seinen diätetischen er mit einem wissenschaftlichen Teil, mit Er sah Details und wusste sie in ein Ge- Vorgaben frischgebackenen Keks knab- Studien also zur Verbindung zwischen samtbild einzuordnen. Goya war ihm ein bernd, wird er mit einem Kollegen über One-Night-Stands und Dopamin-Rezep- Leuchtstern der Moderne, deren Vertreter die Krise des Buchgeschäfts philoso- toren, zwischen Berührung und Blut- er liebt. Dass ihre Werke auf der Art Basel phieren, denn das wird sich als Einziges druck, zwischen sozialer Interaktion und zur Ware wurden, hat Nizon der Messe nicht verändert haben: Das Buch- Hirnarealen. Diesen Teil präsentiert der nicht verziehen. Viele dieser Texte sind geschäft wird auch in hundert Jahren in Autor mit Fussnoten und sorgfältigem nun in einem Lesebuch versammelt und derselben Krise sein, über die die Ver- Anmerkungsteil. Das Ergebnis ist eine Art seit langem erstmals wieder zugänglich. leger schon vor hundert Jahren gejam- poetische Wissenschaft der Komplexität «Augenhunger» nennt Paul Nizon als sei- mert haben. von menschlichen Beziehungen. ne Motivation, sich Kunst auszusetzen. Zurück in seinem Büro, wird er das Kathrin Meier-Rust Gerhard Mack fertige Buch vorfinden, nicht nur ge- schrieben, sondern auch schon ge- druckt, und dann wird er seinen Füller mit der roten Tinte in die Hand nehmen Jacqueline Yallop: Big Pig, Little Pig. Daniel Levin: Alles nur ein Zirkus. und das tun, was Verleger schon immer Deutsch von Regina Jooss. Blanvalet, Übersetzt von Christel Kauder. Elster, am liebsten getan haben: Er wird den München 2018. 352 S., um Fr. 24.–. Zürich 2018. 261 S., um Fr. 35.–. Titel des Buches abändern. (Schon der Verleger Johann Friedrich Cotta, so geht die Sage, soll Goethe den Vorschlag gemacht haben, seine «Italie- nische Reise» doch lieber unter dem Titel «Amore und Spaghetti» auf den Markt zu bringen.) Dann wird der Verleger einen aller- letzten Mausklick auf das Icon «Publizie- ren» tun, und damit wird seine Arbeit erledigt sein. Nur der Tisch im besten Frankfurter Lokal, wo er während der «Wir wollen die Schweine nahe am Haus Sein Buch sei als Therapie entstanden, Buchmesse auf den neusten Bestseller töten. Wir werden Wasser und Wärme be- erklärt uns der Autor. Es habe ihm wieder anstossen will, bleibt noch zu bestellen, nötigen, Werkzeug, Youtube», schreibt zum Lachen verholfen. Daniel Levin, aber auch das besorgt das System Jacqueline Yallop nüchtern. Doch so ein- Schweizer Rechtsanwalt in New York, ist selbsttätig. fach ist das Schweineschlachten dann seit 20 Jahren mit Projekten im Bereich Und wenn sie dann in Frankfurt zu- doch nicht, schliesslich haben sie und ihr Finanzwissenschaft in den USA und in sammensitzen, satt vom Kaviar und voll Mann die beiden Schweine, Big Pig und verschiedenen Entwicklungsländern tä- vom Champagner, wird ein längst in den Little Pig, von klein an aufgezogen. Das tig. Seine selbst erlebten Geschichten er- Ruhestand geschickter und nur noch britische Paar lebt in Frankreich im Avey- zählen von Begegnungen mit Experten, gnadenhalber eingeladener Altverleger ron, wo Schweinehaltung bis heute Teil Koryphäen und Machthabern, in die er, oft sein Glas heben und sagen: «Trinken wir des bäuerlichen Alltags ist. Ihr Jahr mit etwas gar blauäugig, zunächst Hoffnun- darauf, dass wir keine Autoren mehr den Schweinen wird zur Gratwanderung gen setzt, um bald grausam enttäuscht zu brauchen!» zwischen Zuneigung zu den intelligenten werden. Wie etwa ins Treffen mit einem Und die andern in der Runde werden Tieren und ökonomisch-pragmatischen «Scheich Mo» in Dubai – das nie zustande ihn verwundert ansehen und fragen: Überlegungen (Fleischversorgung). Man- kommt, weil der Vermittler ein Betrüger «Autoren – was ist das?» ches in diesem Bericht, besonders die war. Ob in Washington DC, in Dakar, Mos- historischen Exkurse, hätte straffer er- kau oder Peking: Es ist eine wahrhaft go- zählt werden können. Dennoch gelingt goleske Parade von dubiosen Wichtigtu- Yallop ein atmosphärisches Porträt einer ern, schamlosen Egoisten und aufgebla- ländlichen Ecke Frankreichs, in der die senen Funktionären, die Levine da vorbei- Menschen und die traditionelle Landwirt- ziehen lässt. Das hinterlässt zwar manche schaft immer stärker unter Druck geraten. Fragen, ist aber höchst amüsant erzählt. Martina Läubli Kathrin Meier-Rust 25. März 2018 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Sachbuch Sozialgeschichte Geschlechterfragen geben mehr denn je zu reden. Drei FeBüchermizeigen, winie diesmFrauenbeuswegung im Mainstream angekommen ist geht auch undogmatisch

hatte es dazu erst das Internet und die Mary Beard: Frauen und Macht. Generation Hashtag gebraucht. Deutsch von U. Blank-Sangmeister. S. Man sieht das sehr schön an Frauen, die Fischer, Frankfurt am Main 2018. 112 S., schon länger in der Öffentlichkeit stehen. um Fr. 18.–, E-Book Fr. 12.–. Als Reaktion auf frauenverachtende Kom- Frauen II. Kursbuch Nr. 192. Hg. v. Armin mentare und Mansplaining auferlegen sie Nassehi, Peter Felixberger. Hamburg, sich Noblesse: abblocken, runterschlu- 2017. 183 S., um Fr. 26.–, E-Book Fr. 11.–. cken und dem Idioten bloss keine Beach- Ute Gerhard: Frauenbewegung und tung schenken. «Dies ist die verblüffende Feminismus. Eine Geschichte seit 1789. Wiederholung des alten Ratschlags für C. H. Beck, München 2018 (aktual. Neu– Frauen: ‹Nimm es hin und halte den auflage). 128 S., um Fr. 16.–, E-Book 9.–. Mund›», schreibt die britische Althistori- kerin Mary Beard in «Frauen und Macht». Von Regula Freuler «Damit läuft man jedoch Gefahr, den Mobbern kampflos das Feld zu räumen.» Eine Hollywood-Schauspielerin, eine Die vielfach ausgezeichnete Professo- mexikanische Erdbeerpflückerin, eine rin für Altertumswissenschaften der Uni- ehemalige Uber-Ingenieurin, eine welt- versität von Cambridge hat ausgiebig Er- berühmte Sängerin und eine Lobbyistin: fahrungen gemacht mit solchen Männern. Sie waren auf der Titelseite der Zeitschrift Sie tritt am Fernsehen auf und ist online «Time» abgebildet, als diese die «Person sehr aktiv, wo sich der Hass über sie er- des Jahres 2017» kürte. Fünf Frauen, stell- giesst. Das geht von Schimpfwörtern und vertretend für all jene, die ihr Schweigen Verwünschungen bis hin zu Vergewalti- über sexuellen Missbrauch gebrochen und gungs- und Morddrohungen. sich unter dem Hashtag #MeToo versam- melt haben. «The Silence Breakers» waren Wer reden darf es, welche uns laut der «Time» im vergan- Beards als «Manifest» betitelter Band be- genen Jahr am meisten bewegt haben: steht aus zwei leicht überarbeiteten Vor- «The voices that launched a movement». trägen aus den Jahren 2014 und 2017 so- Der Mut dieser Menschen – zu denen wie einem Vor- und einem Nachwort. Im sowohl Frauen wie Männer gehören – hat ersten Text, der noch vor den Twitter- alle Ehre verdient. Viele wagten tatsäch- Initiativen #MeToo und #NotOkay ent- lich erstmals, vom sexuellen Missbrauch standen ist, liefert sie eine messerscharfe von ihnen zu erzählen, selbst wenn sie Analyse der Mechanismen in der abend- Io nimmt und sie hernach in eine Kuh ver- dadurch riskierten, entlassen oder als ländischen Kultur, mit denen Frauen zum wandelt, so dass sie nur noch muhen Lügnerin betitelt zu werden. Oft genug Schweigen gebracht werden, wegen kann. Oder den Vergewaltiger der Prinzes- aber war es auch so, dass die Betroffenen denen man sie nicht ernst nimmt und die sin Philomela, der ihr die Zunge abschnei- gar nicht geschwiegen hatten, sondern sie von den Zentren der Macht ausschlies- det, damit sie ihn nicht verraten kann. dass einfach niemand da war, der zuhören sen. Die Welt der Antike, so Beard, kann Frauen, die es wagen, öffentlich Stel- wollte. #MeToo ist eigentlich das: Ein ur- uns den Blick dafür öffnen, denn: «Wenn lung zu beziehen, gelten als männlich und altes Problem findet plötzlich Gehör. es darum geht, Frauen zum Schweigen zu darum abstossend. Auch das zeigt Beard Sie habe direkt nach dem Vorfall dar- bringen, hat die westliche Kultur Jahrtau- anhand der Geschichte des Altertums. über gesprochen, sagt die Schauspielerin sende praktischer Erfahrung.» Ihre Stimmen werden als unerträglich Ashley Judd im «Time»-Magazin. Sie war Beard beginnt mit dem ersten über- «schrill» beschrieben, ihre Rede als «Quen- aus dem Hotelzimmer, in dem sich der lieferten Fall. Es stammt aus Homers geln» und «Winseln» diffamiert. Hätten Filmproduzent Harvey Weinstein 1997 «Odyssee», einer fast 3000 Jahre alten plötzlich alle Menschen weibliche Stim- über sie hermachte, entkommen und Erzählung über einen Mann, der sehr men, wäre das «schlimmer als die Pest», rannte zu ihrem Vater in der Lobby. «Ich lange für den Heimweg nach dem Krieg schrieb der Redner Dio Chrysostom. erzählte es ihm. Ich erzählte es allen.» Nur gegen die Trojaner benötigte, während zu Als Beard einen Internet-Kommentar, an die Öffentlichkeit ging sie nicht. Denn Hause seine Frau Penelope treu auf ihn in dem ein Mann ihre Genitalien mit ver- sie musste feststellen, dass Weinsteins wartete. Als Penelope einen Barden bittet, faultem Gemüse verglichen hatte, auf notorisches Verhalten bekannt war, ihn ein anderes Lied zu singen, weist ihr Sohn Twitter als «erstaunlich» bezeichnete, aber niemand stoppen wollte. Telemachos sie zurecht: «Mutter, geh in schrieb ein Journalist über Beard: «Die Was sich also geändert hat, ist der ge- dein Zimmer. Reden ist Männersache. In Frauenfeindlichkeit ist wirklich ‹erstaun- sellschaftliche Konsens, dass so etwas diesem Haushalt habe ich das Sagen.» lich›, winselte sie.» Solche Äusserungen #NotOkay ist. Feminismus ist bei der Beard bringt viele weitere Beispiele: untermauern einen Diskurs, der Frauen Masse angekommen. Weibliches Schwei- den Gott Jupiter in Ovids «Metamorpho- jede Autorität abspricht. «Es spielt weni- gen gilt nicht mehr als Norm. Vielleicht sen», der sich mit einem Trick die schöne ger eine Rolle, was du sagst, als dass du es 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. März 2018 F LAI / A RE / REZ A SU ESA TER sagst», so Beard. Mit Stimmtraining den aufschäumende Feindseligkeit der Anti- positiv besetzt. Das macht nicht alle glück- Wer wird gehört? Ton tiefer zu legen wie Margaret Thatcher feministen und Genderkritiker, deren lich. Feministinnen wie Andi Zeisler und Auch darum geht es in oder nur noch Hosenanzüge zu tragen wie wahres Ausmass durch das Internet erst- Jessa Crispin nennen es «Lifestyle-Femi- den #MeToo- Protesten, hier in Clinton und Merkel, möge eine schnelle mals zutage tritt, eine weitere. nismus» und den Ausverkauf einer politi- Frankreich Lösung sein, aber sicher keine dauerhafte. Wie geht es nun weiter? Sagen wir es schen Bewegung. (29. Oktober 2017). so: Die Debatte über den alltäglichen Man kann es aber auch andersherum Der Lifestyle-Vorwurf Sexismus ist eröffnet. «Das», schreibt im sehen: Die Kommerzialisierung hat die Über vier Jahrzehnte ist es her seit jener Kursbuch die «Spiegel»-Kolumnistin Mar- Frauenbewegung für mehr Menschen ge- Welle der Frauenbewegung, aus der ihre garete Stokowski über jenen Reflex, eini- öffnet. Natürlich ist es ein Hohn, ein T- Kritiker sich bis heute das Feindbild der ge wenige erfolgreiche Frauen als Beispiel Shirt mit dem Schriftzug «We Should all Männerhasserin basteln. 1975 kürte das für die vollendete Geschlechtergleichheit Be Feminists» zu tragen, das ausgebeutete «Time»-Magazin die amerikanischen heranzuziehen, «ist unser Glück: dass wir Fabrikarbeiterinnen in Bangladesh her- Frauen als Gesamtheit zur «Person of the mitten im Fortschritt sind. Aber es ist auch stellten. Aber letztlich wirkt diese pop- Year»; 1977 widmete die Kulturzeitschrift unsere Herausforderung: strukturelle Pro- kulturelle Umarmung wie ein Türöffner: «Kursbuch» eine Ausgabe den Frauen. bleme trotzdem zu sehen. Es gibt gleich- Feminismus ist jetzt nicht mehr violett, Nun erschien «Frauen II», mit Karin berechtigte Beziehungen zwischen sondern pink – na und? Reschkes Text von damals sowie zehn Frauen und Männern, es gibt Unterneh- Man kann sich für Lohngleichheit ins neuen Texten, unter anderem von der men mit fairer Bezahlung, und es gibt Zeug werfen, selbst wenn man kein Inter- Kulturwissenschafterin Christina von Frauen, die nicht vergewaltigt werden. Es esse an natürlich spriessender Körper- Braun. Im Vorwort fragen die Heraus- gibt aber auch jene, für die das alles klingt behaarung, am Binnen-I oder an einem geber: «Lohnt sich ein Frauen-Kursbuch wie ein sehr ferner Traum.» philosophisch-feministischen Überbau überhaupt?», wo sich juristisch und gesell- Vor 40 Jahren oder auch schon in frü- hat. Der undogmatische Ansatz ist ein schaftlich doch so vieles gebessert habe. heren Wellen der Frauenbewegung mag Glücksfall für den Feminismus. Denn für #MeToo ist nur eine Antwort auf diese der Protest laut gewesen sein. Aber noch eine Massenbewegung braucht es be- rhetorisch gemeinte Frage; die wieder nie war er so Mainstream, noch nie so kanntlich erst einmal eine Masse. l 25. März 2018 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Digitalisierung Internet und Demokratie in «postfaktischen» Zeiten Warumwir Lügenlieben

Vincent F. Hendricks & Mads Vestergaard:

Postfaktisch. Aus dem Dänischen von ONE YST

Thomas Borchert. Blessing 2018. 208 S., KE / AP um Fr. 24.–, E-Book 17.–. / IK HARN

Von Matthias Knecht EW ANDR Gerade waren es Cinque Stelle und die Protest gegen Trump heisst auch Protest gegen «Very Fake News», hier in Palm Beach (2.März 2018). Lega in Italien, zuvor der Brexit in Gross- britannien, die Nationalisten in Polen oder wenig relevant sind – sich aber politisch spiel Donald Trump: Schon die Amtsein- Donald Trump in den USA: Keine Theorie ausschlachten lassen. So wie es an den setzung im Januar 2017 begann er mit der scheint absurd genug und keine Lüge zu Finanzmärkten irrationale Blasen gibt, falschen Aussage über eine Rekordmenge dreist, um damit nicht Wahlen und Ab- sehen die Autoren auch auf dem Informa- an Besuchern. Als er mit der kläglichen stimmungen zu gewinnen. Man kann dar- tionsmarkt Blasen kollektiver Fehlein- Evidenz konfrontiert wurde, schuf seine über entrüstet den Kopf schütteln. Oder schätzung am Werk. Mit dramatischen damalige Pressesprecherin das inzwi- man versucht, den Siegeszug des Populis- Konsequenzen in der Politik. schen berühmt-berüchtigte Diktum der mus zu verstehen. Hier hilft das Buch Bleiben wir beim Beispiel Italien. Wie «alternativen Fakten». Tatsächlich ist das «Postfaktisch». Mit vielen Beispielen und kommt es, dass dort die ausländerfeind- Bestreben, eine identitätsstiftende Erzäh- erfrischend entrüstungsfrei erläutern Vin- liche Lega solchen Wahlerfolg feiert? Nir- lung wider alle Fakten zu verteidigen, cent F. Hendricks und Mads Vestergaard, gendwo in Europa ist der Unterschied zutiefst menschlich und im Übrigen auch wie Bullshit, Fake-News und Verschwö- zwischen wahrgenommenem und tatsäch- in der Schweiz bekannt, nämlich als «ge- rungstheorien funktionieren. lichem Ausländeranteil grösser. In Umfra- fühlte Wahrheit». Wer sich das eingesteht, Das Buch verwendet vier der sechs Ka- gen zeigen sich die Italiener mehrheitlich versteht am Ende auch die eigentlichen pitel darauf zu erklären, wie falsche Infor- überzeugt, dass mehr als ein Drittel ihrer Anliegen der Populisten besser, nämlich mationen entstehen und Verbreitung Mitbürger im Ausland geboren wurden – die berechtigte Kritik an technokratischen finden. Es ist das Forschungsgebiet der statistisch belegt sind aber nur gut zehn Regierungen, allen voran die EU. Autoren. Vincent Hendricks ist der um- Prozent. Detailliert zeigen die Autoren, Bei aller neu gewonnenen Erkenntnis triebige Direktor des «Center for Informa- wie elektronische Medien verzerrte Wahr- wünscht sich der Leser auch konkrete Vor- tion and Bubble Studies» an der Universi- nehmungen fördern. Sie sprechen von schläge zur Behebung des Übels. Dies tät von Kopenhagen, Co-Autor Mads Ves- einem «postfaktischen Zustand der Demo- kommt im Buch leider viel zu kurz. Das ist tergaard ist dort Doktorand. Anschaulich kratie» und «Hyperrealität». Nicht Fakten unverständlich, zumal Bubble-Forscher erklären die Forscher, dass es gar nicht bilden die Grundlage für öffentliche Hendricks sonst nicht verlegen ist, in immer Falschinformationen sind, die Mei- Debatte, Wahlen und Gesetzgebung, son- Interviews provokante Forderungen zu nungsbildung und Demokratie gefährden. dern aufgebauschte Geschichten. erheben, etwa zur Regulierung von Face- Genauso gefährlich ist die Tendenz, dass Immer noch schwer verständlich bleibt, book und anderen Plattformen. Genau Konsumenten von gratis Online-Informa- wie in dieser neuen «Hyperrealität» offen- diese Debatte wird derzeit in Brüssel ge- tionen ihre Aufmerksamkeit massenweise sichtlich kreuzfalsche Behauptungen von führt. Da hätte ein erfrischender Zwi- auf Themen lenken lassen, die objektiv den Wählern goutiert werden. Zum Bei- schenruf aus Dänemark gutgetan. ●

Politik Thomas Reichart versucht, die Gefahr eines Atomkriegs im Nordkorea-Konflikt zu ermessen Wastreibt KimJongUn an?

seinem Schwanken zwischen Sanktionen Grenze zu Südkorea, nach Japan, China Thomas Reichart: Der Wahnsinn und die und Unterstützung für Pjöngjang? Und und auf den US-Militärstützpunkt Guam. Bombe. Econ 2018. 224 S., um Fr. 25.–. wie gross ist, mit Blick auf Kims Raketen, Gerade im deutschsprachigen Raum die Gefahr eines Atomkrieges tatsächlich? gibt es bis jetzt nur wenige Bücher zu Von Michael Radunski Thomas Reichart ist Asien-Korrespon- Nordkorea. Hier bietet «Der Wahnsinn und dent des ZDF und will mit seinem Buch die Bombe» eine abwechslungsreiche und Fassungslos blickt die Welt nach Nord- «Der Wahnsinn und die Bombe» dringend verständliche Grundlage, um sich diesem korea. Ein hermetisch abgeriegeltes Land nötige Antworten liefern. Das gelingt ihm. hochgefährlichen Konflikt zu nähern. Rei- strebt nach der Atombombe – und Macht- Reichart kennt die Region, die Akteure chart punktet mit fundierter Sachkennt- haber Kim Jong Un scheint bereit, alles zu und hat die Handlungsorte selbst besucht. nis, weshalb der Buchtitel unnötig reisse- riskieren. Zudem scheinen seit der Wahl Auf kurzweiligen 220 Seiten nähert er sich risch daherkommt, zeigt der Autor doch, von Donald Trump auch die USA zum Äus- aus verschiedenen Blickwinkeln und mit- dass eben kein Wahnsinniger in Pjöngjang sersten bereit. Der verbale Schlagabtausch tels unterschiedlicher Stile dem Thema am Atomknopf sitzt, sondern Nordkoreas zwischen Kim und Trump hat ein bedroh- an: Eine lebhafte Reportage aus Pjöngjang Machthaber durchaus rationale Ziele ver- liches Niveau erreicht. Immer wieder fällt führt den Leser nah an Nordkoreas Macht- folgt. An diesem Punkt appelliert Reichart das Wort Krieg. Es wäre ein Atomkrieg – zentrum, ein spannendes Interview mit an die Vernunft aller Beteiligten und nennt und es stellt sich die Frage, wie es so weit einem ranghohen Überläufer zeigt, wie Voraussetzungen für eine Lösung. Denn kommen konnte. Was treibt Kim Jong Un das Machtsystem der Kim-Dynastie funk- hinter dem Nordkorea-Konflikt verbirgt an? Was denken Südkorea und Japan, die tioniert, eine nüchterne Analyse erläutert sich auch das Ringen der beiden Gross- in Reichweite nordkoreanischer Raketen Chinas Interessenskonflikt. Reichart mächte Amerika und China um die Vor- liegen? Welches Ziel verfolgt China mit nimmt die Leser mit an die hochgerüstete machtstellung im pazifischen Raum. ● 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. März 2018 Digitalisierung Zwei Autoren werfen einen kritischen Blick auf Bildung und Kommunikation im Zeitalter von Smartphones und Social Media Kinderbrauchenmehralsdigitale Tools

Roberto Simanowski: Stumme Medien. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 300 Seiten, um Fr. 36.–, E-Book 24.–. Philippe Wampfler: Schwimmen lernen im digitalen Chaos. Stämpfli, Bern 2017. 156 S., um Fr. 29.–.

Von Sarah Genner

Wie soll man junge Generationen ausbil- den, damit sie sich im digitalen Labyrinth zurechtfinden? Bildung und Lehrpläne sind ein politischer Zankapfel ohne Ab- laufdatum. Die Vorschläge, wie Medien- bildung im Zeitalter der Digitalisierung zu gestalten sei, überschlagen sich seit der beispiellosen Popularisierung von Social Media und Smartphones. Die Trump-Wahl und die «Fake News»-Debatte befeuerten AGES entsprechende demokratiepolitische For- IM derungen ans Bildungssystem, während TTY GE / die Wirtschaft im Zusammenhang mit der I

«vierten industriellen Revolution» ver- CENT NO langt, dass nachrückende Generationen IN MA

für die «Arbeitswelt 4.0» mit allerlei digi- EM talen Kompetenzen gerüstet seien. Kinder der «Facebook-Gesellschaft» sollen digitale Medien nicht nur anwenden, sondern auch über sie nachdenken. Wirtschaftsverbände möchten indivi- dualisierte computerbasierte Lernpro- Simanowski glänzt mit historischen priorisiert wird: «Sagen, was wirkt.» Mess- gramme fördern und damit auch Kern- Bezügen und Vergleichen und wägt auch bare Klicks und Likes bestimmen mediales fächer wie Mathematik und Deutsch die Interessen unterschiedlicher Akteure Handeln. Er stellt Nonsens auch in Bezug zunehmend digital unterrichten. Einige ab. Er wehrt sich insbesondere dagegen, zu Propaganda und zu Lügenpresse-Vor- fordern, die Schule, wie wir sie kennen, Bildung in der Digitalisierung in erster würfen. Nonsens sei der Preis für die abzuschaffen, und Kindern und Jugend- Linie ökonomischen Interessen zu unter- Offenheit des Internets: Können alle mit- lichen in erster Linie Lernkompetenzen werfen. So kann er sich auch mit dem Be- machen, fällt Faktenprüfung weg. Analog und das Navigieren inmitten der digitalen griff «Bildung 4.0» nicht anfreunden, da hält Simanowski fest, der Facebook-News- Möglichkeiten beizubringen. Gleichzeitig – abgeleitet von «Industrie 4.0» – klar sei, feed favorisiere im Interesse der Aktionäre schicken ausgerechnet Silicon-Valley-Lea- wessen Geistes Kind dieser sei. Simanow- das Spektakuläre und Unterhaltsame. der ihre Kinder in technologiekritische ski kritisiert, dass Medienbildung vor Dadurch werde dem Qualitätsjournalis- Steiner- und Montessori-Schulen. allem als technische Anwendungskompe- mus die Lebensgrundlage entzogen. tenz vermittelt und der Einsatz digitaler Was nun? Beide Autoren kommen zum Neue Weltordnung Technik im Unterricht forciert werde, un- Schluss: Es braucht mehr Medienbildung. Passend zu den hiesigen Debatten um den geachtet der pädagogischen Angemessen- Aber eine Medienbildung in einem umfas- Lehrplan 21 und das neue Schulfach heit. Er findet, Medien sollten nicht in senderen Sinne als auf der Ebene digitaler «Medien und Informatik» sind nun zwei erster Linie als Unterrichtsmittel einge- Werkzeuge. Medienbildung müsse reflek- Bücher erschienen. Beide Autoren – setzt, sondern als Unterrichtsstoff positio- tieren, wie Medien und Digitalisierung Philippe Wampfler und Roberto Simanow- niert werden. Hier entpuppt sich «Stumme Mensch und Gesellschaft veränderten. ski – haben sich bereits mit früheren Pu- Medien» als die Streitschrift, als die das Konsequenterweise ist der zweite Teil von blikationen zu Themen wie «Generation Buch gedacht war. «Stumm» sind Medien Wampflers Buch eine Art Ratgeber. Es Social Media» oder «Facebook-Gesell- und Computer durch ihre zunehmend lehrt «4K», vier zentrale Kompetenzen: schaft» hervorgetan. Beide verfügen über unsichtbare Allgegenwart. Kommunikation, Kollaboration, Kreativi- einen kulturwissenschaftlichen Hinter- tät und kritisches Denken. Der innovative grund, schreiben flüssig und schaffen mit Wie uns Nonsens beeinflusst Lehrer erklärt, wie Faktenprüfung und ihren Büchern die Gratwanderung zwi- Wampflers neues Werk befasst sich mit kritische Diskurse auch im Netz möglich schen wissenschaftsnaher Kulturanalyse «Nonsens» im digitalen Zeitalter und sind. Als Aktivst in der Schweizer Social- und gesellschaftspolitischer Debatte. erweitert damit den Horizont der «Fake Media-Szene lebt er seine Tipps vor. Bleibt Simanowskis Buch «Stumme Medien» News»- und «Filterblasen»-Debatten. Er zu hoffen, dass seine Empfehlungen Ver- beginnt mit einem Zukunftsszenario: differenziert zwischen Hoaxes und ande- breitung und Anwendung finden. ● Facebook-Gründer Mark Zuckerberg will ren digitalen Streichen und greift auf US-Präsident werden. Nachdem Trump im Harry Frankfurts Buch «On Bullshit» und Sarah Genner forscht und lehrt im Bereich TV-Zeitalter und mit Reality-TV-Shows altbewährte Zeitungsenten zurück. Neben digitaler Medien an der ZHAW. genügend Bekanntheit erlangte, um kognitiven Verzerrungen, die alle Men- gewählt zu werden, wäre in der neuen schen anfällig machen, geprüften Fakten medialen Logik Zuckerberg an der Reihe. zu misstrauen, die unserem Weltbild LIVE Damit beschreibt der Autor Facebook als widersprechen, nimmt er die digitalen eines der mächtigsten Symbole der neuen Gewächshausbedingungen für Nonsens Literarisches Terzett im NZZ Foyer Weltordnung, in der Technologiekon- unter die Lupe. zerne ganze Volkswirtschaften an Einfluss Der Bildungsexperte preist die traditio- Jede Saison erscheinen unzählige überstrahlen. Zudem betont er, wie Face- nelle Orientierung an der Wahrheit, die lesenswerte Bücher. Am 8. Mai debattieren book die Beziehung zwischen Nachrich- mit journalistischer Verantwortung ein- drei Redaktoren der NZZ/NZZaS und ein tenmedien und ihrem Publikum funda- hergeht: «Schreiben, was ist.» Er zeigt, wie literarisch versierter Gast über die meist- mental verändert und welche Rolle das das Internet dazu verleitet, diese Stan- diskutierten Bücher der Saison. Netzwerk im Zusammenhang mit Falsch- dards in Richtung Nonsens zu unterlau- Weitere Informationen unter nzz.ch/live meldungen spielt. fen, indem die Wirkung vor der Wahrheit 25. März 2018 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Wirtschaft Insider fordern ein neues Finanzsystem fürs Digitalzeitalter WarummanBanken abschaffensollte

«Bank runs» gelten als Achillesferse des Die Pleite von Lehman Jonathan McMillan: Das Ende der Banken. Systems. Im Industriezeitalter konnten Brothers markierte Aus dem Englischen von Jan W. Haas. diese Krisen durch Einlagensicherung, das den Höhepunkt der Finanzkrise vor bald Campus Verlag, Frankfurt am Main 2018. Einspringen der Zentralbanken und die 288 Seiten, um Fr. 37.–, E-Book 25.–. zehn Jahren Regulierung ausbalanciert werden. Doch (15. September 2008). seit den siebziger Jahren, seit dem Beginn Von Susanne Ziegert des Informationszeitalters, ist der Sektor nach Ansicht der beiden Buchautoren Es sind nicht etwa glühende Marxisten, ausser Kontrolle geraten. Sie unterziehen die sich in diesem Buch vehement für die die Etappen der Eigenkapitalregulierung Abschaffung der Banken stark machen. von Basel I bis Basel III einer kritischen Hinter dem Pseudonym Jonathan McMil- Bestandesaufnahme und zeigen auf, wie lan stehen Jürg Müller, Wirtschaftsredak- die digitale Revolution die Regeln obsolet tor der NZZ, und ein international tätiger werden liess. Banker und somit Insider der Branche. Die Den Einzug der Informationstechnolo- Studienfreunde trafen sich 2011 in einem gie ins Finanzwesen beschreibt der zwei- Londoner Pub und beschlossen, ihre Ent- te Teil des Buches mit einer detaillierten täuschung über den Umgang der Branche Betrachtung moderner Finanztechniken, mit der Finanzkrise auf Papier zu bringen die in die Entstehung eines überdimen- Crowdlending-Seiten bereits gibt. Durch und eine Zukunftsvision zu entwickeln. sionierten Schattensektors mündeten. Informationstechnologien sind Kreditver- Den Einstieg in dieses hochkomplexe Das Buch beleuchtet damit auch die Hin- gaben an Unternehmen und Privatleute Thema finden sie mit einem Rückblick auf tergründe der Finanzkrise von 2007/2008. durch Peer-to-Peer-Systeme möglich, die wichtige Funktion, die Banken einst Im dritten Teil erklärt das Duo seine eige- gleichzeitig vermag die Technik das Moni- für die Industrialisierung besassen. Mit ne Vision der Finanzwelt von morgen. Sie toring der Schuldner besser zu organisie- pädagogischer Ader vermitteln sie die erscheint radikal. Im Kern fordern die ren als bisher die Banken. Moderne Zah- Grundbegriffe des Kreditwesens und der Autoren, die Funktionen von Geld und lungssysteme, Digitalwährungen und Bankenbilanzierung. Banking definieren Kredit zu trennen und die Zuständigkeiten Handelsalgorithmen sollen an die Stelle die Autoren als Geldschöpfung aus Kredit. des öffentlichen und privaten Sektors klar der heutigen Geldinstitute treten, für In der Zauberformel sehen sie ein Grund- abzugrenzen. deren Überlebensgarantien jeder Mensch problem. Wenn die Abhebungswünsche Während der Staat für die Geldschöp- auf der Erde mit 100 Dollar einsteht. der Einleger ins Leere laufen, kommt es fung zuständig wäre, wären private Nach der letzten Finanzkrise wurden zu einem Liquiditätsproblem. Akteure für die Kreditvergabe zuständig die staatlichen Garantien massiv ausge- Immer wieder kam es in der Vergangen- – ohne Garantien durch den Steuerzahler. weitet – Grossbanken gelten seither als heit zur Bankenpanik, so wie 1907 und Funktionieren könnte das System mittels «Too big to fail» – einer der Hauptkritik- 1930 in den USA. Anleger stürmten die neuer virtueller Plattformen als Inter- punkte von McMillan. Die Insider be- Banken, um ihre Gelder abzuheben. Diese mediären, die es ansatzweise bei den schreiben, dass dieses System die Banken

Philosophie Wittgenstein, Heidegger, Cassirer und Benjamin prägten den Esprit der zwanziger Jahre VierGigantendesDenkens

Eilenberger stützt sein Epochenporträt zog. Einige Wochen später fand in Cam- WolframEilenberger:ZeitderZauberer. Das breiter ab, indem er Walter Benjamin und bridge Wittgensteins absurde Doktorats- grosseJahrzehntderPhilosophie1919–1929. Ernst Cassirer ins Bild nimmt – allerdings prüfung mit vertauschten Rollen statt. Klett-Cotta, Stuttgart 2018. 432 S., ohne ein Wort der Begründung zu seiner Bertrand Russell und G. E. Moore, zwei um Fr. 38.–, E-Book 30.–. Auswahl. führende Köpfe ihrer Disziplin, hatten es Cassirer publizierte im Verlauf der endlich geschafft, den ebenso eigenwilli- Von Florian Bissig zwanziger Jahre sein dreibändiges Haupt- gen wie brillanten Wittgenstein wieder für werk «Philosophie der symbolischen For- die Philosophie zu gewinnen, nachdem Ludwig Wittgenstein und Martin Heideg- men» und avancierte damit zum renom- dieser zehn Jahre als Volksschullehrer und ger haben etwas gemeinsam: Ihre Werke miertesten Philosophieprofessor Deutsch- Architekt herumgebracht hatte. Die Ver- «Tractatus logico-philosophicus» und lands. Doch diese Position sollte er bald teidigung endete damit, dass Wittgenstein «Sein und Zeit» haben mit allen gängigen verlieren. Nicht nur, weil er als Jude aus seinen Doktorvätern tröstend auf die Philosophiebegriffen gebrochen. Allein dem Bild gedrängt wurde, sondern auch, Schultern klopfte: «Macht euch nichts die zwei 1921 und 1927 publizierten Texte weil seine an Immanuel Kant und Wilhelm draus, ich weiss, ihr werdet das nie ver- rechtfertigen es, jene Jahre als die ent- von Humboldt anschliessende Kultur- stehen.» scheidende Phase der Philosophie- philosophie gegenüber den aufregenden Beginnend mit den ersten Karriere- geschichte des 20.Jahrhunderts aufzufas- neuen Denkangeboten bald alt aussah. schritten Benjamins und Heideggers, folgt sen. Auf unterschiedliche Weise, aber mit Inwiefern die legendäre Davoser Dispu- Eilenbergers kurzweiliges und verständ- gleicher Radikalität prägten sie ihre Dis- tation 1929 zwischen Cassirer und Heideg- lich geschriebenes Buch den vier Denkern ziplin für Jahrzehnte. ger tatsächlich zum Paradigmenwechsel durch das Jahrzehnt und widmet allen Geschenkt also, dass die beiden Denker beigetragen hat, ist schwer abzuschätzen. entscheidenden Projekten und Lebens- in Wolfram Eilenbergers Buch über das Doch Eilenberger stellt den Showdown momenten einige Abschnitte. Anhand von «grosse Jahrzehnt der Philosophie 1919– zwischen dem weltgewandten Idealisten Wittgensteins Jüngerschaft kommt die 1929» gehören. Doch der deutsche Publi- und dem rustikalen und charismatischen Entwicklung des logischen Empirismus zist will nicht nur die zwei Giganten in den Daseins-Analytiker anschaulich als sym- zur Sprache, anhand der Familie Cassirer Ring stellen, wie es Manfred Geier kürz- ptomatisches Ereignis dar, in dem Heideg- der Antisemitismus, anhand von Benja- lich in einer Doppelbiografie getan hat. ger als «gefühlter Sieger» aus dem Saal mins rastlosem Leben das Intellektuellen- 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. März 2018 Biografie In Paris entdeckt der junge Karl Marx den Sozialismus, in Algier Dehält der alrte PrRevoluophetionär Rückschatu auohf sein Leneben Bart

referiert er in seinem Buch «Karl Marx in Jan Gerber: Karl Marx in Paris. Paris» Fakten und liefert Einordnungen. Piper-Verlag, München 2018. 240 S., Er fokussiert auf Marx’ ersten Paris-Auf- um Fr 29.-. Erscheint am 3.April. enthalt von 1843 bis 1845. In jener Zeit hat Uwe Wittstock: Karl Marx beim Barbier. der deutsche Revolutionär die zentralen Blessing-Verlag, München 2018. Begriffe seines Denkens entwickelt. 288 S., um Fr. 29.–, E-Book 20.–. Wie er Kommunist wurde Von Ina Boesch Der als Radikaldemokrat in Paris einge- troffene Marx habe die Stadt als überzeug- Karl Marx ohne Bart? Unvorstellbar. Zeit ter Klassenkämpfer und Kommunist ver- seines Lebens waren der dichte Haar- lassen, lautet Gerbers Fazit. Während Uwe schopf und der imposante Bart Marx’ Mar- Wittstock in seinem Paris-Kapitel lediglich kenzeichen. Die Rasur hat jedoch tatsäch- ausführt, dass Marx in der Seine-Stadt ein YSTONE KE

/ lich stattgefunden. Im Frühling 1882 «intellektuelles Eldorado» vorfand und AP / räumte er «den Prophetenbart und die dort zwei nennenswerte Artikel schrieb, FER Kopfperücke weg» und brachte sie als sucht Jan Gerber nach Gründen für Marx’ TAF

AL «Haaropfer auf dem Altar eines algeri- grosse Produktivität in Paris – und findet Y

MAR schen Barbiers» dar, wie er Friedrich En- sie in der dort herrschenden politischen gels in einem Postskriptum ironisch Toleranz und der liberalen Pressegesetz- nach wie vor zu exzessiven Risiken verlei- schrieb. gebung. Diese ermöglichten ihm etwa die tet und auch die jüngsten Versuche der Der Schriftsteller und Journalist Uwe Mitherausgabe der «Deutsch-Französi- Regulierung oder Eigenkapitalvorschrif- Wittstock nimmt diese Episode im Epilog schen Jahrbücher». ten zum Scheitern verurteilt sind. Daher seines Buchs «Karl Marx beim Barbier» Das offene intellektuelle Klima in Paris die radikale Forderung an die Politik, dem zum Anlass für Spekulationen: Er fragt erlaubte es Marx, sich intensiv mit den Bankenwesen ein Ende zu bereiten. sich, ob man Marx’ Entscheidung als Ein- französischen Frühsozialisten und dem «Das Ende der Banken» ist eine lehr- geständnis verstehen könne, sich «nicht Sozialismus zu beschäftigen. Auch war die reiche Betrachtung der historischen Ent- mehr als Propheten zu betrachten, da die Hauptstadt Frankreichs der ideale Ort, um wicklung des Sektors und geht mit seiner eigenen Zweifel an seinen politischen Pro- nach Gründen für das Scheitern der Fran- Problemanalyse in die Tiefe. Für Bran- gnosen» zu gross geworden seien. Für zösischen Revolution zu suchen. Karl chenfremde bietet es zahlreiche Begriffs- Wittstock selbst fällt die Prüfung von Marx konnte sich eine Revolution nämlich erklärungen, ist dennoch allein aufgrund Marx’ Prophezeiungen gemischt aus. So nur als eine Wiederkehr der französischen der zahlreichen Abkürzungen keine leich- habe weder die vorausgesagte Verelen- vorstellen. An diesem Beispiel zeigt sich te Lesekost. Dennoch lohnt sich dieser dung stattgefunden, noch sei die Arbeiter- die geistige Rückwärtsorientierung des Blick hinter die Kulissen der Finanzbran- klasse als revolutionäres Subjekt zwin- Vordenkers des Sozialismus, eine Hal- che, die sich seit der letzten schweren gend geworden, um nur zwei falsche Vo- tung, die übrigens auch vom amerikani- Krise keineswegs zum Besseren ent- raussagen zu erwähnen. Gleichzeitig schen Biografen Jonathan Sperber (Beck- wickelt hat. ● attestiert er dem deutschen Denker, den Verlag 2013) und von dem britischen His- Kapitalismus als «gnadenloses Verwer- toriker Gareth Stedman Jones (S. Fischer tungssystem» präzise dargestellt zu 2018) konstatiert wird. ● haben. Auf das kritische Résumé verwendet Wittstock nicht mal zwei Seiten, die übri- gen Kapitel widmet er Leben und Werk von Marx. Geschickt verwebt der Autor zwei Erzählstränge. Im einen erzählt er locker von den Stimmungen des alten Milieu von Berlin, Moskau und Paris – und Marx und dessen Begegnungen mit sich so ergibt sich nicht nur ein philosophi- selbst und der Stadt Algier während seines sches, sondern auch ein gesellschaftliches dortigen Erholungsaufenthalts, im ande- Kaleidoskop des Jahrzehnts. ren gibt er chronologisch Leben und Wir- Die Anstrengungen des Autors, die Phi- ken des Gelehrten wieder. losophien und Charaktere der vier Denker in ihren Parallelen und Differenzen auf- «Erstaunlich unsozial» zuzeigen, sind von unterschiedlicher Spürbar werden zwei verschiedene Per- Gründlichkeit. Stichhaltig weist Eilenber- sönlichkeiten: Dem alten Karl Marx ge- ger etwa die Parallelen in Heideggers und steht Wittstock eine gewisse Altersmilde Wittgensteins Abgrenzungsbemühungen zu. Er hat mit Krankheiten und dem drei der Philosophie gegenüber der Welt- Monate zurückliegenden Verlust seiner anschauung und der Naturwissenschaft geliebten Jenny zu kämpfen. Am jüngeren nach. Und er zeigt, dass auch der Flaneur Marx lässt er aber kein gutes Haar, er- und Kritiker Benjamin mit dem erkennt- wähnt etwa wiederholt dessen «obsessive niskritischen Paradigma messerscharf Persönlichkeit», sein «erstaunlich un- abgerechnet hat. soziales Verhalten», sein «barsches Auf- Das Nachspiel der zwanziger Jahre ist treten». So erstaunt es nicht, dass der nicht mehr Thema von Eilenbergers Buch. derart auf persönliche Merkmale fixierte Freilich wirft es sein Licht auf sie zurück. Autor Marx’ Charakter für seinen Anti- Das Schicksal der beiden Juden Cassirer semitismus verantwortlich macht – im

und Benjamin lautet Emigration und Sui- Gegensatz zu anderen Marx-Biografen, ONE zid. Wittgenstein, ebenfalls jüdischer welche die antijüdischen Bemerkungen YST KE / Herkunft, wird in England bleiben. Hei- aus dem Geist der Zeit erklären. I ST degger wird der NSDAP beitreten und 1933 Der Politikwissenschafter und Histori- VO NO den «Führer» in seine Philosophie auf- ker Jan Gerber gehört zu Letzteren. Wie A RI nehmen. es sich für einen Wissenschafter gehört, Karl Marx und die nach seiner Frau benannte älteste Tochter Jenny (1866). 25. März 2018 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch N

Zeitgeschichte Die Aktion Aeschimann vermittelte die H ZA

Adoption von 160 tibetischen Flüchtlingskindern ER URG LDB WA Alsdie«Tibeterli»kamen N NGCHE YA ITZ BES

Entgegen den Erwartungen aller Beteilig- AT IV

Sabine Bitter, Nathalie Nad-Abonji: ten stellte sich etwa heraus, dass die meis- PR Tibetische Kinder für Schweizer Familien. ten Kinder keineswegs Waisen waren, Rotpunktverlag, Zürich 2018. 239 Seiten, sondern in Indien Eltern hatten, die be- um Fr. 39.–, E-Book 30.–. gannen, nach ihren Kindern zu suchen. Auch erwies sich der Wunsch des Dalai Von Kathrin Meier-Rust Lama, den Kindern Sprache und religiöse Kultur ihres Volkes zu vermitteln, als un- Es war im August 1959. Die Familie sass durchführbar. Und: Nicht alle Kinder im Ferienhaus beim Jassen, als der Vater waren herzig und pflegeleicht, einige von von seiner Zeitung aufblickte und fragte: ihnen landeten in Erziehungsanstalten, «Warum adoptieren wir nicht ein tibeti- sogar in psychiatrischen Kliniken. sches Kind?» Der Bruder des aus Tibet In einer überaus sorgfältigen, dicht geflohenen Dalai Lama hatte die westliche dokumentierten und äusserst lesens- Welt darum gebeten, tibetische Flücht- werten Untersuchung betten die beiden linge aufzunehmen und jungen Tibetern Historikerinnen Sabine Bitter und Natha- als zukünftigen Führern seines Volkes lie Nad-Abonji die Aktion Aeschimann in eine Ausbildung zu ermöglichen. Charles den Kontext der damaligen Zeit ein: Die Aeschimann, Ingenieur beim Elektrizi- Notlage in den Flüchtlings-Kinderheimen tätswerk Aare-Tessin AG in Olten, Alpi- in Dharamsala. Die grosse Sympathie für nist, vielseitig engagiert und vernetzt, die Tibeter im Kontext des Kalten Krieges, Vater von drei Teenagern, will helfen: Er die in der Schweiz zu diversen Hilfsaktio- lädt den Bruder des Dalai Lama nach Olten nen führte, etwa zu einem Tibeter-Haus ein, und dieser unterstützt seinen im Pestalozzi-Kinderdorf in Trogen – auf Wunsch. Im August 1960 nimmt das Ehe- Anstoss von Charles Aeschimann. Tibeter paar Aeschimann den dreieinhalbjährigen waren die ersten aussereuropäischen Yangchen (l.) und ihre Schwester feiern erstmals Weihnachten (1964). Tseten in Kloten in Empfang. Flüchtlinge überhaupt, die Dauerasyl in Damit begann die Aktion Aeschimann. der Schweiz erhielten. Mit tibetischen Kin- Indien zeichnen ein realistisches Bild der Das grosse Medienecho auf Tseten führte dern wurde erstmals aussereuropäische, Ambivalenz. Der Dalai Lama allerdings dazu, dass sich zahlreiche Familien aus also «sichtbare» Adoption salonfähig. wollte die beiden Historikerinnen nicht der ganzen Schweiz bei Aeschimann mel- Schon damals gab es auch kritische empfangen. Er verwies auf frühere Aus- deten, die ebenfalls ein «Tibeterli» bei sich Stimmen zum eigenmächtigen Vorgehen sagen zur Notsituation in jenen Jahren aufnehmen wollten. Mithilfe des Dalai Aeschimanns oder zur völligen Entwur- und auf die Treffen, die er den «Aeschi- Lama und mit Sondererlaubnis aus Bern zelung der Kinder. Tatsächlich ist die Idee mann-Kindern» bei seinen Besuchen in wird Aeschimann von 1961 bis 1964 ins- des Dalai Lama von einer im Westen aus- der Schweiz mehrmals gewährt hatte. gesamt 160 tibetische Kinder und 10 gebildeten Elite für das tibetische Volk Die Autorinnen wollen mit ihrer Studie Jugendliche aus überfüllten Kinder- gescheitert: Viele der Pflegekinder such- unseren Blick schärfen für den Umgang heimen in Dharamsala an Pflegeeltern in ten später zwar nach der eigenen Herkunft mit Flüchtlingskindern und minderjähri- der ganzen Schweiz vermitteln, die er und Identität, keines jedoch kehrte dauer- gen Asylsuchenden und zum Nachdenken zuvor persönlich ausgewählt hatte. Eben- haft nach Indien zurück. Die zahlreichen anregen darüber, wie gutgemeintes Hel- so persönlich wird er sie auch in den fol- Interviews der Autorinnen mit längst er- fen-Wollen gelingen oder eben auch miss- genden Jahren bei den vielen Fragen und wachsenen tibetischen Kindern, mit ehe- lingen kann. Es gelingt ihnen in eindrück- Problemen, die bald auftauchen, beraten. maligen Pflegeeltern und Zeitzeugen in licher Weise. ●

Ökonomie und Ökologie Die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing übt das Denken in Verflechtungen EinBuchfüreinengeistigenWaldspaziergang

ne Sichtweise auf die Verflechtung von Unterwegs auf Feldstudien in den Wäl- Anna Lowenhaupt Tsing: Der Pilz am Ende Ökonomie und Ökologie zu eröffnen. Aus- dern Japans, Nordamerikas oder Finn- der Welt. Matthes & Seitz, Berlin 2018. gangspunkt von Tsings Überlegungen ist lands begegnet Tsing so manchem Matsu- 448 Seiten, um Fr. 39.–, E-Book 29.–. der Gedanke, dass wir in einer prekären, take-Sammler und seiner Geschichte, die instabilen Gegenwart leben, in der wiederum häufig eng mit Entwurzelung, Von Tobias Sedlmaier Lebensweisen unsicher und Lebensräume Entfremdung, Flucht und Vertreibung fundamental bedroht sind. Mit ihren Be- verbunden ist. Zwischendurch wird «Der Der Matsutake ist ein stark riechender, trachtungen des Matsutake sucht die Pilz am Ende der Welt» zur meditativen wildwachsender Pilz, dem in der japani- Autorin Antworten auf die Frage, wie sich Lektüre mit kleinen eingestreuten Zeich- schen Kultur eine zentrale Bedeutung neue Bindungen zwischen Mensch und nungen etwa von Pilzsporen, Gedichtbe- zukommt. Als Symbol für den Herbst wird Umwelt knüpfen lassen. trachtungen, Fotos oder Zwischenkapi- er in zeremoniellen Riten verwendet, als Der Pilz scheint ideal für eine unge- teln, die sich sinnlichen Erfahrungen wie edle Gabe verschenkt und in der Poesie wöhnliche Philosophie des Denkens in dem Riechen oder dem Tanzen widmen. des Landes gepriesen. Nach dem Atom- Verflechtungen und Widerständen: Einer- Bei aller Komplexität verlieren sich bombenabwurf über Hiroshima spross seits ist er widerstandsfähig, kann aber Anna Lowenhaupt Tsings Gedanken nie angeblich als erstes Lebewesen in der ver- nicht ohne wechselseitige Beziehungen vollständig. Entstanden ist ein wuchern- brannten Landschaft ein Matsutake. überleben. Die zwanzig Kapitel des der Gross-Essay, der selbst die Form und Die amerikanische Anthropologin Anna Buches lassen sich am ehesten als Gefüge, Eigenschaften seines Gegenstandes an- Lowenhaupt Tsing nimmt den Fungus als als offene Ansammlungen verstehen, die nimmt. Dieses Buch eignet sich wunder- Leitmotiv für ihren Essay «Der Pilz am zum Nachdenken über das Verhältnis von bar als Begleiter für einen geistigen Wald- Ende der Welt. Über das Leben in den Rui- Kultur und Landschaft, von Waren und spaziergang, bei dem es weit mehr als nen des Kapitalismus», um eine ganz eige- Produktionskreisläufen herausfordern. Pilze zu entdecken gibt. ● 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. März 2018 Gender Gymnastik, einfache Kost und ein heiteres Gemüt: Manches, was der amerikanische Dichter GeWalt Whsuitman zundr Gesundhei,sctspfhölege empnfahl, ist heute noch gültig undtrotzdemmännlich

Walt Whitman: Der schöne Mann. AGES IM

Übersetzung und Nachwort von Hans TY GET

Wolf. dtv, München 2018, 290 Seiten, / um Fr. 27.–, E-Book 18.–. O HOT TOCKP Von Walter Hollstein IS

Gesundheit und Schönheit sind Begriffe, die auf den ersten Blick neutral und ge- schlechtsübergreifend daherkommen. Doch in der alltäglichen Praxis von Leben und Liebe sind sie weiblich besetzt. Auch heute machen viele Frauen für ihre Män- ner die Arzttermine, begleiten ihre Gatten nicht selten bis ins Sprechzimmer, über- wachen die Einnahme von Medikamenten und sind – gemäss empirischen Unter- suchungen – für das familiäre Gesund- heitsmanagement zuständig. Schönheit ist ebenfalls primär weiblich konnotiert. Daran ändert bis jetzt wenig, dass die Kosmetik- und Hygieneindustrie in den letzten Jahren den «schönen Mann» ent- deckt hat. Auch in unseren Tagen hält sich in Männerkreisen das Diktum, dass es unmännlich sei, sich um sich selbst zu kümmern – was eigentlich paradox ist, denn das Sich-um-sich-Kümmern betrifft die traditionell männlich konnotierte Selbstverantwortung. In diesem Kontext wirkt «Der schöne Mann» von Walt Whit- man nachgerade prophetisch. Der Ge- Auch Männer sollten form. Wer dieser Männerrolle nachlebe, Sprache jener Epoche auch «neues Men- sundheitsratgeber des amerikanischen sich um sich selbst setze sich Gefahren, Stress, ständigen schengeschlecht». Poeten erschien 1858 zum ersten Mal und kümmern – diese Anstrengungen, Krankheiten und einer An «Der schöne Mann» mag manches Forderung von Walt war danach 150 Jahre verschollen. Whitman ist noch hohen Sterblichkeit aus. In allen Lebens- fragwürdig sein, anderes überholt. Den- heute aktuell. altern sterben Männer häufiger als Frauen. noch gibt es genug, was auch 160 Jahre Gesundheit ganzheitlich Der plötzliche Kindstod betrifft praktisch später noch aktuell und beherzigenswert Trotz der Aktualität des Buches sollte man nur Knaben. Bis zum Alter von 65 Jahren ist. So könnte die folgende Empfehlung die Bedingungen der Vergangenheit nicht sterben Männer im Vergleich zu Frauen aus einem zeitgenössischen Ratgeber ausblenden. Als Whitman seine Essays zweimal häufiger an Leberzirrhose, mehr stammen: «Früh aus den Federn, früh zu unter dem nüchternen Titel «Manly als zweimal häufiger an Herzinfarkten, Bett, Gymnastik, einfache Kost, mit be- Health and Training» als Fortsetzungstext dreimal häufiger an Lungenkrebs, viermal harrlicher Ausdauer durchgeführte, sanft in einer Zeitung publizierte, war Männer- häufiger an Verkehrsunfällen oder sechs- angegangene Leibesübungen, der unbe- gesundheit durchaus ein Thema. Der ame- mal häufiger an HIV-Infektionen. dingte Wille zur Kultivierung eines heite- rikanische Sozialhistoriker E. Anthony ren Gemüts, die Gesellschaft von Freun- Rotundo belegt in seiner Geschichte der Antiquierte Bilder den». Am wichtigsten aber dürfte heute amerikanischen Männlichkeit, «American Insofern ist Whitmans Empfehlung, dass die positive Sicht Whitmans auf das eige- Manhood», dass dem männlichen Körper Männer sich eigenverantwortlich um ihre ne Geschlecht sein, die Wertschätzung von zu Lebzeiten Whitmans vermehrt Auf- Gesundheit kümmern sollten, hochaktu- Männern, die aufrichtige Sorge um sie. merksamkeit gezollt wurde. Laut dessen ell. Zugleich ist der Text 160 Jahre alt, Eine solche editorische Einordnung Biograf David S. Reynolds hebt sich «Der Diktion und Stil sind dementsprechend. fehlt leider im Buch. Ebenso wie die Ge- schöne Mann» von anderen zeitgenössi- Da gilt es, sich – mit einiger Mühe – erst schichte des Bandes. Das verschollene schen Werken ab, die Männer mit radika- einmal einzulesen. Manches mag heute Manuskript ist erst kürzlich von einem len Massnahmen wie heftigen Diäten oder merkwürdig daherkommen, wie die aus- amerikanischen Doktoranden zufällig Wasserkuren fit machen wollten. Whit- führlichen Bemerkungen zur Fusspflege. wiederentdeckt worden. Auch wäre es man hingegen habe eine «holistische Zudem entspricht das patriarchalische sinnvoll gewesen, einen Zusammenhang Vision» von Gesundheit vertreten, die auf Männerbild nicht mehr unseren Vorstel- von Whitmans Botschaften mit der der- einem sinnvollen Ausgleich von geistiger lungen. Das gilt für viele Massstäbe Whit- zeitigen Diskussion um Männergesund- und körperlicher Gesundheit beruht. mans, die er an Männlichkeit anlegt; das heit herzustellen. Schliesslich ist auch der In dieser Optik ist Whitmans Text gilt ebenso für das Verhältnis von Män- deutsche Titel problematisch. Whitman «moderner» als damals. Herb Goldberg, nern zu Männern; und es gilt in Bezug auf ging es um Gesundheit; der Originaltext ein kalifornischer Arzt und Männerthera- das andere Geschlecht, wo manches, was heisst «Manly health and training». In die- peut, fasste um 1960 die für Männer ein- Whitman schreibt, die Idee männlicher sem Sinne kritisiert er auch sehr ausdrück- geforderten Verhaltensmuster in der fol- Prädominanz vermuten lässt. Befremd- lich die Schönheitsbranche seiner Zeit: genden Maxime zusammen: «Je weniger lich ist zudem die häufige Verwendung «Das Schönheitsideal unterliegt zu sehr ich auf meinen Körper achte, desto männ- des Rassenbegriffs, was übrigens auch in dem Einfluss solcher Schreiberlinge, zu licher bin ich.» Dementsprechend sei Whitmans berühmtem Poem «Grashalme» oft bestimmen auch die Modekupfer der Männlichkeit eine hochriskante Lebens- auffällt. Allerdings meint «Rasse» in der Schneider und Putzmacher das Mass.» ● 25. März 2018 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Politik Wendy Brown geht dem Paradox auf den Grund, dass ausgerechnet der Mauerbau in einer Maglobalisierueten undrnvernetzsiten Wendlt Hochkekonjunkintur haSct hutz

Physische Mauern haben im 21. Jahr- Grenzen hinwegfliessen wie Naturkata- Wendy Brown: Mauern. Die neue hundert Hochkonjunktur. In ihrem Buch strophen, die Klimaerwärmung und die Abschottung und der Niedergang der «Mauern» geht Wendy Brown der Frage Migration. Souveränität. Übersetzt von Frank nach, was diese Bauwerke für demokrati- Schritt für Schritt gelangt Brown zur Lachmann. Suhrkamp, Berlin 2018. sche Staaten bedeuten. Warum bauen These, dass Mauern paradoxerweise nicht 260 S., um Fr. 42.-, E-Book 30.-. immer mehr Staaten Mauern, wo doch nur die schwindende Souveränität von zugleich Globalisierung und digitale Ver- Nationalstaaten anzeigten, sondern den Von Nina Fargahi netzung eine Welt ohne Grenzen be- Prozess ihres Schwindens sogar noch be- schwören? Für die amerikanische Polito- schleunigten. Zugemauerte Grenzen er- Der amerikanische Präsident Donald login markieren physische Mauern den zeugten beispielsweise neue Formen der Trump baut eine Mauer zu Mexiko, Israel Niedergang von nationaler Souveränität. Selbstjustiz, intensivierten das organi- errichtet eine Mauer durch die Westbank, Sie seien nämlich eine dramatische Insze- sierte Verbrechen und befeuerten natio- Saudiarabien erstellt eine drei Meter hohe nierung von Macht und Schutz. Mauern nalistische Identifikationsmuster, die sich Pfostenkonstruktion aus Beton an seiner symbolisierten eine politische Souveräni- im Endeffekt gegen die staatliche Souve- Grenze zum Jemen, Usbekistan zieht tät, welche die Staaten zunehmend weni- ränität selbst richten. Somit könnten Mau- einen Grenzzaun zu Kirgistan und zu ger gewährleisten können. ern ihr Ziel per se nie erreichen, sie seien Afghanistan, Iran mauert gegen Pakistan, Solche Bauwerke genügten kaum je- gar kontraproduktiv. Brunei mauert gegen die Einwanderung mals ihrer Abriegelungsfunktion, und sie Wendy Brown legt ein Buch vor, das mit aus Indonesien. China mauert Nordkorea seien auch keine wirtschaftlich vernünf- scharfen Analysen auffällt und die gegen- aus, und rechtspopulistische Parteien tige und technisch effektive Antwort auf wärtigen gesellschaftspolitischen Ausein- möchten die «Festung Europa» gegen die schlimmsten Gefahren und Heraus- andersetzungen mit einem wichtigen Flüchtlinge abschotten. forderungen, die gegenwärtig über die Diskussionsbeitrag bereichert. ●

Das amerikanische Buch Spurenleser in der Todeszone

Francisco Cantú hat rasch Karriere ge- über die von den Drogenkartellen ent- macht, nachdem er 2008 in Arizona in fesselte apokalyptische Gewalt. die amerikanische Grenzpolizei einge- treten war. Er war 23, fit, brachte ein Von seinen Erfahrungen überwältigt, Studium in internationalen Beziehun- quittierte Cantú 2012 den Dienst. Er gen mit und spricht zudem als Enkel nahm ein Fulbright-Stipendium an und mexikanischer Einwanderer fliessend begann eine Karriere als Autor. Doch Spanisch. Bei der Border Patrol zeigte die Grenze liess ihn nicht los. Im letz- Cantú Talent als Spurensucher in der ten Drittel des Buches berichtet Cantú von schroffen Gebirgszügen durch- vom Hausmeister José Martínez, den zogenen Hochwüste des Grenzgebie- er in einem Coffeeshop kennengelernt tes. Aus Fasern in Dorngestrüpp und hat. Der dreifache Vater lebt 30 Jahre in Fussabdrücken in steinigen Canyons den Staaten und hat immer noch kei- konnte er bald die Zahl und den Zu- nen legalen Status. Dann geht er zu- stand der undokumentierten Migran- rück nach Oaxaca, um seine sterbende ten ablesen, die auf der Suche nach Mutter noch einmal zu sehen. Auf der

einem besseren Leben aus Mexiko S Rückkehr durch die Berge von Arizona GE

durch die glühende Hitze nach Norden IMA gerät Martínez in die bereits unter TY wandern. Dazu fiel Cantú als Autor klar T Barack Obama stetig ausgebaute GE und präzis abgefasster Dienstproto- / Maschinerie des Grenzschutzes. Cantú ON kolle auf. Er wurde in ein Kontrollzen- versucht zu helfen. Doch ein Happy HOLS

trum in Tucson und später ins Analyse- NIC End für Martínez und seine Familie Team der Grenzer im texanischen El bleibt am Ende des Buches fraglich. LUCY Paso versetzt. US-Grenzpolizist auch der fragilen Natur, dominieren die «The Line Becomes a River» trägt zu Nun erregt Francisco Cantú mit einem David Ruiz Welt der Grenze. einer Debatte bei, die Amerika mehr Protokoll anderer Art Aufsehen. In The patrouilliert an der denn je dominiert. Doch Cantú vermei- Grenze zwischen Line Becomes a River: Dispatches from Cantú schildert auch seine Albträume det das Thema der von Donald Trump Arizona und Mexiko. the Border (Penguin 2018, 250 Seiten) (31. Januar 2017) von einem Wolf und vom Leid der versprochenen «Mauer zu Mexiko» schreibt er über seine Erfahrungen bei Migranten. Daneben gibt er Auskunft ebenso wie konkrete Vorschläge zu «La Migra», wie die Mexikaner die Bor- über persönliche Motive für den Dienst einer seit der Clinton-Ära überfälligen der Patrol nennen. Das Buch ist ein be- bei der Border Patrol: Der junge Polizist Reform des amerikanischen Einwande- wegender, überaus persönlicher Be- wollte die Grenze verstehen lernen, weil rungsrechtes. Dies trägt ihm die Wut richt. In kurzen Sätzen entstehen an- sie auch seine eigene Geschichte prägt – von Trump-Gegnern ein, die ihm Ver- schauliche Bilder von Kollegen und die Herkunft der Mutter, die Verwand- rat an der Latino-Gemeinschaft vor- Landschaften. Im Zentrum des Buchs ten im Süden und die Scham, als Mexi- werfen und Cantú an Auftritten in Kali- steht das Schicksal der Migranten. All- kaner ein Amerikaner zweiter Klasse zu fornien und Arizona gehindert haben. jährlich erliegen sie zu Tausenden dem sein. Die Mutter hat ihn allein aufgezo- Von der «Los Angeles Times» bis zum Durst, der Erschöpfung und den Kil- gen. Als «Ranger» beim Amt für Natur- britischen «Guardian» lobt die Kritik lern der Drogenkartelle, die auch den parks wurde sie ihm ein Karrierevorbild. das Buch indes als lyrisch und authen- Menschenschmuggel kontrollieren. Zugleich orientiert Cantús Buch die tisch. Wer ein tieferes Verständnis der Hunderttausende fallen Grenzern in Leserinnen und Leser über grund- Immigrations-Debatte sucht, kann der- die Hände und landen in Deportations- legende Daten und Fakten zur mexika- zeit keine bessere Lektüre finden. ● zentren. Brutalität und Zerstörung, nisch-amerikanischen Grenze sowie Von Andreas Mink

26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25. März 2018 Agenda Archäologie Rätselhafte Nasca-Kultur Agenda April2018

Basel Donnerstag, 19. April, 19 Uhr Fernando Aramburu: Patria Lesung: Julie Bräuning. Fr. 18.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3

Donnerstag, 26. April, 19 Uhr Yael Inokai: Mahlstrom oder Was vom Manuskript übrig bleibt. Fr. 18.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3 Bern Dienstag, 10. April, 18.30 Uhr Paul Nizon: Sehblitz. Buchvernissage. Moderation: Nina Zimmer. Kunstmuseum, Hodlerstrasse 8–12 DO PRA E Montag, 30. April, 19 Uhr MILI

FA Geneviève Lüscher: Achmetaga. Ein Patrizierleben zwischen Griechenland HLASS und Bern. Eintritt frei. Buchhandlung NAC / Haupt, Falkenplatz 14 LIMA DE TE

AR Lenzburg DE

SEO Donnerstag, 26. April , 19.15 Uhr MU Die Zukunft der Liebe. Mit Martin R. Die Nasca waren ein geheimnisvolles Volk. Sie lebten mente und Textilien wie diese 2000-jährige Stickerei, Dean, Birgit Schmid und Ines Schweizer. 1000 Jahre vor der spanischen Eroberung und 500 die ein fliegendes Priesterwesen zeigt. An den archäo- Moderation: Bettina Spoerri. Fr. 20.–. Jahre vor der Herrschaft der Inka in Peru, doch ihre logischen Ausgrabungen war auch die Schweiz betei- Aargauer Literaturhaus, Bleichenrain 7 Spuren überdauern bis heute. Die Nasca haben gigan- ligt. Nun zeigen das Rietberg-Museum in Zürich und tische Linien in die Erdoberfläche gezeichnet, die sich das dazugehörige Buch wundersame Fundstücke aus Solothurn nur aus Vogelperspektive zu Formen und Figuren der peruanischen Wüste. Martina Läubli fügen: Spiralen, Vögel, Menschen. Vom Boden aus er- Cecilia Pardo & Peter Fux (Hrsg.): NASCA – PERU. Samstag, 14. April, 17 Uhr kennt man nichts, die Geoglyphen sind zu gross. Archäologische Spurensuche in der Wüste. Scheid- «Countdown-Lesung» Literaturtage: Neben den Linien in der Erde haben die Nasca zahlrei- egger & Spiess, Zürich 2017. 350 Seiten, über 300 far- «Literatur für das, was passiert». 12 bis 16 che Kunstwerke hinterlassen: Keramik, Musikinstru- bige Abbildungen, um Fr. 49.–. Uhr: Texte auf Bestellung; 17 Uhr: Lesung mit Gianna Molinari, Ruth Schweikert, Ulrike Ulrich und Julia Weber. Eintritt Bestseller März 2018 frei. Neuf Second Hand, Hauptgasse 53 Mittwoch, 18. April, 19 Uhr «Countdown-Lesung»: Literarische Bild- Belletristik Sachbuch betrachtungen mit Katja Brunner, Guy Krneta, Klaus Merz und Maria Ursprung. Jojo Moyes: Mein Herz in zwei Welten. Michael Wolff: Feuer und Zorn. Kunstmuseum, Werkhofstrasse 30 1 Wunderlich. 592 Seiten, um Fr. 33.–. 1 Rowohlt. 480 Seiten, um Fr. 30.–. Freitag, 20. April, 19.30 Uhr Arno Camenisch: Der letzte Schnee. Martin Werlen: Zu spät. Tom Kummer. Wohnzimmerlesung, 2 Engeler. 104 Seiten, um Fr. 23.–. 2 Herder. 192 Seiten, um Fr. 28.–. Adresse wird bekanntgegeben. Eintritt frei. www.literatur.ch/countdown Elena Ferrante: Die Geschichte des verlorenen Rolf Dobelli: Die Kunst des guten Lebens. 3 Kindes. Suhrkamp. 614 Seiten, um Fr. 28.–. 3 Piper. 384 Seiten, um Fr. 24.–. Zürich Peter Stamm: Die sanfte Gleichgültigkeit der Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Mittwoch, 4. April, 19.30 Uhr 4 Welt. S. Fischer. 160 Seiten, um Fr. 30.–. 4 Menschheit. Pantheon. 528 S., um Fr. 23.–. Schweizer Debüts: Matthias Amann und Michael Hugentobler. Lukas Hartmann: Ein Bild von Lydia. Bernadette von Dreien: Christina, Zwillinge als Fr. 20.–. Literaturhaus, Limmatquai 62 5 Diogenes. 768 Seiten, um Fr. 36.–. 5 Licht geboren. Govinda. 319 S., um Fr. 32.–. Dienstag, 10. April, 19 Uhr Bernhard Schlink: Olga. Barbara Bleisch: Warum wir unseren Eltern Klaus W. Wellershoff: Plädoyer für eine 6 Diogenes. 320 Seiten, um Fr. 36.–. 6 nichts schulden. Hanser. 208 S., um Fr. 29.–. bescheidenere Ökonomie. Moderation: Mark van Huisseling. Eintritt frei. Kos- Rita Falk: Kaiserschmarrndrama. Giulia Enders: Darm mit Charme. mos, Lagerstrasse 104, www.kosmos.ch 7 dtv. 304 Seiten, um Fr. 18.–. 7 Ullstein. 304 Seiten, um Fr. 24.90. Donnerstag, 26. April, 19.30 Uhr Elena Ferrante: Meine geniale Freundin. Navid Kermani: Entlang den Gräben. Celeste Ng: Kleine Feuer überall. 8 Suhrkamp. 422 Seiten, um Fr. 33.90. 8 C.H. Beck. 442 Seiten, um Fr. 39.–. Fr. 20.–. Literaturhaus 9 Hansjörg Schneider: Kind der Aare. 9 Duden - Die deutsche Rechtschreibung. Bücher am Sonntag Nr.4 Diogenes. 352 Seiten, um Fr. 34.–. Dudenverlag. 2128 S., um Fr. 37.–. erscheintam 29.April.2018

Martin Suter & Stephan Eicher: Song Book. Yuval Noah Harari: Homo Deus. Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am 10 Diogenes. CD und Buch, 104 S., um Fr. 39.90 10 C.H. Beck. 576 Seiten, um Fr. 36.–. Sonntag» können bestellt werden per E-Mail: [email protected]. Oder sie sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Erhebung GfK Entertainment AG im Auftrag des SBVV; 10. 3. 2018. Preise laut Angaben von www.books.ch. Zürich, erhältlich. 25. März 2018 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 Conrad Ferdinand Meyer: Das gesamtedichterische Werk zum ersten Mal als Buch UND Hörbuch

46 CDs in 12 Boxen: gelesenvon EvaMattes,Ulrich 2000 Seiten: integraler Lesetext Matthes,Burghart Klaußner, Dagmar Manzel, 1000 Seiten: Kommentar von Albert Bolliger, mit Birgit Minichmayr, Christian Brückner, Peter Maticc‘, essayistischen Beiträgen von Iso Camartin, Georg Engelberg Gerd Wameling, Dörte Lyssewski, Frank Arnold, Kohler, Robert Nef und Manfred Papst Gustav Adolfs Page Paul Maticc‘,Ulrike Hübschmann, Stefan Kaminski, Gesamteditionin12Boxen (ISBN 978­3­905721­71­3) Das Leiden eines Knaben 2-CD, 111 Min. Martin Seifert u.a. Titel aucheinzelnerhältlich ISBN 978-3-905721-74-4 4-CD, 306 Min. ISBN 978-3-905721-89-8 Mittelalter,Renaissance, Reformation, Populisten, Märtyrer, Betrug und Verrat, Inzest, Kindsmiss- brauch und ein Schuss von der Kanzel: MeyersWerk bleibt in Poesieund Prosa aktuell, weil es von den ewig gleichen Problemen des Menschen handelt.

Der Schuss von der Kanzel Die Hochzeit des Mönchs Huttens letzte Tage 4-CD, 307 Min. 3-CD, 235 Min. ISBN 978-3-905721-72-0 ISBN 978-3-905721-83-6 Werhat Angst vor C. F. Meyer ? WerMeyer liest,weissmehr ! Das Amulett DieRichterin NZZ am So, 07.01.18: «DDie grandiose Edition seines F. A.Z., 20.11.17: «Man kann denVerlagnicht geg nugg 2-CD, 147 Min. Gesamtwerks im Hörbucch zeigt Meyers höchst mo­ loben für seine gründliche Arbeit.Buch, Höörbuchh, 3-CD, 187 Min. ISBN 978-3-905721-76-8 derne Kunst des Szenischhen. Meyer ist indes auch ein Sekundärliteratur, dies alles plus dieaußergewöhnli­ ISBN 978-3-905721-80-5 Lyriker von hohem Rang, man möchte diese wunder­ che Qualität der Sprecher fügt sichzueinemwunder­ baren Texte so oft hören, bis man sie auswendig kann.» baren Bildungsangebot. Es macht vertrautmit einem Frage zu NZZ,12.02.18: Weshalb bedient sich rib. der großen deutschsprachigenAutoren der 19. Jhs.» ohneersichtlichen Grundd der Brille Gottfried Kellers, SZ, 28.11.17: «Ein Fest der Stimmen» statt füreinesachbezoggene Rezension die eigene aufdie Nasezusetzen? Tages-Anzeiger,08.02.18: «Einehochkarätige Be­ setzung zeigt, welche Dynamik diese komplexe, SRF2, Kontext, 08.03.18: Martina Süess fabelt von disziplinierte Sprache birgt – und immer wieder zum einem «Requiem für C. F. Meyer», überzeugt, dass die­ Bersten zu bringen droht. Eine verlegerische Grosstat!» ser keine «guteg Literatur»» und nicht mehr «zu retten» sei!Sohälltdenn auch die Literatur­Redaktorin die Weltwoche, 07.12.17: «Das Gesamtwerk des «perfekte,p aufwändige Eddition» für eine «letzte, wür­ Schweizer Autors in einer grossartigenCD­Edition. dige Ehrerweisung»,nachh der man den angestaubten Was Albert Bolliger hier geleistethat, kann nicht JürgJenatsch Dichter auf ewig «in Frieeden ruhen lassen» kann. hoch genug gewertet werden.» Die Versuchung des Pescara 8-CD, 576 Min. 4-CD, 307 Min. ISBN 978-3-905721-84-3 ISBN 978-3-905721-78-2

Der Heilige Angela Borgia 5-CD, 268 Min. 4-CD, 295 Min. ISBN 978-3-905721-81-2 ISBN 978-3-905721-73-7

MitC.F.Meyer fährt man besser ...

Plautus im Nonnenkloster Die Gedichte 1-CD, 75 Min. 6-CD, 388 Min. ISBN 978-3-905721-85-0 www.sinus-verlag.ch ISBN 978-3-905721-75-1