22. internationales forum des jungen films berlini992 «.AÄS

DER DIBEK/DYBUK ter, besonders einem 'Ba'alschem' kann es gelingen, durch ver­ schiedene Gebete und Zeremonien den eingedrungenen Geist Der Dibbuk 'auszutreiben' (Exorzismus). (...) Die Vorstellung des Dibbuk spielt im Volksglauben eine große Rolle und wurde auch litera­ Land Polen 1937 risch behandelt, so namentlich von An-ski in seinem Drama 'Der Produktion Feniks, Warszawa Dibbuk'.

Micha! Waszynski Regie Aus: Jüdisches Lexikon, Berlin 1928 Buch Alter Kaczyna, Andrzej Marek (= Ma­ rek Arnstein), nach dem gleichnamigen Inhalt Bühnenstück von S. An-ski (= Schlomo Seinwel Rapoport) Eine jüdische Kleinstadt in der zweiten Hälfte des vorigen Jahr­ hunderts. Die Väter zweier befreundeter Familien geloben, daß Künstlerische Leitung Andrzej Marek (= Marek Arnstein) ihre Kinder, sofern sie verschiedenen Geschlechts sind, in Zu­ Kamera Albert Wy werka kunft heiraten werden. Bauten Jacek Rotmil, Stefan Norris Nach gewisser Zeit kommt in der einen Familie ein Mädchen zur Musik Henoch (Henryk) Kon Welt - Leah, und in der anderen ein Junge. Im Laufe der Jahre Gesang (Kantor) Gershon (Gerszon) Sirota möchte Leans Vater, der inzwischen reich geworden ist, nichts Choreographie Judith Berg mehr von dem Gelübde wissen und lenkt die Geschicke seiner Hist. Beratung MajerBalaban Tochter in andere Bahnen, als früher festgelegt. Die jungen Leute Kameraassistenz L. Zajaczkowki, A. Arnold dagegen gefallen sich sehr, und es entflammt bald eine große Produzent Ludwig Prywes Liebe zwischen ihnen. Das Mädchen ist aber für einen anderen Produktionsleitung Zygfryd Mayflauer vorgesehen, und das wird auch der Grund für den Tod des Geliebten. Als der junge Mann stirbt, spricht er eine kabbalisti­ Darsteller sche Beschwörung aus. Am Tag der Hochzeit wird Leah vom Zaddik von Miropol Abraham (Avrom) Morewski Geist des verstorbenen Geliebten, von Dybuk, besessen. Die Der Sendbote Isaac (Ajzyk) Samberg Familie ruft den Wunderrabbi, der durch wirkungsvolle Be­ Leah Lili Liliana schwörungen Dybuk zwingt, den Körper des Mädchens zu verlas­ Nute Maks Bozyk sen. Dybuk wird ausgetrieben, aber Leah stirbt. Auf diese Weise Channon Leon Liebgold können sich die füreinander bestimmten Seelen in der Ewigkeit Sender Moshe (Moses) Lipman vereinen. Frajde Dina Halpern Jerzy Toeplitz: Geschichte des Films, Bd. 3, 1934-1939, Berlin Nisson Gershon (Gerszon) Lemberger 1979 Salman Samuel Landau Expressionistischer Gestus Meyer David Lederman Nachman S. Bronecki (...) 'Der Dybuk', von S. An-ski dramatisiert, wurde 1920 in War­ Mendel Zishe Katz schau von der 'Wilnaer Truppe" in jiddischer Sprache uraufge­ Michael Abraham Kurc führt. 1921 folgte an der 'Habima' in Moskau die Aufführung des Menasche M. Messinger 'Dybuk' auf Hebräisch in der Übersetzung von Chaim Nachman Bialik. Diese expressionistische Inszenierung durch Wachtan- Uraufführung 25. September 1937, Warszawa gow, einem Schüler Stanislawskis, diente Waszynski als Vorlage seiner in Polen 1937 gedrehten Verfilmung. Vor allem die Frau­ Format 35 mm, Schwarzweiß en-Figur der Leah gewinnt aus diesem zeitverschobenen Verfah­ Länge 122 Minuten ren eine eigenwillige, herbe Dramatik, die im Gegensatz zu den filmischen Frauenbildem der Zeit steht. Die expressionistische Weltvertrieb The National Center for Jewish Film Inszenierung der dreißiger Jahre gibt der Legende eine historische Lown Building 102 Verfremdung, die die Legende noch dadurch überhöhte, daß sie Brandeis University sie in eine rituell zerdehnte expressionistische Form goß. Was- Waith am, MA zynskis düsteres Poem verdankt seine Gestalt wohl nicht aus­ T-(617) 8997044 schließlich dem expressionistischen Gestus der 'Habima'-Insze­ Fax-(617)7362070 nierung, sondern auch der Schule des deutschen expressionisti­ Anmerkung schen Stummfilms, der in den Boots- und Sturmszenen wohl Pate gestanden haben dürfte. Ein doppelter Einfluß, der sich nicht nur Dibbuk - Anheftung, oft auch 'Dybuk' geschrieben, stellt den Fall am Film selbst zeigen läßt, sondern auch biographisch: Waszyns­ dar, daß die Seele eines Sünders nach dem Tode in den Körper ei­ ki arbeitete nicht nur an Stanislawskis Moskauer Theater, er lernte nes lebenden Menschen eintritt, um vor den Verfolgungen böser auch bei F.W. Murnau in Berlin. (...) Geister (Dämonen) Ruhe zu finden, wodurch der betreffende Mensch 'besessen' erscheint. Manchmal wird der Eindringling Gertrud Koch: Auf halbem Weg zum Engel des Vergessens, in: selbst als böser Geist (Ruach) bezeichnet. Nur einem Wundertä­ Das jiddische Kino, Deutsches Filmmuseum Frankfurt, 1982 Der düstere, würdevolle und schwermütige DIBEK ist der atmos­ platz in Kazimierz gedreht, das mittlerweile in gewisser Weise phärisch dichteste und 'künstlerischste' der jiddischen Tonfilme. dieselbe Bedeutung für das Jiddische Kino hatte wie das Monu­ Vom Anfangsbild einer kerzenerleuchteten Synagoge über die ment Valley für John Ford. (...) unheimlichen Tänze auf der nicht beendeten Hochzeitsfeier bis Judith Bergs lebhafte, brueghelsche Sequenzen sind das Herz des zum Höhepunkt des Exorzismus ist der Film von Religion und Films; die suggestive Musik, die Kon dafür schrieb, wird am Ritual durchtränkt - und auch von Aberglauben und dem Überna­ Ende, wenn der Dibbuk exorziert ist und Leah kurz wieder zu sich türlichen. (...) kommt, behutsam wieder aufgenommen. Man wünscht sich bei­ Wie die meisten ambitionierten jiddischen Tonfilme führte DER nah, daß Judith Berg den gesamten Film inszeniert hätte. Was­ DIBEK einen großen Teil der Literatur- und Theaterszene War­ zynski traut letztendlich nicht der evokativen Stimmung des schaus zusammen. Obwohl der Anstoß von Ludwig Pry wes kam, Stückes und fügt überflüssige Elemente von Kinomagie hinzu: dessen Onkel die Erstaufführung finanziell ermöglicht hatte, der Sendbote, der nach Belieben erscheint und sich wieder in Luft wurde der Produzent Zygfryd May flauer wohl eher durch den auflöst; Chanons Geist wird sichtbar, als er das Grab verläßt. In internationalen Erfolg von Le Golem inspiriert, einer spektakulä­ der Führung der Schauspieler kann sich Waszynski allerdings auf ren (und philosemitischen) französisch-tschechoslowakischen seinen Instinkt verlassen. So etwa, als die besessene Leah (Lilia­ Co-Produktion, die auch ein gleichzeitig jüdisches und übernatür­ na) mit ihrer eigenen (wenngleich tieferen und verzerrten) Stim­ liches Thema hatte. Pry wes engagierte Arnstein und Alter Kacyz- me spricht und ihre Hysterie auf furchteinflößende Weise durch na, An-skis literarischen Nachlaßverwalter, um das Drehbuch zu Morewskis großartige Darstellung des kranken und sterbenden schreiben. Der Historiker Majer Balaban stand als Berater zur Wunderrabbis aufgegriffen wird: von Ängsten gepeinigt und Seite. Henoch Kon komponierte die originale Filmmusik ("In zitternd ist er wie ein Instrument, auf dem Töne gespielt werden, meinem ganzen Leben habe ich mich keiner Arbeit mit solcher deren Frequenz niemand anders hören kann. (...) Hingabe gewidmet", erzählte er den 'Literarische Bieter'.). Jim Hoberman: Bridge of Light. Yiddish Film Between Two Kons Frau Judith Berg, die Polens erste jüdische Tanzschule Worlds, New York 1991. gegründet hat, choreographierte das halbe Dutzend Tanzsequen­ zen des Films. Darunter sind der nur von Männern ausgeführte Zwischen zwei Welten 'frejlechs' (Kreistanz), mit dem die chassidischen Juden die (...) Das hervorragendste Werk des jiddischen Films aber ist DER Verlobung der noch ungeborenen Leah und Chanon feiern, und DIBEK, gedreht nach dem Stück von An-ski. Wie man in den später der 'patschtanz' (Klatschtanz), den die reichen Frauen auf Memoiren des Schauspielers Abraham Morewski nachlesen kann, Leahs Hochzeit aufführen und dem drei weitere, expressionisti­ fand dieses Stück kaum Resonanz, als es zum erstenmal vor sche Nummern folgen. Im Gegensatz zu den chassidischen Tän­ Schauspielern und Literaten vorgelesen wurde. Die Nachwelt zen sind am 'Tanz der Armen' sowohl Männer als auch Frauen sollte ganz anders darüber urteilen; es ist heute eines der wenigen beteiligt, während beim 'Tanz der Bettler' die zerlumpten und Stücke des jiddischen Repertoires, das ein internationales Publi­ mißgebildeten Bettler (einige von ihnen offensichtlich auf den kum fand. Sein Autor ist ein eigenartiger Mensch, der, nachdem Straßen Warschaus zusammengesucht) in einem grotesken 'dan- er aktiver Narodnik (Mitglied einer Sozialrevolutionären Gruppe, se macabre' umherspringen. Der phantastische 'tojtntanz' (To­ A.d.R.) gewesen war und ganz Westeuropa bereist hatte, (...) dann tentanz), von Judith Berg selbst angeführt, basiert auf Beschrei­ Deputierter in der Duma in St. Petersburg wurde, um endlich, bungen, die ihr ihre Großmutter überlieferte. erschüttert von der Dreyfus-Affäre, zu seinem Ursprung zurück­ Die Besetzung von DER DIBEK umfaßt mehrere Theater-Gene­ zukehren; er begann in Jiddisch zu schreiben und gründete die rationen. In einem Interview mit Patricia Erens erklärte Dina Gesellschaft für jüdische Volkskunde, für die er unermüdlich Halpern (die Leahs Tante Frajde spielte), daß die Schauspieler aus Material sammelte. Als ein im Wesentlichen realistischer Autor Warschaus diversen jiddischen Theatertruppen auserkoren wur­ wurde er als 'zamler', als Sammler eingestuft. Aber man erinnert den: "Viele von uns waren Routiniers in zahlreichen Theaterpro­ sich seiner allein wegen des 'Dibek'. Dieser Vierakter, 1919 in duktionen, und jeder, der mit dieser Filmproduktion zu tun hatte, Wilna publiziert, gilt als glücklicher Zufall im Werk An-skis, und fühlte sich privilegiert, selbst die Statisten... Es war viel mehr als es scheint auch, als habe sich der Autor damit selbst übertroffen. nur ein Rollenengagement." Leon Liebgold und Lili Liliana, ein Seinen lückenhaften Kenntnissen vom Theater zum Trotz gelang verblüffendes junges Paar der Kleinkunst-Gruppe ' Jidische Bande', es ihm zum einen, Atmosphäre, Personen und faszinierend ver­ wurden als die vom Schicksal gebeutelten Liebenden besetzt. flochtene Themenkreise zu schaffen, und zum anderen vermochte (Liliana hatte übrigens gerade die Leah in Riga gespielt, mit er eine volkstümliche Legende auf das Niveau eines Mythos zu Liebgold als Sendboten). Als Zadik (= Rabbi, A.d.R.) wiederholte heben. Avrom Morewski die Rolle, die er in der Produktion der Wilnaer (...) Der von A. Kacyzna bearbeitete und von Michal Waszynski Truppe 1929 kreiert hatte. Kontrastierend zu Morewskis intellek­ inszenierte Film zerstört teilweise den gleichmäßigen dramati­ tueller Spielweise spielte der grobschlächtige Isaac Samberg - ein schen Aufbau, der vorsichtig umging mit dem Mysterium, der Spezialist für Proletarier- und Gangsterrollen (und Funktionär der Spannung, der Steigerung in der Handlung, den Themen und der Jüdischen Künstlergewerkschaft) - den unerbittlichen Sendboten. Figurenentwicklung, indem er den zeitlichen Ablauf der Ereignis­ (...) Dazu ist Gershon Sirota, der berühmteste Kantor Polens, se wieder herstellte (...). Aber die optische Schönheit der Kinoins­ wenn nicht gar Europas, ausführlich zu hören. (...) zenierung bietet andere, ebenso wirkungsvolle Stilmittel auf, um DER DIBEK wurde im späten Frühjahr 1937 im Feniks-Studio das Mysterium und die Beklommenheit hervorzubringen, die im gedreht, unter Mitwirkung führender Bildner und Techniker (von Theaterstück durch die verzögerte Enthüllung des Schwurs er­ denen einige aus Nazi-Deutschland geflüchtet waren). Das Studio zeugt wurde. befand sich, so Dina Halpern, in Warschaus "aristokratischster Die Szenerie, mit Absicht ein Theaterdekor, trägt beträchtlich und antisemitischster" Gegend: "Die alten Juden und die jüdi­ dazu bei, die befremdende Atmosphäre aufzubauen, mit der der schen Jungen, die kamen, um als Statisten in dem Film mitzuwir­ Film durchtränkt ist. Sie besteht aus einem kleinen, äußerst ken, mußten Spießrutenlaufen an diesen Gaunern vorbei, die sie an stilisierten Platz in einem schtetl. In seiner Mitte steht als Sinnbild der Straßenecke beim Filmstudio abpaßten. Sie hatten Stöcke und das Grab der beiden Verlobten, die zur Zeit der Massaker von Messer, und beinahe jeden Tag der Dreharbeiten wurde die Chielnicki getötet wurden, es ist umstanden von zeltähnlichen Produktion aufgehalten, weil wir Wunden verbinden mußten." Bauten aus Knunmhölzern, von denen einer das Haus Leahs, ein (...) Es wurde auch zwei Wochen lang an einem Originalschau­ anderer die Synagoge und der dritte das rituelle B ad darstellen, wo Chanon während seiner Kasteiungen den Teufel anruft; das aus Beichtvater, Autorität in moralischen Fragen und Ratgeber in zweite Szenenbild ist der Friedhof mit schiefstehenden und allen Lebensangelegenheiten. Er ist auch Lehrer, Schriftgelehrter teilweise moosbewachsenen Steinen; die Natur jedoch ist nur auf und Prediger, der an einem Tisch, von seinen Jüngern umgeben, der Wegstrecke, die zwischen den lichtüberfluteten Feldern ver­ seine Lehren verbreitet. Für den einzelnen chassidischen Juden ist läuft, oder in der Gewalt von Unwettern gegenwärtig. (...) der Besuch am Hof des Rabbi sowohl Pilgerfahrt als auch eine Das Phantastische ist hier aber nicht nur eine Angelegenheit von Wiedervereinigung mit seinen dort versammelten Glaubensbrü­ Szenerie und Stil. Es liegt im Heraufbeschwören der chassidi­ dern. schen Welt mit ihrem Glauben ans Übernatürliche als täglichem Das Zusammenleben in einem schtetl, von dem der Film ein Erleben, mit ihren ekstatischen Tänzen und ihrer mystischen ziemlich stilisiertes Bild zeichnet, entwickelte sich im 16. Jahr­ Einheit im Rabbi, dem Bindeglied zwischen Diesseits und Jen­ hundert im Königreich Polen-Litauen, als den Juden vorgeschla­ seits. Es fuhrt sich ein mit dem Erscheinen und Verschwinden des gen wurde, sich in im Besitz des Adels befindlichen Städten Sendboten, der das Schicksal verkörpert. Das Phantastische bildet anzusiedeln. Li vielen dieser Städte wurden die Juden zur vorherr­ den thematischen Faden des Werkes, der sich um das Phänomen schenden Mehrheit, was ihnen ermöglichte, eine einheitliche der Besessenheit rankt Lebensweise und ein einheitliches Wertesystem zu entwickeln. Aber das Stück geht genauso wie der Film über das Phantastische Ihre vorrangige wirtschaftliche Funktion bestand darin, für die des Schreckens, des Grauens oder gar der Furcht hinaus. Es ist ein Adligen Besitztümer wie z.B. Land, Mühlen, Wirtshäuser oder mystisches Werk im wahren Sinne des Wortes, dessen Autorund Brauereien zu verpachten und als Steuereintreiber zu arbeiten. Regisseur Ungläubige sind. Der Originaltitel des Stückes, der Natürlich wurden auch andere Gewerbezweige entwickelt. Es dessen Anliegen definierte, war 'Zwischen zwei Welten': zwi­ wäre nicht allzu übertrieben zu sagen, daß der Großteil der schtetl- schen der Gegenwart der Toten und ihrem unvermeidlichen Bevölkerung ständig in Armut lebte, ein Aspekt des schtetl- Verschwinden, zwischen dem Dialog mit Gott und seiner unend­ Lebens, auf den An-ski in seinem Stück deutlich hinweist und der lichen Ferne, zwischen Treue und Wortbrüchigkeit, zwischen im Film in düstersten Farben geschildert wird. Kontinuität und dem Bruch in der Folge der Generationen, Ironischerweise lebte kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, als der zwischen der Einheit des Universums und seinem Zerfallen, Film entstand, jeder vierte polnische Jude in einer der fünf größten zwischen Sündenfall und Erlösung. (...) Städte, und 40% lebten in Orten mit über 10.000 jüdischen Einwohnern. Die Großstadt, nicht das schtetl, war das Zentrum Rachel Ertel: A propos de quelques films yiddish, in: Positif Nr. des politischen und kulturellen jüdischen Lebens. Nichtsdesto­ 25, Dezember 1979 trotz blieb das schtetl in den Vorstellungen vom osteuropäischen Goebbels und DER DIBEK Judentum bis heute erhalten. Moderne jiddische Autoren haben auf ganz verschiedene Weise die traditionelle Lebensweise im (...) Micha* Waszyriskis Film DER DIBEK sah ich zum ersten Mal schtetl, die sie selbst aufgegeben hatten, geschildert, mit nostal­ Ende der vierziger Jahre in Stockholm. Seitdem habe ich den Film gisch-verklärtem oder scharf kritischem Unterton oder oft auch mehrmals gesehen und immer wieder als das stärkste erhaltene einer Mischung von beidem. Aber was auf viele zutrifft, ist, daß künstlerische Dokument des Ostjudentums aus der Vorkriegszeit das schtetl weiterhin als Symbol für das Dasein der osteuropäi­ erlebt. Der Film beeindruckt mich so tief gerade durch die schen Juden Bestand hat Dies sollte bei näherem Hinsehen nicht Einfachheit seiner Mittel. Filmregisseure, die im Dritten Reich allzusehr überraschen, da das Leben der jüdischen Gemeinden in tätig waren, haben mir erzählt, daß sie den Film für interne den großen Städten und Urbanen Zentren Osteuropas und sogar Vorführungen bestellten, unter dem Vorwand, sich über den Amerikas weitgehend eine Weiterentwicklung des Lebens, der Charakter des Judentums orientieren zu wollen, und die Kraft des Institutionen und Werte des sc/itef/-Lebens darstellt. (...) Films bewunderten. Goebbels, der oberste Filmherr des 'Groß- deutschen' Reiches, notierte dagegen am 19. Februar 1942 in Sylvia Fuks Fried: The Dybbuk. A Yiddish Film Classic; The seinem Tagebuch, die Vorführung dieses Films in einem kleinen National Center for Jewish Film, Brandeis University, Waltham Kreise habe die Richtigkeit seiner Überzeugung bestätigt, "daß (Mass.) 1989 die jüdische Rasse die gefährlichste ist, die den Erdball bevölkert, und daß man ihr gegenüber keine Gnade und auch keine Nachgie­ Micha* Waszynski - Bausteine einer Biographie bigkeit kennen darf. Goebbels betont: "Dies Gelichter muß mit (...) DER DIBEK verdankt viel einem gewieften Entertainer. Stumpf und Stiel ausgerottet werden". Damit illustriert er die Micha! Waszynski, der 33jährige energiegeladene Regisseur, der These von Jean-Paul Sartre, daß der Antisemit so von seinen angab, bei Stanislawski in Moskau studiert und (wie Ulmer) bei Vorurteilen und Affekten verblendet ist, daß er von ihnen nicht Murnau in Berlin assistiert zu haben, war ein alles beherrschen­ abzubringen ist. Was der Jude tut und wie er wirklich ist, kann des Wunderkind. Waszynski begann in der polnischen Filmindu­ diesen blinden Judenhaß nicht beeinflussen. Es ist auch typisch, strie als Regieassistent und wird als Regisseur des ersten polni­ daß Goebbels den DIBEK als projüdischen Propagandafilm auf­ schen Tonfilms genannt (der in Wien gedreht wurde); im Laufe faßte. Für ihn gab es nur Propaganda und Gegenpropaganda. (...) der folgenden Dekade inszenierte er um die vierzig Filme, die Erwin Leiser Erinnerungen an Jiddisch, in: Film, Nr. 2, Frank­ eigentlich alle an der Kinokasse erfolgreich waren.(Nicht weniger furt/M., München 1980 als acht dieser Filme liefen zwischen 1934 und 1938 in New York.) Das schtetl Waszyriskis Tempo, seine Vielseitigkeit und seine Flexibilität lassen ein polnisches Pendant zu Vertragsregisseuren in Holly­ (...) DER DIBEK spielt gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts wood wie etwa Michael Curtiz vermuten. Er arbeitete in nahezu in mehreren entlegenen kleinen Orten, oder auch schtetl, in jedem Genre, drehte Melodramen, Musicals, romantische Phan­ Osteuropa, wo der Chassidismus, eine volkstümliche religiöse tasiefilme, Farcen, Militärschwänke, eine polnisch-tschechoslo­ Bewegung mit einer einzigartigen Form des Zusammenlebens, wakische Koproduktion der sowjetischen Satir 'Zwölf Stühle', tief verwurzelt war. Die chassidische Lebensweise geht von sogar einen Abenteuerfilm in Marokko. Polnische Kritiken stim­ einem charismatischen Führer aus, dem Zadik, der seinen Anhän­ men jedoch überein, daß DER DIBEK Waszyriskis bester Film ist gern geistige Erleuchtung verschafft dank seines mystischen Als ukrainischer Jude, dessen eigentlicher Name Wachs war, Einsseins mit Gott. Als Wunderheiler und Wundertätiger ist der wurde der vielseitige Regisseur in Wolhynien geboren, ein Jahr­ Zadik oder Rabbi in den Augen seiner Anhänger eine Mischung zehnt vor An-skis ethnographischer Expedition in diese Region. Waszynski absolvierte das Gymnasium und saldierte in Kiew Vormarsch nach Norden drehte das Filmaktiv regelmäßig Film­ Schauspiel bei der polnischen Tragödin Stanislawa Wysocka, wochenschauen, unter anderen über die Kämpfe bei Bologna und bevor er nach Moskau und Berlin ging. (Leon Liebgold erinnert Ancona. Es sind insgesamt 42 Wochenschauen des II. Corps sich, daß Waszynski kein Jiddisch sprach, und daß er den DIBEK erschienen." (Jerzy Toeplitz: Geschichte des Films, Bd. 4,1939- mit 'zehn oder zwölf Leuten im Schlepptau' inszenierte, dazu 1945, Berlin (DDR) 1984) noch Arnstein, der ihm als Übersetzer zur Seite stand." (Jim Ho- "Waszynski überlebte den 2. Weltkrieg und ließ sich in Italien berman, a.a.O.)) nieder.. Dort inszenierte er zwei Filme, Lo Sconosciuto di San "Der Film DER DIBEK bildet in der Karriere des völlig auf Marino und La Grande Strada, in Zusammenarbeit mit Vittorio Kommerz eingestellten Regisseurs eine ungewöhnliche Ausnah­ Cottafavi ; er war Orson Welles' Regieassistent bei Othello (1949- me." (Jerzy Toeplitz, a.a.O.) 52) und entwarf die Bauten für mehrere amerikanische Filme, Wo Waszynski die erste Phase des 2. Weltkriegs und die deutsche darunter Quo Vadis (1951) und RomanHoliday (1953). 1960 ging oder sowjetische Besatzung erlebte, darüber berichtet Jerzy Toeplitz er nach Spanien, wo er mit Samuel Bronston zusammen epische in seiner 'Filmgeschichte' nichts. Doch 1941, nach dem Bruch des Filme produzierte. Ab einem gewissen Zeitpunkt gab er sich als Hitler-Stalin-Paktes und dem deutschen Überfall auf die Sowjet­ Mitglied der polnischen Königsfamilie aus: In dem von 'Variety' union, befand Waszynski sich in der UdSSR: 1965 veröffentlichten Nachruf wird er 'Prinz Michael Waszyns­ "Die polnischen Filmschaffenden, die sich in der Sowjetunion ki' genannt" (Hoberman, a.a.O.) aufhielten, meldeten sich zur Armee. Es waren vor allem solche, die vor dem Krieg in der sogenannten Filmbranche gearbeitet Biofllmographie hatten. Unter ihnen befanden sich: die Regisseure Micha! Was­ Micha! Waszynski, geb. 29. Sept. 1904 in Wolhynien (Ukraine), zynski und , der Kameramann Seweryn Steinwurzel gest. 12. Februar 1965 in Madrid. Filme (Auswahl): 1929 Kult und der mit der Branche wie mit der Avantgarde zusammenarbei­ ciala (Körperkult); Pod bander a mitosci (Das Banner der Liebe). tende Kameramann Stanislaw Lipinski. Man begann Anfang 1930 (Gefährliche Romanze). 1931 Bezi- 1942 im Lager Jangi-Jul unweit von Taschkent (...) zu drehen, wo mienni bohaterowie (Die unbekannten Helden). 1932 Uwiedzio- sich die ersten polnischen Einheiten formierten. Im Juli 1942 na (Die verführte Frau); Gtospustyni (Die Stimme der Wüste); Sto verließ die Armee von Anders (dem General, der die polnische metrow mitosci (Zentimeter Liebe). 1933 Jego eksecelencja Armee-Einheit im sowjetischen Exil organisierte, A.d.R.) die subiekt (Seine Exzellenz, der Kommis); Dwanascie krzeset (Die Sowjetunion und begab sich in den benachbarten Iran. Erst dort zwölf Stühle); (Staatsanwalt Alicia Horn). wurde das Material über das Leben der polnischen Soldaten im 1934 Czarna perla (Die schwarze Perle); Kocha, lubi, szanuje Sowjetland montiert. Das waren die Kronika nr 1 (Chronik Nr. 1) (Ich liebe ein wenig, von Herzen, mit Schmerzen...); Piesniarz und der Dokumentarfilm mit Spielfilmeinlagen: Od pobudki do Warszawy (Der Sänger von Warschau); Parada rezerwistow capstrzyku (Vom Wecksignal bis zum Zapfenstreich). Realisato­ (Reservistenparade). 1935 Antek Policmajster (Polizeimeister ren beider Filme waren Waszynski, Tom, Lipinski und Steinwur­ Antek); ABC mitosci (Das ABC der Liebe); zel. (Dodek geht zur Front); Jas nie pan szofer (Seine Majestät, der In Iran wurde die Filmgruppe der neu ins Leben gerufenen Chauffeur); Wacus. 1936Bedzie lepiej (Mach's gut); Papa sie zeni Instanz, nämlich der Abteilung für Propaganda und Aufklärung (Papa heiratet); 30 karatow szczescia (30 Karat Glück); Bohate­ bei der polnischen Armee im Osten, unterstellt. Die Equipe rowie Sybiru (Es kommt aus Sibirien); Bolek i Lolek (Bolek und Waszynski - Lipinski - Stein wurzel schuf die Reportage mit Fabel Lolek). 1937 DER DIBEK/DYBUK (Der Dibbuk); Hania; Znachor Marsz do wolnosci (Marsch in die Freiheit) über das Leben der (Der Scharlatan). 1938 Druga mlodosc (Die zweite Jugend); polnischen Einheiten der Anders-Armee, die vom britischen Kobiety nadprzepascia (Frauen am Abgrund); (Das Informationsministerium zum Vertrieb übernommen wurde. (...) Herz einer Mutter); (Die letzte Brigade); Pro­ Waszyriskis Filmgruppe richtete 1943, nach einem kurzen Auf­ fessor Wilczur; Rena. 1939 Wloczegi (Der Vagabund); Gehenna; enthalt im Irak, ihr Hauptquartier endgültig in Kairo ein. (...) In Trzy serca (Drei Lieben); U kresu drogi (Am Ende der Straße). Kairo entwickelte die Filmgruppe des II. Polnischen Corps eine Filme der Filmgruppe Waszynski (Auswahl): 1942 Kronika nr 1 aktive Tätigkeit. Das am häufigsten verwendete Rezept war die (Cronik Nr. 1); Od pobudki do capstrzyku (Vom Wecksignal bis Filmreportage mit inszenierten Szenen. Die verhältnismäßig große zum Zapfenstreich); Marsz do wolnosci (Marsch in die Freiheit). Schar polnischer Schauspieler, die sich in Ägypten befanden, 1943 Polska parada (Polnische Parade). 1944 Monte Casino. erleichterte die Produktion dieser Fabeleinlagen. Die Kurzfilme Filme in Italien (Co-Regie Vittorio Cottafavi) : 1947 Lo Sconos­ des Drehbuch- und Regieteams Waszynski-Tom erinnern in ciuto di San Marino (Die Unbekannten von San Marino; mit ihrem Stil an die Branchentradition der Vorkriegszeit. Es fehlte Vittorio de Sica und Anna Magnani). 1946-48 La Grande Strada die künstlerische Suche; die propagandistischen Werte beschrän­ oL'odissea di Montecassino (Die große Straße, oder: Die Odyssee ken sich auf Slogans und Schemata. Den größten Erfolg hatte der vom Monte Cassino). 1948 Fiamme sul mare (Die Flamme am Streifen Polska parada (Polnische Parade), eine mechanisch auf Meer). das Filmband übertragene Revue, in der populäre Schauspieler Filme als Produzent: 1961 EICid(Regie: Anthony Mann). 1962 wie Ludwig Lawinski, Jadwiga Andzejewska, Jerzy Ney und 55 Days at Peking (Regie: Nicholas Ray). 1964 The Fall of the andere auftraten. Gegen Ende 1943 rückte Waszyriskis Filmgrup­ Roman Empire (Regie: Anthony Mann); Circus World (Regie: pe zusammen mit den Soldaten des II. Corps an die italienische Henry Hathaway). Front ab. (...) Das IT. Polnische Corps, das (...) zur 8. Britischen Armee gehörte, eroberte am 18. Mai die Schlüsselstellung Monte Cassino. Der Weg nach Rom war frei. Waszyriskis Filmgruppe befand sich an der vordersten Frontlinie. (...) Aus dem während der Schlacht aufgenommenen und dem später hinzugedrehten Material montierte Waszynski die zweiak- tige Reportage Monte Cassino, in die er auch bestimmte Aufnah­

men aus den Wochenschauen der Allierten einbezog. Das ist der Herausgeber: Internationales Forum des Jungen Films / Freunde der interessanteste und künstlerisch reifste Dokumentarfilm aus der Deutschen Kinemathek, Berlin 30 (Kino Arsenal). Druck: graficpress Produktion des Filmaktivs in Anders' Armee. (...) Beim weiteren Redaktion dieses Blattes: Rüdiger Bering