SWR2 Musikpassagen Vom Straßenmusiker zum Star Der britische Sänger und Pianist

Von Marlene Küster

Sendung: Sonntag, 16. Dezember 2018 Redaktion: Anette Sidhu-Ingenhoff Produktion: SWR 2018

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„Vom Straßenmusiker zum Star. Der britische Sänger und Pianist Benjamin Clementine“ – heute das Thema. Am Mikrofon begrüßt Sie Marlene Küster.

„Ich bin nicht so ein Narzisst, der immer nur mit seinen Gefühlen im Mittelpunkt steht und über seine kaputten Beziehungen redet. Das gehört einfach zum Leben: Man trennt sich oder kommt ja vielleicht irgendwann wieder zusammen. Das ist echt langweilig. Ich will aber gerade die Aufmerksamkeit auf Themen mit einem sozialen, humanitären Hintergrund lenken und nicht meine Zeit mit Belanglosem vergeuden.“

Resolute Worte von Benjamin Clementine. 2013 erscheint der Brite quasi aus dem Nichts. Ein junger Mann, der von Verzweiflung getrieben mit dem Singen und Komponieren beginnt. Er bringt sich das Klavierspiel klassischer Musik selbst bei.

„Ich bin 1988 geboren und in einem sehr konservativen Haus aufgewachsen. Ich hörte ausschließlich klassische Musik. Richtige klassische Instrumente, Saiteninstrumente und Operngesang.“

Clementine entwickelt sich vom obdachlosen Straßenmusiker zum Star – davon erzählt die märchenhaft anmutende Geschichte dieses Komponisten und Sängers. Mit seinem letzten Geld kaufte er sich ein Easy-Jet-Ticket von London nach . Mal lebte er auf der Straße, mal kam er in billigen Hotels unter. Er machte Musik in der U-Bahn und wurde schließlich von einem Plattenchef entdeckt und unter Vertrag genommen. So ist das Debüt „“ zustande gekommen, das 2015 mit dem ausgezeichnet wurde. Auf diesem verarbeitet Clementine seine Erlebnisse. Im Song „Cornerstone“ erzählt er von seinem Leben auf der Straße. „I am lonely, alone in a box of stone“, singt er.

Musik Cornerstone, Benjamin Clementine

Im über sechs Minuten langen Stück „Condolence“ geht es um Clementines Neuanfang in Paris:

Musik Condolence, Benjamin Clementine

Im Song „London“ kommt zum Ausdruck, dass Clementine bei seinem Aufenthalt in Paris immer wieder Zweifel kommen und er von den Eindrücken aus London eingeholt wird. Die britische Hauptstadt hat ihn geprägt und ist ein unauslöschlicher Teil von ihm geworden: „London is all in you, why are you denying the truth.“

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Musik London, Benjamin Clementine

Seine Ängste, seine Sorgen und Nöte – ein Blick nach Innen – immer wiederkehrende Themen auf Clementines erstem Album „At Least For Now“.

Musik Quiver A Little, Benjamin Clementine Musik Adios, Benjamin Clementine

Beeindruckend seine Auftritte: Mit nackten Füssen erscheint Clementine auf der Bühne und hämmert aufs Klavier ein. Dazu singt der 30-Jährige mit ghanaischer Abstammung mit voller warmer Stimme. Weder Jazz noch Soul – seine Musik entzieht sich jeder Kategorie. „Ich habe kein Genre. Ich bin Benjamin“, sagt er dazu. Sein Aufstieg war etwas zu rasant für ihn. Gerade vor den großen Bühnen wie beispielweise vor der Berliner Philharmonie oder Carnegie Hall hat er große Ehrfurcht:

„Es ist schwierig in solchen großen Häusern aufzutreten. Denn sie sind vor allem für Orchester gemacht. Und ich frage mich auch, ob die Zuhörer wirklich von allein dorthin kommen wollen. Ich habe das Gefühl, dass viele von ihnen kommen, weil es sich eben so gehört. Wenn ich das spüre, blockiert mich das total. Ich möchte dem Publikum zeigen, dass Regeln und Vorschriften nebensächlich sind. Hauptsache ist, dass man hinter seinem Konzert steht und daran glaubt, was und wie man es tut. Die Zuhörer scheinen aber meine Auftritte zu respektieren, sie hören aufmerksam zu und sind ganz still. Das schätze ich sehr. Nur auf manchen Bühnen fällt es mir eben schwer, aber vielleicht liegt es ja auch an mir. Mag sein, dass ich einfach noch zu wenig Erfahrung habe. Die Beziehung zum Publikum ist für mich auf jeden Fall ausschlaggebend. Wenn ich ein Unwohlsein im Saal spüre, verunsichert mich das ungemein.“

Den groß gewachsenen, grazilen Briten – die vorstehenden Wangenknochen wie modelliert, das Haar kunstvoll turmartig nach oben toupiert – umgibt etwas Trauriges. Sein Debüt „At Least For Now“ war noch ein Blick zurück und nach innen. Seitdem hat er sich enorm weiter entwickelt. Er ist reifer geworden. Auf seinem aktuellen Nachfolger „“ schaut er nun um sich und nach vorn. Für ihn ist eine neue Ära angebrochen. Er ist politisch geworden.

„Ja, jetzt bin ich plötzlich Künstler und habe auch Verantwortung zu übernehmen. Dabei sehe ich mich aber weder als Zeitzeuge, Priester noch Prophet, sondern eben nur als Künstler. Meine Aufgabe ist eine gesellschaftskritische Betrachtung meiner Zeit, die das Bewusstsein der Leute wachrüttelt und zum Denken anregt. Ich habe mir diese Ziele gesteckt und muss sie umsetzen und realisieren. Anstoß dazu war ein 3

Erlebnis in New York: Als ich den Fernseher anschaltete, sah ich, wie ein Mann erschossen wurde. Seine Frau und seine Tochter saßen mit ihm zusammen im Auto. Mir kamen die Tränen, ich war zutiefst erschüttert. Das hat meine Sichtweise total geändert. Ich spürte mit einem Mal, dass ich unbedingt darüber berichten und aktiv werden musste. Ich will aber keinen Protest, sondern friedvoll meine Gedanken und Bedenken äußern.“

Clementine hat sein aktuelles Album „I Tell A Fly“ als Theaterstück konzipiert:

„Dazu hatte mich der Vermerk „Fremder mit außergewöhnlicher Begabung“ in meinem US-Visum inspiriert. Die Songs sind unterschiedliche Geschichten, die sich auf ironische Weise mit der jetzigen Zeit auseinander setzen.“

Der Vermerk in seinem Visum bringt Benjamin Clementine auf die Idee, eine Geschichte über zwei Fliegen zu schreiben – die Protagonisten auf seinem aktuellen Album: Die Fliegen machen eine Reise und lernen viele neue Tiere kennen. Dann verlässt die eine Fliege die andere und Benjamin Clementine bleibt als Erzähler zurück: Er führt die Geschichte weiter und bringt in den Songs aktuelle Themen zur Sprache, die sich mit dem Fremden, dem Migranten und dem Unbekannten beschäftigen.

„Diese Flüchtlinge verlassen Kriegsgebiete, brechen auf um einen sicheren Ort zu finden. Viele von uns aber sind beunruhigt, haben Angst vor diesen fremden Barbaren, die Menschen töten könnten. Musikalisch habe ich an die langweilige englische Nationalhymne angeknüpft und daraus meine eigene Version mit Cembalo gemacht.“

„Schon immer gab es Migration, schon immer sind Menschen geflüchtet“, gibt Benjamin Clementine zu bedenken. Wären seine Vorfahren nicht eines Tages von Ghana aus aufgebrochen, wäre er heute nicht in England. Der Song „God Save The Jungle“ greift das Thema Flucht auf und stellt eine Beziehung zum französischen Flüchtlingscamp Calais her:

Musik God Save The Jungle, Benjamin Clementine

„I Tell A Fly” unterscheidet sich auch musikalisch vom Vorgänger und reflektiert nicht nur Clementines große Liebe für klassische Impressionisten wie , sondern auch sein gesteigertes Interesse an elektronischer Musik.

„Synthesizer mochte ich früher überhaupt nicht. Doch dieses Mal habe ich mir gedacht, warum eigentlich nicht. Es kommt bestimmt auf die Person an, die diese 4 elektronische Musik macht. Bisher hatte ich immer nur schlechte elektronische Musik gehört. Daher kam meine große Abneigung dagegen. Ich bemerkte, ich musste meine Herangehensweise an dieses Genre ändern. Unvoreingenommen beschäftigte ich mich damit und entdeckte den japanischen Künstler Isao Tomita, der Elektronik mit Klassik kombiniert. Ich war von ihm begeistert! Deshalb habe ich Synthesizer in meine Musik eingebaut, weil ich dieses Gefühl von unendlicher Weite wie im Weltraum vermitteln wollte. Es ging mir nämlich um den Fremden, den Außerirdischen, wie mich die US-Amerikaner ja bezeichnet hatten.“

Clementine hatte genaue Vorstellungen, wie das Album klingen sollte. Er hat es nicht nur geschrieben, eingesungen und eingespielt, sondern auch komplett selbst produziert.

„Ich will ältere Instrumente wie das Cembalo, das ich über alles liebe, in mein Jahrhundert und meine Generation zurückbringen. So muss man nicht in irgendwelche großen Konzertsäle, um ein Cembalo zu hören. Nein, man findet es auch in meiner Musik. Warum kommen diese Instrumente heute in unserer Musik nicht mehr vor“

Einerseits tritt Clementine entschlossen und sicher auf, wenn er über seine Musik spricht. Andererseits wirkt er während des Gesprächs verletzlich und befangen, spricht leise und langsam, macht immer wieder eine Pause und überlegt viel. Erst nach längerer Zeit taut er etwas auf, lächelt sogar, aber das Melancholische weicht nicht wirklich. Das Alleinsein zieht sich wie ein roter Faden durch sein Leben – geboren in London, aufgewachsen bei der katholischen Großmutter im englischen Stevenage, mit zehn Jahren zu den Eltern zurückgezogen. In jungen Jahren verbrachte er viele Stunden in der Stadtbücherei – eine Flucht vor der schwierigen familiären Situation.

Musik The People And I, Benjamin Clementine

„Als Kind wurde ich ständig in der Schule gemobbt. Das hat mich traumatisiert. Ich ging nach Hause und erzählte meinen Eltern davon. Diese schrecklichen Erlebnisse haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Sie haben mich geprägt. Immer wieder muss ich daran zurückdenken. Doch im Vergleich zu den Erlebnissen eines Kindes in Aleppo sind meine geradezu lächerlich. Und dennoch hat das Mobbing mich bis heute derartig beeinflusst, wie mag das dann erst für ein Kind in Aleppo sein?“

Clementine beschäftigte sich eingehend mit der Arbeit des englischen Kinderarztes und Psychoanalytikers Donald Winicott:

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„Ich kannte bereits Untersuchungen von Donald Winicott, weil ich damals herausfinden wollte, warum Kinder gemobbt werden, wie Eltern frühzeitig die Homosexualität ihres Kindes erkennen und wie sie damit umgehen können. Und dieses Mal habe ich mich mit Winicotts Thema über Mobben und das Kriegstrauma von Flüchtlingen befasst. Ich konnte eine Parallele zwischen meinen eigenen Erfahrungen und den Kriegserlebnissen von Kindern aus Aleppo ziehen.“

Musik Phantom of Aleppoville, Benjamin Clementine

„Ave Dreamer" – das Finale des :

„Am Ende kommen alle Protagonisten – alle Tiere wie etwa die Hausfliege und die Pferdefliege – zusammen und singen: ,Uns bleiben nur Träume. Wenn die Barbaren kommen, ist das in Ordnung. Wir sind Träumer und stark.’“

Musik Ave Dreamer, Benjamin Clementine

„I Tell A Fly“: wütend, satirisch und kritisch; wie auch eigen, gefühlvoll und faszinierend – eine Platte, die brisante Fragen aufgreift, eine Erzählung der Außenseiter, aber zugleich eine Erzählung, in der ausdrücklich gesagt wird, dass jeder willkommen ist.

Mit dem Song „Gone“ von Benjamin Clementine gehen die Musikpassagen zu Ende. Thema war heute: „Vom Straßenmusiker zum Star. Der britische Sänger und Pianist Benjamin Clementine“. Am Mikrophon verabschiedet sich Marlene Küster und wünscht Ihnen noch einen schönen Abend.

Musik Gone, Benjamin Clementine

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Musikliste:

Pianist Benjamin Clementine Von Marlene Küster

1) Benjamin Clementine, CD At Least For Now, Track 6: Nemesis (1:50) 2) Benjamin Clementine, CD At Least For Now, Track 9: Cornerstone (4:31) 3) Benjamin Clementine, CD At Least For Now, Track 8: Condolence (6:30) 4) Benjamin Clementine, CD At Least For Now, Track 3: London (4:01) 5) Benjamin Clementine, CD At Least For Now, Track 10: Quiver A Little (4:42) 6) Benjamin Clementine, CD At Least For Now, Track 4: Adios (4:17) 7) Benjamin Clementine, CD I Tell A Fly, Track 2: God Save The Jungle (3:14) 9) Benjamin Clementine, CD At Least For Now, Track 7: The People And I (5:16) 10) Benjamin Clementine, CD I Tell A Fly, Track 4: Phantom Of Aleppoville (6:30) 11) Benjamin Clementine, CD I Tell A Fly, Track 12: Ave Dreamer (4:28) 12) Benjamin Clementine, CD At Least For Now, Track 11: Gone (4:32)

Nähere Angaben zu den verwendeten CD’s: Benjamin Clementine, CD At Least For Now, Komponist, Interpret, Liedtexte: Benjamin Clementine, Label: Caroline, Barcode: 6 02547 14492 8, Bestellnummer: 6645359

Benjamin Clementine, CD I Tell A Fly, Komponist, Interpret, Liedtexte: Benjamin Clementine, Label: Caroline, Barcode: 6 0255780122 4, Bestellnummer: 7452388

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